ROLLINGSTONE GERMANY

Ausgabe 306 >> April 2020 D: 9,90 € >> A: 10,70 € >> CH: 15,80 SFR

E R I C C L A P T O N – T H E S T R O K E S – R U F U S WA I N W R I G H T – J E S S I E R E Y E Z – R O B E R T M A P P L E T H O R P E – N ATA S H A LY O N N E – C U R T I S M AY F I E L D

MISTER

THE STROKES

BLUES

RUFUS WAINWRIGHT BRIAN FALLON

75 Jahre Eric Clapton: Seine Bands, seine Platten, seine Exzesse – das große Special

PEARL JAM JESSIE REYEZ NICK MASON GREGORY PORTER CURTIS MAYFIELD

Ausgabe 306 . April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Fahrspaß auf den ersten Blick.

DER NEUE, 100 % ELEKTRISCHE OPEL CORSA-e AB 28. 03. BEI IHREM OPEL PARTNER Stromverbrauch Opel Corsa-e 16,8 kWh/100 km, CO2 -Emission 0 g/km, Reichweite 337 km (WLTP), Ladezeit ca. 5 h 15 min (ca. 11 kW, 3-phasig). Die tatsächliche Reichweite kann unter Alltagsbedingungen abweichen und ist von verschiedenen Faktoren abhängig, insbesondere von persönlicher Fahrweise, Streckenbeschaffenheit, Außentemperatur, Nutzung von Heizung und Klimaanlage sowie thermischer Vorkonditionierung.

Abbildung zeigt Sonderausstattung.

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Editorial

Langsam, aber oho

Frau mit Klick Silke Hohmann weiß, wie man Knöpfchen drückt – und eine Menge über Robert Mapplethorpe, dem wir ein Portfolio widmen Sie ist ein Kind der 80er-Jahre, und ihre ersten Kontakte zum Künstlerischen waren Plattencover – auch das berühmte „Horses“-Cover von Patti Smith.

Oder besser: von Robert Mapplethorpe. Denn der New Yorker Fotograf hatte das ikonische Bild 1975 in einer Wohnung im Greewich Village aufgenommen. „Mein Interesse an der Fotografie hat nie aufgehört“, sagt Silke Hohmann, die das kurze Porträt über Robert Mapplethorpe für dessen lange Fotostrecke für den ROLLING STONE geschrieben hat. Auch in der Kunstzeitschrift „Monopol“, bei der Hohmann als Redakteurin arbeitet, schreibt sie häufig über Fotografie. Mapplethorpe findet sie „als Person total spannend. Er wusste, wie man bei Menschen ‚Knöpfchen drückt‘, wie man vorankommt, wie man sich selbst als Künstlerfigur erschaff t“. Schauen Sie selbst, ab Seite 64.

Mann mit Manie

FOTOS: WOLFGANG STAHR, DUO FREDERIC SCHWILDEN & AMELY DEISS

Frédéric Schwilden traf seine Jugendliebe backstage Es ist neun Jahre her, seit Frédéric Schwilden Praktikant beim ROLLING STONE war. Danach schrieb er regelmäßig für uns und hätte gerne weiterschreiben dürfen, wenn ihn nicht die „Welt“ und „Focus“ weggschnappt hätten.

Denn Schwilden ist nicht nur pasionierter Schnauzbartträger, er ist auch ein manischer (mitunter auch egomanischer) Reporter, wie es nur wenige gibt. Schön, dass er wieder da ist – und für uns seine Lieblingsband der Nullerjahre bei ihrem

furiosen ComebackAuftritt beobachtet und anschließend mit den Strokes hinter der Bühne geplauscht hat. Seinen Bericht lesen Sie auf Seite 58. Natürlich in „Ich“-Form.

SCHREIBEN SIE UNS! WIE FINDEN SIE DAS HEFT? Ihre Meinung per E-Mail an post@ rollingstone.de

Liebe Leser, als nach kurzer Zeit die ersten 1000 Vorbestellungen für unsere exklusive Vinyl-Single eingetroffen waren, stand fest: Das Interesse an Eric Clapton ist tatsächlich so groß, wie wir dachten. Ich will nicht verheimlichen, dass manche in der Redaktion den als „Slowhand“ verehrten Gitarristen eher langweilig fi nden, andere dem jedoch vehement widersprechen: Es sei kein Zufall, dass das berühmte Graffito „Clapton is God“ nicht Jeff Beck, Jimmy Page oder Joe Bonamassa gewidmet war. Nun wird der weiße Blueser 75 – und wir würdigen ihn mit einer großen Geschichte von Frank Schäfer, der Claptons frühe Phase ebenso ausleuchtet wie seine Supergroups und Soloalben, seinen später mit der Ausrede Alkohol entschuldigten Rassismus-Ausfall Mitte der 70er-Jahre wie seine Verbeugung vor den Blues-Heroen in den 90er- und Nullerjahren. Nicht nur ein Gott, sondern auch ein Mann der Widersprüche. ... wo war ich? Ach, so, gerade wieder Hände waschen. Ich kann nicht wissen, wie die Lage bei Erscheinen dieses Heftes ist, aber auch den ROLLING STONE hält das Corona-Virus in Atem. Eben wurde Coachella abgesagt und die Tour von Richard Marx, die Lit-Cologne und die Präsentation von Gore-Tex. Birgit Fuß, unsere Chefi n vom Dienst, hat sich ein Notfallprogramm ausgedacht, mit dem wir (hoffentlich) ein Heft produzieren könnten, falls die Redaktion in Quarantäne muss.

Und, bevor ich wieder Hände wasche, noch mal Clapton: Wie immer liegt die nur mit dem ROLLING STONE erhältliche Clapton-7inch der Einzelhandelsauflage bei, die deshalb zwei Euro Aufpreis kostet. Abonnenten haben die Wahl, ob sie auf die Single verzichten oder sie für zwei Euro versandkostenfrei bestellen möchten. Auch das: wie üblich.

Ich wünsche Ihnen Gesundheit – und natürlich viel Vergnügen mit Ihrem ROLLING STONE!

Ihr SEBASTIAN CHEFREDAKTEUR

ZABEL

Rolling Stone | April 2020 | 3

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Boomtown Rats

„Das neue Heft ist wieder super.

Eine Bitte: Ein Guide zu Blondie wäre ’ne feine Sache!“ — Hans Hirsch

Zwar findet Bob Geldof Nostalgie zum Kotzen – aber seine Boomtown Rats waren damals eine bemerkenswerte Band, bevor er sie zugunsten von „Live Aid“ und Adelswürden aufgab. Dass ihm die Glorie aber nicht den Verstand vernebelt hat und er noch immer der rebellische Bobby Boomtown von der Straße ist, merkt man an diesem unverkünstelten Interview.

Geldof sitzt auch mal bescheiden abseits auf einem Heizkörper, wenn es sein muss.

— Martin Voss

Glamrock

Gefreut

Als Teenager habe ich die GlamRock- und Popzeit hautnah mitbekommen. In der Tat, so was gab es kein zweites Mal, auch wenn Bands (z. B. Siouxsie & The Banshees, Suede, Goldfrapp etc.) immer mal wieder darauf Bezug nahmen. Eure Auswahl der 20 Glam-Singles triff t den Nerv weitgehend gut. Statt allerdings Pilot mit in den Glam-RockKanon aufzunehmen, mit dem sie eigentlich nichts zu tun hatten, hätten die Bay City Rollers vielleicht noch eher dazugepasst. Oder die überbordend glitzernden Normalos von Wizzard. Was mich allerdings wunderte, war dieser Gary-GlitterBoykott. Natürlich verstehe ich einerseits warum. Anderseits: Einen Künstler wegen seiner späteren Vergehen aus der Pophistorie auszuradieren ist eher vergebliche Liebesmüh.

Politische und gesellschaftliche Themen waren von der ersten Ausgabe des ROLLING STONE an Bestandteil des Inhalts. Ich fand das immer gut, und es kann gern so bleiben. Insbesondere dann, wenn Peter Unfried schreibt.

Ich tendiere nicht zu solchen Mails und gehe davon aus, dass Ihr Hunderte davon kriegt. Ich kann aber nicht anders, als mich zu wundern, dass das neue Album von A Girl Called Eddy („Been Around“) von Euch ignoriert wurde. Euch ist hier ein sehr intelligentes PopMeisterwerk durchgegangen – und ich benutze diesen Begriff nicht inflationär.

Mir fehlt bei Euch zunehmend der Rock’n’Roll, vor allen Dingen im angenehm großen Review-Teil.

Einige Eurer Autoren gebrauchen das Wort „Rock“ abwertend. Stattdessen wird von aufgeschichteten, modulierten Gesängen mit ProgPop-Anklängen fabuliert, werden die Mittel experimenteller elektronischer Musik gelobt. Musik, die nach 80er-Jahren klingt, Synthie-Träumereien, Filmmusikklänge, sonderbare Geräusche, Field-Recordings scheinen hoch im Kurs. Es würde mich interessieren, ob mehr Leser einen ähnlichen Eindruck haben.

— Mayo Velvo

— Torsten Stahlmann

— Georg Eickhoff

— annamax, im RS-Forum

Gewundert

Mehr Rock

Rolling Stone online IN DIESEM MONAT LESEN SIE AUF ROLLINGSTONE.DE:

Man wird dieses Jahrzehnt einfach nicht los! Die meisten Leserbriefe erhielt die „Freiwillige Filmkontrolle“, der Podcast von ROLLING STONE, für die Themenreihe mit Kinowerken der 80er-Jahre. Die Jahrgänge 1985 und 1986 haben die Redakteure Sassan Niasseri und Arne Willander bereits durch. Aber eine Dekade hat ja nicht zwei, sondern zehn Jahre. Sie alle warten also noch auf unsere Würdigung: „Batman“, „E.T.“, „Ghostbusters“, „Indiana Jones“, „Dirty Dancing“, „Full Metal Jacket“ ... +++

Facebook

ROLLING STONE DEUTSCHLAND

erscheint monatlich in der Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH Mehringdamm 33, 10961 Berlin Telefon: 030/3 08 81 88-0, Fax: -221 E-Mail: redaktion@rollingstone.de Leserbriefe: post@rollingstone.de www.rollingstone.de

REDAKTION

Chefredakteur: Sebastian Zabel (v.i.S.d.P.) Executive Editor (Mitglied der Chefredaktion): Arne Willander Art Direction: Walter Schönauer Redaktion: Maik Brüggemeyer, Birgit Fuß (CvD), Jakob Baumer (Volontär), Naomi Webster-Grundl (Volontärin) Redaktionelle Mitarbeit: Jens Balzer, Max Gösche, René Reinholz (Schlussredaktion), Marc Vetter Grafik: Patrick Klose Bildredaktion: Friederike Göckeler Online-Redaktion: Sassan Niasseri (Ltg.) Koordination CD-Beilagen: Arne Willander Autoren: Wolfgang Doebeling, Benjamin von Stuckrad-Barre Ständige Mitarbeiter: Gunter Blank, Jörg Feyer, Bernd Gockel, Philipp Haibach, Jan Jekal, Rüdiger Knopf, Frank Lähnemann, Ina Simone Mautz, Dr. Alexander Müller, Ralf Niemczyk, Fabian Peltsch, Eric Pfeil, Gunther Reinhardt, Robert Rotifer, Frank Schäfer, Jörn Schlüter, Markus Schneider, Franz Schöler, Frank Thießies, Peter Unfried, Jürgen Ziemer, Jenni Zylka Mitarbeiter dieser Ausgabe: Cihan Cakmak, Björn Hayer, Silke Hohmann, Thomas Hummitzsch, Angie Martoccio, Kevin Neuroth, Roland Owsnitzki, Fabian Peltsch, Jürgen Schlotter, Frederick Schwilden, Gerrit Terstiege, Johannes von Weizsäcker, Anke Westphal, Cathleen Wolf

VERLAG

Verlagsgeschäftsführung: Petra Kalb, Christian Nienhaus Head of Sales (Marke): Martin Lippert Telefon: 030/30 881 881 80 martin.lippert@mediaimpact.de Media Impact GmbH & Co KG, Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin Sales Bild- und Tonträger: Dirk Laubinger Telefon: 030/30 881 882 13 Disposition: Ninja Hansen (für Anzeigen verantwortlich) Objektleitung: Volker Schadt Abo-Service: Bernd Wierschin Verlagskoordinator: Stefan Wilke Objektvertriebsleitung: Benjamin Pflöger Vertrieb: DPV Vertriebsservice GmbH, Am Sandtorkai 74, 20457 Hamburg Herstellung: Thomas Künne, Andy Dreyer Senior Manager digitale Medien: Stefan Böttcher Litho: Imagepool, Berlin Druck: Dierichs Druck & Media GmbH & Co. KG Peter Reiting, Frankfurter Straße 168, 34121 Kassel Für unverlangt eingesandtes Text- und Bildmaterial wird keine Haftung übernommen. Der Export der Zeitschrift ROLLING STONE DEUTSCHLAND und ihr Vertrieb im Ausland sind nur mit Genehmigung des Verlages zulässig. Bei Nichtbelieferung ohne Verschulden des Verlages oder infolge von Störungen des Arbeitsfriedens bestehen keine Ansprüche gegen den Verlag. ISSN 1612-9563 Datenschutz ist uns wichtig.

Unsere Datenschutzerklärung finden Sie unter www.rollingstone.de/datenschutz. Sie können diese auch schriftlich unter Axel Springer SE, Datenschutz, Axel Springer Straße 65, 10969 Berlin anfordern.

PENSKE MEDIA CORPORATION (PMC)

Chairman & CEO: Jay Penske Chief Operating O�icer: George Grobar Managing Director, International Markets: Debashish Ghosh Vice President, Global Partnerships & Licensing: Kevin LaBonge Senior Director, International Markets: Gurjeet Chima Editorial & Brand Director, International: Laura Ongaro

ROLLING STONE USA

FOLGEN SIE UNS JETZT AUF: Instagram

KUNDEN- UND ABONNENTEN-SERVICE:

Abo-Service Rolling Stone, Postfach 10 03 31, 20002 Hamburg, Tel: 040/468 60-5165 Fax: 040/34 72 95 17, E-Mail: abo@rollingstone.de Printabo: jährlich 88,00 € inkl. MwSt. & Zustellgebühr Markenabo (Printabo mit digitalem Archiv-Zugang): jährlich 98,00€ inkl. MwSt & Zustellgebühr Schweiz 170,00 CHF p.a., Österreich: 104,00 € p. a., Rest auf Anfrage

Twitter

Der nächste ROLLING STONE erscheint am 30. April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

President & Chief Operating O�icer: Gus Wenner Editor: Jason Fine Deputy Editor: Sean Woods Creative Director: Joe Hutchinson Director of Creative Content: Catriona Ni Aolain Founder and Editorial Director: Jann S. Wenner Copyright © 2020 by ROLLING STONE LLC. All rights reserved. Reproduction in whole or in part without permission is prohibited. The name ROLLING STONE and the logo thereof are registered trademarks of ROLLING STONE LLC, which trademarks have been licensed to AS Mediahouse Berlin GmbH.

BILD: UNIVERSAL HISTORY ARCHIVE/UIG VIA GETTY IMAGES

post@rollingstone.de

Inhalt

MUSIK UND MEHR

38

The Mix

Eric Clapton: Mr. Blues

07

Man nannte ihn Slowhand: ­Annäherungen an den rätselhaften Gitarristen, der nun 75 wird. Sein Leben, seine Bands, seine Platten Von Frank Schäfer

48 Liebe und Tod sind ihre Themen, aber auch #MeToo und Migration: Eine neue Stimme im Pop, die viel zu sagen hat Von Jan Jekal

52 Rufus Wainwright: Diva ohne Allüren

Statt Oper und Schubert endlich ein neues Song-Album – und ein entspanntes Gespräch Von Max Gösche

58

10

Eine Hommage an den Macher der ikonischen Bilder von Patti Smith, Debbie Harry und William Burroughs Von Silke Hohmann

74 Natasha Lyonne: Das Stehaufmädchen

Sie wäre fast gestorben, dann schrieb sich die Schauspielerin mit „Matrjoschka“ die Rolle ihres Lebens Von Alex Morris

78 Rolf Dieter Brinkmann: Der erste Popliterat Ein Blick auf das noch immer relativ unerschlossene Frühwerk des 1975 verstorbenen Autors Von Gerrit Terstiege

Jessie Reyez

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Caroline Rose

Auf ihrem neuen Konzept­ album imaginiert die ­Amerikanerin eine Figur, die alles tut, um ein „Superstar“ zu werden Q&A

13

Gregory Porter

Der Gesangsvirtuose über Kindesmissbrauch, seinen Glauben und seine Vorbilder in Soul und Jazz VON MARC VETTER

26

Nick Mason

Mit Saucerful Of Secrets hat der Pink-Floyd-Schlagzeuger eine Art Tribute-Band seiner selbst gegründet VON ROBERT ROTIFER

28

The Strokes waren die Hoffnung des Rock’n’Roll. Wie haben sie das überlebt? Ein Treffen hinter der Bühne Von Frédéric Schwilden

Robert Mapplethorpe: Ästhet im Underground

Auch Rockmusiker können erwachsen werden: Der ­E x-Gaslight-Anthem-Sänger lebt seine Leidenschaft jetzt leiser

VON JAN JEKAL

The Strokes: Furioses Comeback

64

Brian Fallon

VON BIRGIT FUSS

Jessie Reyez: Queen Latina

FOTO: JOHN PARRA/GETTY IMAGES

HEFT 306

Waxahatchee

Nach Alkoholentzug und Sinnsuche hat sich Katie Crutch­field alias Waxahatchee der AmericanaMusik zugewandt VON ANGIE MARTOCCIO

HISTORY

32

Prince

Vor 35 Jahren erschien „Around The World In A Day“, der psychedelische Nach­ folger des Millionensellers „Purple Rain“ VON SASSAN NIASSERI

PLUS

James Righton, Ed O’Brien, Mavi Phoenix, Maria ­Furtwängler und einige mehr

Reviews MUSIK

85 Neues von Pearl Jam

und 95 weitere Rezensionen RS-GUIDE

102 Curtis Mayfield

Sebastian Zabel über das Werk des Soul-Meisters FILM & LITERATUR

108 „Berlin

­Alexanderplatz“

und 17 weitere Rezensionen

TITELFOTO: ALBERT WATSON NEW YORK CITY, 1991

25 Jahre deutsche Ausgabe

Die Internationale Seit 25 Jahren bietet Le Monde diplomatique Analysen, Alternativen und Geschichten, die Sie anderswo nicht finden: Einmal im Monat lesen Sie, was auf der Welt passiert – und was dabei auf dem Spiel steht.

Zeitung, App und Audio für 25 Euro im ersten Jahr*

monde-diplomatique.de/abo25

*Unser Jubiläumsangebot ist gültig bis zum 8. Juni 2020.

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

taz Verlags- und Vertriebs-GmbH • Friedrichstr. 21 • 10969 Berlin

FÜR 25 EURO um die Welt

NEUES AUS POPKULTUR UND LEBEN

Brian Fallon

FOTO: DREW GURIAN

W

Alles, bloß kein Kitsch

as tun, wenn das leben ­leiser wird? Für Rockmusiker oft ein Dilemma. Einfach so tun, als merkte man nichts, und weiter Krach machen, weil es ja Spaß bringt und die Leute sonst vielleicht denken, jetzt wird man alt und lahm? Brian Fallon hat sich anders entschieden. Sein drittes Solo­ album, „Local Honey“, klingt wie das Werk eines erwachsenen Mannes. Gar nicht so selbstverständ­ lich, obwohl er im Januar vierzig geworden ist, zwei Kinder hat und ein recht beschauliches Leben in New Jersey. Dass er keine laute Rock’n’Roll-­

Auch Rockmusiker können erwachsen werden: ­Ex-Gaslight-Anthem-Sänger Brian Fallon macht heute leisere Musik, das aber nicht weniger leidenschaftlich. Und er lernt von den Besten seines Fachs Von BIRGIT FUSS

Platte aufnehmen würde, weil seine Songs sich nicht mehr dafür eignen – das musste er erst mal einsehen. Inzwischen kommt Fallon gut mit der neuen Situation klar: „Ewig ein Teenager zu blei­ ben, das ist doch der schlimmste Tod, den man sterben kann! Für mich gibt es nichts Grässliche­ res. Es ist so traurig, wenn man ältere Leute sieht, die sich krampfhaft an einer wunderbaren Zeit festhalten, die gar nicht ewig dauern soll. Vierzig ist sicher nicht das neue Zwanzig, damit tut man sich keinen Gefallen.“ Nun war Fallon bis 2015 Sänger bei The Gaslight Anthem, die nach fünf Alben gerade „auf unbe­ Rolling Stone | April 2020 | 7

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Mix stimmte Zeit“ pausieren – eine Band, die mit ihrer jugendlichen Energie überzeugte und einer robus­ ten Hemdsärmeligkeit, die sich aus der Begeiste­ rung für ein bisschen Punkrock und viel Bruce Springsteen zusammensetzte. Der outete sich prompt als Fan, während Fallon irgendwann lieber von seiner Liebe zu Tom Petty und Bob Dylan sprach. Sein Solodebüt, „Painkillers“, deutete 2016 schon an, dass er mehr in Richtung Americana gehen würde, mit „Sleepwalkers“ setzte er den Kurs fort. Das Erwachsenwerden falle ihm schon schwer, gibt er zu, weil es Musikern halt auch leicht gemacht werde, sich davor zu drücken: kein All­ tag, keine Nine-to-Five-Arbeit, keine Routine. „Und es gibt diesen Druck von außen – diese falsche Vorstellung, dass Musik nur was für junge Leute ist. Dass man später nicht mehr cool ist. Was ­natürlich Unsinn ist. The Clash sind ein gutes Beispiel: Die waren früher toll, aber als Joe Strummer älter wurde, hat er noch viel besseres Zeug gemacht.

Oder Lucinda Williams. In Würde al­ tern geht also.“ An manchen Tagen ist Fallon aller­ dings froh, wenn er überhaupt genü­ gend Zeit hat, um Ideen zu entwickeln und Songs zu schreiben. Seit er Vater ist, hat er gelernt, effizient zu sein. „Man muss jede freie Minute nutzen.

Wenn wir gemeinsam spielen, dann lasse ich die Arbeit liegen und konzen­ triere mich ganz auf die Kinder. Wenn sie zu Mittag essen oder ein Schläfchen machen, dann hole ich schon mal kurz mein Handy raus und arbeite an einer Strophe.“ Der Schnellste ist Fallon ohne­hin nicht. Zumindest empfindet er es so, wenngleich die regelmäßige Fre­ quenz, mit der er Alben veröffentlicht, das nicht bestätigt. Aber er schreibt endlos an seinen Texten herum, weil er weiß, dass sich die Hörer damit identi­ fizieren, und er niemanden enttäuschen will. In den schlimmsten Momenten versucht er sich sein Publikum vorzustellen – das sind dann immerhin die Leute, die es gut mit ihm meinen, nicht die ­allzu harten Kritiker. So ist das Zaudern und Zwei­ feln besser in den Griff zu kriegen. Manchmal ist er allerdings auf Hilfe angewiesen: „Ich mach’s wie Tom Waits, ich frage meine Frau. Sie ist die klügste Instanz, wenn ich nicht sicher bin, ob ein Song gut genug ist.

Wenn sie ‚Mach mal weiter‘ sagt, dann höre ich dar­auf.“ Fallon gelingt das gar nicht so simple Kunststück, über die universellsten Themen (grob zusammengefasst: Glau­ be, Lie­be, Hoffnung) so zu schreiben, dass sich alle angesprochen fühlen können und die Zeilen trotzdem nicht beliebig wirken. Während er die Inspiration meistens in seiner näheren Umgebung sucht, hat er sich nun zum ersten Mal an einen komplett fiktionalen Song gewagt. „Vincent“ (nicht verwandt mit dem Sarah-Connor-­Song) erzählt von einer brutalen Beziehung, aus der sich die Frau nur mit Gewalt befreien kann. Etwa zwanzig verschiedene Strophen hat Fallon ausprobiert,

bis sie endlich saßen. Motiviert haben ihn dabei die „Murder Ballads“ von Nick Cave, wobei er sich keinesfalls mit dem Schmerzensmeister verglei­ chen will. Fallon ist überhaupt so bescheiden, dass man ihm manchmal fast einen Schubs geben möchte. Beim Thema Liebeslied windet er sich ­besonders. „You Have Stolen My Heart“, den Ab­ schluss-Song von „Local Honey“, hat er kürzlich als sein erstes Liebeslied überhaupt bezeichnet, was

griffen wurde, als er sich vor Jahren als Kreationist zu erkennen gab. Abgesehen von Religions- und Meinungsfreiheit ist ihm auch da eine bodenstän­ dige Sicht der Dinge wichtig: „Das größte Problem mit dem Glauben ist doch, dass es so viele Men­ schen gibt, die im Namen Gottes furchtbare Dinge tun. Dinge, die Gott bestimmt nicht tun würde.

Natürlich habe ich keine Ahnung, was Gott tun würde, aber ich schätze mal, Gott hält wenig von Grausamkeit, Hass und Intoleranz. Wie können also angeblich religiöse Men­ schen anderen das Recht auf ein gutes Leben verwehren? Das ergibt keinen Sinn. Wer an Gott oder Jesus glaubt, der hat für mich letztendlich nur ein Gebot: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das ist der Job, Punkt. Und für mich ist mein Nächster jeder, also die ganze Welt. Wir stecken hier alle gemeinsam fest. Das ist die wichtigste und die schwerste Aufgabe, und daran sollten alle erst mal arbeiten, bevor sie die Klappe aufreißen. Damit wäre der Welt schon sehr geholfen.“ Und welche Träume hat Brian Fallon sonst noch, außer Nächstenliebe und Weltfrieden? Im Moment: sich bis zur nächsten Tournee alle neuen Texte merken können und die alten nicht ver­ gessen. Sobald etwas aufgenommen ist, verschwindet es aus seinem Gehirn, das macht die Proben gerade etwas an­ strengend. Nicht mehr loszuziehen ist allerdings keine Option. Solange alles so läuft wie bisher, hätte er nichts da­ gegen, wie Springsteen auch in dreißig Jahren noch auf der Bühne zu stehen. „Der kann doch nicht siebzig sein, er sieht jünger und fitter aus als ich! Und er kann drei Stunden lang rumrennen und spielen und singen. In dem Alter (Selbst-)kritisch: würde ich gern halb so viel schaffen.“ Fallon Wenn ihm demnächst eine Fee über den Weg läuft, wünscht er sich das – allerdings Quatsch ist. Viele seiner Stücke sind und dass Florence Welch irgendwann mal einen das auf die eine oder andere Weise – aber oft haben Song mit ihm aufnimmt. Dann stünden vielleicht sie einen traurigen Twist oder eine Unschärfe. endlich die ganz großen Bühnen an. Er würde die „­Direkte Liebeslieder sind das Härteste, weil sie Clubs schon gern gegen kleinere Stadien tauschen. so schnell albern werden. Die kann man so leicht So berühmt wie Springsteen wolle er dagegen gar ­versauen. Es soll ja nicht wie eine Valentinskarte nicht ­werden – „so viel harte Arbeit und Druck“.

Außerdem gehört es zu Fallons Philosophie, al­ aus der Grundschule klingen: Roses are red, violets are blue, I like you! Kitsch muss vermieden wer­ les so zu nehmen, wie es kommt. Er hat gelernt, den. Ich denke dann immer an nicht zu viel vorauszudenken. Seine neue Single die besten Liebeslieder, die ich „21 Days“ handelt davon. Eigentlich geht es um kenne, und versuche da ran­ die drei Wochen, in denen er sich vor einem Jahr zukommen.“ endlich das Rauchen abgewöhnt hat, aber auch Gleich drei fallen ihm da um Abhängigkeiten im Allgemeinen und die di­ ein: „Unchained Melody“ von versen Fallstricke in Beziehungen. „Manchmal den Righteous Brothers, „One“ verliert man etwas oder jemanden – durch Tod, von U2 und der, der ihn inspi­ Trennung, Krankheit, egal was – und leidet so sehr, riert hat, es mal mit ganz schlichten Worten zu dass man gar keine Zukunft mehr sieht. In der versuchen: „Please, ­Please, Please, Let Me Get ­Therapie heißt es dann immer: Man braucht ein What I Want“ von The Smiths. „Als ich den Song Ziel, auf das man hinarbeiten kann während der im Radio hörte, dachte ich: Ich kann Morrissey Heilung. Etwas, das einen ermutigt. Doch was soll so gut verstehen! Alles, was der Typ will, ist, dass das denn sein, wenn man gerade in den Abgrund er ein einziges Mal genau das kriegt, was er will. blickt? Nichts Großes, sondern kleine Schritte.

Unbedingt, bitte, bitte. Die pure Essenz.“ Zum Beispiel: erst mal 21 Tage überstehen. Das Manchmal, wenn Fallon gar nicht weiterweiß, reicht vielleicht noch nicht. Dann noch mal 21. ruft er in seinen Songs Gott an. Er will seinen Und noch mal 21. Und so kann man wahrscheinlich ­Glauben nicht verstecken, obwohl er heftig ange­ alles überstehen.“

8 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: KELSEY HUNTER AYRES

„Ein Liebeslied soll nicht wie eine Valentinskarte aus der Grundschule klingen“

CHARTS

AUTOREN

1. Ron Sexsmith „Hermitage“ (-)

1. Neil Young „Colorado“ (1)

2. Rufus Wainwright „Unfollow The Rules“ (-)

2. Nick Cave & The Bad Seeds „Ghosteen“ (3)

3. Destroyer „Have We Met“ (2) 4. Ben Watt „Storm Damage“ (3) 5. Pet Shop Boys „Hotspot“ (1)

PLAYLIST

2. Christine And The Queens

FOTOS: ADAM CUSTINS, GETTY IMAGES, CAMILLE VIVIER

„La Vita Nuova“

Fabelwesen huschen im opulenten Video durch die Pariser Oper: Héloïse Letissier haut auf ihrer 6-TrackEP poetischen Powerrock raus. Très chic. RN

3. Julian Cope

7. Morrissey „I Am Not A Dog On A Chain“ (-) 8. Caribou „Suddenly“ (-) 9. Tame Impala „The Slow Rush“ (7)

4. Suzanne Vega

8. Julia Stone

Eine Fassung von Lou Reeds Song, die Vega in einem tieferen Register singt. Beinahe verrucht! Aufgenommen im Café Carlyle für das Album „An Evening Of New York Songs And Stories“. AW

Um nach dem Inferno Geld für ihr Heimatland zu sammeln, hat Julia Stone für das Cover-Album „Songs For Australia“ u. a. Joan As Police Woman, Damien Rice und The National zusammengetrommelt. Sie singt den Midnight-Oil-Hit bezaubernd zart. BF

„Walk On The Wild Side“

Keine House Music, aber die Erinnerung an berauschte Tage und Nächte in einem Popsong von barocker Schönheit. SZ

6. Soccer Mommy „Color Theory“ (9)

2

LIEBLINGSSONGS DER REDAKTION

„House Music All Night Long“

LESER

4

9

1. Jarvis Cocker

CHARTS

5. Perfume Genius „Describe“

„Set My Heart On Fire Immediately“ heißt das im Mai erscheinende Album. Nach diesem düsteren ElektroStück, das sich kurzzeitig in einen Country-Song verwandelt, brennt das Herz schon lichterloh. MB

6. Psychedelic Furs „Don’t Believe“

29 Jahre nach „World Outside“ ein neues Lebenszeichen von Richard und Tim Butler. MB

„You Will Be Mist“

7. Peaking Lights

Auf dem neuen Album „Self Civil War“ gibt’s auch skurril Sozialkritisches wie „Your Facebook, My Laptop“ oder „Berlin Facelift“, aber fertig machen einen Songs wie dieser: ein großartiges Epos über die Vergänglichkeit. BF

Düster dräuender Drone, zart flüsternder Gesang und dann die Kulmination in Elektropop, der die Achtziger inhaliert hat und ins Heute beamt. Willkommenes Lebenszeichen des Duos aus San Francisco. SZ

„EVP“

„Beds Are Burning“

9. Jonathan Bree „Heavenly Vision“

Eine manieristische Anverwandlung des kitschigen Barock-Pop der 60erJahre – französische Chansons, Scott Walker, Jimmy Webb. Demnächst auf Brees Album „After The Curtains Close“. AW

10. Mavi Phoenix „Fck It Up“

Erst sie, nun er: Der zum Crossover-Rapper mutierte Linzer lässt die Transgender-Fahne wehen. ElectroBeats, verwegene Stimme und schrille Kinderzimmeroptik im Video. RN

3. Wilco „Ode To Joy“ (4) 4. The Who „Who“ (8) 5. Leonard Cohen „Thanks For The Dance“ (2) 6. Pet Shop Boys „Hotspot“ (9) 7. Coldplay „Everyday Life“ (11) 8. Ben Watt „Storm Damage“ (-)

10. U.S. Girls „Heavy Light“ (-)

9. Bill Fay „Countless Branches“ (17)

11. Porridge Radio „Every Bad“ (-)

10. Van Morrison „Three Chords And The Truth“ (6)

12. Rustin Man „Clockdust“ (-) 13. Boomtown Rats „Citizens Of Boomtown“ (11)

11. Jeff Lynne’s ELO „From Out Of …“ (12) 12. Torres „Silver Tongue“ (-)

14. Pearl Jam „Gigaton“ (-)

13. André Heller „Spätes Leuchten“ (18)

15. Manfred Maurenbrecher „Inneres Ausland“ (18)

14. Bruce Springsteen „Western Stars“ (7)

16. Mavi Phoenix „Boys Toys“ (-)

15. Tindersticks „No Treasure But …“ (5)

17. Waxahatchee „Saint Cloud“ (-)

16. La Roux „Supervision“ (-)

18. Mark Konzelek With Ben Boie & Jim White „2“ (-)

17. Anna Calvi „Hunted“ (-)

19. Luke Haines & Peter Buck „Beat Poetry For Survivalists“ (16) 20. Harry Styles „Fine Line“ (-)

18. Tame Impala „The Slow Rush“ (-) 19. Santana „Africa Speaks“ (-) 20. Agnes Obel „Myopia“ (-)

MITMACHEN UND GEWINNEN Stellen Sie den Charts der ROLLINGSTONE-Autoren Ihre eigenen Favoriten gegenüber und senden Sie bitte bis zum 4. April 2019 eine E-Mail mit Ihren fünf aktuellen Lieblingsalben an charts@rollingstone.de. Zu gewinnen gibt es diesmal fünf Exemplare des neuen Albums von Rufus Wainwright,

„Unfollow The Rules“.

Rolling Stone | April 2020 | 9

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Mix

Wie weit gehst du, um berühmt zu werden?

Auf ihrem neuen Konzeptalbum imaginiert Caroline Rose eine Figur, die alles dafür tut, ein „Superstar“ zu sein. Ganz unautobiografisch ist das nicht Von JAN JEKAL

C

aroline rose schaut direkt in die Kamera. Grimmig-frech gegen die Sonne, wie auf unserem Foto – oder lasziv und leer, wie auf dem Cover ih­ res neuen Albums. Dort ist alles rot: der Lippenstift, das Licht, die Neonschrift über ihrem Kopf. „Superstar“. Ihre Haut glänzt. Denkt man. Tatsächlich glänzt eine dünne Folie auf ihrer Haut, denn Rose ist eingeschweißt, steht da in F ­ olie gewickelt wie eine nicht ganz ausgepackte Plastik­ puppe. Sie sieht einem Menschen täuschend ähn­ lich. Sie ist die von der Marktforschung als kleins­ ter gemeinsamer Nenner erkannte Frauenfigur.

Laszive Lippen. Leere Augen. Superstar. „Wie weit gehen Menschen, um berühmt zu ­werden?“ Das sei eine Frage, die sie beim Schrei­ ben des Albums beschäftigt habe, sagt Rose. Die 30-jährige Indie-Pop-Musikerin, die aus Vermont kommt und sich vor einigen Jahren in Texas nie­ dergelassen hat, erzählt auf ihrem losen Konzept­ album die Geschichte eines Nachwuchsstars, der die Provinz hinter sich lässt, auf der Suche nach einem glamourösen Leben. Für Rose sei das eine auch autobiografische Geschichte: Die Hybris, die es braucht, um sein Glück zu versuchen und sich als Auserwählte zu sehen, sei ihr nicht fremd. „Ich wollte die Eigenschaften nehmen, die ich an mir besonders unangenehm und peinlich finde, und sie mit Steroiden aufpumpen“, sagt sie. „Diese peinlichen Sehnsüchte, über die man am liebsten gar nicht spricht, die haben mich für diese Ge­ schichte am meisten interessiert.“ Das Album beginnt mit einem Anruf aus Holly­ woods Luxushotel Chateau Marmont. Jemand hat sich verwählt. Aber das ist Rose’ Alter Ego egal. Den Anruf deutet sie als Zeichen. Als Versprechen des guten Lebens. „No one is gonna stand in my way“, singt sie, „even if I have to leave this whole city in flames.“ Im nächsten Lied heißt es: Ich wurde dafür geboren, ein Star zu sein. „Mich fasziniert der Größenwahn einiger Leute“, sagt Rose. „Wenn man nur genug von sich selbst überzeugt ist, kann einem im Grunde nichts passieren.“ Die Nervenzusam­ menbrüche von Superstars wie B ­ ritney Spears und Kanye West faszinierten sie. In aller Öffentlichkeit fanden die statt und führten doch, zumindest im Falle Wests, zu noch energischerer Tollkühnheit.

Wie weit gehen Menschen, um berühmt zu ­werden? Sie gehen zum Beispiel von Kalifornien nach Florida. So macht das die Protagonistin im Musikvideo zur Single „Feel The Way I Want“, von Rose selbst gespielt und inszeniert. Ein Missver­ ständnis – das Vorsprechen findet in Hollywood/­ Florida statt und nicht in Hollywood/Kalifornien –

ist der Anlass für die Reise durch die USA, und die glitzernden Eighties-Pop, dem man seine Ent­ Bewe­ g ungsrichtung (aus Kalifornien heraus!) stehung im Heimstudio nicht anhören würde. ­hätte Warnung genug sein sollen, dass es sich um Sie habe sich die großen Pop-Alben aus jenem keinen guten Job im Showgeschäft handeln wür­ ­Jahrzehnt als Vorbild genommen, erzählt sie. An de, aber Rose’ Figur versucht es trotzdem, und moderner Popmusik störe sie vor allem, dass im es kommt, wie es kommen muss, und am Ende Mixing so heftiger Gebrauch von Kompressoren verteilt sie Flyer in der Fußgängerzone, verkleidet gemacht werde, dass also die Grundlautstärke als Hummer. ­eines Songs erhöht, aber sein dynamischer Spiel­ Der Cineastin Rose – als Inspiration für „Superraum eingeschränkt wird. Dadurch klingt der Song star“ nennt sie so verschiedene Filme wie Fass­ gleichförmiger, hält einen Pegel, ist insgesamt binders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ ­weniger schwungvoll. „Ich wollte genug Raum in und „Mulholland Drive“ von David Lynch – sind meinen Songs haben“, sagt sie. „Popsongs aus den gute Musikvideos wichtig. An­ Achtzigern sind häufig ganz statt eine Filmcrew zu mieten ­simpel. Vier oder fünf Spuren, nicht diese ganzen verrückten und sich am Set unter Druck ge­ setzt zu fühlen, entschied sie Effekte, nur der richtige Vibe sich für einen Guerilla-Dreh, und die richtige Energie.“ Eine fuhr mit dem befreundeten Fo­ Frage, die sie sich beim Schrei­ tografen Kayhl Cooper 13 Tage ben der Songs ständig gestellt lang durch die südliche Hälfte habe: Ist es catchy genug? „In Rose, eine vielfach begabte der USA und drehte das ganze den Popsongs, die ich am liebs­ Musikerin, hat ihr Album Video auf einem iPhone. „Weil ten mag, passiert immer irgend­ nicht nur selbst geschrieben, wir nur mit dem Handy filmten, etwas Neues“, erklärt Rose. Stän­ produziert und arrangiert, konnten wir an Orten drehen, dig eine neue Hook oder eine ­sondern ein ganzes Arsenal an für die wir sonst gar keine Er­ neue Melodie oder eine neue Instrumenten selbst ein­gespielt: laubnis bekommen hätten“, sagt Gesangsfigur. „Die Ohrwurm­ Synthesizer, Bass, E-Gitarre, sie. Auf dem Hollywood Boule­ qualität meiner Songs war mir Drum Machines, Flöte vard zum Beispiel, in Casinos also besonders wichtig.“ und ­Ukulele. Singen tut sie ­natürlich auch. und Restaurants, im Monument Auf ihren ersten Alben, die Valley. „Mir war es wichtig, dass sie nach ihrem Architektur-Ba­ es Spaß macht“, sagt sie. „Musik­ chelor in den frühen Zehnerjah­ videos können so stressig sein, ren veröffentlichte, verfolgte sie weil man kaum Budget hat, die eine betont aufrichtige America­ Ihr erstes Album, „America Crew nur schlecht bezahlen na-Ästhetik. Das Album „Loner“ Religious“ von 2012, finanzierte kann und alles schnell gehen von 2018 markierte eine stilis­ sie durch eine Crowdfundingmuss. Dieses Video sollte leicht­ tische Wende, die Synthesizer Kampagne. Sie bekam 10.000 herzig sein, so wie der Song.“ fanden Einzug, vor allem aber Dollar zusammen, unter Ihre Musik entsteht in einem ihre ironischen Texte, ihre flap­ ­anderem damit, dass sie als ähnlichen Alleingang. Sie hat in sige Persona, die nun auch „SuPrämien Hauskonzerte anbot Austin, der studentischen En­ perstar“ ausmacht. Ein Grund (für 500 Dollar) und eine klave im konservativen Texas, für ihre Entscheidung, das neue Freundschaft auf Facebook (für einen Zehner). ein kleines Haus mit Heimstudio.

Album komplett selbst zu schrei­ „Ich bin nicht gerne in teuren ben, zu arrangieren und zu pro­ Studios“, sagt Rose, „weil es mich duzieren, war auch, dass sie un­ stresst, auf Knopfdruck kreativ erfreuliche Erfahrungen mit sein zu müssen. Es ist viel ange­ Produzenten machte. „Bei mei­ In der Late-Night-Show von nehmer, bei mir zu Hause zu sein nem letzten Album war ich frus­ Seth Meyers spielte sie kürzlich und Aufnahmen zu machen, triert, dass ich meine Ideen mit ihre Single „Feel The Way wenn mir danach ist.“ anderen Leuten nicht so richtig I Want“ – ihr erster FernsehaufIhr kleines Studio ist vollge­ umsetzen konnte“, sagt Rose. tritt. Diesen bewältigte sie stellt mit Synthesizern und „Also dachte ich, es wäre leich­ trotz einer kleinen Panne Drum Machines, die auch den ter, alles selbst zu machen. Ich (der Gitarrengurt riss) glänzend wollte, dass dieses Album wirk­ Sound von „Superstar“ domi­ und fröhlich in einem roten nieren. Rose macht mächtigen, lich meins wird.“ ­Hosenanzug tanzend.

Trivia

ALLEINGANG

CROWDFUNDING

FERNSEHEN

10 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: CARA ROBBINS

Superstar in spe: Caroline Rose

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Mix

KNICK IT, BABY

AM BESTEN FÜR

TECHNIK

EXOTIKFANS Royole FlexPai Der noch weithin unbekannte Hersteller aus China hatte bereits 2018 das allererste Flex-Modell vorgestellt. Nun kommt er mit der zweiten, verbesserten Generation daher.

Was Format und Ausstattung betriff t, wird die Formel aufgemacht: Flexpai = Smartphone + Tablet.

1300 Euro ROYOLE.COM

AM BESTEN FÜR

TECHPIONIERE Der neueste Fetisch in der Mobiltelefonie ist das Klapphandy.

Per Scharnier kann das faltbare Display zum Tablet expandieren. Start einer noch jungen Technik

Huawei Mate X Nach diversen Verzögerungen wollen die vom Android-Boykott gebeutelten Chinesen nun „das weltweit schnellste faltbare 5-G-Smartphone“ auch hier herausbringen.

Der biegsame Bildschirm erfüllt je nach Wunsch Smartphone- oder MultimediaFunktionen als Acht-Zoll-Tablet.

2499 Euro HUAWEI.COM

Von RALF NIEMCZYK

AM BESTEN FÜR

AM BESTEN FÜR

AM BESTEN FÜR

MULTITASKER

INTENSIVNUTZER

NOSTALGIKER

LG G8x ThinQ

Galaxy Z Flip

Motorola Razr

Zwei 6,4-Zoll-Displays, die auch einzeln nutzbar sind, werden durch einen stufenlosen 360-Grad-Mechanismus zur MultitaskingMaschine. Über beide Bildschirme lassen sich ergänzende Jobs erledigen, ohne zwischen Apps wechseln zu müssen. Smarte Workstation in edlem Design.

Beim ersten „Foldable“ hat der Marktriese noch Lehrgeld wegen unausgereifter Hardware zahlen müssen. Nun betont Samsung das robuste Design und die belastbare Mechanik. Kleiner Außen- und ein 6,7-Zoll-Innenbildschirm, der durch hauchdünnes Schott-Glas geschützt ist.

Beim Marketing erinnern die Amerikaner an die Razr-Modelle von einst. Oldschool mit neuester Technik. Eingeklappt funktioniert die Außenhülle als „Quick-View-Display“.

Geöffnet erscheint das Hauptdisplay für die komplexere multimediale Nutzung. Das Kompakte unter den Knickern.

789 Euro LG.COM

1480 Euro SAMSUNG.COM

1600 Euro MOTOROLA.DE

12 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

G

FOTO: BEN WOLF

emessen an den ver­ kaufszahlen seiner Alben ist Gregory Porter ein ech­ ter Popstar des Jazz. Viel­ leicht liegt das auch dar­ an, dass er mit seiner viel gepriesenen Stimme all die Vorläufer und Nachzügler des Genres, von Gospel über Blues bis zum Soul, mit der versöhnlich stimmen­ den Autorität eines spirituellen Meisters zusammenführt. Nicht anders ist es bei seinem neuen Album, „All Rise“. Mit Blä­ sern, Chor und dem London Symphony Orchestra verhandeln die neuen Stücke komplexe Themen: bürgerkriegsähn­ liche Zustände in den USA, den Handel mit Kindersklaven, aber auch die Sehn­ sucht des umtriebigen Künstlers nach Familie und Heimat. Doch Porters Anlie­ gen ist es, diese Dinge zu etwas Erheben­ dem zusammenfließen zu lassen. Über allem steht trotz der „Long List Of Trou­ bles“, wie ein Song auf der Platte heißt, die Liebe, die bei dem Sohn einer Predi­ gerin und eines Predigers immer auch den Glauben an Gott mit einbezieht.

Gregory Porter, wie haben Sie diese Kombination aus Jazz und Soul ge­ funden?

Wenn ich meine Songs schreibe, dann kommen Gefühl und Rhythmus von ­allein. Ich denke nicht darüber nach, ob sich da irgendetwas mischt oder eine besondere Stilmischung entsteht. Ich lasse es einfach geschehen. Die ersten Ideen spreche ich auf mein Smart­phone.

Oft bin ich erstaunt, wie nahe das End­ ergebnis der ersten Idee kommt.

Für Ihre neue Platte haben Sie sich ungewöhnlich viel Zeit genommen.

Gab es dafür einen Grund?

Normalerweise gehe ich ins Studio und spiele in wenigen Wochen alles schnell ein. Aber dieses Mal war es eher etwas relaxter. Vier Tage in Los Angeles, zehn Tage in Paris. Dann haben wir in den Abbey-Road-Studios Streicher aufgenom­ men. Alles langsamer und ohne Druck.

Vielleicht war es dann doch etwas zu entspannt. Erst mal aufwachen, Crois­ sant essen, spazieren gehen … Meistens wollte ich dann doch schon morgens loslegen. Aber der Prozess hat dem Al­ bum gutgetan.

Sie singen von einer „Long List Of Troubles“, und in „Merchants Of Para­ dise“ geht es um den fatalen Miss­ brauch von Kindern in Kriegsgebie­ ten. Ist Ihre neue Platte bewusst politisch?

Ich schreibe über die misshandelten und verletzten Menschen nicht irgendwie, sondern in der Tradition, in der ich an alle Themen herangehe. Aber es geht tatsächlich um eine ganz deutliche ­Message: um Menschen, die Kinder als Waffen einsetzen. Sie missbrauchen die Unschuldigen und manipulieren sie. ­ Sie platzieren Minen in den Gedanken

Q&A

Gregory Porter Der Gesangsvirtuose über Kindesmissbrauch, seinen Glauben und Vorbilder in Soul und Jazz Von MARC VETTER

der Kinder. Eigentlich sind alle meine Songs Protestsongs. Das liegt schon an der Tradition, auf die ich mich berufe.

Singt man Gospel, dann singt man auch automatisch vom Kampf um gleiche Rechte und von mehr Respekt für schwarze Menschen.

Haben die aktuellen politischen ­Zustände in den USA Ihre neue Platte beeinflusst – oder spielt Donald Trump dabei gar keine Rolle?

Mehrere Songs auf der neuen Platte h andeln von den gesellschaftlichen ­ ­Zuständen in den USA. Ich hatte sehr schnell fünf Stücke zusammen, die aber doch zu deutlich wurden. Ich f­ ühlte mich fast besessen davon zu beschrei­ ben, was dieser Mann im Weißen Haus treibt. Ich musste diese Gefühle, die ­da­hinterstecken, dann erst mal mit ­meinen eigenen in Beziehung setzen und die ­Per­spektive wechseln.

Andererseits ist „All Rise“ auch eine sehr persönliche Angelegenheit ge­ worden. Wovon sprechen Sie in „Dad Gone Thing“?

Mein Vater war ein Prediger und ging im­ mer sehr ruppig mit mir um. Er schenkte in der Kirche jedem Aufmerksamkeit, mir hat er aber nichts beibringen wollen. Das habe ich nie verstanden. Ursprünglich sollte es in dem Song heißen: „You don’t ­teach me a goddamn thing.“ Das ging dann allerdings doch zu weit. Ich habe aber herausgefunden, dass mein Vater ein guter Sänger war. Jahrelang fragte ich mich, wem ich meine Stimme zu ver­ danken habe. Nun weiß ich, dass ich doch etwas von ihm bekommen habe.

Finden Sie, dass Liebe etwas ist, das man überschätzen könnte, wie es ein Songtitel auf Ihrer neuen LP ­an­deutet?

Ich sage nicht, dass Liebe überbewertet wird, sondern frage mich: Was, wenn es so wäre? Der Unterschied ist wichtig.

Wenn also Liebe überbewertet ist, dann lasse ich mich von ihr gern zum Narren halten. Wenn es auch schmerzt, es ist die beste bittere Pille meines Lebens.

Dieser Song dreht sich um die Liebe, die in uns ist. (Singt:) „Just the feeling, just the goose­bumps …“ Natürlich kann es einen furchtbar traurig machen. Grund­ sätzlich geht es aber um Euphorie, um die Vorstellung, dass es wunderbar ist, auf jemanden attraktiv zu wirken.

Nat King Cole bedeutet Ihnen viel , Sie widmeten ihm Ihr letztes Album.

Gibt es noch andere Musiker, die Sie inspirieren?

Ja, vor allem Jazz- und Soul-Musiker. Da ist Donny Hathaway. Auch Abbey Lin­ coln ist eine große Bereicherung. Ihr ausgelassenes Songwriting begeistert mich, die furchtlose Wahl ihrer Themen.

So viele persönliche Dinge finden sich in diesen Songs. Jeder, der das hört, ist ­davon berührt. Daran sieht man, dass Persönliches immer universell ist.

Rolling Stone | April 2020 | 13

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Mix pulsierende Tanzmusik, von beißenden SynthMelodien zerschossen. Rightons gegenwärtige Äs­ thetik ist betont gelassener Midtempo-Pop, sauber produziert, bei allen Arrangement-Raffinessen nie überfrachtet. „Ich wollte einen direkten Sound“, sagt er, „einen, bei dem man sich nicht in den ver­ schiedenen Instrumenten verliert.“ Schwirren doch Streicher vorbei, dann sporadisch und mit Bedacht eingesetzt. „Ich wollte auf keinen Fall ei­ nen Sound, wie ihn Oasis auf ihrem dritten Album hatten“, sagt er. „Ich kann mich noch gut daran erinnern, was für eine Enttäuschung das Album für mich war. Dieser aufgeblähte Sound. Eine klas­ sische Kokainplatte.“ Die Persona des abgehalfterten Performers, die Righton auf einigen der neuen Songs einnimmt, erinnert an die des Salonlöwen, den auch Alex Turner auf dem letzten Arctic-Monkeys-Album ge­ geben hat, einer Platte, an der Righton – er spielte Wurlitzer-Orgel – beteiligt war. Turner ist ein alter Freund, ihre beiden Bands wurden ungefähr zur gleichen Zeit von der hypefreudigen britischen

James Righton

Einsamer Salonlöwe Bei den Klaxons fühlte er sich unwohl – nun gibt James Righton auf seinem Soloalbum den Performer Von JAN JEKAL

J

ames righton war nicht der front­ mann der Klaxons. Er war zwar der Sänger der Indie-Dance-Band, die Ende der Nullerjahre ein Album lang für Auf­ sehen sorgte, und wurde daher für den Frontmann gehalten. Seine Rolle in der Band war jedoch alles andere als tatsächlich taktgebend. „Ich fühlte mich ein wenig einsam bei den Kla­ xons“, erzählt er heute. „Ideen, die ich einbringen wollte, wurden abgelehnt, bevor sie sich zu et­was entwickeln konnten.“ Die Texte, die er sang, waren nicht von ihm, waren esoterisch und ab­

strakt, sagt er, es ging um nichts weniger als den Kosmos. Vor sechs Jahren löste sich die Band auf.

Hört man Righton reden, sieht es nicht nach einer baldigen Reunion aus.

Es sei viel zu erfüllend, nun eigenständig zu ­arbeiten. „The Performer“, Rightons erstes Album unter eigenem Namen, entstand in seinem Londo­ ner Heimstudio in entspannten Solo-Sessions, ohne Bandkollegen, die er von seinen Ideen über­ zeugen musste. Der pianolastige, loungige Seven­ ties-Sound ist ein Tempowechsel für den 36-jäh­ rigen Briten. Die Klaxons-Alben waren hektisch

Musikpresse zur Zukunft der Gitarrenmusik aus­ gerufen. Ähnlich wie Turner vertraut Righton heu­ te auf eine distinguierte Garderobe, verkörpert die Rolle des altmodischen Performers auch dank strahlend weißer Anzüge. „Als ich mit dem Album begann, hatte ich mir gerade welche anfertigen lassen“, erzählt er. „Ich trat in denen auf und fühl­ te mich in ihnen, als trüge ich eine Uniform oder eine schutzsichere Weste. Ich konnte zu einer ­anderen Person werden, war nicht mehr der Vater, der Windeln wechselt.“ Denn der ist er auch. Righton ist mit der Schau­ spielerin Keira Knightley verheiratet, die beiden haben zwei junge Töchter. Weil Righton zu Hause arbeitet und Knightley häufig für Dreharbeiten unterwegs ist, kann er seinen Job leichter mit der Kindererziehung vereinen. Er nimmt ein paar Takes auf, bringt ein Kind ins Bett, macht dann weiter. Das Familienleben sei die wesentliche In­ spi­ration für seine Texte, vor allem die Spannung zwischen dem harmonischen Mikrokosmos, den sie sich geschaffen haben, und der instabilen po­ litischen Lage, gerade in England.

Der Brexit belaste ihn sehr, habe geradezu eine Identitätskrise ausgelöst. „Ich fühle mich von ­meinem Land völlig entfremdet“, sagt er. „Ich lebe seit 15 Jahren in London, wo alle in der EU bleiben wollen. Wenn ich aber in meine Heimatstadt in der Mitte des Landes zurückkehre, sehe ich, wie sie da die Flagge schwingen und vom Empire schwadro­ nieren. Es ist eine bizarre Zeit, Engländer zu sein.“ Rightons Lied „Edie“ richtet sich direkt an seine ältere Tochter. „Das Lied habe ich ihr immer vor­ gesungen, als sie noch ganz klein war und noch gar nicht sprechen konnte“, erzählt Righton. „Es ist ein ermutigendes Lied, das ihr Kraft geben soll.“ Es drückt einen Optimismus aus, den er selbst nicht immer verspürt. Aber als Performer muss er das, was er singt, ja gar nicht selbst glauben. Es zählt allein, dass sein Publikum es tut.

14 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: RAFFAELE CARIOU

„Ich wollte auf keinen Fall einen Sound, wie ihn Oasis auf ihrem dritten Album hatten“

björk’s orchestral arrangements of works so far

Präsentiert von MUSIKEXPRESS & KULTURNEWS

Präsentiert vom MUSIKEXPRESS

9.7. BERLIN Waldbühne — Exklusives Deutschlandkonzert!

9.6. DÜSSELDORF Mitsubishi Electric HALLE

Tickets exklusiv unter tickets.de und Eventim

10.6. BERLIN Velodrom

[€ 69,– bis 85,–]

[€ 44,–]

-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

KULTURNEWS & BEDROOMDISCO präsentieren

CELESTE

5.5. KÖLN Stadtgarten – Ausverkauft! [€ 19,–] 6.5. MÜNCHEN Feierwerk Hansa 39 -------------------------------------------------------------------------

PITCHFORK MUSIC FESTIVAL BERLIN

[€ 58,– bis 99,–] 8.5. — 9.5. BERLIN Tempodrom

-------------------------------------------------------------------------

BLOGREBELLEN & KALTBLUT präsentieren

SEVDALIZA

[€ 24,–] 14.5. BERLIN Metropol -------------------------------------------------------------------------

RAMMSTEIN

Europe Stadium Tour 2020 SPECIAL GUEST: DUO JATEKOK 29.5. + 30.5. LEIPZIG Red Bull Arena Leipzig 2.6. + 3.6. STUTTGART Mercedes-Benz Arena 27.6. + 28.6. DÜSSELDORF Merkur Spiel-Arena 1.7. + 2.7. HAMBURG Volksparkstadion 4.7. + 5.7. BERLIN Olympiastadion Alle Termine ausverkauft!

-------------------------------------------------------------------------

BYTE FM, DIFFUS MAGAZIN & ASK HELMUT präsentieren

JEHNNY BETH

[€ 24,–] 2.6. HAMBURG Mojo 30.6. BERLIN Säälchen

-------------------------------------------------------------------------

ROLLING STONE & DIFFUS MAGAZIN präsentieren

KIM GORDON

-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

ROLLING STONE präsentiert

PEARL JAM

SPECIAL GUEST: IDLES 23.6. FRANKFURT/MAIN Festhalle 25.6. BERLIN Waldbühne Ausverkauft!

-------------------------------------------------------------------------

MUSIKEXPRESS & KULTURNEWS präsentieren

THOM YORKE

Tomorrow’s Modern Boxes SPECIAL GUEST: JAMES HOLDEN [€ 40,– bis 47,–] 13.7. BERLIN Max-Schmeling-Halle

-------------------------------------------------------------------------

MUSIKEXPRESS & CRACK MAGAZINE präsentieren

FOUR TET

Live With Lighting By Squidsoup - A European Exclusive In 2020 17.10. BERLIN UFO im Velodrom – Ausverkauft! [€ 42,–] 18.10. BERLIN UFO im Velodrom – Zusatztermin!

Tickets exklusiv unter tickets.de -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Veranstalter: MCT Agentur GmbH Tickets unter tickets.de und an allen bekannten Vertragsvorverkaufsstellen. Die angegebenen Ticketpreise gelten für den Vorverkauf zzgl. Gebühren.

Weitere Konzerte anderer Künstler in Vorbereitung. Änderungen vorbehalten.

Infos unter mct-agentur.com und facebook.com/MCTAgenturGmbH

-------------------------------------------------------------------------

No Home Tour [€ 35,–] 8.6. BERLIN Astra Kulturhaus 9.6. KÖLN Gloria Theater -------------------------------------------------------------------------

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Mix

Der Maler PETER SAUL persifliert in grellem CartoonSurrealismus die amerikanische Politund Popkultur

D

as Monströse im ­A lltäglichen ist Peter Sauls Sujet: ein Zerr­ spiegel des Gewohnten, von Monstren und Mutationen der amerikanischen Geschäftsund ­Warenwelt, von Politik und Popkultur, ununterscheid­ bar in Karikaturen. Der 1934 in San Francisco geborene Maler ­vereint in seinen grellen und grotesken Bildern nur schein­ bar Gegensätzliches. Von An­ fang an waren seine ­A rbeiten von ­Comics und Cartoons ins­ piriert – seit den 60er-Jahren auch von den Zeichnungen und Satiren in „MAD“. Saul galt mit ­seinen ­verstörend anmu­

tenden Werken zwischen PopArt und Neosurrealismus als Provokateur und war seiner Zeit voraus. ­Korruption, Ras­ sismus, der Vietnamkrieg, gal­ lige Persiflagen auf Donald Duck, ­Ronald Reagan, George Bush Jr. bis hin zu Donald Trump – all das findet in Sauls schwarzhumorigen, ­dafür süffig-­bunten Gemälden statt.

Seine Bilder sind ätzende ­Kommentare zum amerikani­ schen Zeitgeschehen – hier ­„Telephone Call“ von 1988.

Der jetzt veröffentlichte Bildband „Crime And ­Punish­ment“ (Phaedron) dokumen­ tiert auf 192 Seiten mit 100 ausgewählten Illustrationen und Auf­sätzen von Kunst­ historikern und ­Essayisten ­Peter Sauls ­Schaffen.

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

BILD: PETER SAUL, TELEPHONE CALL, 1988 / ACRYLIC ON CANVAS, 233.7 X 213.4 CM COLLECTION KAWS / FOTO: FARZAD OWRANG

Gefräßige Monstren

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Mix Ed O’Brien

Flucht vor Radiohead Raus aus der Blase: Ed O’Brien, neben Jonny Greenwood der zweite Gitarrist der britischen Megaband, veröffentlicht sein erstes Soloalbum Von ROBERT ROTIFER

wird. Das ist doch eine wesentlich breitere Gemein­ schaft.“ Ein archaisches Vehikel wie Radiohead lässt sich in diese diverse Welt nicht mehr einord­ nen – angelsächsische Platzhirsche über fünfzig, deren Hegemonie die Headliner-Slots der Festivals blockiert: „Das sind Radiohead, ich weiß“, prustet O’Brien, „und es ist so langweilig!“ Und doch war einer der prägenden Auslöser für O’Briens Album die Erfahrung von Radioheads triumphalem Auftritt in Glastonbury 2017, als die Band sich wieder an den eupho­ rischen Kern unterhalb der mis­ anthropischen Melancholie ih­ rer Musik erinnerte. Nach dem Gig driftete O’Brien in Richtung des festivaleigenen Ökodorfs Shangri-­La und gab sich dort der egalitären Party hin. „I didn’t really know I could feel so old until I found my Shangri-La“, singt er im nach dem Ort der Erleuch­ tung benannten Song. Die Sehnsucht nach ge­ meinschaftlicher Ekstase spiegelt sich aber auch in den ausufernden Krautrock-House-Jams von „Olympik“ oder „Brasil“ wider, Letzterer inspiriert vom Karneval, den O’Brien 2013 beim einjährigen Familien­aufenthalt in Brasilien miterlebte.

Bei Radiohead spielt Ed O’Brien von jeher die Schattenrolle des anderen Gitarristen, der mit ­sphärischen Klängen der Thom-&-Jonny-Show den Teppich ausrollt. Ideologisch gesehen verkörpert er die esoterische Hippie-Fraktion. Seit 19 Jahren

trinkt er nicht mehr, stattdessen meditiert er, glaubt an Re­inkarnation, liest Carl Sagan, sinniert über die Rolle des Menschen in der Weite des Kosmos. Vor ein paar Jahren versuchte O’Brien sich auch als ­Unternehmer und investierte in ein Kulturzentrum in London Fields namens The Laundry. Aber bald wurde klar, dass seine Partner nur Pfundnoten vor Augen hatten. „Und jetzt höre ich, dass das Gebäude abgerissen und an seiner Stelle ein Wohnblock er­ richtet werden soll. Ich wurde bloß benutzt. Wir leben in einem Zeitalter, wo die Menschen furchtbare ­Dinge tun, um Geld zu machen.“ Immerhin verhalf ihm dieses kleine Trauma zu seinem zor­ nigsten Song, „Banksters“ (Kern­ zeile: „Where did all the money go?“), und mit Dave Okumu von The Invisible konnte er einen Untermieter des Laundry für seine Studioband gewinnen – nebst Produzent Flood, Wilco-Schlagzeuger Glenn Kot­ che, Adrian Utley von Portishead und den Ses­sion­ musiker-Legenden Omar Hakim und Nathan East als Rhythmusgruppe de luxe. Wenn man mit den Besten spiele, werde man selber besser, sagt O’Brien. „Ich hatte Zweifel, dass Musiker so ­eines Kalibers Interesse daran haben könnten, mit mir zu arbeiten, aber dann dachte ich: Ach, was soll’s, ich ­f rage sie einfach!“ Das ist auch eine Art, noch einmal ganz unten anzufangen.

„Menschen tun furchtbare Dinge, nur um Geld zu ­machen“

18 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: C FLANIGAN / KONTRIBUTOR

N

och mal ganz unten anfangen, das ist die Rockstar-Version der Fan­ tasie vom Einmal-wieder-jung-Sein und der Beginn so mancher Solokar­ riere. „Ich freue mich schon darauf, als kleiner Fisch da rauszugehen und nicht immer die letzte Band auf dem Festival zu sein“, schwärmt Ed O’Brien. „Mit Radiohead kommt man erst um sechs Uhr abends angerollt und verbringt die ganz Zeit in einer Blase.“ So wie früher mit anderen Bands abhängen und Effektgeräte vergleichen, ­davon träumt ein 51-Jähriger.

EOB, wie er sich als Solokünstler nennt, sitzt im spiegelnd neuen Londoner Büro von Universal, gleich nebenan vom Google-Hauptquartier. Unten auf der Straße huschen junge Tech-Genies in ihre Telefone versunken über den von Security pa­ trouil­lierten Vorplatz. Das hat alles seine Ironie, denn O’Brien vertraut sein Debütalbum, „Earth“, genau jener Industrie an, deren Umarmung seine Stammband in den vergangenen anderthalb Jahr­ zehnten so konsequent abstreifte. „Ich war schon 18 Jahre lang nicht auf einem Major-Label“, sagt er. „Wenn man heutzutage hier reinkommt, ist alles so anders. Allein wie viele Frauen hier arbeiten, die Energie fühlt sich besser an! Erinnern Sie sich an die Neunziger, da war doch alles sehr weiß und männlich. Gut, wir haben den Britpop gefeiert, da gab es ein paar nette Songs, aber kein Vergleich zu jetzt, da die schwarze britische Jugend von Leuten wie Dave, Little Simz und Stormzy repräsentiert

DIE CD

#151

NEW NOISES IM APRIL

DIE TRACKS 1. Morrissey

NEW NOISES

„I Am Not A Dog On A Chain“ Das Titelstück von Morrisseys neuem ­Album fügt dem Aphorismen-Schatz des Nörglers noch ein paar Erkenntnisse hinzu. Seinen Rückzug von der modernen Welt hatte er schon auf „Low In High School“ unmissverständlich propagiert, doch erst jetzt findet er dafür die geeignete süffisante Form.

2. James Righton „See The Monster“

Auf seinem Solodebüt, „The Performer“, setzt der Keyboarder der Klaxons zu ungeahnten Pop-Höhenflügen an. „See The Monsters“ vermischt Beatles-Harmonien, ELO-Streicher und Pink-Floyd-Pathos.

3. Rufus Wainwright „Damsel In Distress“

Mit „Unfollow The Rules“ demonstriert Wainwright nach längerer Pop-Pause, dass er nichts von seinen Qualitäten als Songschreiber eingebüßt hat. „Damsel In Distress“ ist eine Hommage an die ­goldene Ära des Laurel Canyon, speziell an Joni Mitchell.

4. Caroline Rose

„Feel The Way I Want“ Pop und R&B statt Country und Folk: Die New Yorker Songschreiberin kappt mit ihrem neuen Album „Superstar“ endgültig ihre musikalischen Wurzeln. Ein Wagnis, das sich hoffentlich nicht nur in künstle­ rischer Hinsicht ausgezahlt hat.

5. Pokey LaFarge „End Of My Rope“

Sich von Traditionen zu entfernen kommt für den kalifornischen Musiker ­Pokey ­L aFarge nicht infrage. Sein Stilmix aus Country-Twang, Blues-Licks und ­Swing-­Sophistication wirkt viel zu selbst­ bewusst, um Konzessionen in Richtung Zeitgeist zu machen.

6. Slow Leaves „Wishes“

NEW NOISES VOL. 151

Unter seinem Moniker Slow Leaves, den er sich aus einem Gedicht des argen­ tinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges lieh, entwirft der kanadische Song­ schreiber Grant Davidson wunderbare ­Folk-Pop-Miniaturen wie dieses an Antony And The Johnsons gemahnende Stück.

ILLUSTRATION: PATRICK KLOSE

7. Other Lives „Hey Hey I“

Die Indie-Rockband aus Stillwater/ Oklahoma lässt es auf ihrem neuen Werk „For Their Love“ gar orchestral angehen, schichtet Chöre auf Streicher. Das Resultat klingt wie der Missing Link zwischen ­Britpop und Wall of Sound.

Rolling Stone | April 2020 | 19

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Mix und gewinne einen Grammy“ nicht unbedingt ­beliebt. Mit 19 Jahren brachte er seine erste EP, „My Fault“, heraus; ein Jahr später, als er für die Ma­tura lernte, rief Bilderbuch-Frontmann Maurice Ernst an, um ihn mit auf Tournee zu nehmen.

Europaweite Konzerte, ein Auftritt beim SXSWFestival sowie weitere EPs und Songs folgten, doch die Frage nach dem ersten Album blieb unbeant­ wortet. „Ich mag das nicht so, wenn es ein Album gibt und kein Song für sich allein stehen kann.

Aber dann war es zum ersten Mal so, dass ich Songs gemacht habe, die irgendwie zusammen­

Mavi Phoenix

Teelöffel Ruhm Auf seinem Debütalbum verarbeitet der Rapper Mavi Phoenix seinen Weg zum Leben als Mann Von NAOMI WEBSTER-GRUNDL

I

mmer diese fragen: wie ist es als frau im Rap? Für mich war es einfach immer ein Stich ins Herz, und ich dachte: Ich weiß es nicht – weil ich keine Frau bin!“ Im Som­ mer 2019 veröffentlichte Mavi Phoenix den Song „Bullet In My Heart“ und erklärte über ein­ geblendete Texte im dazugehörigen Video, dass er von nun an als Mann leben werde, nicht mehr igno­r ieren werde, womit er schon sein ganzes ­Leben zu kämpfen hatte. In den Lyrics heißt es: „I take a bullet for you“, was eigentlich ein Selbst­ gespräch ist. „Eine Transition ist an sich kein Tod, aber ein Teil fühlt sich schon so an, vor allem wenn die ­Familie irgendwie traurig ist und so unsensible

Sachen sagt wie: Ich verliere meine Tochter! Aber I take a bullet – für mich selbst, damit ich über­ haupt weiterleben kann.“ Mavi Phoenix’ Debütalbum, „Boys Toys“, ist eine Suche nach dem eigenen Platz in der internationa­ len HipHop-Welt. Nur Teil einer Szene in Wien zu sein, wo er lebt, interessiert Phoenix nicht – fände er sogar „ein bisschen eklig“. Als er mit elf Jahren anfing, Musik in seinem Zimmer zu machen, war ihm nicht mal klar, dass es in Österreich eine Hip­ Hop-Szene gibt. In Linz aufwachsend schielte er von Anfang an auf die USA, die Musik, die dort entstand, das Flair. In der Schule machte Phoenix sich mit seiner Einstellung „Ich werde mal ein Star

passten – die Art des Storytelling und generell das Thema, das mich durchs letzte Jahr begleitet hat.“ Phoenix’ Bewältigungsstrategie war es lange, das Nicht­übereinstimmen der eigenen Geschlechts­ identität mit dem biologisch und gesellschaftlich zugewiesenen Geschlecht zu verdrängen: „Ich habe immer gesagt, es ist egal, welches Geschlecht man hat. Und es ist ja auch egal, aber offensichtlich ist es mir nicht egal, sonst wäre ich nicht trans.

Ich hab mich immer extrem eingeschränkt gefühlt durch das Frausein.“ Sein energetisch-aggressives bis verspielt-melan­ cholisches Debüt, auf dem Phoenix seinem DIYSound mit viel Auto-Tune treu bleibt, wurde in ­einem kleinen Kreis von Leuten in Linz, Wien und Los Angeles aufgenommen. Phoenix besingt darauf die Unausweichlichkeit der Transition: „Some things gotta be said/ Before I die, before it’s too late/ I’m not real, so my life is a joke“; den Kampf um die eigene Identität: „I see your eyes all over me/ Cause I am not who I should be“; die Anerkennung als Mann: „How could I be man enough for you?“ Und: „Just because my voice is high/ Doesn’t mean I’m not a guy.“ Bei fast jedem Stück taucht Phoenix’ Stimme in einer hochgepitchten Version auf: „Man verfremdet seine Stimme ja auch, weil man etwas nicht mit der eigenen sagen will. Und dann bin ich darauf gekommen: Das ist das imaginäre Kind in mir, das die Wahrheit ausspricht. Das bin ich als der kleine Junge, der ich nie sein konnte.“ Natürlich ist nicht alles leichter geworden seit dem Coming-out als trans Mann – einen Weg mit Operationen und Hormonen hält Phoenix für ziemlich „scary“, aber sein Äußeres empfindet er noch nicht als männlich genug: Er trägt weite ­K lamotten und eine blondierte 90er-Jahre-Boy­ band-Frisur. Früher stand Mavi Phoenix als Kunst­ figur „cool“ und schützend vor der Privatperson: „Als Mavi musste ich nicht irgendwie brav oder typisch weiblich sein. Aber jetzt ist das Verhältnis anders. Mavi Phoenix ist für mich noch immer das Über-Ich. Aber da es mir jetzt besser geht und ich mich mit dem Menschen, der ich privat bin, viel besser identifizieren kann, brauche ich das nicht mehr so.“ Die Star-Ambitionen aus der Schulzeit sind ver­ schwunden. An den Grammy glaubt er immer noch, aber der bisherige „Teelöffel Berühmtheit“ reicht ihm vollkommen. Alles, was Mavi Phoenix heute sein will, ist „an average guy“.

20 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: INES FRISCHENSCHLAGER

„Es ist das imaginäre Kind in mir, das spricht – der Junge, der ich nicht sein konnte“

SPiRiTS IN THE FOREST LIVE – das komplette Konzert in der Berliner Waldbühne

2Blu-ray/2CD-Set, 2DVD/2CD-Set oder Doppel-CD inklusive des bisher unveröffentlichten Konzertfilms und Soundtracks „LiVE SPiRiTS“ sowie „SPiRiTS

IN THE FOREST – a Depeche Mode film“

von Anton Corbijn

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Mix

AGENCY: FREDA + WOOLF / STYLING: RÉKA MARIA PROBST JEANS: LEVI’S / TOP, ARMBAND, UHR: PRIVAT / KETTE: NINA KASTENS DANKESCHÖN AN DIE SPREEGRAPHEN STUDIOS

Maria Furtwängler mit Lieblings-LP

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

„Ungefilterte Naturgewalt“ Die Schauspielerin Maria Furtwängler liebt die Lieder der US-Songwriterin Sara Bareilles – und singt sie sogar nach Foto von CATHLEEN WOLF Aufgezeichnet von RALF NIEMCZYK

D

ie kalifornische singer­songwri­ Auch da gibt es entzückende Songs. Und sie ist, was terin Sara Bareilles habe ich über den mir aus dem Herzen spricht, engagierte Feministin.

Song „Manhattan“ entdeckt: Es ist der Etwa mit der New­ Female­Empowerment­Single vierte auf ihrem vierten Studioalbum, „Armor“, produziert von T Bone Burnett. Ein sehr „The Blessed Unrest“, wie ich später rebellischer und starker Track mit smarten Texten. feststellte, einer Aufnahme von 2013, sogar für einen Ähnlich wie das Gastroarbeiterinnen­Thema bei Grammy nominiert. Jedenfalls war ich in Los Angeles „Waitress“, von Frauen für Frauen … auf der Abschlussveranstaltung der Musik­Uni Ich mag gute Frauenstimmen, emotionale und meiner Tochter, und dort spielte eine Studentin melancholische Songs. Davon hat Bareilles viele, und „Manhattan“ als Coverversion. Es war keine sonder­ ich mag auch dieses Crossover zwischen Pop, Rock lich tolle Interpretation, trotzdem hatte es bei mir und Folk. Musik ist für mich nicht wegzudenken und klick gemacht. Ich musste dieses Lied unbedingt hat einen großen Anteil in meinem Leben. Es begann noch einmal hören und habe mich dann sofort in mit Klassik, dann kamen Police, Nina Hagen, Sara Beth verliebt, vor allem in „Manhattan“. Es gibt Prince … Musik war immer ein Motor, zudem tanze für mich kaum eine Sängerin, die so ungefiltert ihre ich wahnsinnig gern. Nina Hagen etwa verbinde ich Stimme öffnen kann. Eine unwahrscheinliche Stim­ mit einer alten Stereoanlage und meiner Großmutter, me wie eine Naturgewalt, auf eine zauberhaft natür­ die diese einmal polternd ausmachte, als ich krank liche Weise. Das hat mich auch bei anderen Songs war. Sie sagte nur: „Von so was wird man nicht ge­ berührt. Etwa bei „Gravity“ von ihrem Album „Little sund!“ Voice“, oder wenn sie „Goodbye Yellow Brick Road“ An den ersten Superhit, den ich auf dem Walkman von Elton John covert. Eine unglaub­ gehört habe, erinnere ich mich auch lich musikalische Frau, Pianistin und noch sehr genau. Das war nämlich Songschreiberin. „All For Leyna“ von Billy Joel. Das Meine Verehrung ging sogar so war nur für mich und hat mich ab­ weit, dass ich mir irgendwann vorge­ heben lassen – eben ein Ausbrechen nommen habe, „Manhattan“ selbst aus der pubertären Verzweiflung.

Prominente und ihre einmal aufzuführen. Im eher priva­ Aus einer sentimentalen Ader war Lieblingsplatten. ten Kreis, am Klavier. Ich hatte ja bei ich total verknallt in Elton John.

In diesem Monat: die dieser Ostsee­Schiffstour „Rockli­ Dazu hat auf jeden Fall sein Song Schauspielerin ner“ mit Udo Lindenberg unser Du­ „Sorry Seems To Be The Hardest Maria Furtwängler, die am 29. März und ett „Bist du vom KGB?“ vor einem Word“ beigetragen.

26. April wieder die größeren Publikum gesungen. Doch Wenn ich mich einer Subkultur LKA-Kommissarin „Manhattan“ ist etwas anderes. Ich zuordnen müsste, war ich natürlich Charlotte Lindholm in war selten so aufgeregt, weil mir Popper. Mit einer gelben Jacke von den „Tatort“-Folgen diese Frau so viel bedeutet und ich Benetton und Penny Loafers, natür­ „Krieg im Kopf“ und ihren Song nicht verhunzen und lich vorn mit einem echten Penny „National Feminin“ auch die authentische Art und Weise drin. In diese Phase fiel auch mein spielt. Innerhalb der von ihr mitbegründeten ihrer Musik treffen wollte. Ich war Closest­to­Groupie­Erlebnis. Und MaLisa-Stiftung engaunfassbar nervös für so eine kleine zwar nach einem Münchner Konzert giert sie sich aktuell mit Nummer. von Al Jarreau, wo ich mit meiner Studien und Aktionen Leider bin ich noch nicht dazu Cousine war. Wir wurden nach der für Geschlechtergegekommen, sie live zu sehen. Meine Show von der Bühnenkante hinter rechtigkeit in der Film-, Tochter war auf einem Konzert in die Bühne geholt, wo eine nette und TV- und Musikbranche.

Neben ihren zahlreichen Los Angeles und hat mir ein Promo­ coole Stimmung herrschte. Im Hotel Film- und TV-Rollen T­Shirt von ihr zu Weihnachten ge­ Vier Jahreszeiten hatte ich dann stand die ausgebildete schenkt. Übrigens ist auch das spä­ meine Privataudienz mit Al Jarreau. Ärztin 2017 in Berlin tere Werk von Sara Bareilles bemer­ Ich dürfte seine weichen, sehr femi­ in „Alles muss glänzen“ kenswert. Sie hat die Musik und den ninen Hände halten, als er mir ir­ von Noah Haidle in Text zum sehr erfolgreichen Broad­ gendeine tolle Musiker­Story erzählt einer Hauptrolle auf der way­Musical „Waitress“ geschrieben. hat. Das war ganz hinreißend!

Theaterbühne.

COVER STORIES

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Mix Skinny Living

Spätzünder Wie die englische Band Skinny Living immer mehr Fans sammelt – obwohl sie nach sieben Jahren noch immer kein Album veröffentlicht hat

E

ine frage, die euch bestimmt nervt … „Woher unser Name kommt?“ Nein, das ist nicht die Frage. Die ha­ ben Skinny Living, meist ver­treten durch ihren Frontmann und Sänger Ryan Johnston, nämlich schon in so einigen Inter­ views beantwortet. Erklärt, dass der Name nichts mit Abnehmwahn oder Skinny-Jeans zu tun hat.

Dass „skinny living“ ein engli­ scher Ausdruck ist, der bedeutet, ziemlich pleite zu sein – eben ein „dürres“ Leben zu führen. „Dann ist die Frage bestimmt, wie wir unsere Musik beschrei­ ben würden“, befürchtet Johns­ ton als Nächstes. Nein, auch das nicht. „Es geht um euer erstes Album.“ – „Wann das kommt?“ – „Ob das irgend­ wann noch kommt!“ Ryan Johnston zieht die Au­ genbrauen hoch und wirkt dann tatsächlich etwas genervt.

Skinny Living machen bereits seit 2013 Musik und verdanken ihr Band-Sein einer Open-Mic-Night in einem kleinen Pub im britischen Wakefield süd­ lich von Leeds. Johnston trat dort auf – a cappella, weil er kein Instrumente spielt. Was ihm an Gitar­ ren- oder Klavierkünsten fehlt, machte er aber schon damals mit seiner gewaltigen Stimme wett.

In jener Nacht saß auch Gitarrist Will Booth in dem kleinen Pub. Und der war so begeistert von Johns­

tons Auftritt, dass die beiden begannen, gemein­ sam zu spielen. Bei einer weiteren Open-Mic-Nacht schloss sich dann Danny Hepworth als zweiter Gi­ tarrist der Truppe an.

Genug Material für ein Album sei vorhanden, sagt Johnston nun, sieben Jahre später. Aber einen Produzenten zu finden, der wirklich passe, das sei schwierig. Herumprobiert habe man schon viel. „Und außerdem hatten wir das Gefühl, noch nicht genug Auf­ merksamkeit zu haben.“ Das ist recht bescheiden ge­ sagt, denn auch ohne Album ha­ ben Skinny Living schon eine beeindruckende Gefolgschaft – die sich in Zahlen widerspiegelt.

Allein 2019 wurden Songs der Band über 12 Millionen Mal bei Spotify gestreamt, ihr Video zu „Let Me In“ hat über 3,5 Millionen YouTube-Aufrufe. Die Verbundenheit zu ihren Fans geht sogar so weit, dass die Band bei der Betitelung ihrer Songs zuweilen die Community um Rat bittet.

Auf diese Weise erhielten beispielsweise die Stücke „In This Time“ oder „Lost The Fire“ ihre Namen.

Zuvor wurden sie einfach als „Untitled Song“ auf YouTube und Facebook gestellt. „Die EP hat sich ganz gut geschlagen“, sagt Johns­ ­ton zum bisher größten Erfolg der Band, ihrer jüngsten Veröffentlichung: „No Messiah“ kämpfte sich bis auf die vordersten Ränge der iTunes-­Charts

„ Je länger man an einem Song arbeitet, ­desto mehr Gefühl geht verloren“

vor. Und ähnlich den vorherigen beiden Studio-EPs (alle nur digital, nicht physisch veröffentlicht) bie­ tet ihre dritte eine Probe ihres Talents: Vom Nachvorn-Indie-Rock in „Let Go“ über die R’n’B-Intensi­ tät von „My Blood“ bis hin zum traurig-schönen Soul in „No Messiah“.

Die treuesten Fans gewinnt die Band allerdings nicht im Netz, sondern bei ihren Konzerten. Denn live verströmt das Trio eher Stadionatmosphäre als das Open-Mic-Flair, in dessen Dunst es sich einst formierte – die Konzerte wirken nach den sieben Jahren wie Auftritte einer arrivierten Band. „Dieses Gefühl auch auf ein Studioalbum zu bekommen, das ist unser Ziel. Aber je länger man an einem Song herumarbeitet, desto mehr Gefühl, desto mehr menschliche Note geht dabei verloren. Dabei ist das, zumindest für mich, das Wichtigste“, sagt Johnston. Warum sie dann nicht einfach ein LiveAlbum machen? „Das war eigentlich unser Traum!

Alles roh, unproduziert, echt. Aber Live-Aufnah­ men werden einfach nicht im Radio gespielt.“ Derzeit ist die Band mal wieder im Studio. Sie hätten gute Songs, „vielleicht die besten bisher“, sagt Johnston. Und auch dass daraus nun vielleicht das lang ersehnte Album werden könnte. Wenn das klappt, wird allerdings bestimmt sehr schnell die nächste nervige Frage im Raum stehen: Wo bleibt denn das zweite Album?

Wie jede Band weiß: Das zweite Album ist das schwierigste.

24 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: SILVANA TREVALE

Von JAKOB BAUMER

Mysterien des Alltags Beiläufige Entdeckungen auf einer Tournee: Die schöne Kunst des Nasenflötenspiels und eine Impro-Rock-Band namens Schattenwurst

M

anchmal kehrt man von einer Tournee verän­ dert zurück. Das liegt weniger daran, dass tou­ rende Musiker – wie gern angenommen wird – Unmengen von Drogen nähmen oder anderen Formen der Ausschweifung nachgingen. Es sind eher kurze, unverhoff te Gespräche mit wildfremden Menschen nach einem Auf­ tritt oder kleine Eindrücke am Wegesrand, die einem neue Pers­ pektiven jenseits des heimischen Alltags eröff nen – oder einen im schlimmsten Fall nie wieder in diesen zurückfinden lassen.

Neulich unterhielt ich mich in Hannover nach einem Konzert mit einer Frau, die mir ausgiebig von ihrer Leidenschaft für das Nasenflötenspiel berichtete. Ihr Partner, ein Türsteher, habe ihr das Instrument zum Geburts­ tag geschenkt, und seither sei sie entflammt. „Nasenflöte?

Was spielt man denn da so zum FÜHRT POPTAGEBUCH Einstieg?“, fragte ich. Sie habe mit Vangelis’ „Chariots Of Fire“ an­ gefangen, antwortete die Frau. Im Moment übe sie „The Lion Sleeps Tonight“, das sei aber nicht ganz einfach. „Die macht das super!“, sagte der Türsteherfreund, grinste zu mir herab und drückte mir einen Mexikaner in die Hand. „Ich könnte mir das Titelthema von ‚Mein Name ist Nobody‘ ganz gut in einer Nasenflötenversion vorstellen“, sagte ich, nachdem ich das Getränk hinunterge­ kippt hatte. Interessanter Vorschlag, sie werde sich das Lied mal vorknöpfen, versprach die Frau. „Das Entscheidende ist die Atmung“, informierte der Türsteher und machte sich daran, eine weitere Run­ de Mexikaner aufzutreiben.

Zurück von der Tour recherchierte ich, welche Stücke in der Nasenflötenszene besonders beliebt sind. Auf YouTube stieß ich auf eine Dame, die, ganz in Lila ge­ kleidet, auf einem Baumstamm hockt und

ILLUSTRATION: STUDIO PONG

ERIC PFEIL

„Greensleeves“ auf dem streitbaren Instrument zum Besten gibt. Ich kann nicht behaupten, der Funke wäre sogleich auf mich übergesprungen. Das liegt auch daran, dass die Dame beim Nasenflöten­ spiel ausschaut, als wäre mit dem morgend­ lichen Löwenzahnsalat etwas nicht in Ordnung gewesen.

Tatsächlich weisen alle Nasenflöten­ videos dasselbe Phänomen auf: Der mögliche Genuss der Musik wird durch den Ausdruck bei der Darbietung ver­ unmöglicht. Hier scheint eine Subkultur am Werk, der es nicht um Coolness, ja noch nicht einmal mehr um Würde zu ge­ hen scheint. In einem Video sitzt ein Mann im Schneidersitz vor einer Tanne und bietet ein Weihnachtsmedley dar; ein an­ derer Herr steht graubärtig und im Anzug in einer Art Blackbox und lässt mit seiner Auff ührung erahnen, wie Ende der Sieb­ ziger eine Nasenflöten­Sonderausgabe des Telekolleg ausgesehen haben könnte.

Das hat alles einen gänzlich unironischen Charme, kann aber auch dazu führen, dass man nach dem Genuss von drei oder vier solcher Videos unter unkontrolliertem Zucken in die Tischkante beißt. Ob es auch prominente Popsongs mit Nasen­ flötenbeteiligung gibt, mochte ich jeden­ falls nicht mehr recherchieren.

Die andere Sache, die seit der letzten Tournee in mir nachhallt, ist ein Band­ name, den ich auf einem Plakat in Karlsru­ he entdeckte. Es ist der faszinierendste Bandname, der mir im deutschsprachigen Raum bislang untergekommen ist, ein Bandname von schönster konsonantensat­ ter Pracht: Schattenwurst. Noch heute, Wochen nach der Erstbegegnung, flüstere ich ihn in den unterschiedlichsten Situ­ ationen vor mich hin. Ich kann den Lesern nur empfehlen, es mir gleichzutun. Gleich jetzt am besten: „Schattenwurst.“ Genie­ ßen Sie jeden Moment mit diesem Wort!

Natürlich habe ich recherchiert, was sich musikalisch hinter diesem Namen verbirgt. Schattenwurst bestehen aus sechs Herren, überwiegend wohl jenseits der Fünfzig, die laut Eigenaussage „orien­ tierungslosen Impro­Rock“ spielen. So­ wenig mich diese Genrebeschreibung in ihren Bann schlägt, so sehr unterstütze ich hiermit das Wirken dieser Band.

Natürlich hätte ich es noch interessanter gefunden, wenn Schattenwurst eine Death­Metal­Band gewesen wäre, aber man kann nicht alles haben.

Sollte ich dereinst wiedergeboren werden, dann bitte als Nasenflötenspieler bei Schattenwurst.

mit BAND JUBEL-TOUR 2020

10.07. Wunstorf 20.08. Würselen

21.08. Bensheim 22.08.Kamp-Lintfort

07.06. Görlitz 28.06. München 24.07. Tübingen 25.07. Wanfried

05.09. Schwerin 06.09. Oranienburg 12.09. Magdeburg 13.09. Leipzig

KIM WILDE

02.10. Hannover 03.10. Leipzig 04.10. Berlin 05.10. Hamburg 07.10. Köln

31.10. Reutlingen 03.11. Dortmund 04.11. Emden 05.11. Hamburg

08.10. Saarbrücken 09.10. Stuttgart 10.10. Offenbach 13.10. München 14.10. Mannheim

08.11. Lübeck 14.11. Dresden 23.11. Freiburg 30.11. Regensburg

Tickets auf www.ADticket.de © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Mix Nick Mason

Originale Kopie Mit Saucerful Of Secrets hat Nick Mason eine Art Tribute-Band seiner selbst ­gegründet, die das psychedelische Frühwerk von Pink Floyd aufführt

I

n viktorianischen zeiten wurden im tatsächlich kreisrunden Roundhouse in Camden Town/Nordlondon die Dampf­ lokomotiven nicht bloß inspiziert und ge­ wartet – man konnte sie sogar auf einem rotierenden Gleis um ihre eigene Achse drehen. Ein gutes Jahrhundert später wurde der für moderne Loks zu klein gewordene, leer stehende Backstein­ bau erneut Schauplatz eines beeindruckenden Wendemanövers. Am 15. Oktober 1966 nämlich

fuhr ein Roadie der jungen Psychedelic-Combo Pink Floyd deren mit Instrumenten und Lichtpro­ jektoren gefüllten Kleintransporter in das Gebäude und in einen eigens für die Einweihungsfeier des Underground-Magazins „International Times“ her­ gestellten gigantischen Wackelpudding. Allem von der ruinierten Süßspeise verursachten Unmut zum Trotz gelang es der schuldigen Band, sich an jenem Abend tief ins teils chemisch erweiterte Bewusst­ sein ihres rasend hippen Publikums zu spielen,

darunter Paul McCartney, Marianne Faithfull, ­ ichelangelo Antonioni und die damals gerade als M Modesty Blaise reüssierende Schauspielerin ­Monica Vitti. Der aus einer einzigen Steckdose in einem benachbarten Büro mit Strom versorgte Trip dau­ erte allerdings nur eine knappe Stunde, dann wa­ ren alle Sicherungen durch.

Wieder ein halbes Jahrhundert später, Anfang Mai 2019, saß Pink-Floyd-Schlagzeuger Nick Mason unter demselben Dach hinter anderen Trommeln,

26 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: RICHARD ECCLESTONE / KONTRIBUTOR

Von ROBERT ROTIFER

diesmal als Chef eines Ensembles namens Saucer­ langt, dann spielt man ein bisschen was von ,The ful Of Secrets, das sich dem Frühwerk seiner alten Wall‘ und noch ein paar Sachen, die das Publikum Stammband widmet. Der Mitschnitt von der Rück­ unbedingt hören will, und das ist es auch schon.“ kehr dieser Musik auf die Bühne des Roundhouse Von selbst wäre Mason nicht auf die Idee ge­ wird nun als Live-Album samt zugehörigem Film kommen, an dieser Geschichtsverzerrung was zu veröffentlicht. In der Setlist finden sich dabei ändern. Doch dann fand er sich vor zwei Jahren in ­Stücke aus den Jahren 1966 bis 1972 wie „Let There einem Restaurant einem ihm bis dato unbekannten Be More Light“ oder „Fearless“. Bei „Remember A Mann namens Lee Harris gegenüber, der ihm eine Day“ hört man Mason sogar einen Floyd-Song zum unverschämt freche Idee unterbreitete. Er, immer­ hin Ex-Gitarrist der Blockheads, der Band des ver­ ersten Mal spielen (bei der Studioversion trommelt Produzent Norman Smith). storbenen Ian Dury, wollte Mason ­da­für gewinnen, Verbunden mit Neuinterpretationen vertrauter mit ihm gemeinsam alte Floyd-Songs zu spielen.

Klassiker der Ära wie „Interstellar Overdrive“ oder Guy Pratt, Live-Bassist bei Pink „Astronomy Domine“ summiert sich das zu voller Floyd seit 1987, hatte das Tref­ Genugtuung für all jene, die Pink Floyd nicht für fen eingefädelt, aber Harris’ ihr Reifewerk ab „The Dark Side Of The Moon“ ver­ Plänen wenig Erfolgschancen ehren, sondern für ihre frühere Inkarnation Syd eingeräumt. Doch zur Überra­ Barrett respektive die spannende Richtungssuche schung aller Anwesenden, ein­ in den Jahren nach dessen Abgang: Alben wie „The schließlich Mason selbst, sagte Piper At The Gates of Dawn“, besagtes „A Saucerful dieser Ja. „Was mein Interesse Of Secrets“, „Ummagumma“, „Atom Heart Mother“ wirklich weckte, war, dass mir das Spielen fehlte“, und „Meddle“ spannten einen weiten Bogen von erklärt Nick Mason. Die Aussicht, in den Tiefen mit Musique-concrète-Anleihen durchsetzter, der Vergangenheit zu s­ chürfen, gefiel ihm aus ziem­ ­launisch infantiler Psychedelik bis zur Auflösung lich pragmatischen Gründen: „Ich wollte nicht die des Songformats in ambienten bis monumentalen Tri­bute-Band sein, die ‚Comforta­bly Numb‘, ‚Time‘ Soundlandschaften. und ‚Money‘ spielt. Das hatte ich schon mit David und Roger ordentlich gemacht.“ 2016 hatte Nick Mason unter Abwesenheit der einander spinnefeinden David Gilmour und Roger Für die essenzielle Rolle des Tastenspielers wur­ Waters und des 2008 tragisch früh verstorbenen de Film- und Fernsehkomponist Dom Beken enga­ Rick Wright die Zusammenfassung dieser Epoche giert, der früher unter anderem als Weggefährte in einem Boxset namens „The Early Years“ betreut. von The Orb das elektronische Erbe von Pink Floyd „Noch einmal schnell alles in Schachteln stecken, in die Gegenwart weitergetragen hatte. Als zweiten für die Leute, die so was mögen, bevor diese Dinger Gitarristen holte Harris sich zur Unterstützung ausgerechnet Gary Kemp von der Eighties-Popverschwinden“, wie Mason es damals formulierte. „Na ja, es ist anders gekommen, vor allem dank des Band Spandau Ballet, unter dessen New-RomanticVinyl-Revivals“, sagt er nun im Büro der Londoner Kostümierung sich immer schon ein frustrierter Plattenfirma. „Aber die Leute wohnen heutzutage Sixties-Freak verborgen hatte. Diese wild zusam­ mengewürfelte Formation schien sich von der ers­ auf derart engem Raum, die haben für Platten und ten Probe an blind zu verstehen, wo­ Stereoanlagen doch gar keinen Platz mehr. Ich habe zwei Söhne in New bei Mason diesmal die ungewohnte York und die besitzen nichts außer Hauptrolle spielen musste. Das sei so, großen Fernsehbildschirmen.“ als wenn man den Koch des Piraten­ Wer Masons 2004 erschienenen schiffs zum Kapitän erklärt hätte, Memoirenband „Inside Out“ gelesen sagt er. „Aber ich bin kein sehr stren­ hat, weiß, dass der zum Hobbyrenn­ ger Kapitän. Ich habe bloß mehr zu fahren neigende Oldtimer-Sammler tun als früher, weil ich für die Navi­ über einen staubtrockenen Humor gation zuständig bin. Ich gebe keine verfügt. Im echten Leben werden sei­ Befehle, aber ich bin oben auf Deck, „Live At The Roundne Pointen von schalkhaftem Hoch­ nicht unten in der Küche. Was an die­ house“ ist der Mitschnitt eines Konzerts vom ziehen der Augenbrauen und einem ser Band angenehm ist: Sie funktio­ 19. Mai 2019 in London. sympathischen Schmunzeln beglei­ niert ähnlich wie Pink Floyd im Ori­ Saucerful Of Secrets tet. Sein phlegmatischer Blick durch ginal. Man muss keine Anweisungen traten erstmals 2018 halb geöffnete Lider ist dabei immer geben oder sagen: Oh, das kannst du in dem Pub Dingwalls auf, unternahmen noch derselbe wie früher, das weiße nicht machen! Diese Leute finden dann eine ausgedehnte Haar in Cäsaren-Manier kurz ge­ schon einen Part, der passt.“ Tournee und spielten schnitten, alles in allem eine wür­dige In freier Auslegung des Vorbilds ein Jahr später zweimal Erscheinung. „Nicht dass wir das äl­ werden bei den „Saucers“, wie Ma­ im Roundhouse. Das Programm ist ein tere Material damals nicht gemocht son seine Band nennt, etwa die Blä­ ­Querschnitt durch die hätten“, meint Mason auf die Frage, sersätze der „Atom Heart Mother“-­ frühen Alben der warum Pink Floyd auf ihren LiveSuite von zwei Leadgitarren gespielt.

Band, angefangen bei Tourneen der späten Siebziger bis Kemp, Pratt und Harris, die sich in „Arnold ­L ayne“ und „The Piper At The Gates Neunziger den Nachlass ihrer von wechselnder Besetzung die Stimmen Of Dawn“, das namen­ einer signifikanten Minderheit kul­ von Syd Barrett, Roger Waters und gebende zweite Album, tisch verehrten Frühphase so be­ David Gilmour teilen, singen ihre „Ummagumma“, harrlich zu ignorieren pflegten. „Das Parts merklich launiger und forscher „Atom Heart Mother“, die Soundtracks und frühere Werk wurde einfach durch als im Original. So als wollten sie ihr endend vor 1973. das populärere verdrängt. Wenn ­Bewusstsein der Tatsache ausdrü­ Der Mitschnitt wird man in einer Zweieinhalb-Stundencken, dass diese Musik seit ihrer ers­ auf Doppel-CD, als CD/ Show einmal ,Dark Side‘ gespielt hat, ten Erschaffung vom Punk hinwegge­ DVD-Kombo und ist man schon bei der Hälfte ange­ fegt und vom Britpop (jedenfalls von Blu-ray veröffentlicht.

dessen Blur-Fraktion) wieder aufgegriffen wurde.

Auch die auf Tonträger kaum auszumachende Ver­ bindung zwischen den R&B-Wurzeln der Anfangs­ tage als The Tea Set und Pink Floyds erster psyche­ delischer Blüte kommt in den Riffs der beiden ­Gitarristen klarer zum Vorschein. Insbesondere das offiziell lange unveröffentlichte, weil nie ganz vollendete „Vegetable Man“, Dokument des Selbst­ hasses eines in drogeninduzierten Neurosen ­versinkenden Syd Barrett aus dem Oktober 1967, verwandelt sich in seiner Neuauflage in eine ät­ zend sarkastische Rock-Nummer. Darüber hinaus scheint Guy Pratt mit dem Rest der Band eine Wette eingegan­ gen zu sein, wie viele Fremd­ zitate sich wohl in die alten Floyd-Songs hineinschmug­ geln lassen. In der Tonartwech­ sel-Orgie „The Nile Song“ singt er nach der Zeile „She will make it to the island in the sun“ frei nach den Sex Pistols: „I don’t want a holiday in the sun“, gegen Ende baut er sogar Joe Strummers „Ooh, ooh, ooh“-Rufe aus „London Calling“ ein. Vor allem aber scheint er was mit The Who zu haben. In „One Of These Days“ quert Pratt die Bühne wie Pete Towns­hend im von Chuck Berry entliehenen Duck­ walk und lässt am Ende den rechten Arm wie eine Windmühle kreisen. Bei „Arnold Layne“ zitiert er John Entwistles Basslinie aus „5:15“, in „Green Is The Colour“ bringt er dessen melodischen Part aus dem Intro von „Getting In Tune“ unter.

Was die beiden anderen Mitglieder der seit ihrer Reunion beim Live-8-Festival 2005 nicht mehr ­aufgetretenen Band wohl von derlei Bubenstücken halten? Roger Waters ließ sich beim Gastspiel der Saucers im Beacon Theater in New York immerhin für eine Version von „Set Your Controls For The Heart Of The Sun“ auf die Bühne bitten. „Er war nachher voll der Komplimente“, sagt Nick Mason. „Ich glaube, David mag es auch. Er verfolgt je­ denfalls über YouTube mit, was wir machen. Hin und wieder gibt er Guy Hinweise und Tipps dazu, was er falsch oder richtig macht. Vor allem, was er falsch macht.“ Kommentiert der Meister denn auch die Gitar­ renparts von Harris und Kemp? „Nein, überhaupt nicht. Guy kennt er ja sehr gut.

Es wäre dagegen eher anmaßend, den Gitarristen zu sagen, was sie zu spielen haben.“ Mason, wie immer der Versöhnliche zwischen den Konfliktpolen, würde sich jedenfalls wün­ schen, dass Gilmour auch mal mitspielt. Das Re­ pertoire ließe sich jedenfalls noch erweitern, denn laut Mason wurden erst 15 Prozent des mög­ lichen Materials abgegrast. Aber kommt denn nicht irgend­wann der Punkt, wo diese Band auch was Eigenes hervorbringen könnte? „Vielleicht, aber das ist noch ein Weile entfernt.

Es würde ganz vom neuen Material abhängen.

Der wirkliche Songschreiber unter uns ist wohl Gary, aber ich würde es nicht gern sehen, dass wir uns zu den neuen Spandau Ballet entwickeln“, sagt Mason, nur halb im Scherz. „Dafür habe ich nicht die Garderobe.“ Nicht dass die Saucers bisher Anstalten gemacht hätten, sich zu ihrem Sujet ­passend psychedelisch einzukleiden – was ange­ sichts der nicht mehr ganz jugendlichen Haar­ pracht und Körperform diverser Bandmitglieder wohl auch besser so ist.

„Was angenehm ist: Die Band funktioniert ähnlich wie Pink Floyd damals“

Rolling Stone | April 2020 | 27

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Mix Katie Crutchfield aka Waxahatchee

Eine nüchterne Frau Nach Alkohol-Entzug und Sinnsuche hat sich Waxahatchee der Americana-Musik von Linda Ronstadt, Emmylou Harris und Lucinda Williams zugewandt

U

nlängst blätterte sie in einem Tagebuch, das sie mit 17­ Jahren ­geführt hatte. „Es war eine depri­ mierende Erfahrung“, sagt Katie Crutchfield, besser be­ k annt als Waxa­hatchee. „Ich las einen Eintrag, in dem ich mir hoch und heilig schwor, endgültig mit dem Saufen aufzuhören. Nicht zu glauben, wie lange das schon her ist!“ Crutchfield sitzt im Garten ihrer Zwil­lingsschwester, Allison, in L.A. und trägt noch­­immer ihren Pyjama, obwohl es bereits auf ­Mittag zugeht. Sie ist dreißig und seit eineinhalb Jahren trocken. „Seitdem habe ich das Gefühl, mich zu dem Menschen zu­ rückzuentwickeln, der ich vor dem großen Besäufnis war.

Und das gilt auch für meine Musik: Ich kehre zu meinen Wurzeln zurück.“ Die Wurzeln begannen zu sprießen, als sie 2007 mit ihrer Schwester die feministische Punk-Band P.S. Eliot gründete. In Birmingham/ Alabama, ihrer Heimatstadt, machten sie sich ­einen Namen. Als sich die Band 2011 auflöste, ar­ beitete Katie als Waxahatchee weiter (der indiani­ sche Name eines Flüsschens). Sie hat seitdem vier Alben veröffentlicht, mit messerscharfen Melo­dien und einer unverblümten Intimität. „Als ich früher auf Tour ging, gab es dafür kein Geld“, sagt sie. „Es ging nur darum, das Land zu bereisen, Musik zu

machen und Leute kennenzulernen. Und dabei spielt ­A lkohol eine wichtige Rolle. Das Trinken ist ein fester Bestandteil des Musikeralltags. Man ist schließlich dafür verantwortlich, ob die Leute ­einen schönen Abend haben oder nicht.“ Als sie 2017 ihre letzte alkoholisierte Tour ab­ schloss, wusste Crutchfield, dass sie einen Schluss­ strich ziehen musste. „Ich hab keine Entziehungs­ kur gemacht oder so was“, sagt sie. „Aber ich hatte zum Glück eine Menge trockener Freunde, über­ haupt viele Menschen, mit denen ich offen reden kann. Ich las auch viele Bücher: über Spiritualität, Selbstfindung, Selbsttherapie. Ich hatte jedenfalls genug Zeit und Material, um mich ganz unvor­belastet auf ein neues Album einzulassen.“ Das Resultat dieser Sinn­ suche ist „Saint Cloud“, auf dem sie ihre Fühler Richtung Americana und Country aus­ streckt. „Ich bin inzwischen fokussiert auf Frauen wie Lu­ cinda Williams, Linda Ronstadt und Emmylou Harris.“ Die Platte „Saint Cloud“ markiert einen Wandel in ihrem Sound. Viele Songs vergegen­ wärtigen Orte, zu denen Crutchfield eine beson­ dere Beziehung entwickelt hat. Der Albumtitel ist eine Verneigung vor dem Städtchen St. Cloud in Florida, aus dem ihr Vater stammt. „Viel von dieser alten klassischen Countrymusik habe ich von ­meinen Eltern mit auf den Weg bekommen.“ Sie

„Das Trinken ist ein fester Bestandteil des Musikeralltags.

Auf Tour spielt es eine wichtige Rolle“

schrieb die folkige Ballade „Fire“, als sie mit ihrem Lebenspartner, Kevin Morby, von Birmingham zu ihrem Haus in Kansas City fuhr. „Man muss eben den Mississippi überqueren, was immer ein außer­ ordentliches Erlebnis ist. Auch Memphis ist für mich von besonderer Bedeutung, weil wir hier oft mit der Familie im Urlaub waren. Das löst immer eine ganz eigene Art von Erinnerungen aus.“ Im nüchternen Zustand gingen ihr die ­Lyrics nicht leicht von der Hand. „Ich hatte wirklich tolle Melodien, fand aber nicht die passenden Worte.

Ich wollte so viel sagen und wusste auch, dass es irgendwo in meinem Kopf steckte, kam aber nicht ran.“ Der letzte Song, den sie für das Album schrieb, ist „Lilacs“: „I get so angry, baby, at some­ ­ wful stran­ thing you might say/ I dream about an a ger, work my way through the day“, heißt es darin. „Ja, das war einer dieser Tage“, erinnert sie sich. „Ich hatte schlechte Laune. Sosehr ich mich auch entwickelt haben mag – irgendwann gibt es Rück­ fälle, und man kriegt die negativen Gedanken nicht mehr aus dem Kopf. Als ich den Refrain schrieb, nahm ich mir vor: Zumindest am Ende des Tunnels sollte man ein wenig Licht sehen!“ In dem tröstlichen Refrain singt sie über den Flieder, den sie im Garten schneidet und dann in eine Vase auf ihrem Klavier stellt – die mit Mine­ ralwasser der Marke Topo Chico gefüllt sein muss. „Flieder hält sich länger, wenn er Mineral­ wasser ­trinken darf“, behauptet Waxahatchee. „Altes Hausrezept.“

28 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: MOLLY MATALON

Von ANGIE MARTOCCIO

Genuss mit Böcken Nicht nur zu Ostern sind Lamm, Hammel und Schaf noch immer eine nachhaltige und köstliche Alternative zu Rind, Kalb und Schwein

V

ielleicht hatten die Kirchen­ väter ja ein prachtvolles Gelage im Sinn, als sie im Jahr 325 das Osterfest auf den ersten Sonntag nach dem ers­ ten Vollmond im Frühling legten. Jeden­ falls koinzidiert der österliche Termin zwi­ schen dem 21. März und dem 25. April bestens mit der Schlachtreife der im Sep­ tember und Oktober geborenen Lämmer, und da das Lamm nicht nur das alttestamentarische Opfertier schlechthin ist, sondern zugleich Jesus, seinen Tod und seine Auf­ erstehung repräsentiert, verbindet sich bis heute die angenehme Schlemmerei mit Lammbraten und Rotwein mit der religiös gebo­ tenen Einverleibung des Leibs Christi und seines Blutes.

Allein die Deutschen scheinen von derlei kathartischen Genüssen wenig zu halten. Nur 640 Gramm Lammfleisch werden hierzulande pro Jahr und Kopf verzehrt – im Vergleich zu knapp 36 Kilo Schwei­ GEHT ESSEN nefleisch eine geradezu verschwin­ dend geringe Menge. Zu streng der Geruch, ein Verbrechen die Milch­ lammschlachtung, zu teuer die Koteletts, so lauten die Begründungen.

Insbesondere das „Böckeln“, der strenge Geruch nach altem Bock, scheint auch heute noch viele abzuschrecken – was ein einigermaßen irrationaler Reflex ist, der allenfalls auf uraltem Aberglauben oder Erzählungen der Großmutter gründet.

Früher glaubte man tatsächlich, die Hand, die das Fell des Tieres berührt, dürfe nicht Fleisch berühren, ansonsten bekomme es einen strengen Geschmack. Und im Krieg mag es auch vorgekommen sein, dass alte Schafe verzehrt wurden, die nicht mehr ganz so gut rochen. Ein Lamm aber, das per Definition nicht älter als ein Jahr ist, wird diesen Geruch niemals haben. Im Gegen­ teil, ein sechs Monate altes Tier hat prak­ tisch keinen Eigengeruch – es sollte vor der Zubereitung sogar einige Tage im Kühl­

ILLUSTRATION: STUDIO PONG

GUNTER BLANK

schrank reifen. Und auch vor Hammeln muss man sich nicht fürchten: Die sind nicht älter als zwei Jahre. Wie aus den Aufzeichnungen der Urgroßmutter des Kolumnisten hervorgeht, die 1909 vor der Heirat eine Hauswirtschaftsschule be­ suchte, stand damals das Hammelkotelett auf einer Stufe mit dem feinen Kalbfleisch. Überhaupt fällt auf, dass damals viel mehr Hammel und Kalb auf dem Spei­ seplan standen als Rind und Schwein.

Hammelfleisch war ein auch für die Arbei­ terklasse erschwinglicher Hochgenuss.

Schafherden waren überall in Deutschland ein alltäglicher Anblick, Ende des 19. Jahr­ hunderts grasten allein in der Lüneburger Heide über 800.000 Heidschnucken, heute sind es nur noch etwa 12.000. Offen­ bar hat der Zweite Weltkrieg zu einer Zäsur geführt. Danach ging der Schafbe­ stand zurück, Lammfleisch wurde zu ei­ ner teuren Delikatesse für Feinschmecker.

Dagegen ist Lammfleisch, und durchaus auch das von älteren Tieren, in fast allen Ländern und Kulturen fester Bestandteil der Hoch­ wie auch der popu­ lären Küche.In der Türkei schwören sie auf Hünkar Beğendi – was so viel heißt wie „Der Sultan war entzückt“ –, eine Art Gulasch aus Auberginenpüree, Tomaten und Lammfleisch. In anderen östlichen Küchen schätzt man kräftige Eintöpfe wie das georgische Chakapuli, den usbe­ kischen Pilaw, die levantinische Shurpa oder Reisgerichte wie das indische Curry.

Und in der ostchinesischen Anhui­Region gilt der mit gebratenem Lammfleisch gefüllte Aucha­Barsch als Vollendung der Kochkunst.

Wem das zu exotisch ist, der sollte sich bei unseren italienischen und franzö­ sischen Nachbarn umtun, die über eine exzellente Lammkultur verfügen. Ins­ besondere die Franzosen haben mit dem Limousin­Lamm eine Köstlichkeit her­ vorgebracht. Wobei – inzwischen stehen ihnen die herrlich mageren Lüneburger Heidschnucken und die saftigen frie­ sischen Salzwiesenlämmer kaum mehr nach. Diese Qualität hat allerdings ihren Preis. Ein Lammlachs aus dem Limousin schlägt mit 100 Euro zu Buche, die nord­ deutschen Pendants immerhin mit der Hälfte. Wer es günstiger haben will, kann sich beim türkischen Metzger für einen Bruchteil des Preises einen Lammrücken auslösen lassen oder eine leckere Lamm­ keule mitnehmen. Ganz Mutige indes können nach den Zutaten für das Kokoreç fragen und sich erklären lassen, wie man aus gegrillten Därmen und anderen Innereien ein leckeres Fladenbrot­Sand­ wich zubereitet.

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

DAS NEUE ALBUM CD / 2 LP / DIGITAL

OU T N O W

The Mix

„Not Today“, 2018

Zeit nimmt Leben Wie der deutsche Maler Friedrich Kunath sich von den Songs des verstorbenen amerikanischen Musikers David Berman inspirieren ließ

A

uf dem finalen album seiner Band Silver Jews besang David Berman 2008 emphatisch eine „suffe­ ring jukebox in a happy town“ und meinte damit vermutlich sich selbst.

Kurz danach verkündete er seinen Rückzug aus dem Musikgeschäft – um tatsächlich erst zehn ­Jahre später wieder zurückzukehren, unter neuem

Namen, aber in alter Form. Als ­Purple Mountains seufzte der Songwriter nun „All My Happiness Is Gone“ und überlegte in „Margaritas At The Mall“, wie es mit dieser Welt noch weitergehen soll, ohne dass Gott endlich ein Machtwort spricht.

Fans und Kritiker waren hellauf begeistert, die ­üblichen Ver­gleiche mit Bob Dylan und Townes Van Zandt machten die Runde. Doch die Verzweif­

lung des Sängers war so echt wie die von Ian ­Curtis. Am 7. August 2019, keine vier Wochen nach der Veröffentlichung des Albums, nahm sich David Berman im Alter von 52 Jahren das Leben.

Ein Schock für viele, auch für Friedrich Kunath, einen in Chemnitz geborenen und heute in Los An­ geles ­lebenden Künstler, der seit 2017 mit Berman an der gemeinsamen Ausstellung „Songs Build

30 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

BILDER: FRIEDRICH KUNATH

Von JÜRGEN ZIEMER

­ ittle Rooms In Time“ arbeitete. Mit Acrylbildern L und Skulpturen begleitete er die jahrelange Arbeit des Songwriters an „Purple Mountains“, vor allem das ständige Unterwegssein auf der Suche nach dem passenden Sound und dem richtigen Produ­ zenten: Nash­v ille, Portland, Vancouver, Jeff Twee­ dy oder Dan Bejar, davor die Trennung von seiner Frau Cassie – alles mühsam, alles enttäuschend. „Die Ausstellung entstand über das RoadtripMaterial, die Fotos und Videos, die David mir ge­ schickt hat. Sein Teil der Arbeit war schon fertig, ich steckte noch mittendrin, als ich die traurige Nachricht von seinem Selbstmord bekam“, erzählt Kunath. „Ein Horror! Ich wusste nicht, wie ich das nun allein zu Ende bringen sollte!“ Dan Koretzky, Gründer und Chef von Drag City, riet Kunath, die Ausstellung trotzdem durchzuziehen: Berman hätte es sich so gewünscht.

Und in der Tat ist „Songs Build Little Rooms In Time“ nicht einfach nur die jüngste Ausstellung eines Künstlers, dessen Werke in Tokio ebenso gezeigt werden wie in New York oder Berlin. Es ist ein Nachruf, ein Gedenken in Form von Bildern.

Da scheinen innere und äußere Landschaften auf, schwermütig wie die finalen Songs von Purple Mountains, aber auch eine schelmische Verspielt­ heit: „First Life Takes Time, Then Time Takes Life“ ist der Titel eines um die eigene Achse rotierenden Landschaftsbilds. Der Satz, der sich auch im Bild selbst findet, stammt aus einem alten Song der S ­ ilver Jews. „Als David noch lebte, stammten die Zeilen in den Bildern alle aus dem Purple-­ Mountains-Album. Er hat mir die Texte geschickt und ich wählte daraus aus. Nach seinem Tod hat sich das alles geöffnet. Ich habe auf das jeweilige Bild geschaut, um zu sehen, was es braucht“, sagt Kunath, der schon seit Jahrzehnten Songzeilen in Bildern versteckt. „Why Are My Friends Such Fink“, der Titel einer gemeinsamen Ausstellung mit dem Berliner Maler Dirk Bell 1998 in Köln, stammte aus einem Song von Will Oldham. „Den haben wir damals exzessiv gehört. Und wir dach­ ten immer, mit Fink wäre der Vogel gemeint. Sogar ein Bild haben wir für die Ausstellung gemacht, eine Landschaft mit Vögeln, zu der ich geschrie­ ben habe: ,Why Are My Friends Such Fink‘. Später stellte sich heraus, dass ,fink‘ eine Bezeichnung für Streikbrecher ist.“ Kunath war schon als Kind in Berlin-Pankow ein leidenschaftlicher Musikfan. Allerdings musste er damals mit der Veröffentlichungspolitik von Amiga leben: „Die Platten hatten eine Verzöge­ rung von drei bis fünf Jahren. Alles was im Westen rauskam, musste ja erst geprüft werden. Deshalb ­w urde ich von Laurel Canyon, Neil Young und Joni Mitchell sozialisiert, als längst schon Punk und New Wave den Ton angaben. Wenn du dann Will Oldham hörst, ist das nur eine logische Kon­ sequenz.“ Als Teenager träumte Kunath noch von einer Musiker­k arriere, doch weil seine Mutter heimlich eine Mappe mit Bildern einreichte, lan­ dete er als hochbegabter 17-Jähriger an der Kunst­ hochschule in Braunschweig, in der Klasse von Walter Dahn: „Ich hatte nicht mal Abitur, war ein Kind in einer Kunststudentenwelt, wo alle Tom Waits hörten oder Opern. Das machte mich zum Außenseiter. Ich schöpfte damals eher aus der Musik als aus der Kunstgeschichte.“ Über seine Begeisterung für Will Oldham ent­ deckte Kunath zwangsläufig dessen Label Drag

„Day Is Done“, 2019

„I Miss You Already“, 2019

„1-800-Serenity Now“, 2018

City und damit Bands wie Smog, Royal Trux und Silver Jews. Ein Interview mit David Berman, das er 2005 in „The Fader“ liest, begeistert Kunath so sehr, dass er sich mit Michael Schmelling, dem Fotografen der Geschichte, anfreundet. Schmel­ ling hatte noch Kontakt zu Berman, und so kam es bereits 2012 zu einer ersten Zusammenarbeit mit dem Song­w riter, für das Kunstbuch „You Owe Me A Feeling“: „Davids Texte sind verhaftet in ­einer Indie-Welt, ich wollte ihnen ein elegantes L.A.- und Frank-­Sinatra-Treatment verpassen, wo ich seine Texte verorte und es cineastisch wird.“ Berman, der damals täglich eine Seite voll Ein­ zeiler in sein Notizbuch kritzelte, gefällt die Idee. „Er sagte: ‚Kommt nach Nashville und ich geb euch meine Notebooks.‘ Das war, als hätte jemand die Tür zu einem anderen Kosmos aufgemacht.“ Wie in einem Agententhriller übergibt Berman seine Schätze in einem Aktenkoffer mit Zahlen­ schloss, den er binnen drei Tagen wieder zurück­ haben möchte. Kunath und Schmelling kopieren alle ­Texte handschriftlich: „Wir hätten sie auch fotografieren können, aber wir wollten jede Zeile ­verinnerlichen, indem wir sie aufschreiben.“ „You Owe Me A Feeling“ verbindet Bermans ­Poesie, ­Kunaths Malerei und Fotos, auf denen ein stilvoll ­abgehalftertes Ralph-Lauren-Model durch L.A. ­flaniert. Segeln, Tennis und der angenehme Überdruss eines sinnlos guten Lebens. Ein Foto trägt als Titel die Berman-Zeile „His face said five drinks and no regrets“. Die Ausstellung im Soccer Club in Chicago, einer ehemaligen Bar, die das Label Drag City ­inzwischen als Off-Galerie nutzt, hat weniger e ­ inen konzeptuellen als einen sehr persönlichen Ansatz. Das titelgebende, erst nach Bermans Tod entstandene Gemälde „Songs Build Little Rooms In Time“ zeigt ein geöffnetes Fenster vor ­einer Landschaft im Abendrot. Im Halbdunkel des Raums sind allerlei Gegenstände zu erkennen, eine Stimmung von Abwesenheit und Verlust ist spürbar. Da können die kitschigen ­K ätzchen auf der Fensterbank noch so niedlich gucken. „Das sind alles Dinge, die David in seinem ­Zim­mer hatte“, erklärt Kunath. „Er wohnte zuletzt in einer winzigen, keine zwanzig Quadratmeter großen Schuhschachtel über Drag City, war Stamm­ k unde in One-Dollar-Stores, sammelte Matchbox-Autos, Americana und all solchen Kram.

In der Mitte des Bildes ist eine kleine Leiter zu ­sehen, so wie aus einem Überraschungsei, die ­hatte er auch in seinem Zimmer. Im kunsthistori­ schen Kontext steht die Leiter für den Übergang in eine andere Welt; ich komme ja mehr oder weniger un­frei­w illig aus der Romantik.“ Auch ein Buch des von beiden g ­ eschätzten Thomas Bernhard liegt auf dem Tisch. „Der Titel ,Songs Build Little Rooms In Time‘ repräsentiert die Transzendenz, die Kunst seiner Arbeit, die alles zusammenfügt.“ Die Eröffnung der Ausstellung im Dezember hat noch einmal viele Freunde und Wegbegleiter zusammengebracht. Cassie Berman sang fünf ­Lieder, darunter „Suffering Jukebox“ und „Punks In The Beerlight“. „Da sind dann alle mehr oder weniger zusammen­­ge­brochen“, erinnert sich ­Kunath. David Berman selbst machte sich da ­ohnehin keine Illusionen: „Final words are so hard to ­devise“, heißt es in „Pretty Eyes“.

Eine Ausstellung mit Bildern von Friedrich Kunath ist von Juni an in der Galerie König in Berlin zu ­sehen.

Rolling Stone | April 2020 | 31

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Mix

POP IN BILDERN

HISTORY

GÄSTE NIRVANA Wer genau hinsieht, erkennt im „Raspberry Beret“-Video einen tanzenden Statisten: Pat Smear, Gitarrist der legendären L.A.-Punkband Germs, später von Nirvana und den Foo Fighters.

DAS COVER SUCHBILD Das LP-Klappcover des Designers Doug Henders ist ein Wimmelbild, in dem auch Prince und seine Band The Revolution zu finden sind. Eine Leiter führt in den Himmel, direkt zu Gott.

FANTASY IM PAISLEY PARK „Paisley lawns with dandelions of yellow …“: Prince machte Notizen zum „Paisley Park“, einer Fantasiewelt, in der Hass nicht existiert.

Der gleichnamige Albumsong stand Pate für sein Plattenlabel und den Studiokomplex.

SUPPORT JONI MITCHELL

Von SASSAN NIASSERI

EXOTIKA

FRISUR

OUD & DARBUKA

THE HULK? THE PRINCE!

Prince liebte die Beatles und Led Zeppelin, aber die Sitar hatten ja schon alle Rockmusiker durch. Er wollte wie Schlangenbeschwörer, Elefantenreiter und 1001 Nacht klingen – und integrierte die Instrumente Oud (Foto) und Darbuka in sein Repertoire.

„Ich sehe damit aus wie Lou Ferrigno als Hulk!“, klagte Prince über seine Frisur im Video zu „Raspberry Beret“, wie sich seine Musikerinnen Wendy & Lisa erinnerten. Und sah schon im nächsten Video, „America“, wieder großartig aus.

32 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTOS: PRINCE ICON, SCREENSHOT VIDEO RASPBERRY BERET, GINNY WINN / KONTRIBUTOR, CBS PHOTO ARCHIVE / KONTRIBUTOR, TURKISH OUD ELDISH: WWW.SONSDELORIENT.COM

Vor 35 Jahren unterlief Prince die Erwartungen und veröffentlichte mit „Around The World In A Day“ einen psychedelischen Nachfolger zum Millionenseller „Purple Rain“

Weil Prince wusste, dass sein Label den „Purple Rain“-Nachfolger kritisieren würde, brachte er zum ersten Album-Listening sein Idol mit ins Warner-Büro: Joni Mitchell.

Ob die Bosse deshalb diplomatischer reagierten, ist nicht bekannt.

Herzkammerspiele So behaglich wie ein alter Hausschuh: Die zuverlässig gutartige, heimelige Krankenhausserie „In aller Freundschaft“ beim MDR

E

s ist eine Sache, „Fleabag“ zu schauen, aber es ist eine ganz andere, „In aller Freund­ schaft“ zu gucken. Man be­ wundert bei der einen Serie Witz und Geistreichtum, Schnelligkeit und Unverschämtheit. Sie geht schnell vorbei.

Bei der anderen Serie bewundert man die Abwesenheit derselben Sachen, und zwar seit 22 Jahren und bald 900 Episo­ den. Sie geht nie vorbei. „In aller Freund­ schaft“ ist der behagliche Hausschuh des deutschen Fernsehens, eine zu­ tiefst gutmütige, menschenfreund­ liche und stoische Studie mensch­ licher Leidenschaften, situiert in einem Krankenhaus in Leipzig, das Sachsenklinik heißt.

Die Klinik gibt es nicht, und von Leipzig sieht man bloß manchmal ein paar Bilder (Bahnhof, Hotel­ turm, Völkerschlachtdenkmal).

Aber wenn Andrea Kathrin Loe­ wig, Thomas Rühmann und Bern­ hard Bettermann in Arztkitteln über den Gang eilen und die Band Kisha „Love Is Enough“ singt, wenn der 90er­Jahre­Schriftzug SCHAUT FERN „In aller Freundschaft“ erscheint und die Handlung in medias res beginnt, nämlich mit einem unwahrschein­ lichen Unfall, einem fatalen Missgeschick, einer unheimlichen Begegnung, einem dampfenden Kaffee, kurz: wenn die per­ fekte, sterile Künstlichkeit des Fernseh­ kammerspiels einsetzt, dann erlebt man die Meisterschaft des Trivialen. Wie bei allen großen Fernsehserien schreitet die Zeit als Kontinuum voran, während die Episoden in sich geschlossen sind.

Das Personal der Sachsenklinik ist zahl­ reich und illuster wie in einem Roman von Jane Austen, aber die Helden und Heroi­ nen flottieren zuverlässig: Thomas Rüh­ mann als Klinikleiter Dr. Roland Heilmann als somnambul sprechender Schleicher mit listigen Äuglein. Andrea Kathrin Loe­ wig ist die patente reife Chefärztin der Chirurgie auf der Suche nach Liebe. Alexa

ILLUSTRATION: STUDIO PONG

ARNE WILLANDER

Maria Surholt als robuste Verwaltungsdi­ rektorin Sarah Marquardt ist die drollige Knalltüte. Bernhard Bettermann gibt seinem Dr. Martin Stein die Gelassenheit des wetterfesten Abenteurers. Rolf Becker spielt seinen Vater Otto Stein mit der knitterigen Anmut von König Lear. Micha­ el Trischan als Hans­Peter Brenner ist der weichlich­dickliche Kümmerer. Die erstaunlichsten Figuren aber sind Udo Schenk als Dr. Rolf Kaminski, ein ironi­ scher, Lyrik zitierender Schöngeist, und Anja Nejarri als Dr. Lea Peters, eine tiefstimmige, angestrengt kontrollierte Neurochirurgin, die das Chaos in ihrem Inneren verbirgt.

In den Binnenverhältnissen, Freund­ schaften und Mesalliancen der Beleg­ schaft (nebst Pflegern, Kindern und Patienten in Gastrollen) entfaltet sich die soziale Sittenkomödie „In aller Freund­ schaft“. Die je zwei Krankheitsfälle in einer Episode deklinieren die lehrbuchge­ mäße Behandlung durch, um dann den extrem unwahrscheinlichen Sonderfall zu explizieren (siehe auch „Emergency Room“). Die menschlichen Verwerfungen werden in der Sachsenklinik nach Art des „Traumschiffs“ versorgt: Sämtliches Personal nimmt für die Dauer einer Episo­ de Anteil an den Leiden von Hugo Egon Balder (verblasster Schlagersänger), eines genötigten Eiskunstlaufmädchens mit Herzschwäche oder der drogensüchtigen Tochter eines neurotischen Filmregis­ seurs. Beschwerden gilt es „abzuklären“, im Schuldfall heißt es: „Der Unfall war nicht ihre Schuld.“ Im Rückzugsraum der Cafeteria (viele Jahre von der großen Ursula Karusseit geführt) sinniert jemand fünf Sekunden, um dann von einem an­ deren zur Aussprache gedrängt zu wer­ den. Bei der Ansicht von Röntgenbildern teilt immer der vorbeigehende Arzt seine kollegiale Meinung mit. Wir machen eine Computertomografie! Befund ist unauff ällig. Aber da!

Und ach, die Abenteuer des Herzens!

Der Oberarzt Philipp Brentano (Thomas Koch), verheiratet mit Schwester Arzu (Arzu Ritter), muss der Verlockung des biegsamen Kindermädchens widerstehen.

Dr. Kaminski kümmert sich aufopferungs­ voll um die demente und selbstmordge­ fährdete Gesundheitsdezernentin Vera Bader (Claudia Wenzel). Und wer wünscht Dr. Heilberg nicht nach dem Tod seiner Frau Pia (einst gespielt von Hendrikje Fitz) ein häusliches Glück?

Auf dass sein beschürzter Sohn Jakob, Leiter der Cafeteria, wieder sagen kann: „Der Kartoffelsalat ist fertig und steht bereit.“

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

RUFUS WAINWRIGHT

UNFO L LOW THE RU L E S DA S LA NGERWA RT ET E N EU E S TU DIOA LBU M

AB 24.04. ÜBER A LL! JETZT VORBESTELLEN !

The Mix

Manfred Maurenbrecher

Grenzgänger Der Songschreiber Manfred Maurenbrecher mischt sich ein – und wird im Alter nur noch radikaler. Seine Vorbilder: Degenhardt und Cohen

D

as berliner stadtviertel, in dem Manfred Maurenbrecher wohnt, ­atmet den spröden Charme seiner Lieder. In der Künstlerkolonie Wil­ mersdorf scheint die Zeit still zu stehen. Vorbei an einem alten Supermarkt, der Sven Regener zu der Zeile über den „Edeka des Grauens“ inspiriert haben könnte, geht es zu der Siedlung, die in den 20er-Jahren von der ­G enossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger und dem Schutzverband deutscher Schriftsteller erbaut wurde. Gedenkplaketten und Stolpersteine erinnern an berühmte Bewohner, die von den ­Nationalsozialisten vertrie­ ben und verschleppt wur­ den. Maurenbrecher hat ein Buch über die ­ G eschichte der Kolonie geschrieben. Er zeigt aus dem Fenster: Im Haus gegenüber zogen An­ fang der Dreißiger viele Fa­ schisten ein, for­m ierten sich zu Schlägertrupps und machten ein Leben für Kul­t urschaffende bald unmöglich. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die Bühnengewerkschaft das V ­ orkaufsrecht.

Für Maurenbrecher ist das noch heute ein Glück: „Mein Großvater war Schauspieler, ihm haben wir diese schöne Wohnung zu verdanken.“ Eigent­ lich wollen wir über sein neues Album, „Inneres Ausland“, sprechen. Aber ein I­ nterview mit Mau­ renbrecher ist keins, wenn es nicht auch um Ge­ schichte und Politik geht. „Meine Eltern waren

Bib­liothekare. In unserer Familie kann man sehr weit zurückverfolgen, dass immer eine Generation auf Sicherheit bedacht ist und die nächste wieder künstlerisch ausschlägt“, sinniert der Songschrei­ ber, der im Mai 70 wird. Ganz so abenteuerlustig wie früher sei er nicht mehr. „Mit 60 bin ich zum letzten Mal in ein paar Länder g ­ ereist, die ich vor­ her nicht gekannt habe: Ukra­ine, Moldawien, Ru­ mänien. Ich lerne auf Reisen besser beobachten.“ Das Unterwegsein war schon immer eines von Maurenbrechers zentralen Themen, so auch auf „Inneres Ausland“. Das Album ist natürlich – wie der Titel schon andeutet – vor allem eine Reise über die Grenzen von Hass und Vorurteilen. Ein An­ schlag aufs innere Heimat­ ministerium. Es passt zu Maurenbrechers Entwick­ lung, der mit jedem Album radikaler zu werden scheint, sowohl in textlicher als auch musikalischer Hinsicht. Bei ihm wabern die Neo­ faschisten und Wutbürger von heute nicht als dys­ topische Ahnung im Hintergrund – Maurenbrecher macht seinem Ärger noch in Protestsong-Schärfe Luft, obgleich die alten Feindbilder nicht mehr so ganz zu stimmen scheinen. „Was mich stört, sind gar nicht so sehr die Alt-­Nazis, sondern dass die ganz Linken so ähnlich argumentieren wie die Rechten. Das habe ich früher immer für eine Pro­ paganda des Mainstream gehalten. Zum Beispiel hört man das Argument, dass der Klimawandel

„Es stört mich, dass die ganz Linken heute so ­ähnlich argumentieren wie die Rechten“

ausgedacht sei, um Flüchtlinge hierher zu schaf­ fen, von linken und rechten Abgedrehten. Das ist doch furchtbar! Das macht mir Angst.“ Die Stücke, die Maurenbrecher auf „Inneres Ausland“ zum Klavier, den Band-Arrangments seines treuen Drummers Andreas Albrecht und mit Un­ terstützung eines Chors vorträgt, erinnern an gro­ ße Vorbilder wie Randy Newman und Leonhard Cohen. Wahre Kompromisslosigkeit hat er dagegen von Franz Josef Degenhardt gelernt. Wie der am Ende seines Lebens geschmäht wurde, sei bezeich­ nend für den hiesigen Umgang mit unbequemen linken Geistern: „Das Feuilleton hat ihn dafür ­gedisst, weil er in der DKP blieb und die deutsche Einheit scheiße fand. Sie hatten nicht wie in Frank­ reich die Größe zu sagen: Er ist trotzdem einer unserer bedeutendsten Autoren. Stattdessen ­haben sie ihn zur Nullperson erklärt.“ Maurenbrecher gehört zu einer Generation von Liedermachern, die sich einmischen. Das wirkt heute wie ein Anachronismus. Er schrieb Songs und Texte für Ulla Meinecke, Spliff und Hermann van Veen. Kein Wunder, dass er da mit den SoftPoeten der neuen deutschen Gefühligkeit nicht warm wird. „Ich verstehe nicht, warum die so eine Anziehungskraft haben. Die halten sich doch ­politisch raus, abgesehen mal davon, wie man sich richtig ernähren oder dass man nicht mehr fliegen sollte.“ Hoffnung gebe es trotzdem. Er füh­ le sich, anders als in den Achtzigern, nicht mehr als Außenseiter. „Ich habe das Gefühl, dass Jünge­ re ­meine Musik jetzt mehr wahrnehmen.“

34 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: KAPUZINA

Von MAX GÖSCHE

Abschiede

TA BE A BLU M E NSC H E I N Mit den Begriffen Schauspielerin, Sängerin und Kostümbildnerin ist Tabea Sonnenschein nur unzureichend beschrieben. Sie war vor allem eine Verwandlungskünstlerin, eine mit Mut zur Exzentrik, ob als Mitglied des Kreativkollektivs Die tödliche Doris oder als It-Grrrl der Geniale-Dilettanten-Szene. In den Achtzigern prägte sie die lesbisch-schwule Subkultur Westberlins. Ende Februar ist Blumenschein im Alter von 67 Jahren gestorben.

FOTOS: MICHAEL OCHS ARCHIVES/GETTY IMAGES, HIPP-FOTO MARIANNE WINKLER, RESTLESS RECORDS, MICK HUTSON/KONTRIBUTOR

DAV I D ROBAC K Mit Bruder Stephen gründete Roback seine erste Band, zu der auch Bangles-Sängerin ­Susanna Hoffs gehörte. In den Achtzigern machte er sich in der Paisley-Underground-­ Szene einen Namen und gründete schließlich 1989 Mazzy Star. Die entrückten Dream-PopOden, getragen von Hope Sandovals ­feenhaftem Gesang, bescherten der Gruppe Fans in aller Welt. Am 24. Februar starb der Gitarrist und Songschreiber mit 61 Jahren in seiner Heimatstadt L.A. an Krebs.

E

McCoy Tyner

r war einer der grössten jazzPianisten überhaupt. McCoy Tyner ge­hörte zum John Coltrane Quartet, er spielt Klavier auf Meisterwerken wie „My Favorite Things“ und „A Love Supreme“. Er ist zu hören auf Platten von Freddie Hub­ bard, Art Blakey, Donald Byrd und Wayne Shorter.

Er be­arbeitete sein Klavier oft wie ein Schlagzeug, öffnete und befreite sein Instrument durch afri­ kanische Rhythmik und aufregende Dissonanzen.

Tyner kommt 1938 in Philadelphia zur Welt. Er­ mutigt durch seine Mutter beginnt er mit 13 Jahren ein Klavierstudium. Seine musikalische Entwick­ lung vollzieht sich extrem schnell. Bereits zwei

Jahre später gehört er zur Jazz-Avantgarde seiner Heimatstadt. In den Sechzigern begleitet er eta­ blierte Größen wie Benny Golson und Art Farmer, bevor er zu Coltrane wechselt. Parallel dazu grün­ det er eine eigene Band-Formation und entwickelt seinen lyrischen Post-Bop-Stil weiter, der seine volle Entfaltung auf den Soloalben „The Real ­McCoy“ (1967) und „Sahara“ (1972) findet. Im Ge­ gensatz zu anderen Pianisten seiner Generation, etwa Herbie Hancock oder Chick Corea, setzt Ty­ ner später nicht auf Keyboards und Synthesizer, sondern experimentiert lieber mit akustischen Sounds. Tyner gewann fünf Grammys. Er starb am 6. März 81-jährig in New Jersey.

A N D R EW W E AT H E RA L L Sein Wirken begann er als DJ in der britischen Acid-House-Szene der 80er-Jahre. Weatheralls Vision bestand darin, Sounds aus Rock und elektronischer Musik subtil zu verschmelzen. Zu seinen bedeutendsten Remixes gehören Tracks der Happy Mondays, von New Order, Björk und My Bloody Valentine. Zudem arbeitete er als Produzent, unter anderem an Primal Screams „Screamadelica“ (1991). Weatherall starb am 17. Februar in London an einer Lungen­embolie.

Er wurde 56 Jahre alt.

Rolling Stone | April 2020 | 35

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Musikgeschichte abonnieren und dauerhaft sparen!

Jetzt nur

88 €

12 Ausgaben

+

O+

A B O+ A B O+

A BO

+

ABO + Zusätzliche Vorteile. Nur für Abonnenten.

++

+

AB

O

B ABO + A

O

A B O+ A B

1 Prämie

15 € Rabatt

auf das Festival-Ticket

rollingstone-beach.de 13. – 14.11.2020

++

Preisvorteile

im RS-Shop: rollingstone.de/shop

++

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

8% Rabatt

auf jeden Einkauf bei jpc sichern – ob Vinyl, Bücher oder Filme!

Eine Prämie Ihrer Wahl TOP PRÄMIE: LIMITIERTE EDITION O+

JBL ON-EAR-KOPFHÖRER

A B O+ A B O+

500BT

+

B ABO + A

O

AB O

+

A BO

A B O+ A B

TOP PRÄMIE

ROLLING-STONEWeekender

Nicht im Handel oder Shop erhältlich!

Der ideale Begleiter für den Wochenendausflug oder im Alltag.

Wenn Sie bereits ROLLINGSTONE-Abonnent sind, können Sie auch einen neuen Abonnenten werben und erhalten die Tasche als Prämie geschenkt.

25 € Finden Sie in der großen Auswahl Ihre individuelle Wunsch-Prämie:

rollingstone.de/abo

Jetzt bestellen: rollingstone.de/abo oder 040 – 468 605 165

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

25 €

Clapton mit Großmutter Rose Clapp, Surrey, 1971

mister BLUES

Man nannte ihn Slowhand, man nannte ihn Gott.

Annäherungen an den rätselhaften ERIC CLAPTON, der nun 75 wird

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTOS: ??

FOTO: JOHN OLSON / THE LIFE PICTURE COLLECTION VIA GETTY IMAGES

Von Frank Schäfer

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

E ric clapton stammt aus dem kaff ripley, Grafschaft Surrey, dem „Surrey Delta“, wie es die einheimischen Blueser später mit selbstironischem Stolz nennen. Tiefste Provinz, vor allem im Kopf.

Hier gibt es viele Möglichkeiten, sich das Leben unerträglich zu machen. Die 15-jährige Pat Clapton lernt 1944 einen kanadischen G. I. kennen. Der ­D -Day steht vor der Tür, die Kasernen sind voller Soldaten aus Übersee, die in den Pubs der Umgebung ihren Sold versaufen. Edward Walter Fryer verdient sich seine Pints am Wochenende als Barpianist. Mit Jazz und Boogie-Woogie bringt er ein bisschen Stimmung in die Hütte. Pat und Ed. Als Eric neun Monate später geboren wird, ist Fryer schon wieder in Kanada bei seiner Familie. Jetzt nimmt eine dieser kleinen Alltagstragödien ihren Lauf. Die Dorfgemeinschaft spuckt aus über das uneheliche Kind. Pat, die Teenager-Mutter, wird zu Erics Schwester, damit zumindest der Schein gewahrt bleibt. Sie lässt sich mit einem anderen G. I. ein, flüchtet schließlich nach Kanada. Eric nennt seine Großeltern Mum und Dad und merkt anscheinend nichts, überhört die kleinen Anspielungen und Sprüche, bis nach vielen Jahren Besuch aus Kanada kommt. Irgendwer verrät das Familiengeheimnis, und bald darauf lässt Pat ihren Sohn ein weiteres Mal in Ripley zurück. „Motherless children have a hard time“, singt er später auf „461 ­Ocean Boulevard“. „Ich war derjenige, nach dem man gern mit Steinen warf, weil ich so dünn und unsportlich war. Ich galt als der ewige 90-Pfund-Schwächling“, erzählt er 1974. „Meist trieb ich mich mit drei, vier anderen Jungs herum, die sich in einer ähnlich misslichen Lage befanden – Außenseiter eben. Alle nannten uns nur ‚die Bekloppten‘.“ Eric hat den Blues. Den Rock’n’Roll hört er, weil alle ihn hören, es ist die Musik der älteren Geschwister. Den Blues erarbeitet er sich. „Während meiner Jugend hatte ich fast immer das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen“, erzählt er seinem Biografen Christopher Sandford. „Den einzigen Ausweg sah ich darin, diese Zeit mit Würde, Stolz und Mut durchzustehen. Und die Möglichkeit dazu gab mir eine bestimmte Art von Musik: der Blues.“ Blind Lemon Jefferson, Son House, Skip James, Muddy Waters, Blind Boy Fuller.

ERIC CLAPTON

Robert Johnson verstört ihn zunächst. Auch so ein „motherless child“. Bald wird Johnson seine Identifikationsfigur, deren mythische Aura auch auf ihn abstrahlen soll. „I went down to the crossroads, fell down on my knees …“ Natürlich ist das eine Aneignung, die nur funktionieren kann, weil er die schwarzen Verhältnisse nicht kennt. Es ist der Mythos, die Phantasmagorie vom schwarzen Rebellen, die ihn fasziniert. „Wenn man es in einen sozialen Kontext stellen möchte, könnte man sagen, dass England im Zweiten Weltkrieg kurz davor war, besiegt zu werden. Aber wir sind aufgestanden und haben uns gewehrt. Die Blues-Sänger repräsentierten genau diese Haltung aus Widerstand und Trotz“, konstatiert er 2014. „Robert Johnson war ein Kerl gegen den Rest der Welt, und die Jugendlichen aus meiner Generation haben dieses Gefühl übernommen – wir waren unschlagbar.“ Seine Großmutter, die er weiterhin „Mum“ nennt, kauft ihm eine Hoyer-Gitarre, und „Walkin’ The Lonesome Road“ von Big Bill Broonzy ist der erste Song, den er beherrscht. Er kritzelt „Lord Eric“ auf die Decke und schleppt sie überall herum.

Jetzt interessieren sich auf einmal auch Mädchen für ihn. Clapton ist ein schlechter Schüler, aber sein zeichnerisches Talent und die segensvolle Einrichtung der Kunstschulen retten ihn wie so viele andere talentierte Arbeiterkinder in jenen Jahren. Sie studieren Werbegrafik und landen irgendwann in einer Bluesband. So auch Clapton. Er macht bei den Open-Mic-Sessions in Studentenclubs Eindruck, und so erinnert man sich an ihn, als die lokale Bluesrock-Truppe The Roosters einen zweiten Gitarristen sucht. Zu diesem Zeitpunkt hat man ihn schon längst wieder vom Kingston Art College relegiert. „Ich spielte die meiste Zeit Platten und betrank mich um die Mittagszeit im Pub“, erklärt er später. „Die Wirkung,

die ich auf die anderen Studenten hatte, war unerwünscht.“ Er kehrt nach Ripley zurück, hilft seinem Großvater, der sich als selbstständiger Maurer und Fliesenleger verdingt, und spielt jetzt also in einer Band. The Roosters sind nach einem guten halben Jahr schon wieder Geschichte, aber Clapton testet hier aus, was man auf der Bühne machen kann. „Ich merkte sofort, dass Eric, wenn du ihm ein Solo gabst, sich nicht darum kümmerte, wie lange er spielen sollte“, erinnert sich der Pianist der Band. „Er spielte einfach immer weiter, bis man ihn irgendwann stoppen musste, damit der Sänger wieder einsetzen konnte. Er besaß ein für sein Alter ganz erstaunliches Gefühl für Dynamik.“ Sein Selbstvertrauen wächst. Und so geht er vier Wochen später bereits mit der leidlich bekannten Merseybeat-Band Casey Jones & The Engineers auf Tour. Aber Jones setzt die Narrenkappe auf, macht aus den Auftritten eine Kabarettnummer. Als sich die Band auch noch verkleiden soll, schmeißt Clapton hin. Noch im selben Monat, im Oktober 1963, engagieren ihn die Yardbirds. Er ist zunächst skeptisch, aber ihr Manager, Giorgio Gomelsky, überzeugt ihn durch seine Professionalität. Er kauft Clapton zum Einstand erst mal eine rote Fender Telecaster und zahlt jedem Bandmitglied ein Salär von 20 Pfund pro Woche. Damit kann man mit achtzehn ganz komfortabel existieren, noch dazu wenn man in einer Londoner Mucker-WG lebt. Jetzt ist Clapton Profi. Er spielt ein paar Gigs mit den Yardbirds, danach schickt Gomelsky sie als Backing­band für Sonny Boy Williamson II. auf Tour. Und der Bluesveteran lässt die weißen Jungs immer mal wieder so richtig auflaufen, verändert schnell mal eben die Struktur der Songs, mitunter sogar die Tonart. Clapton zahlt Lehrgeld – nutzt aber auch jede Gelegenheit, sich als Solist zu präsentieren und bald eine treue Fangemeinde vor seine Bühnenseite zu scharen: „Claptons Clique“, wie Rhythmusgitarrist Chris Dreja sie neidgelb nennt.

Auch seinen Spitznamen „Slowhand“ soll er hier schon bekommen haben. Die Yardbirds hatten sich als Live-Gimmick sogenannte Rave-ups ausgedacht, musikalische Zwischenspiele, in denen die Band zunächst Tempo und Lautstärke drosselt, um anschließend richtig ein Fass aufzumachen. Diese akustischen Exaltationen im Mittelteil strecken

„Ich war der, nach dem man gern mit Steinen warf, weil ich so unsportlich war. Ich galt als 90-PfundSchwächling“

40 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

WEGMARKEN Zehn bedeutende Alben aus Eric Claptons überaus produktivem Schaffen in 55 Jahren, mit und ohne Bands DAS FRÜHWERK

DER DURCHBRUCH

DIE PSYCHEDELISCHE

DAS MEISTERWERK

Yardbirds

John Mayall & The Blues Breakers

Cream

Cream

„Five Live Yardbirds“ (1965)

„… With Eric Clapton“ (1966)

„Wheels Of Fire“ (1968)

„Blind Faith“ (1969)

Die kommerziell erfolgreichste Produktion der Band, nicht zuletzt we-

Schönes Zusammenspiel zwischen Claptons Gitar-

Claptons Selbstbewusstsein

Atlantic glaubt anfangs nicht an das Hitpoten­z ial

ten Rock’n’Roll- und BluesStandards von Bo Diddley bis John Lee Hooker die Londoner Clubs zum Schwitzen und erwischen an diesem 3. Oktober 1963 im Marquee Club einen Sahneabend. Clapton steht im Schatten von Harmonica-Spieler Keith Relf, aber hin und wieder kommt er schon aus der Deckung.

hört man in jedem S ­ olo. Die Aufnahmen klingen roh, spontan, erdig, schlicht wegweisend. Sie mischen Kanonisches von Otis Rush, Ray Charles und anderen mit Mayall-­Kompositionen.

Clapton singt erstmals, natürlich einen Song von seinem Übervater Robert Johnson – und kann das auch.

von „Sunshine Of Your Love“ – es wird dann i­hre bis dahin erfolgreichste Single. Produzent Felix Pap­pa­lardi tut der Band gut, vom Konservativismus des Debüts keine Spur mehr. Clapton hat Spaß mit dem Wah-Wah-Pedal, und auch als Songwriter ist der Knoten geplatzt.

DIE AMERIKANISCHE

DIE ERFOLGREICHE

gen des Jack-Bruce-Genie­ streichs „White Room“ und Claptons ingeniöser Robert-Johnson-Adaption „Crossroads“. Die StudioLP demonstriert ihre kompositorische Qualität und Vielseitigkeit, das LiveAlbum ihr improvisatorisches Feuer.

DER LIVE-KLASSIKER

DAS COMEBACK

re und Steve Winwoods Orgel, und schlicht ein Haufen guter Songs, die in erster Linie Steve Winwood seelenvoll singt.

Aber auch Claptons Gesang auf „Presence Of The Lord“ lässt sich hören.

Das degoutante Pädophilencover sorgte für den gewünschten Skandal.

DIE HOMMAGE

„461 Ocean Boulevard“ (1974)

„Just One Night“ (1980)

Eric Clapton

Eric Clapton „Unplugged“ (1992)

„Me & Mr. Johnson“ (2004)

Mit Bobby Whitlock hat Clapton endlich den richtigen Partner gefunden, um seine Vision von Americana ins Werk zu setzen, und mit ­Duane Allman einen Gitarristen, der ihn aus der Re-

Nach der Heroinsucht kommt Clapton in der Sonne von Miami wieder zu sich. Das hört man.

Man muss ihn dazu überreden, das perlende Marley-Cover „I Shot The Sheriff“ zu berücksichtigen.

Clapton gehört zu den großen Gewinnern der MTV-Serie. Das intime, reduzierte Format liegt ihm. Seine Interpretationen von Son House, Big Bill Broonzy und anderen sind einigen etwas zu

Weil die Produktion von „Back Home“ stockt, verordnet er sich und seiner Studioband 2004 ein paar Exkurse durch den Katalog seines Hausheiligen, dem sie hier in reduzierten akustischen, aber auch

serve lockt, aber eben nicht aus der Ruhe bringt. Nicht allen ist der Laid-back-Clapton geheuer, aber „Layla“ hilft bei der Umgewöhnung.

Der Singlehit macht auch das Album zu einem seiner erfolgreichsten (USA: Nr. 1). Jetzt wird Reggae chartstauglich.

Mit den großartigen Albert Lee und Chris Stainton als Sidekicks macht es Clapton live hörbar Spaß.

Er spielt herzerwärmende Blues-Standards und aufgedrehten Country-Rock.

Zwei Drittel sind Fremdkompositionen, aber die

harmlos und glatt, aber die runtergestrippte Version seines alten Hits „Layla“ demonstriert, was auch in dem Song steckt.

druckvollen elektrischen Versionen huldigen. Die Band hat einfach Spaß, für Clapton ist es wohl mehr als das.

„Layla And Other Assorted Love Songs“ (1970)

Eric Clapton

Blind Faith

„Disraeli Gears“ (1967)

Die Yardbirds bringen mit ihren dekonstruier-

Derek And The Dominos

DIE SEELENVOLLE

Band macht sie sich zu eigen und das Publikum in der Budokan-­Halle weiß das zu schätzen.

Eric Clapton

Rolling Stone | April 2020 | 41

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

SESSIONHAND Zehn bemerkenswerte Gastspiele Claptons auf den Studioalben anderer Künstler

Ein blasser britischer Anfangzwan­ ziger, der auf dem Cover als „Eric Clapton of ,Cream‘“ vermerkt ist, durfte die Königin des Soul im Dezember 1967 bei diesem Blues, den sie zusammen mit ihrem damaligen Ehemann und Manager Ted White schrieb, begleiten.

Das klingt, als würde sich die Gitarre vor der Diva verneigen.

So also klingt kalter Entzug. Clapton antizipiert die lennonschen Schmerzensschreie. Der Songwriter wollte den Gitarristen schon Anfang 1969 zu den Beatles holen, als G ­ eorge Harrison die Band nach einem Streit verlassen hatte. Stattdessen wurde Clapton dann im September 1969 kurzzeitig Gitarrist der Plastic Ono Band: zunächst auf der Bühne beim Toronto Rock and Roll Revival, dann im Studio.

KING CURTIS „Teasin’“ (Single, 1970)

STEPHEN STILLS „Go Back Home“ („Stephen Stills“, 1970)

JOHN MARTYN „Couldn’t Love You More“ („Glorious Fool“, 1981)

Das Solodebüt von Stephen Stills ist das einzige Album, auf dem sowohl ­Jimi Hendrix als auch Eric Clapton mitspielen – leider nicht auf demselben Track. Clapton hört man in Bestform auf „Go Back Home“ und dem ebenfalls bemerkenswerten Outtake dieser Sessions „Fishes And Scorpions“, das ein Jahr später auf dem zweiten StillsAlbum erschien.

THE BEATLES

DR. JOHN

„While My Guitar Gently Weeps“ („The Beatles“, 1968)

„Craney Crow“ („The Sun, Moon & Herbs“, 1971 )

Der berühmteste fünfte Beatle war natürlich Eric Clapton. Sein Freund George Harrison holte ihn im September 1968 ins Studio an der Abbey Road, um die Aufmerksamkeit seiner Mitstreiter zu gewinnen und aus seiner zunächst akustischen Nummer einen der größten Rocksongs des Jahrhunderts zu machen. Hat beides geklappt.

Auf die Frage, auf welche seiner Aufnahmen er besonders stolz sei, weil sie all seine Fähigkeiten abbilde, nannte Clapton 1980 in einem Interview diesen innerhalb von etwa zehn Minuten entstandenen Track mit King Curtis, den der Saxofonist mit Delaney Bramlett produzierte und schrieb.

VIVAN STANSHALL „Labio-Dental Fricative“ (Single, 1970)

Clapton hatte auf „Slowhand“ schon John Martyns „May You Never“ gecovert. Vier Jahre später half er dem Folk-Jazz-Magier bei einem süffigen Pop-Remake seines Folk-Songs „Couldn’t Love You More“. Produziert hat Phil Collins, der wenig später mit Clapton „Behind The Sun“ aufnehmen sollte.

ROGER WATERS Auf dieser herrlichen magischen Stunde aus den Sümpfen um New Orleans spielt Clapton naturgemäß nur die zweite Geige. Aber auf „Craney Crow“ trägt er auf sehr originelle Weise Wesentliches zu der schwülen Atmo­sphäre des Tracks bei.

„4:33 AM (Running Shoes)“ („The Pros And Cons Of Hitch Hiking“, 1984)

RONNIE LANE & PETE TOWNSHEND „April Fool“ („Rough Mix“, 1977)

PLASTIC ONO BAND „Cold Turkey“ (Single, 1969)

Diesen schönen Song von Ronnie ­Lane veredelt Clapton mit seiner Dobro, auf der er eines seiner sparsamsten und schönsten Soli spielt. Außerdem schrieb er mit Lane für „Rough Mix“ einen seiner besten Songs: das herzzerreißende „Annie“.

Auf der ersten Solo-Single des ehemaligen Sängers der Bonzo Dog DooDah Band spielt Clapton effektiv und songdienlich, wie er es später an seinem Helden J. J. ­Cale schätzen sollte.

Im psychedelischen Mittelteil dehnt er die Noten allerdings eher wie sein Freund George Harrison.

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Man würde nicht unbedingt erwarten, dass Clapton sein zärtlichstes ­Solo ausgerechnet auf einer Kopfgeburt des Ex-Pink-Floyd-­Kontrollfreaks Roger Waters spielen würde. Aber was er hier zwischen all dem bier­ ernsten Midlife-Crisis-Geraune auf der Dobro spielt, haucht dem Track Emotion und Wärme ein.

FOTOS: GET T Y IMAGES

ARETHA FRANKLIN „Good To Me As I Am To You“ („Lady Soul“, 1968)

ERIC CLAPTON

FOTO: MEDIAPUNCH INC / ALAMY STOCK PHOTO

Clapton (3. v. r.), ernst und mit Kurzhaarschnitt mit den Yardbirds bei einem TV-Auftritt, 1964

ihre Blues- und Rock-Standards auf doppelte Länge, g ­ eben ihnen eine ureigene Form, und das Pu­ blikum reagiert entsprechend, wie sich auf ihrem ekstatischen Debütalbum, „Five Live Yardbirds“, nachhören lässt. Im motorischen Überschwang reißen Clapton nun regelmäßig Saiten, die er wieder aufziehen muss. Das Publikum wird ungeduldig und quittiert diese ungewollten Pausen mit langsamem Klatschen („slow handclap“), das ihr Manager wiederum zu dem Kalauer „Slow-Handclapton“ animiert. Wie richtig Gomelsky damit liegt, kann er noch gar nicht wissen.

Die Yardbirds zerlegen die Londoner Clubs und treten sogar bei der TV-Show „Ready Steady Go!“ auf, aber ihnen fehlt chartstaugliches Material. Graham Gouldman bietet ihnen mit „For Your Love“ einen passenden Song an, den Gomelsky im Studio auch noch mit einem Cembalo weichspülen lässt. Das wird ihre Hit-Single. Claptons Gitarre ist kaum zu hören, sein Alternativvorschlag, ein OtisRedding-Cover, fällt durch. Der Blues-Purist ist angewidert von dem musikalischen Richtungswechsel, der sich auch darin manifestiert, dass Bassist Paul Samwell-Smith nun auf Geheiß von Gomelsky zum musikalischen Direktor aufsteigt. „Er liebte die Shadows – ich nicht“, gibt er später zu Protokoll. Nach 16 erfolgreichen Monaten steigt er bei den Yardbirds aus.

Clapton schlüpft erst mal bei seinem guten Freund Ben Palmer, dem ehemaligen Roosters-­ Pianisten, in Oxford unter, muss aber nicht lange auf ein neues Angebot warten. John Mayall, einer der wichtigsten Agitatoren des weißen Blues, geadelt von John Lee Hooker, den er während seiner England-Tour begleiten durfte, will ihn als Leadgitarristen. Er sagt sofort zu, zieht eine Weile sogar zu ihm, um sich akribisch durch dessen umfangreiche Plattensammlung zu hören. Aber der zwölf

Jahre ältere Familienvater geht ihm mit seinem eisernen Arbeits­ethos bald gehörig auf die Nerven.

Auch Mayalls Gesang überzeugt ihn nicht immer.

Clapton weiß, dass er der heimliche Star ist, und verschwindet für eine Weile nach Griechenland, schwänzt Auftritte, arbeitet nebenher mit anderen Musikern. Aber M ­ ayall verzeiht ihm alles. „Ich war damals ein ziemlich launischer und arroganter Typ“, meint er später. Kein Wunder. Ein Graffito an der U-Bahn-Station Islington spricht sich in der Szene herum: „Clapton is God“.

Erst als Ginger Baker im Juni 1966 dem „Melo­ dy Maker“ steckt, dass er mit seinem Ex-Kollegen von der Graham Bond Organisation Jack Bruce und Clapton bald die Konzerthallen unsicher machen

werde, reißt sein Geduldsfaden. Er schmeißt ihn raus. Dabei haben sie noch ein Album in der Pipe­ line, das nicht nur eine Referenzgröße für den Bluesrock wird, sondern auch die Entwicklung der elektrischen Gitarre maßgeblich beeinflusst. Clapton hat in der Zwischenzeit viel herumprobiert, ist von der Telecaster zur Gibson ES-335 gewechselt. Auf „Blues Breakers With Eric Clapton“ spielt er eine Gibson Les Paul, und seinen Vox AC30 hat er gegen einen wesentlich lauteren Marshall Combo eingetauscht, den er im Studio zu Mayalls Ärger voll aufdreht. So bekommt er diesen vollmundigen, sustain­reichen, singenden und trotzdem angriffslustigen Sound aufs Band, den alle anderen nun auch haben wollen. „Das Album wurde an einem

Eric Clapton Layla / After Midnight

Exclusive Vinyl

Die Vinyl-Single: Layla/After Midnight

Unsere exklusive Vinyl-Single vereint erstmals die beiden Songs „Layla“ und „After Midnight“. Wahrscheinlich ist „Layla“ Claptons berühmtestes Stück. Er schrieb es 1969 nach einer orientalischen Sage; es ist ein Liebeslied für Pattie Boyd, die er damals umwarb. „Layla“ erschien 1970 auf dem einzigen Studioalbum von Derek And The Dominos. „After Midnight“ ist ein Blues-Stück von Claptons Freund J. J. ­Cale, das Clapton für sein erstes Soloalbum (ebenfalls 1970) aufnahm. Cale wusste nichts von der Aufnahme, bevor er sie im Radio hörte. Abonnenten können die Single zum Preis von zwei Euro unter abo.rollingstone.de bestellen. Der Versand erfolgt umgehend.

Rolling Stone | April 2020 | 43

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

ERIC CLAPTON

Wochenende aufgenommen. Wir machten einfach unseren Club-Gig im Studio“, räumt Clapton viel später ein. „Ich g ­ laube nicht, dass wir mehr als einen Take von jedem Stück gemacht haben.“ Diese krude Spontaneität passt der Musik wie angegossen. Das Album erreicht Platz 6 der UK-Charts.

Aber da ist Clapton bereits mit den beiden Streithähnen Baker und Bruce auf der Bühne und tran­ szendiert den Blues in Richtung Psychedelic Rock.

Auch optisch: Sie tragen neckische Fantasiekostüme, bunte Samthosen, Paisley-Hemden, Glitzerwesten. Eric Clapton lässt sich von dem holländischen Künstlerkollektiv The Fool eine Gibson SG bemalen, die dann zur Ikone des Acid-Rock avanciert, und wie Jimi Hendrix trägt er eine Zeit lang sogar einen Afro.

Alle drei sind begnadete Solisten, die stilistisch aus unterschiedlichen Ecken kommen. Strange Brew. Vor allem Clapton wird durch den Jazz- und Klassik-Hintergrund seiner Kombattanten herausgefordert – und durch LSD. „Als ich zum ersten Mal nach San Francisco gekommen bin, ist mir dieser andere Umgang mit unserer Musik aufgefallen. Wie soll ich sagen – die Leute haben die Musik introvertierter oder ernsthafter aufgenommen. Irgendwie schon innerlicher“, erzählt er Robert Greenfield später. „Das ging wohl Hand in Hand mit den halluzinogenen Drogen und dem Gras und was da sonst noch in Umlauf war. Es war eher ein Kopf-Ding, verstehst du? Aber es hat mir wirklich Mut gemacht, aus den herkömmlichen Mustern auszubrechen. Es hat mir Mut zum Experimentieren gemacht.“

I

n späteren jahrzehnten gibt es Rückfälle, da wird er diesen stilistischen Befreiungsschlag als Irrweg von der reinen Lehre abtun.

Aber noch ist er angetan von der Energie des ersten Heavy-Powertrios, die sich vor allem auf der Bühne in langen Improvisationsschleifen entlädt. Cream sind 1966/67 eine LiveSensation, auch schon in den USA. „Es hat nicht gerade viele Bands gegeben, die das gemacht haben, was Cream gemacht hat. Keine Ahnung, woher wir den Mut genommen haben, nach Amerika zu gehen. Wir sind einfach hingefahren und haben uns über San Francisco hergemacht. Und dabei wussten wir nicht einmal, wofür oder wogegen wir angetreten sind. Dann sind wir quer durch Amerika getourt und haben das Land sozusagen im Sturm erobert. In erster Linie deshalb, weil wir ihnen ihre eigene Musik zurückgebracht haben und sie das bei uns zum ersten Mal hören konnten.“ Und die neuen leistungsfähigen MarshallStacks sorgen dafür, dass die Hippies eine bleibende „sinnliche Erfahrung“ davontragen. Vor allem in San Francisco, der Hauptstadt der Bewegung, in Bill Grahams Fillmore West, liegen sie ihnen zu Füßen. „Sie wollten gar nicht tanzen. Die meisten Leute haben einfach auf dem Boden gesessen und in die Lightshow gestarrt.

Total weggetreten. Und wer nicht weggetreten war, hat sein High aus der Musik gezogen und

aus den Leuten, die um ihn herum waren. Es hat einfach diese besondere Fillmore-Energie gegeben, die vom Publikum ausgegangen ist und sich dann mit der Band vermischt hat. In England gab es das damals noch nicht.“ Auf ihrer ersten kurzen US-Tour lernen sie den Multiinstrumentalisten Felix Pappalardi kennen, der nun ihre Alben produziert und den limitierten Trio-Sound im Studio mit Viola, Trompete, Flöte oder Orgel erweitert. Ende 1967 erscheint das zweite Album, „Disraeli Gears“, und wird ein großer kommerzieller Erfolg (USA/UK: Nr. 5).

Aber schon bald darauf kracht es im Gebälk.

Ginger Baker ist auf Heroin und ein ziemlicher Choleriker, er liegt sich ständig mit Jack Bruce in den Haaren. Clapton muss vermitteln. Das ewige Touren zermürbt obendrein. Die enorme Lautstärke geht ihnen langsam auf die Ohren, und vor allem läuft sich die extensive Improvisationsmasche tot. Als die Kritiker das bemerken und vor allem Clapton dafür verantwortlich machen – Jon Landau schmäht ihn im ROLLING STONE als Langweiler und „Meister des Blues-Klischees“ –, regeln sie den Abgang. Im August 1968 erscheint ihr drittes und erfolgreichstes Album, „Wheels Of Fire“ (USA: Nr. 1, UK: Nr. 3), danach gehen sie auf eine Abschiedstour, im November ist Schluss. Da die Nachfrage nach der vermeintlich ersten Supergroup kaum sinkt, erscheinen weitere Alben: Live-Mitschnitte und Best-of-Kompilationen vor allem, die sich immer noch gut verkaufen. Die übliche Restverwertung.

CLAPTONS LIEBLINGSINSTRUMENTE

1960s KAY JAZZ II

1963 FENDER TELECASTER

Clapton spielte die Gitarre zu Beginn der 60er-Jahre bei der Band The Roosters

Seit Anfang der 50erJahre der Klassiker unter den elektrischen Gitarren

1960 GIBSON LES PAUL STANDARD „BEANO BURST“ Clapton spielte die „Beano“ bei den Blues Breakers

1964 GIBSON SG STANDARD „THE FOOL“

1964 GIBSON ES-335 TDC

1950s FENDER STRATOCASTER „BLACKIE“

1939 MARTIN 000-42

Von einem holländischen Design­studio für Clapton gestaltet

Die klassische Ausführung der GibsonGitarre

Von Clapton zu Beginn der 70erJahre aus drei Gitarren zusammengesetzt

Eine akustische WesternGitarre aus dem Jahr 1939

44 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: AUS DEM BUCH PETER KEMPER „ERIC CLAPTON“ - EIN LEBEN FÜR DEN BLUES / RECLAM VERLAG 2020

Von der akustischen Gitarre bis zur eigenhändig von Clapton zusammengebauten

FOTO: SHEPARD SHERBELL/CORBIS/CORBIS VIA GETTY IMAGES

Strange Brew: Cream mit Claptons Freundin Charlotte Martin, 1967

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

lapton will jetzt raus aus der improvisatorischen Dauerschleife mit Heiligenschein. Er möchte sich nicht länger auf die Finger schielen lassen und sich stets fragen müssen, ob das letzte Solo nun besonders göttlich war – oder eben nicht. Landau hat ihm zu denken gegeben. Aber auch „Music From Big Pink“. „Ich hörte die Aufnahmen und dachte: Das ist genau das, was ich spielen will! Keine ausgedehnten Improvisationen und keinen Maestro-Bullshit mehr, sondern nur gute funky Songs.“ In Woodstock macht er mit The Band sogar ein bisschen Hausmusik, aber es kommt nichts dabei heraus.

Zwischendurch hilft er bei den Beatles im Studio aus, spielt das Solo auf „While My Guitar Gently Weeps“, ein Freundschaftsdienst für ­G eorge Harrison. „Ich deutete die Situation so, dass Paul und John Georges und Ringos Beiträge ziemlich abschätzig betrachteten. Bei jedem neuen Album schlug George Songs vor, die jedes Mal in den Hintergrund gerieten. Ich glaube, er hatte das Gefühl, unsere Freundschaft wäre ihm eine Stütze, meine Anwesenheit könnte seine Position irgendwie stärken und ihm vielleicht sogar Respekt einbringen“, erzählt Clapton in seiner Autobiografie. „Wir machten nur einen Take, und ich fand, dass es fantastisch klang. John und Paul gaben sich zurückhal-

tend, aber dass George glücklich war, wusste ich, denn er hörte sich die Aufnahme im Kontrollraum immer wieder an.“ Er wird ihm das später noch auf die eine oder andere Weise vergelten.

Clapton bleibt nicht lange arbeitslos. Eine Session mit Steve Winwood von Traffic in Claptons frisch erworbenem Landhaus Hurtwood in Surrey läuft erfreulich, Ginger Baker wird hinzugezogen und Family-Bassist Ric Grech. Fertig ist die nächste Super­g roup: Blind Faith. Schon Anfang Februar geht die Meldung an die Presse raus, Ende des Monats trifft man sich im Studio. Und die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut. Das im August erscheinende titellose Album besticht durch großartiges Songwriting, Winwoods Soulkehle und ein so konzises Zusammenspiel, dass selbst der große Cream-Verächter Lester Bangs, der keine Gelegenheit ausgelassen hat, ihr vermeintliches Kunstgetue und leeres Virtuosentum zu geißeln, sich jetzt bewundernd über die „Subtilität und Inbrunst“ von Claptons Gitarrenspiel äußert. Ihr offizielles Live-Debüt findet Anfang Juni im Hyde Park vor über 100.000 Menschen statt, das Album wird eine halbe Million Mal vorbestellt, die US-Tour ist ausverkauft. Kommerziell hat er erneut alles richtig gemacht, aber es ist eben immer noch nicht die Musik, die er eigentlich machen will.

Obwohl das Publikum mehr solistisches Engagement von ihm erwartet – der „Melody Maker“ hört denn auch nur „Steve Windwood plus Begleit-

46 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: MARKA / ALAMY STOCK FOTO

C

Clapton mit Patti Boyd in London, 1974

band“ –, ist ihm hier immer noch zu viel Gitarrenhelden-Schmus dabei. Er nimmt eine kreative Auszeit und schließt sich der Vorgruppe Delaney & Bonnie an, mit der er sich während der US-Tour angefreundet hatte. Sie kommen dem von ihm angestrebten Americana-Sound schon recht nahe. In der Folge rekrutiert er die Rhythmussektion bestehend aus Carl Radle und Jim Gordon und den Keyboarder Bobby Whitlock als Backing­band für sein erstes Soloalbum. Auf „Eric Clapton“ ist die musikalische Neujustierung dann vollzogen. Er komponiert und singt jetzt selbst und wechselt zur Stratocaster. Ihr cleaner, brillanter, natürlicherer Sound passt besser zu Claptons Vision einer zurückgenommenen, Gospel, Rhythm & Blues und Country inkorporierenden, uramerikanischen Musik, wie er sie im Big Pink gehört hat.

Kritiker und Publikum wissen nicht so recht, das Album verkauft sich nur mäßig. Clapton geht mit seiner Band auf Clubtour, unter dem Decknamen Derek And The Dominos. Ein weiterer Schritt, um dem Personenkult zu entfliehen. Sein Privatleben fordert ihn mehr. Er hat mittlerweile mit Pattie Boyd, der Frau seines Freundes ­George Harrison, angebändelt. In deren Ehe kriselt es seit geraumer Zeit, Harrison lässt nichts anbrennen, deshalb nimmt sich auch seine Frau gewisse Freiheiten. Da hat der Nachbar leichtes Spiel. Clapton beichtet seinem Freund schließlich alles, und der nimmt es wie ein echter Rock-Aristokrat – nämlich erstaunlich gelassen. Es bleibt zunächst bei einer Affäre. Clapton zieht den Kürzeren, betäubt sich mit Arbeit – und Betäubungsmitteln. Mit seinen Dominos geht er ins Studio, Duane Allman schließt sich ihnen an, und die beiden Leadgitarristen brennen in großer Gelassenheit ein Feuerwerk nach dem anderen ab.

Nicht zuletzt die Kombination aus Allmans melodiö­ sen Southern-Rock-Slides und Claptons kristallklaren Licks macht aus „Layla And Other Assorted Love Songs“ eines von Claptons essenziellen Alben. Der Titelsong, diese herausgeschriene, von der Sehnsucht nach Pattie erhitzte Liebesklage, übertönt die Larmoyanz mit Lautstärke.

Nach dieser kreativen Eruption, die auch erst mit einiger Verspätung vom Publikum adäquat gewürdigt wird, bleibt es um Clapton jahrelang still.

Er hat Liebeskummer, die kommerzielle Erfolglosigkeit seines Stilwechsels macht ihm Sorgen, und schließlich muss er auch noch den Tod seines Großvaters verarbeiten. Er ist schon länger auf Heroin, jetzt gibt er sich ganz der Sucht hin und verbauert jahrelang auf seinem Landgut. Pete Towns­hend organisiert Anfang 1973 ein Comeback-Konzert mit alten Freunden und Kollegen, um ihn wieder ins musikalische Leben zurückzuführen. Das ist auch insofern bitter nötig, als sein Vermögen zu schrumpfen beginnt. Clapton begibt sich schließlich in Therapie.

Sein alter Dominos-Kumpel Carl Radle ist in der Zwischenzeit nicht untätig, er hat in Miami eine neue Band zusammengestellt. „Wir warten auf dich!“ Das daraus hervorgehende Album „461 ­Ocean Boulevard“ ist Therapie und Neuanfang in einem.

Ein Exerzitium in Gelassenheit. Jetzt bekommt sein Spitzname endlich Sinn. Vielleicht auch eine Folge der verlorenen Fingerfertigkeit. Clapton schaltet noch mal einen Gang runter und spielt, in Gedenken an seinen „Bruder“ Duane Allman, nun manchmal mit dem Bottleneck. Auch sein Privatleben kommt wieder ins Lot. Pattie trennt sich endlich

ERIC CLAPTON

von George und zieht zu Clapton nach Hurtwood.

Vorher geht es auf Tour, 48 ausverkaufte Konzerte in fünf Monaten, die Clapton ohne geistige Stärkung nicht durchhält. Er rutscht von der einen Sucht gleich in die nächste. Aber er bleibt dieses Mal am Ball, veröffentlicht regelmäßig Alben und tourt – wenn auch nicht immer im Vollbesitz seiner Fähigkeiten. In seiner Autobiografie behauptet er, „ein ganzes Konzert im Liegen mit einem neben mir liegenden Mikrofonständer gespielt“ zu haben.

Einen Mitschnitt gibt es davon leider nicht.

Dokumentiert ist aber der Abend des 5. August 1976 im Odeon Theatre in Birmingham. Nach dem Opener schwankt er mit ordentlich Seegang ans Mikro. „Sind heute Nacht irgendwelche Ausländer im Publikum? Wenn ja, sollten sie bitte ihre Hände heben. Ich beobachte euch, ihr Kanaken! Wo seid ihr?“, schimpft er. „Man muss einfach festhalten, yeah, dass all die verfluchten Ausländer und Kanaken widerlich sind, das ist die schlichte Wahrheit. Also wo seid ihr? Ihr solltet einfach abhauen, nicht nur aus dieser Halle, sondern aus unserem Land!“ Er ist offenbar so sauer, weil ein Ausländer angeblich seine Pattie im Hotel begrapscht hat. Er kommt an diesem Abend nicht von diesem Thema los. „Ihr müsst verhindern, dass Großbritannien eine schwarze Kolonie wird. Schmeißt die Ausländer raus! Schmeißt die Kanaken raus! Schmeißt die Neger raus! Großbritannien muss weiß bleiben! Normalerweise bin ich auf Droge, jetzt bin ich auf Rassismus! Das ist viel härter, Mann!“ Die Öffentlichkeit ist von ihrem Gentleman-Rocker einigermaßen verstört. „Slowmind“ ist noch eines der gemäßigten Attribute. Selbstredend folgt die Entschuldigung auf dem Fuß: Er sei mal wieder besoffen gewesen. „Exzentrisch“ sowieso. Im Interview mit „Sounds“ vergleicht er seine Hassrede mit einem Monty-Python-Joke. Überzeugend ist das alles nicht.

Clapton war schon immer ein Konservativer. Ende der Sechziger hat er Gott entdeckt, jetzt entdeckt er die Nation als zu bewahrende, stabilisierende Kategorie – und alle Aussagen, die er danach trifft, um sich zu exkulpieren, bestätigen eigentlich nur seine tief sitzende Angst vor dem Fremden.

Man kann sich offenbar mit dem Mythos vom schwarzen Bluesman identifizieren und die Musik liebevoll anverwandeln und sich trotzdem vor einer vermeintlichen Okkupation der weißen Nation durch schwarze Immigranten fürchten. Das geht auch deshalb zusammen, weil beide Vorstellungen ganz gut ohne die Realität auskommen. Clapton kennt weder die Lebenswirklichkeit schwarzer Musiker in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch die der Einwanderer im England jener Zeit.

Er hantiert stets mit Stereotypen. Die öffentliche Entrüstung legt sich mit der Zeit wieder, aber dieser Fleck auf dem Hemd ist nun da, den verdeckt auch kein Armani-Anzug.

Musikalisch erntet er in der Folge das einmal bestellte Feld. Für Überraschungen sind nun vor allem die Produzenten und Sessionmusiker verantwortlich. Bei „No Reason To Cry“ sorgen Dylan und The Band für entsprechende Aufmerksamkeit, bei „Just One Night“ (1980) und „Another Ticket“ (1981) ist es Albert Lee, dessen flinke Country-Läufe die professionelle Coolness durchkreuzen, und bei „Money And Cigarettes“ verschnüren Ry Cooders Slide-Schleifen das musikalische Päckchen. Bald darauf tut er sich mit Phil Collins zusammen, und der verordnet ihm einen elektronisch geschliffenen AOR-Sound, den ihm seine alten Fans übel nehmen, von dem er aber die ganzen 80er-Jahre nicht loskommt. Weil er sich so gut verkauft – und vielleicht auch weil Clapton im Suff sein Durchsetzungsvermögen verliert. Letztlich scheitert auch seine Ehe mit Pattie Boyd daran.

Die Neunziger beginnen mit Schicksalsschlägen.

Auf der mit Robert Cray, Buddy Guy und Stevie Ray Vaughan prominent besetzten US-Tour 1990 stirbt Vaughan, der talentierteste weiße Blueser der nachfolgenden Generation, bei einem Hubschrauberabsturz. Und im Jahr darauf stürzt Claptons vierjähriger Sohn Conor, das gemeinsame Kind von Clapton und der Schauspielerin Lory Del Santo, aus einem Fenster eines New Yorker Hochhauses. Clapton hatte gerade begonnen, sich ihm etwas anzunähern. Im Song „Tears In Heaven“ sublimiert er seine Trauer – und irgendwie sind

alle gerührt. Nicht zuletzt die Grammy-Juroren.

Er spielt den Song bei den „MTV Unplugged“Sessions. Das daraus resultierende Album macht sein Werk nun auch für die Nachgeborenen goutierbar und wird mit 26 Millionen verkauften Exemplaren das erfolgreichste Live-Album aller Zeiten. Ein später Triumph, der allerdings die Kritiker nicht ganz so glücklich macht. „Ein Blues-Album für Yuppies“, schreibt die „Chicago Tribune“.

Es ist diese freundliche und gepflegte Saturiertheit, die seine Alben und Auftritte nun auszeichnen und mitunter sogar für Die-hard-Fans etwas spannungsarm erscheinen lassen. Dass er dabei stets erlesene Musiker um sich schart und hochwertige Handwerkskunst abliefert, bleibt davon ganz unberührt. Sogar die mit großer Vorfreude erwartete Cream-Reunion 2005 für sieben Konzerte – vier in der Royal Albert Hall, drei im Madison Square Garden – krankt ein wenig an der Altersmilde der Kombattanten. Sie machen leidlich Alarm, und alle wollen es gut finden. Peter Kemper ist in seiner gerade erschienenen, lesenswerten Biografie nachgerade enthusiasmiert von den „weiten Improvisationslinien“, in denen sich die „donnernden Drums mit den Blitzen aus zwei Griffbrettern“ vermählen, „bis eine fast unwirkliche Atmosphäre des nie zuvor Gehörten die Bühne beherrscht“. Aber man muss das nur mal vergleichen mit den bei YouTube leicht zu findenden Konzertmitschnitten aus der Royal Albert 1968 oder den diversen Live-Alben, um schmerzlich festzustellen, wie viel Energie in den Jahrzehnten auf der Strecke geblieben ist. Kein Wunder.

Adäquater und letztlich auch glaubwürdiger klingen da seine diversen Gemeinschaftsarbeiten, etwa mit B. B. King, J. J. Cale oder auch Wynton Marsalis, und seine ehrlichen Verbeugungen vor den großen Inspiratoren und Vorlagengebern – also die Coveralben „From The Cradle“, „The Breeze: An Appreciation of JJ Cale“, „Me & Mr. Johnson“ und „Sessions For Robert J“. Claptons Verächter haben ihm schon früh den ironischen Kampfnamen „Secondhand“ gegeben. Hier stattet er denen, die seiner langen Karriere die Richtung gegeben haben, noch einmal seinen aufrichtigen Dank ab.

THE NEW ALBUM! OUT NOW © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Den selbstbewussten Blick hat sie sich hart erarbeitet: Jessie Reyez

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Queen Latina

Die Liebe, die Romantik und der Tod sind ihre Themen, aber auch die Umstände, die mitschwingen, von #MeToo bis Migration. JESSIE REYEZ ist eine Popsängerin mit Botschaft, eine, die so viel zu sagen hat, dass sie schneller spricht, als andere mitdenken. Ihr Vorbild ist Amy Winehouse. Willkommen zur Audienz!

FOTO: UNIVERSAL MUSIC

Von JAN JEKAL

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

W ie gerade dem grab entstiegen sitzt sie da, in einem Hochzeitskleid auf einem Doppelsarg. Das weiße Kleid macht sie zu einer geisterhaften Erscheinung, der Hochzeitsstrauß – oder ist es ein Trauergesteck? – verwelkt zu ihren Füßen. Kein Zufall, dass es sich um einen Doppelsarg handelt.

Die 28-jährige Sängerin Jessie Reyez hat ein Album über die Liebe gemacht, also auch eines über den Tod. Es heißt „Before Love Came To Kill Us“, und die Verbundenheit, die Untrennbarkeit beider Themen drückt sie mit dem Albumcover aus. Weil sie, in der Tradition lateinamerikanischer Bolero-­ Musik, nichts von Understatement hält, sondern das volle Drama braucht, fuhr sie alle Geschütze der Romantik auf: Hochzeitskleid und Doppelsarg, auf dem Albumcover wie in der Musik. „Der Tag, an dem man die Liebe seines Lebens kennenlernt“, sagt sie (und trägt roten Tüll, auch sehr dramatisch), „ist der Tag, an dem man den Menschen kennenlernt, der einen schlimmer verletzen wird als jeder andere.“ Sie spricht schnell, rattert ihre Sätze nur so herunter, in charaktervollem Englisch mit kolumbianischer Kadenz. „Statistisch gesehen“, sagt sie, „wird man betrogen werden oder, selbst wenn das nicht passiert und man gemeinsam alt und grau wird, wird einer von beiden sterben. Derjenige, der zuerst stirbt, kommt glimpflich davon, aber so oder so, niemand kommt aus der Liebe lebend raus. Sie endet immer mit einem Abschied.“ Reyez hält kurz inne, dann sprudelt es weiter aus ihr hervor: „Das ist die traurige Seite der Liebe. Aber die schöne Seite des Todes ist, dass er das Alltägliche bewusst macht. Denn wenn ich dir jetzt sage: Jan, du wirst nur noch einen Tag zu leben haben, morgen wirst du vor deinen Schöpfer treten müssen und über dein Leben Rechenschaft ablegen, dann würdest du dich versöhnlicher und gnädiger zeigen, würdest selbst um Vergebung bitten und Geständnisse ablegen.“ Reyez ist, wie man merkt, eine intensive Gesprächspartnerin. Sie pariert jede Frage mit scharf geschliffenen Antworten, die trotz ihrer rasanten Geschwindigkeit nicht einfach wie auswendig aufgesagt daherkommen. Ein Rätsel, woher sie die Zeit zum Denken nimmt. Vielleicht kommt die Schnelligkeit daher, dass sie seit einigen Jahren zu sogenannten Writing-Camps eingeladen wird,

JESSIE REYEZ

wo eine Menge Songwriter und Produzenten zusammenkommen und in Schwarmintelligenz-Sessions die nächsten Hits für Top-40-Popstars schreiben. Da muss man aufgeweckt und schlagfertig sein, um mithalten zu können und die eigenen Ideen unterzukriegen. Das ist sie. Und dar­ü ber­ hinaus als Performerin so begabt, dass sie quasi befördert wurde und nun nicht länger nur anderen zuarbeitet, sondern selbst die Künstlerin ist, die im Mittelpunkt steht und für die Teams aus Songwritern und Produzenten zusammengestellt werden.

Vor drei Jahren, ihre Debüt-EP, „Kiddo“, war gerade erschienen, hatte Jessie Reyez ihren ersten großen Auftritt, in der Late-Night-Show von Jimmy Fallon. Sie sitzt da auf einem Barhocker und zupft auf ihrer Spanischen Gitarre Arpeggien. Die erste Strophe ihres Break-up-Songs „Figures“ haucht sie noch, aber im Refrain dreht sie dann auf, singt aus voller Kehle und mit erstaunlichem Druck, presst die höchsten Töne geradezu hervor, als würde sie sich damit die Stimmbänder ruinieren, drückt, drängt und quietscht mit einer Frequenz, die nur noch Flehen ist, und dann, völlig unerwartet, folgt eine federleichte Falsettstimme, das sanfte Runterkommen nach der Anstrengung des Refrains. Es ist eine dieser Performances, bei der das Studiopu­ bli­kum in ungeplanten Szenenapplaus ausbricht.

Wie hat sie gelernt, so zu singen? Sie erzählt davon, wie sie mit 16 Jahren zu einem Vorsingen für eine Girlgroup ging. Sie begleitete sich auch damals auf der Gitarre, die Jury hörte ihr höflich zu und sagte ihr dann höflich ab. Deprimiert ging sie wieder, ihr Vater wartete draußen schon auf sie. Ein Juror kam ihr hinterhergelaufen, wollte ihr noch mit auf den Weg geben, dass er Potenzial in ihr sehe, wenn es nun auch mit der Girlgroup nicht geklappt habe. „Er gab mir einen Rat, den

lumbianischer Einwanderer. Sie lebte im multikulturellen Stadtviertel Jane and Finch. „Als ich eingeschult wurde, konnte ich kein Wort Englisch“, erzählt sie. „Zu Hause haben wir nur spanisch gesprochen. Aber das war bei meinen Mitschülern genauso, die waren auch Einwandererkinder aus aller Welt.“ Ihre Eltern spielten lateinamerikanische Bolero-Lieder und Flamenco-Stücke, die ausdrucksstarke, nahezu opernhafte Dramatik dieser Musik findet sich nun in Reyez’ Gesang, genau wie die bildmächtigen Hochzeitskleid-aufDoppelsarg-Texte. „In lateinamerikanischer Musik ist es möglich, starke Bilder und Metaphern und Romantik zu verwenden, ohne dass es kitschig klingt“, sagt sie. „Beim Englischen muss man vorsichtig sein, da wird es schnell cheesy und synthetisch. Im Spanischen kann man dick auftragen und es bleibt trotzdem elegant.“ Der Song, der am deutlichsten demonstriert, wie Reyez mit zwingender Selbstverständlichkeit musikalische Welten verbindet, ist ihre Interpretation des Country-Standards „Crazy“, von Willie Nelson geschrieben, in der berühmtesten Version von Patsy Cline gesungen. Reyez legt nicht nur Flamenco-Dramatik in ihren flehenden Gesang, sondern bricht ihn mit kleinen R’n’B-Verzierungen und einer zwischendrin durchblitzenden HipHop-haften Attitüde, einem selbstermächtigenden „Ha!“-Ausatmen, das die gerade deklarierte Unterwürfigkeit unterläuft. Ähnlich modernisierend ist die Musik: Eine Jazz-Gitarre wird von einem boomenden Beat und einem tiefen Bass plattgemacht. Man hört die Kolumbianerin Reyez, aber auch die Kanadierin, genauer: die Frau aus Toronto, der Stadt von The Weeknd und D ­ rake, der Stadt des modernen, düsteren R’n’B. Reyez hörte „Crazy“, das nun auf ihrem Debüt­ album, „Before Love Came To Kill Us“, erscheint, vor fünf Jahren das erste Mal. Zu der Zeit nahm sie an The Remix Project teil, einem Programm der Stadt Toronto, das sich zum Ziel gesetzt hatte, jungen Menschen aus einkommensschwachen

„Niemand kommt aus der Liebe lebend raus, sie endet immer mit einem Abschied.

Das ist die traurige Seite der Liebe und die schöne Seite des Todes“ ich nie vergessen werde“, erzählt sie. „Er sagte: If you want to be great, then you have to study the greats.“ Wer großartig sein will, muss die Großen studieren. Das tat sie dann auch: Sie hörte Amy Winehouse und Beyoncé, versuchte die akrobatischen Wendungen, die deren Melodieführungen nahmen, mitzusingen, und traf sie eine falsche Note, begann sie das Stück von vorn. „Es gibt Menschen, die sind mit einem Naturtalent geboren“, sagt sie. „Ich gehöre nicht zu denen.

Ich musste mir alles erarbeiten.“ Ihre größte Qualität ist es vielleicht, verschiedene musikalische Stile und Kulturen in ihrer Stimme zu verbinden. Reyez, Jahrgang 1991, ist in Toronto geboren und aufgewachsen, als Kind ko-

Familien Ressourcen und professionelle Hilfestellung zur Musikproduktion zu geben. Dort lernte sie einen jun­gen aufstrebenden Produzenten kennen, Moose, der ihr „Crazy“ zeigte, den Lieblingssong seiner verstorbenen Mutter. Den müssen wir auch mal aufnehmen, sagten sie damals. Seitdem lief es für Reyez ziemlich gut, nicht zuletzt durch die Kontakte, die sie beim Remix Project geknüpft hatte: Zuerst als Songwriterin, dann als Künstlerin, sie nahm Features für Eminem und Sam Smith auf, und ihre letzte EP wurde für einen Grammy nominiert, in der vagen Kategorie „Best Urban Contemporary“.

Aber sie vergaß Moose nicht.

Als sie vergangenes Jahr ihr Album aufnahm und zum ersten Mal eine Plattenfirma und etwas Budget im Rücken hatte, ließ Reyez ihren alten Freund aus Toronto zu sich nach L.A. einfliegen,

50 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: PHILIP HARRIS

Reyez mit 6lack, der bei ihrem Song „Imported“ mitrappt

eigentlich als Tontechniker. Eines Tages zündete er eine weiße Kerze an, es sei der Todestag seiner Mutter, erklärte er ihr, und da beschlossen sie, das alte Vorhaben umzusetzen und „Crazy“, den Song seiner Mutter, aufzunehmen. Weil der nicht für das Album geplant war, nahmen sie ihn an einem freien Tag in der Küche ihres Airbnbs auf. Als sie ihn später ihrem Management vorspielte, war die Reaktion euphorisch. „Es war passend, den Song mit auf das Album zu nehmen“, sagt Reyez. „Ich drücke denen meinen Respekt aus, die vor mir kamen und auf deren Schultern ich stehe.“ Sie erwähnt Amy Winehouse und deren Cover von Carole Kings „Will You Still Love Me Tomorrow“ als Beispiel für eine perfekte Neu­interpretation.

Winehouse, so wird immer deutlicher, ist Reyez’ großes Vorbild.

Insbesondere von ihr hat sie gelernt, Schmerz in ihre Stimme zu legen, echte Emotionen als Material für ihre Musik zu nehmen, aus ihrem eigenen Leben zu schöpfen. Für „Gatekeeper“ aus dem Jahr 2017, einen ihrer frühesten Songs, verarbeitete sie eine traumatische Erfahrung, die sie, in einem therapeutischen Manöver, in einem dazugehörigen Kurzfilm nachstellte. Sie spielt sich darin selbst, ein paar Jahre jünger, als naive Newcomerin, die auf einer Party in Toronto einem angesagten Produzenten begegnet. Der fordert sie vor der versammelten Gruppe auf, ein paar Takte zu singen. Die junge Künstlerin schlägt sich wacker, die anwesenden Gäste, ein Who’s Who der lokalen R’n’B-Szene, zeigen sich beeindruckt. Sie ist überglücklich, geht zum Beten ins Badezim-

mer, bedankt sich bei Gott für diese, so glaubt sie, besondere Gelegenheit, ihr Talent den richtigen Leuten beweisen zu können.

Der Produzent, den Reyez später als Noel „Detail“ Fisher identifizieren wird, schlägt bald vor weiterzuziehen. Sie steigt neben ihm in seine Limousine, denkt sich nichts dabei, wundert sich nur, dass ihre Freundin, die sie auf die Party begleitet hat, in einen anderen Wagen gelotst wird.

Sie fahren los. Er fängt an, sie zu streicheln. Sie weicht zurück. Er macht weiter, sie schüttelt den Kopf, entschuldigt sich sogar. „Ich bin gläubige Katholikin“, sagt sie. Er verliert die Geduld. „Kann ihr mal jemand meinen Kontostand zeigen?!“, schreit er in die Dunkelheit des Wagens. „Damit die Schlampe merkt, wer ich bin!“ Er kenne eine Menge Frauen, die froh wären, in ihrer Position zu sein. Natürlich gibt es keine nächste Party, sie waren die ganze Zeit auf dem Weg zu ihm nach Hause. Auf ihrem Song „Gatekeeper“, übrigens noch einige Monate vor dem #MeToo-Dammbruch erschienen, singt Reyez aus der Perspektive ihrer Peiniger: „You know we’re holding the dreams that you’re chasing/ You know you’re supposed to get drunk and get naked.“ Reyez ist keine Aktivistin, sondern Popmusikerin, und der wesentliche Teil ihres Outputs thematisiert klassische Pop-Beziehungsthemen ohne Potenzial zur Polarisierung. Gleichwohl hat sie ein Gespür für relevante soziale und politische Themen, die sie an ausgewählten Punkten – und gerade in ihren Musikvideos – äußerst wirkungsvoll einsetzt. Das Video zu „Far Away“, einer weiteren

Single des Albums, zeigt zum Beispiel einen von Latein­amerikanern besuchten Tanzabend, bei dem plötzlich eine Rauchbombe hochgeht. Bewaffnete stürmen die gerade noch friedliche Szene, aber es handelt sich um keinen Raubüberfall, sondern um den Beginn einer Abschiebung. Sie gilt nicht als Verbrechen, sondern ist staatlich sanktioniert.

Später sehen wir Reyez in einen Käfig gesperrt. „Als Latina“, sagt sie, „war es mir wichtig, an diesem historischen Punkt einen Moment der Empathie zu erzeugen, gerade auch an die Menschen gerichtet, die privilegiert genug sind, sich mit dieser Realität nicht auseinandersetzen zu müssen. An die Leute, die meinen, man könne ja einfach legal einwandern. So einfach ist das aber nicht. Wenn man verfolgt wird, wenn man vor Gewalt fliehen muss, wartet man nicht einfach 16 Jahre wie meine Eltern, als sie aus Kolumbien ausgewandert sind. Man tut alles, um seine Familie zu schützen.“ Eigentlich war „Far Away“ nur als Lied über eine Fernbeziehung gedacht, aber die Zeile „The government wants us to break up“, die ihr plötzlich eingefallen war, gab dem Lied diese politische Dimension. Vor allem die Berichte von Kindern, die an der Grenze von ihren Eltern getrennt wurden, bewegten sie. „Da war dieses eine Mädchen, das genauso aussah wie ich“, erzählt Jessie Reyez. „Ihre Haut war braun, ihre Haare waren braun, sie sah genauso aus wie ich, und sie weinte, weil man ihr die Eltern weggenommen hatte. Und ich wusste: Wären die Karten nur ein klein wenig anders gemischt, könnte ich selbst dieses Mädchen sein.“ Rolling Stone | April 2020 | 51

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

NACH AUSFLÜGEN IN OPER UND KUNSTLIED SCHREIBT RUFUS WAINWRIGHT ENDLICH WIEDER RICHTIGE SONGS. SEIN NEUES ALBUM IST INSPIRIERT VON SEINER TOCHTER, DEM VERMÄCHTNIS SEINER ELTERN UND

DIVA OHNE ALLÜREN DEM GEIST DES

LAUREL CANYON

VON M A X G Ö S C H E

Fotos von R IC H MON D L A M

52 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Freund der großen Oper: Rufus Wainwrights Inszenierung als queerer Dandy

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

V

R U F U S WA I N W R I G H T

ielleicht haben wir seine rückkehr in popGefilde einem Taxifahrer zu verdanken. Und einem Bart. Die Geschichte beginnt in L.A., wo Rufus Wainwright mit seinem Ehemann, Jörn Weisbrodt, und seiner Tochter, Viva Cohen, seit einigen Jahren lebt. Durch die Stadt lässt er sich gern von einem der Dienstleistungsunternehmen kutschieren, die man bequem über eine App buchen kann. Sein Profilname: R. Eines Tages fragt ihn ein Fahrer, der ihn aufgrund seiner Gesichtsbehaarung nicht erkennt, wofür denn das Initial stehe. Wainwright nennt seinen Vornamen. Der Chauffeur erwidert: „Ah, wie Rufus Wainwright! Ich frage mich, was aus dem wohl geworden ist …“ Das habe ihm gezeigt, dass er sich zu weit vom Pop-Business entfernt hatte. Heute lacht Wainwright über diese Anekdote. Aber die berechtigten Zweifel an seinem Comeback als Songschreiber bestürzen ihn. „Ich hätte doch niemals meine Karriere aufgegeben!“, betont er. „Unfollow The Rules“ ist Wainwrights erstes reguläres Album seit „Out Of The Game“ von 2012, dessen Titel in den vergangenen Jahren immer mehr wie ein Abschied wirkte. Klar, er hat in der Zwischenzeit zwei Opern komponiert. Die erste, „Prima Donna“, über eine Opernsängerin, die sich in einen Journalisten verliebt, hatte er zwar schon 2007 konzipiert und nach einem Zerwürfnis mit der New Yorker Met 2009 in Manchester uraufgeführt. Doch erst die Neuauflage im Jahr 2015 bescherte Wainwright größere Aufmerksamkeit. Was auch der filmischen Umsetzung unter der Regie des Italieners Francesco Vezzoli zu verdanken ist, der für die Hauptrolle der Primadonna keine Geringere als die Jahrhundertkünstlerin Cindy Sherman gewinnen konnte. Seine zweite Oper, über das Leben des römischen Kaisers Hadrian und dessen homoerotische Beziehung zu seinem Günstling Antinoos, feierte 2018 in Toronto Premiere. Klar, Wainwright hat mit „Take All My Loves“ (2016) weitere Shake­speare-­Sonette vertont, nachdem er seiner Verehrung für den englischen Dichterkönig bereits 2010 auf „All Days Are Nights: Songs For Lulu“ Ausdruck verliehen hatte. Klar, er hat einige Konzerte gegeben und ein paar Singles veröffentlicht, darunter eine wundervolle Cover­­ version von Stevie Wonders „Signed, Sealed, De­ li­vered (I’m Yours)“. Doch wirkte das alles auch immer ein bisschen wie die Arbeit von jemandem, der sich auf einer Stufe mit Giganten wähnt.

Einem, der zwar nicht in einem falschen Körper geboren wurde, aber zumindest in eine falsche Zeit. Einem, der mit den Göttern um einen Platz in der Geschichte buhlt. Einem, der seine Kunst auf

Richard-Wagner-­Maß bläht. Aber auch von einem, der noch im Scheitern majestätisch wirkt. Was von Wainwrights Ausflug in die Opernhäuser dieser Welt bleibt, ist die Erkenntnis: Den Melodienerfinder von Meisterplatten wie „Poses“, „Want“ und „Release The Stars“, den selbst ernannten „Rebel Prince“ und mit Geschlechterrollen jonglierenden „Gay Messiah“ konnte das alles nicht ersetzen.

Zunächst schien Wainwrights Abtauchen in die Klassikwelt jedoch nur folgerichtig in Anbetracht seiner Talente und musikalischen Vorlieben. Kaum einem anderen Künstler ist es gelungen, Pop und Klassik so unpeinlich zu verschmelzen. Der Ursprung dafür liegt in Wainwrights Kindheit. Im Haus seiner Mutter in Montreal herrschte ein Geist von hippiesker Freiheit und Bildungsbürgertum, es gab keine Berührungsängste zwischen U- und ­E-Musik. Schubert oder Simon & Garfunkel war keine Frage, sondern ein Angebot. Zwei Chancen – Wainwright ergriff beide. Schon in der Pubertät erlag er dem Zauber von Puccini. „Ich war vergiftet von Opern. Die ganze Klassikszene war für mich so faszinierend!“ Inzwischen hat er zu seinem Nebenjob ein eher nüchternes Verhältnis entwickelt, auch aus pekuniären Gründen. „Finan­ziell wäre es für mich nicht möglich gewesen, mich darauf zu verlegen, nur noch Opern zu schreiben.

Das ist eine Beschäftigung für reiche Leute.“ Dennoch hätten ihm die letzten Jahre gutgetan, vor allem weil er nicht in der üblichen Tretmühle gefangen war, in der er seinen Vater, Loudon Wainwright III., oft genug erlebt hatte. „Ich habe schon als Kind gesehen, wie er in Depressionen verfiel, weil er ständig neue Alben aufnehmen und auf Tour gehen musste“, erklärt der Sohn. Aus den Fehlern und Gewohnheiten seiner Eltern zu lernen ist eines der Rezepte, mit denen sich Wainwright aus ihrem kreativen Schatten befreit hat.

Wainwrights Drang zur Opulenz, zu griechischen Tragödien und barocken Arrangements scheint vorerst gestoppt. Wenig ist davon noch zu spüren auf „Unfollow The Rules“, das zwar die für diesen

„Mir wurde bewusst, dass ich mich dem Ende einer Ära nähere. Ich habe die Kämpfe meiner Karriere überlebt. Ich habe nicht unbedingt das Universum erobert, aber ich bin an einem besseren Punkt als früher“

Künstler typische orchestrale Grandezza aufweist, aber eben dezenter, subtiler, zärtlicher. Es ist die Wiedergeburt des jungen wilden Bohemiens, der seine Schlachten geschlagen hat, um uns nun als queerer Dandy zu begegnen. Wo früher ein Hauch Belle Époque wehte und Wainwrights Inszenierung einem Kostümball glich, herrscht jetzt nackte Ausgelassenheit: Wahre Stärke ist Verwundbarkeit! Sein Ausdruck auf dem Cover zur Single „Trouble In Paradise“ wirkt ebenso zufrieden wie herausfordernd. Er scheint zu fragen: Habt ihr verstanden? Das Album sei für ihn der letzte Akt, bevor ein neuer Zyklus anbreche, erläutert Wainwright. „Es funktioniert für mich als Ergänzung zu meinem Debüt. Mir wurde bewusst, dass ich mich dem Ende einer Ära nähere. Ich habe die Kämpfe meiner Karriere überlebt. Ich bin aufgeblüht. Ich habe nicht unbedingt das Universum erobert, aber ich bin an einem besseren Punkt als in meinen Anfängen.“ Die Dramen, die sich dazwischen abgespielt haben, hallen auf „Unfollow The Rules“ als Miniaturen der Vergangenheit wider. „Ich wollte in diesen neuen Songs meine frühen Tage noch einmal durchleben, jedoch als der weisere, intelligentere, sensiblere Mensch, der ich heute bin.“ Frappierend ehrlich, bisweilen sogar mit einem Anflug von Staunen über die Veränderungen in seinem Leben blickt er zurück: „Ein junger, schwuler, drogenund alkohol­abhängiger Sexsüchtiger zu sein, der durch Europa reist, um Liebe zu finden, ist eine schwierige Situation. Eine achtjährige Tochter zu haben, verheiratet und Mitte vierzig zu sein ist jedoch nicht weniger herausfordernd und beeindruckend.“ Egal wann, egal wo: Sich selbst nicht zu verklären sei ihm stets enorm wichtig gewesen. „Ich habe immer große Anstrengungen unternommen, um das Ikonische zu durchbrechen und zum Kern einer Sache vorzustoßen.“

Z

um kern der neuen stücke ist er in seinem Haus im Laurel Canyon vorgestoßen. Kein Wunder, dass diese Wainwright-Platte mehr als jede andere den Sound und den Anspruch, aber auch die Leichtigkeit und die Melancholie der frühen 70er-Jahre atmet. Es gehe ihm darum, die Magie dieser Zeit und ihre handwerkliche Songwriting-Meisterschaft zu beerben, sie in die Gegenwart zu retten. Die Notwendigkeit dieser Aufgabe haben ihm die Tode von Leonard Cohen, dem biologischen Großvater seiner Tochter Viva, und David Bowie vor Augen geführt. Zudem habe er erst kürzlich die Werke von Joni Mitchell und Randy Newman richtig verinnerlicht, ihre ganze Genialität begriffen. Eine weitere Motivation war der Gedanke, dass einige seiner Vorbilder – er führt Paul Simon und Frank Sinatra als Beispiele an – auch jenseits der vierzig grandiose Alben aufgenommen hätten. „Ich denke, dass ich jetzt in der Lage bin, die Tradition dieser Künstler zu repräsentieren und fortzuführen“, meint Wainwright. Tiefstapelei war nie sein Ding. „Ich wollte ein Album machen, das unleugbar tiefgründig ist und nichts mit dem Zeitgeist zu tun hat. Die Songs und Arrangements sollten wie gute Freunde klingen.“ Die Maßgabe: Laurel-Canyon-Style. Und dazu gehören für ihn – wenn, dann richtig – ein Studio von gebührender Größe (im Fall von „Unfollow The Rules“ das United Recording in L.A.) sowie eine Gruppe von begnadeten Session-Musikern, unter ihnen Schlag-

54 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Neuer Look, neue Reife: Wainwright beerbt die SongschreiberTradition der 70er-Jahre

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

R U F U S WA I N W R I G H T

zeug-Ikone Jim Keltner und Produzent Mitchell Froom, der noch mehr als Mark Ronson auf „Out Of The Game“ darauf achtete, dass nichts überfrachtet klingt. Mit der Crème de la Crème zu arbeiten ist für Wainwright eine Selbstverständlichkeit. „Das war für mich schon als Kind normal. Mark Knopfler spielte für meine Mutter Gitarre. Emmylou Harris kam vorbei und sang ein paar Background-Vocals.“ Das Erbe seiner Eltern – Wainwright hat ihre Professionalität übernommen und charakterliche Schwächen reflektiert. Dazu gehört auch das eine oder andere Hühnchen, das er mit seinem Vater zu rupfen hatte. Loudon Wainwright III. haderte lange Zeit mit der Homosexualität seines Sohnes. Ihr schwieriges Verhältnis haben beide künstlerisch verarbeitet. Loudon thematisierte die Kindheit seines ältesten Sprösslings in galligen Stücken wie „Rufus Is A Tit Man“, „Lullaby“ und „Hitting You“. Rufus revanchierte sich später bei seinem Erzeuger mit „Dinner At Eight“, in dem er dessen patriarchales Gebaren sezierte. Überhaupt liegen die Querelen einer ganzen Familiendynastie nirgends so offen in Song-Form vor wie im Hause Wainwright/McGarrigle. Dass er seiner Mutter näherstand, ist kein Geheimnis. Umso schmerzlicher traf ihn ihr Tod: Die Folkmusikerin Kate McGarrigle starb im Jahr 2010 an Krebs. „Ich habe lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen“, erklärt Wainwright. „Jetzt geht es mehr ums Zelebrieren.“ Mit Schwester Martha und vielen Freunden feiert er ihr Andenken: Jedes Jahr im Dezember veranstalten sie Weihnachtskonzerte und laden dazu eine Schar prominenter Gäste ein. Die Einnahmen fließen in den Kate McGarrigle Fund für Krebsforschung und -therapie. „Das Konzept dieser Shows ist eine Familie, die in Liebe vereint ist und der Zukunft positiv entgegenblickt.“ Wainwrights private Aufs und Abs bilden den Hintergrund für „Unfollow The Rules“, das sich in Kapitel gliedert. Im ersten spannt er den Bogen von der modeverliebten Diva aus „Trouble In Paradise“ zum selbstironischen „You Ain’t Big“, das seinen prekären Platz in der US-Musikindustrie thematisiert. Wainwright erwähnt die moralische Hürde, sich im Bible- und im Rust-Belt, also im geschundenen amerikanischen Heartland abseits der Komfortzonen an der Küste, ein Publikum zu erspielen. Für viele seiner Bekannten sei diese Hürde inzwischen unüberwindbar. Er hingegen wolle nicht aufgeben. „Ich gehe, anders als Anohni, Joan Wasser und die Scissor Sisters, an diese Orte.

Ich gehe nach North Dakota und Alabama. Ich schätze es sehr, dass ich überallhin gehen kann, sogar in die Red States, und ein Publikum habe, egal wie groß es ist.“ Aber dort leben? Nein danke!

Da sind ihm dann doch die Orte lieber, in denen kulturelle und liberale Kräfte ungehemmt zirkulieren. „Ich könnte gerade nirgendwo sonst in den USA wohnen als in Kalifornien“, beteuert er. New York sei zu polarisiert – „man ist näher an der Wut dran“. Außerdem wolle er bei seiner Tochter in L.A. sein, Wainwright und Weisbrodt teilen sich die Erziehung mit der leiblichen Mutter Lorca Cohen.

Von den Freuden dieser Patchwork-Konstellation handelt gewissermaßen das zweite Albumkapitel. „Peaceful Afternoon“ etwa ist eine Ode an die Ehe mit Weisbrodt. Der Songschreiber und der in Hamburg geborene Kunstkurator Weisbrodt gaben sich das Ja-Wort 2012 in einer festlichen Zeremonie in Montauk auf Long Island.

Im letzten Kapitel von „Unfollow The Rules“ lässt Wainwright Licht und Schatten, Wahnsinn und Hoffnung aufeinanderprallen. Beginnend mit der Liebe zu seiner Tochter in „My Little You“ und den Sorgen, die sich aus dieser Liebe ergeben. In der Hauptsache die ökologischen Zustände. Es ist die alte, heute umso dringlichere Frage: Welche Welt wollen wir unseren Kindern hinterlassen? „Im Laurel Canyon sind wir in der ersten Reihe des Klimawandels“, konstatiert Wainwright. „In jedem Spätsommer gibt es in Kalifornien riesige Brände.“ Für ihn sei das ein deutliches Indiz für die von Menschenhand verursachte Erderwärmung. „Es ist wichtig zu spüren, dass das wirklich passiert.

Man kann dem nicht entkommen. Das hat mir die Augen geöffnet. Wir müssen eine Lösung finden, wir haben keine andere Wahl!“ Wainwright nimmt dabei auch die Alten in die Verantwortung, die zu lange seelenruhig zugeschaut haben, ohne sich zu engagieren. „Ich gebe der Generation meiner Eltern die Schuld, in dem Sinne, dass sie viele Chancen verpasst haben, um etwas zu ändern.“ Ihr teils dekadenter, teils egoistischer Lebensstil räche sich nun. Aufräumen müssen andere: „Now we have to clean up the party!“

M

ut macht ihm das unbekümmerte Auftreten seiner Tochter, die Freiheit, mit der Kinder ihren Emotionen Ausdruck verleihen.

So ist auch der Albumtitel „Unfollow The Rules“ von ihr in­ spiriert. „Sie kam eines Morgens ins Schlafzimmer gerannt und rief: ‚Daddy, sometimes I just wanna unfollow the rules!‘ Dann lief sie trotzig weg.“ Die Szene brannte sich ein, so erfrischend offenherzig in ihrer Widerborstigkeit, dass Wainwright daraus den Titelsong machte.

„Ein junger, schwuler, drogenund alkoholabhängiger Sex­ süchtiger zu sein ist eine schwierige Situation. Eine achtjährige Tochter zu haben, verheiratet und Mitte vierzig zu sein ist jedoch nicht weniger herausfordernd“

Mit „Hatred“ enthält das neue Album auch den unvermeidbaren Kommentar zur politischen Klima­erwärmung im Trump-Amerika, allerdings in universeller Form, die die globale Tendenz zu Hate­speech und Gewalt mit einschließt. Und da ist Wainwright dann wieder ganz Opern-Connaisseur.

Denn die Vorlage zu diesem Stück lieferte ihm der deutsche Komponist Christoph Willibald Gluck und dessen Oper „Armide“. Die Titelheldin singt darin eine Arie, in der sie ihren angestauten Hass ventiliert. Für Wainwright ein durchaus zweischneidiges Schwert, das mitten durch unsere heutigen Gesellschaften geht. Er frage sich, ob Hass wirklich immer so schrecklich sei. Liege darin nicht auch ein ehrliches Gefühl? Und machen wir nicht alles noch schlimmer, wenn wir die Gründe für diesen Hass ignorieren?

Am Ende von „Unfollow The Rules“ zieht sich der Künstler in sich selbst zurück – und genießt es. „Alone Time“ ist Wainwrights Refugium, der Ort in seiner Seele, wo er Zuflucht sucht vor Erwartungen, ja sogar vor den Beziehungen, die ihm lieb und teuer sind. Ein Paradox zwar, sagt er. Aber dort finde er die Ruhe, um seinen kreativen Akku wieder aufzuladen. Ganz so allein ist er in diesen Phasen jedoch nicht immer. Wer regelmäßig Wainwrights Instagram-Profil checkt, kann kleine Einblicke von ihm erhaschen, etwa wenn er im Pyjama Klavier spielt, meist Schnipsel aus klassischen Werken. Man muss gar nicht weit um die Pop-Ecke denken, um eine Verbindung von seiner Bewunderung für Komponisten wie Schubert zu seinem Anspruch als Songschreiber zu ziehen. In Wainwrights Worten klingt das so: „Auch wenn das Äußere scheinbar konventionell wirkt – Songs sind für mich die wildeste Ausdrucksform.“ Manchmal wundere er sich darüber, welche Wege seine Kollegen aus den Neunzigern eingeschlagen haben. Bei vielen drehe sich heute alles um Sound­scapes, um sphärische Klänge, nicht um kompositorische Originalität. Manchmal wünscht er sich wieder mehr Austausch. Und manchmal denkt er dabei an die Künstlergeneration seiner Eltern: „Da gab es eine Menge Konkurrenz und Neid, aber auch Kameradschaft und Verbundenheit. Da hat man sich noch gegenseitig neue Songs vorgespielt. Ich hoffe, dass ‚Unfollow The Rules‘ die Welt der Songschreiber wieder mit Energie versorgen wird.“ Momentan thront er in dieser Welt als ungekrönter König.

Zum Schluss gibt Wainwright noch einen Ausblick, der einige Fans irritieren dürfte: „Ich bin bereit loszulassen. Meine nächsten Projekte werden ganz anders aussehen“, erklärt er und erwähnt bei der Gelegenheit die Idee, ein „französisches Album“ machen zu wollen. Dass er – wie schon seine Mutter auf ihren Alben mit Schwester Anna McGarrigle – locker zwischen Englisch und Französisch changieren kann, hat er schon häufig in eigenen Stücken und Coverversionen demonstriert. Das Einzige, was ihn bislang davon abhielt, sich ein größeres Publikum in Frankreich zu erschließen, sei die Mentalität der Grande Nation. „Die Leute dort sind manchmal sehr schwierig. Sobald sie das Gefühl bekommen, dass man etwas ausschließlich für sie macht, fangen sie an, einen zu verachten. Man muss also sehr vielseitig sein.“ Tiefstapelei ist vielleicht doch sein Ding.

56 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

KINDER BLEIBEN

Anfang des Jahrtausends machten die STROKES den Soundtrack für das junge Bürgertum, das sein Leben an die Wand fahren wollte. Unser Autor gehörte dazu.

Jahre später trifft er die Band hinter der Bühne.

Ein Text übers Überleben Von F R É D É R I C S C H W I L D E N

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: BEN STAS FOR VANYALAND.COM | REDEFINED

Julian Casablancas bei einer Wahlveranstaltung von Bernie Sanders in New Hampshire, Februar 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

THE STROKES

as war im winter. eine freundin hatte sich von mir getrennt. Und ich hatte meine komplette Vinyl-Sammlung, die 30 Bände Brockhaus, die ich von meinen Eltern zum 18. Geburtstag, und das Fernglas, das ich von meiner Tante zum 16. Geburtstag geschenkt bekommen hatte, in Berlin für Drogen verkauft. Seit einiger Zeit sprach ich nicht mehr mit meinen Eltern. Ich

suchte einen Job. Ich googelte „Berlin Männerstrich“. Ich dachte, für 50 Euro könnte ich ungeouteten Business-Typen einen runterholen.

Aber dann las ich, dass die Blue Boy Bar, so ein Strichertreff, gerade Probleme mit Messerstechereien hatte. Ich zog den Brockhaus auf sieben Pakete verteilt auf einem Schlitten, den ich im Keller meines Wohnhauses in der Danziger Straße gefunden hatte, zur Poststation durch den Schnee. Ich schwitzte. Und gleichzeitig war mir kalt. Ein Antiquariat in Leverkusen hatte mir alle Bände für 1500 Euro abgekauft. Über die Kopfhörer meines Telefons hörte ich „Is This It“ von den Strokes. „Can’t you see I’m trying?

I don’t even like it I just lied to Get to your apartment Now I’m staying There just for a while I can’t think ‚cause I’m just way too tired“

Ich schlief damals mit so vielen Menschen, wie ich es noch nie zuvor getan hatte. Ich übernachtete jeden zweiten Tag bei irgendjemand anderem. Manchmal klaute ich etwas zu essen aus den Kühlschränken, wenn ich mich morgens mit einem Kater und völlig pleite aus den fremden Wohnungen schlich.

Und jetzt bin ich verheiratet. Ich habe zwei Kinder. Wir haben ein Haus gekauft. Und die Strokes bringen ein neues Album heraus. Dass es die Strokes gibt, fühlt sich immer noch wie eine Neuigkeit an. Und da habe ich gemerkt, dass ich erwachsen sein muss. Die Strokes gibt es seit 22 Jahren.

Das neue Album heißt „The New Abnormal“ und wurde von Rick Rubin produziert. Das Cover ist ein Bild von Jean-Michel Basquiat, einem afroamerikanischen Künstler, der 1988 mit 27 Jahren in New York an einer Überdosis Heroin starb.

Basquiat wurde von Warhol gefördert. Warhol produzierte The Velvet Underground. Und die Musik der Strokes passiert bis heute genau dazwischen. Zwischen dem Underground, der

60 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: SONY MUSIC

D

THE STROKES 2020 Nikolai Fraiture, Julian Casablancas, Albert Hammond Jr., Fabrizio Moretti und Nick Valensi

Upper­c lass, zwischen endlosen Nächsten und endgültigen Entscheidungen. Die Strokes haben vor allem überlebt. Albert Hammond Jr., der Gitarrist, überwand seine Heroinsucht. Casa­ blancas besiegte den Alkoholismus.

Sie sehen so frisch aus jetzt. Auf den Presse­ fotos tragen sie Hawaiihemden.

„Now every time that I look at myself I thought I told you, this world is not for you“

„11th Dimenson“ auf dem ersten Soloalbum von Julian Casablancas, nur etwas schneller. Wie eine Nacht im Arcadium, wenn der Automaten-Cowboy rauchend einen neuen Pac-Man-Rekord aufstellen will.

Nach dem fünften Song geht die Musik aus.

Die Journalisten und Journalistinnen haben nach jedem Song applaudiert, wie Touristen, wenn der Pilot die Landebahn von Palma getroffen hat. Die Frau von der Plattenfirma spielt wieder einen alten Strokes-Song. Und eine Radiomoderatorin tanzt expressiv dazu.

Sie trägt schwarze Doc Martens und ein Top irgendeiner Band. Ich hatte dieses Kleidungsstück das letzte Mal in der zehnten Klasse an ­Nina gesehen. Ninas Brüste waren die ersten Brüste, die ich jemals angefasst habe. Das war auf der Wiese hinter dem Busbahnhof. Und sie trug auch so ein Top. Die meisten Frauen, die ich heute kenne, tragen Kleider oder Blusen oder T ­ -Shirts oder Hemden oder Pullover. Aber das Kleidungsstück Top, also ein Shirt, das knalleng über den Oberkörper geht, habe ich lange nicht gesehen.

Die langen blonden Haare der Radiomoderatorin fliegen durch den Raum.

Und ich gehe noch mal zur Frau von der Plattenfirma. Und sage, dass ja noch vier Songs fehlen. Und Sie meint: „Ach ja“, dann macht sie eine Pause, und dann sagt sie: „Aber ich lass den Song jetzt noch zu Ende laufen, weil die Anja tanzt ja noch.“ Drei Tage vor diesem Abend wurde „At The Door“, die erste Single zum neuen Album, veröffentlicht. Das Video dazu hat Mike Burakoff gemacht, so ein Typ, der schon „When You Die“ von MGMT gemacht hatte. „At The Door“ ist der vielleicht untypischste Strokes-Song. Er ist fünf Minuten und dreiunddreißig Sekunden lang. Es gibt kein Schlagzeug und fast nur Synthesizer-­Töne. Das Riff stammt vom

Eine Frau von der Plattenfirma aus München kündigt das neue Album an. Die Journalisten applaudieren. Ein Tontechniker drückt auf „Play“.

Der erste Song heißt „The Adults Are Talking“.

Aber im Hintergrund läuft noch ein anderer Strokes-Song. Die Journalisten und die Frau von der Plattenfirma merken das nicht. Sie prosten sich zu. Ich gehe zum Mischpult und sage der Frau, dass da noch ein anderer Song läuft. Und sie schaut mich an. Und sagt nach einer kurzen Pause: „Das war nur ein Test, um herauszufinden, ob ihr auch zuhört.“ Sie winkt den Tontechniker heran. Der macht den alten Song aus. Sie spielen „The Adults Are Talking“ noch mal von vorn.

Das ist so ein Eighties-Rollerdisco-Song. Ich denke an die Mall aus „Stranger Things“. An Miami. An Kokain. An die unrasierten Achselhöhlen einer jungen Frau. Ich denke daran, mit einem geklauten Ford Mustang abzuhauen und durch die Nacht zu fahren. Die Gitarren spielen eine Dü‑dü-dü-dü-dü-dü-dü-dü-Mitsingmelodie, das Schlagzeug klingt wie eine Sprühdose, die Strophe besteht aus palm-muted Akkorden. Und Casa­blancas singt so zerschossen, mit dünner, leicht verzerrter und zerbrechender Stimme vom Terror des Erwachsenseins und dem Bewusstsein, dass man da nie wieder rauskommt.

Der Song „Brooklyn Bridge To Chorus“ geht in eine ähnliche Richtung. Der klingt wie der Song

Es ist die komplette Verweigerung einer Show – was natürlich das Gegenteil davon ist, nämlich ein performativer Akt –, die die Strokes so besonders macht

A

n diesem abend spielen sie ein konzert in der Berliner Columbiahalle. Ein Überraschungskonzert, das nur wenige Tage vorher bekannt gegeben wurde. Es war innerhalb von Sekunden ausverkauft. Und das Plattenlabel hat einige Journalisten eingeladen, „The New Abnormal“ vorab zu hören.

Das Ganze findet vor dem Konzert im Silverwings Club, dem ehemaligen Offizierskasino der in Berlin stationierten U.S. Air Force gegenüber der Columbiahalle, statt.

Köche braten Burger für die Journalisten, dazu gibt es Hühnerspieße und vegane Frühlingsrollen. Bier und Weißwein werden getrunken. Im Hintergrund laufen alte Strokes-Songs. Jetzt „Reptilia“.

Gitarrentechniker der Strokes. Er hatte das der Band im Proberaum vorgespielt. Das klingt wie Kammermusik aus der Zukunft, wenn das Universum brennt.

Das Video ist ein apokalyptischer Cartoon im Stile der 80er-Jahre. Future-Weltraum-Ninja-TurtleHeavy-Metal-„­F.A.K.K. 2“-Flash-Gordon-MartinEder-­B ewegtbild: Einem Kaninchen wächst ein Geschwür aus dem Rücken, es kriegt blutige Augen, es will töten. Eine Out-of-Space-Prinzessin sitzt auf einem Thron aus Licht. Ein Raumschiff gleitet in einen Energiestrahl. Eine Tür erscheint in einem Sternennebel, der zu einem verlassenen Holzhaus morpht. Casablancas singt: „I’m an ugly boy Holdin’ out the night Lonely after light Banging on the door I don’t want to know Sinking like a stone“ Das Konzert beginnt irgendwann nach neun.

Die Strokes beginnen mit „Heart In A Cage“, danach folgt „You Only Live Once“, und als dritten Song spielen sie „New York City Cops“. Alles ist viel zu laut. Genau richtig also. Und die 30- bis 40-jährigen Fans bilden einen Moshpit. Die Werberinnen, die Kreativdirektoren, die Musikmanagerinnen, die Modedesigner sind wieder oder immer noch sechzehn. Es sind Kinder, die Angst haben zu sterben. Es sind Kinder in Körpern von Erwachsenen.

Julian Casablancas trägt so eine Art Nazi-Ledermantel. Dazu Chucks. Er klettert auf das Podest des Schlagzeugers Fabrizio Moretti. Der heißt wirklich wie die italienische Bierfirma. Casablancas spuckt auf Morettis Schlagzeug. Er stößt mit den Füßen, mehr aus Versehen denn aus Absicht, die roten Becher mit Getränken um. Einer bleibt stehen. Er trinkt daraus. In der einen Sekunde Pause im Song „Automatic Stop“ lässt er das Mikrofon fallen, verpasst seinen Einsatz.

Er schaut dabei zum Gitarristen Albert Ham­mond Jr., der wie der Rest der Band absolut maschinell spielt. Albert Hammond Jr. lacht, Casablancas lacht. Casablancas macht Ansagen wie: „I thought someone was dead in the first row. Someone dropped his phone.“ Manchmal verlässt er die Bühne. Häufig singt er mit dem Rücken zum Publikum. Dann wirft er den Mikro­ fonständer um. Hebt ihn wieder auf. Er sagt: „I’m not angry at you, mike stand.“ Er schaut ins Publikum und sagt: „We have a complicated relationship.“ Es ist diese komplette Verweigerung einer Show – die natürlich das Gegenteil davon ist, nämlich ein performativer Akt –, die die Strokes so besonders macht. Das ist „Permanent Vacation“ von Jim Jarmusch, das ist wieder Lou Reed.

Neben mir filmt eine das Konzerte mit ihrem Handy. Auf ihrem linken Arm blitzen fast 50 Narben weiß im Schwarzlicht. Ich denke an Nadja, die auch diese Narben überall hatte.

In einem kleinen Dorf in Bayern. Aufwachsen ist überall hart. In Berlin. In New York. Im Nirgendwo. Sanitäter tragen zu „Take It Or Leave It“ eine Frau aus dem Saal. Zu „Last Nite“ geht Casablancas mitten ins Publikum. Er sagt: „I want you to kick the shit out of me.“ Rolling Stone | April 2020 | 61

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

THE STROKES

Die Strokes spielen 15 Songs. Nur zwei davon vom neuen Album. „The Adults Are Talking“ und „Bad Decisions“. Die Melodie des Refrains von „Bad Decisions“ ist die von Billy Idols „Dancing With Myself“. Idol wird sogar in den Song-Credits als Urheber von „Bad Decisions“ mit angegeben.

Wobei „Bad Decisions“ ansonsten eher klingt wie Joy Division.

Der Sound des neuen Strokes-Albums ist eine fast afrofuturische Odyssee ins Weltall. Die Band sampelt und remixt die Motive davon. Basquiat auf dem Cover, die dystopische Zukunft in den Texten, neue Lebensräume im All im Video. „The New Abnormal“ stellt die großen Fragen unserer Zeit: Wer sind wir als Postmigrationsgesellschaft?

Welche Identität haben wir noch? Wo steuert das Raumschiff Erde hin? Das Konzert aber bleibt in der Vergangenheit der Band. Der düstere Soul von „The New Abnormal“ kommt nicht heraus. In Berlin spielen die Strokes 20 Jahre alten weißen Garagenrock.

Der Backstagebereich der Columbiahalle. Der verlassene Küchenbereich. Ein Kühlschrank mit Cola, Fanta und türkischem Wasser, ein paar Joghurt-Drinks. Ein Gasherd. Keine Kochspuren. Gordon Raphael, der Produzent der ersten beiden Strokes-Alben, läuft an mir vorbei. Wobei man auf eine Art nicht mehr weiß, ob es Gordon Raphael, Ozzy Osbourne oder Slash ist. Männer mit langen Haaren, die im Alter in die Breite gehen und immer noch Rock-Typen sein wollen, sehen gleichermaßen gender- und persönlichkeitsfluide aus. „I am Julian“, stellt sich Julian vor. Wir gehen zu zweit in einen Raum. Komplett dunkel. Ein Ledersofa und ein Sessel, dazwischen ein Stuhl. „I wanna sit on your lap“, sagt Julian. Ich denke wieder an Lou Reed. Daran, wie ihn eine Journalistin mal gefragt hat, woher er seine Kreativität nimmt. Und wie er sagte: „I masturbate every day.“ Ich denke an Adam Green, der mal auf meinem Schoß saß und mir Ecstasy anbot, und wie Macaulay Culkin dann reinkam. Und dann denke ich daran, dass das der New-York-Test ist.

Diese noch total höfliche Art der Provokation, die eben nicht hohl, sondern erkenntnistheoretisch ist. Weil sie nicht der Provokation wegen passiert, sondern um herauszufinden, wie das Gegenüber reagiert. Und die vor allem auf Ehrlichkeit beruht.

Ehrlichkeit ist die größte Provokation. Eine gute Provokation ist darüber hinaus immer ein sozialwissenschaftlicher Versuchsaufbau, der aus der Reaktion des provozierten Gegenübers Wissen generiert. „Of course you can sit on my lap“, sage ich. Und ich erzähle ihm, dass ich alle meine Platten für Drogen verkauft habe.

Er fragt: „Do you miss your records?“ Und ich sage nein und dass ich überrascht bin, jetzt hier zu sitzen. Nüchtern. Mit Familie und allem. Und ich frage ihn, ob ihm das auch so geht. Ich frage ihn: „Are you suprised who you are now?“ Und er sagt: „I mean, I guess you get used to yourself. Surprised? I guess so. I’m pretty surprised.“ Julian klopft sich mit der rechten Hand aufs Herz und macht ein Peace-Zeichen.

Und er sagt: „Hashtag blessed.“ Wir reden darüber, was es heißt herauszufinden, wer man ist. Wann man ist. Wie man ist. Wo

man ist. Julian sagt, das Problem sei doch, dass man es selbst lange nicht weiß. „You’re playing basketball until your twenties, and then I actually found out I like baseball and soccer. You just grow up, you know.“ Auf eine Art ist das natürlich banal. Auf eine andere Art sind das Sätze wie aus einer Great American Novel. Von Salinger, von Roth, von Capote irgendwo aufgeschnappt und aufgeschrieben. Sätze, die ein Junge sagt, der die Tiefe seiner Oberfläche noch nicht zu verstehen vermag.

Wir reden über das Cover, über den Künstler Basquiat. Julian sah die Arbeiten von Basquiat zum ersten Mal in Paris. „I felt the whole range of rainbow emotions“, sagt er. Dann wieder Stille.

Manchmal weiß ich nicht, ob er müde ist. Ob er weit weg ist. Ob er einsam ist. Ober er überhaupt was ist.

Ich frage: „The abnormal has become normal.

Can there be normality in a society based on individuality?“ Er schaut mich an.

Ich sage, dass die Bandbreite von Normalität durch die Normalisierung von Abnormalität gewachsen ist. Du kannst jetzt ein Porsche fahrender Kommunist sein oder ein Transmann, der Bowling liebt, und es ist okay. Julian lacht in sich hinein. „The trans bowling guy, that is my favorite.“ Dann erzählt er, dass „the new abnormal“ ein Zitat aus dem Fernsehen ist. Julian schaute CNN. Und der Gouverneur von Kalifornien stand da und kommentierte die Waldbrände, die in ihrer Häufung jetzt „the new abnormal“ seien.

Julian redet von der Macht der großen Unternehmen, die heute größer als die der Kirche oder von Monarchien sei. Und davon, dass deswegen so eine große Retro- und Nostalgiewelle unsere Ästhetiken bestimmen würden. Es ist die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in denen Unternehmen noch nicht das Sagen hatten.

„Ich denke, dass man sich an sich selbst gewöhnt. Ob es mich überrascht, wer ich heute bin? Ich glaube schon.

Ich bin ganz schön überrascht. Hashtag blessed“

I

m februar traten die strokes bei einem wahlkampf-Event des demokratischen Kandidaten Bernie Sanders auf. Julian schrieb kurz davor in einer Nachricht der Band: „As the only truly noncorporate candidate, Bernie Sanders represents our only chance to overthrow corporate power and help return America to democracy.“ Der Vater von Julian Casablancas war John Casablancas, der Gründer der amerikanischen Modelagentur Elite Models, er entdeckte Giselle Bündchen. Sein Slogan war: „We don’t wake up for less than $10,000 a day.“ In den 80er-Jahren machte seine Agentur etwa 100 Millionen Dollar im Jahr.

Heute entspräche das etwa 313 Millionen. Julians Vater war das Corporate America. „Do you think onstage?“, frage ich ihn. „Yeah“, antwortet er. „Do you remember what you thought onstage tonight?“, frage ich. „Yeah“, sagt er wieder. „Would you like to share your thoughts with me?“ „No. Sorry. But it’s a good question.“ Ein Gespräch mit Casablancas führt häufig ins Nichts. Was aber nicht heißt, dass es zu nichts führt.

Das existierende Nichts ist ja eben ein Etwas und nicht nichts. Ich meine das auf eine David-LynchArt. Das Auflösen ist hier Voraussetzung für das Werden.

Casablancas kann sich nicht mehr daran erinnern, warum sie das Album gemacht haben. Ob Rick Rubin die Strokes gefragt hat oder die Strokes Rick Rubin. „I was thinking how ironic the difference be­t ween pop art and pop music is“, hat Casa­blancas am Anfang des Gesprächs noch gesagt. Da waren wir kurz bei Basquiat und Warhol. Jetzt sagt er: „I mean, Rick Rubin was like a next-level mind and human king. But I think he kind of is more like a pop mind. And I am kind of drifted further into art things.“ Albert Hammond Jr. kommt in den Raum. Er bringt ein rotes Luftballon-Herz mit. Die Frau von der Plattenfirma aus München hatte fünf Herzen mitgebracht. Für jedes Bandmitglied eins. Und dann hatte ein Promoter eins verloren. Und wir konnten erst in den Backstagebereich gehen, als die Herzen wieder komplett waren. Albert sagt: „Two-minute warning!“ Für das Interview haben wir noch zwei Minuten.

Julian Casablancas und ich reden in der verbleibenden Zeit über unsere Kinder. Zweieinhalb Jahre und acht Monate sei ein krasses Alter, meint Julian.

Und dann umarmt er mich. Er drückt mich richtig an sich. Ich spüre seine drei Halsketten an mir.

Es ist kurz vor Mitternacht. Und der Winter vorbei.

62 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

THE STROKES 2001 Turbulent hinter der Bühne im Fillmore in San Francisco: Moretti, Hammond, Valensi, Casablancas und Fraiture

FÜNF AUF EINEN STREICH JULIAN CASABLANCAS

FOTOS: ANTHONY PIDGEON / KONTRIBUTOR

DER POLITISCHE

Solo ist bislang kein Stroke zum Chartstürmer geworden. Aber wer sich die langen Albumwartezeiten des Quintetts mit zumindest Strokes-ähnlicher Musik vertreiben will, liegt bei Hauptsongwriter Julian Casablancas richtig. Sein Debüt, „Phrazes For The Young“ von 2009, besticht bereits durch das heutzutage von seiner Truppe gelebte Atari-2600-Feeling. Mit The Voidz wiederum, einer Bande von Musikern, die wie Werwölfe aussehen, wünscht er sich die linke Revolution. Das Kernstück des Bernie-Sanders-Unterstützers ist die elfminütige Single „Human Sadness“, das vom Scheitern des kapitalistischen Menschen erzählt.

ALBERT HAMMOND JR. DER TAUSEN DSA SSA

Der musikalisch womöglich talentierteste Stroke, Sohn von Albert „It Never Rains In Southern California“ Hammond, war 2006 der erste mit einem eigenen Soloalbum („Yours To Keep“), auf das

bis 2018 jedoch drei ebenso mäßige folgten. Seine früh den Garage-Rock sprengenden Gitarrero-Soli („Vision Of Division“, „Take It Or Leave It“) sind jedoch aufsehenerregender als die des zweiten Gitarristen, Nick Valensi, und echte Konzerthöhe­ punkte. Lockenkopf Hammond Jr. sieht aus wie eine Mischung aus Andy Kaufman und „Cruising“, also wie das Jahr 1980, und gilt als Stilberater der Strokes – er hat auch eine eigene Modelinie herausgebracht.

FABRIZIO MORETTI DER JOKER

Die Kreativität eines Drummers erkennt man nicht daran, wie groß, sondern wie klein sein Schlagzeugset ist: Er personifiziert bis heute den Garagen-Rock ihrer frühen Tage. Bei den Strokes ist Moretti, der einzige Nichtamerikaner der Band (er ist Italiener), für den druckvoll-durchgängigen, nahezu Fill-in-freien VelvetUnderground-Sound zuständig. Mit seiner Band Little Joy und dem gleichnamigen Debüt von 2008 hat Moretti die vielleicht beste, sicher

aber die untypischste Solo-StrokesPlatte veröffentlicht: Bolero, Folk und Exotica, gemeinsam eingespielt mit Adam Greens Freundin Binki Shapiro und dem Brasilianer Rodrigo Amarante.

NICK VALENSI DER SCHÖNE

Wird auf Fotos oft in der Mitte platziert, die meisten halten den Beau – halb Tunesier, halb Franzose – sowieso für den Sänger.

Valensi steuert die „Star Wars“Gitarrensounds bei, aber dafür, dass er 2016 mit seiner Band CRX als letzter Stroke ein eigenes Album („New Skin“) herausbrachte, macht er auch die schlechteste Solomusik: wie Achtziger-Pop aus einem damaligen Ostblockland.

Es gab böse Gerüchte, Valensi habe viele der unvollendeten Gemeinschaftsarbeiten der Zehnerjahre-Strokes heimlich für seine eigene Musik verwendet. Er gilt aber auch als die treibende Kraft hinter dem Meisterwerk „Comedown Machine“ von 2013 und als Komponist vieler der darauf enthaltenen Gitarrenmelodien.

NIKOLAI FRAITURE DER STILLE

Nickel Eye (Wortspiel!) hieß die Band, die Nikolai – halb Russe, halb Franzose und mit dem Aussehen einer jüngeren Ausgabe des James-BondGegenspielers „Beißer“ gesegnet – 2009 gründete. Er ist kein guter Vokalist, singt wie sein Leidensgenosse Casablancas deshalb oft durch einen Telefonhörerverzerrer, eröffnete das DschungelpopDebütalbum „The Time Of The Assassins“ aber selbstbewusst mit der Umsetzung einer Idee, die bei den Strokes niemals möglich wäre: einem Bass-Solo. Der heimliche Fan-Liebling der Strokes schart die prominenteren Gastmusiker um sich: Nick Zinner, Regina Spektor, Stephen Perkins (Jane’s Addiction). In den Insta­g ram-Motiven seiner Frau, Ilona Jankovich, steht Fraiture im Bild wie ein einsamer trauriger Baum, den die Brandrodung verschont hat.

SASSAN NIASSERI

Rolling Stone | April 2020 | 63

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

R M

Rausch und Männerbilder

Er fotografierte die Sado-Maso-Bars von New York, die junge Debbie Harry und die bemalte Grace Jones, er liebte Blumen und Leder und Patti Smith, sein ganzes Leben lang.

Ein Portfolio und eine Hommage an ROBERT MAPPLETHORPE 64 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Patti Smith, 1978

Rolling Stone | April 2020 | 65

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

ROBERT MAPPLETHORPE

Andy Warhol, 1986 (linke Seite) / Crysanthemum, 1977

Rolling Stone | April 2020 | 67

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

ROBERT MAPPLETHORPE

Skull, 1988 / (rechte Seite) William Burroughs, 1981

68 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Rolling Stone | April 2020 | 69

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Deborah Harry, 1978 / (rechte Seite) Calla Lily, 1988

70 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

ROBERT MAPPLETHORPE

Rolling Stone | April 2020 | 71

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

ROBERT MAPPLETHORPE

D Robert Mapplethorpe, Self-Portrait, 1980

a s weiss deines hemds gefällt mir wirklich, kannst du die Jacke mal ausziehen?“, hatte der Fotograf gefragt, also warf Patti Smith sich ihr Jackett über die Schulter wie Frank Sinatra.

Dazu trug sie eine schmale Krawatte und enge schwarze Hosen. „Ich hatte den Kopf voller Zitate“, erinnert sie sich später. „Er nur Licht und Schatten im Kopf.“ Es ist ein ikonischer Moment: Es entsteht das berühmte Cover für „Horses“, Patti Smiths Debüt, eines der wichtigsten Alben der Rockgeschichte. Der Fotograf: ihr früherer Geliebter und lebenslanger Gefährte, Robert Mapple­t horpe.

Was sie als Liebespaar eines Tages trennt, sind sein Coming-out und sein Abtauchen in den New Yorker Gay-Clubs. In jenem Jahr 1975, als das „Horses“-Cover entsteht, ist Mapplethorpe schon seit einigen Jahren mit dem einf lussreichen Kurator und Kunstsammler Sam Wagstaff zusammen, der ihn in seinem Selbstverständnis als Fotokünstler bestärkt. Wagstaff nennt Mapplethorpe den „schüchternen Pornografen“.

Gemeinsam testen sie das künstlerische Potenzial von SM-Praktiken und Pornografie aus.

Patti lernt im Jahr darauf Fred „Sonic“ Smith kennen, Gitarrist der Protopunk-Band MC5. Aber die Verbindung der beiden Boheme-Poeten Patti und Robert hält. Auch über Mapplethorpes Tod hinaus. 1989 stirbt er an den Folgen seiner HIVInfektion. Welch wichtiger Bezugspunkt Robert Mapplethorpe für sie war, ist anrührend in ihrem Buch „Just Kids. Geschichte einer Freundschaft“ erzählt und in einigen ihrer Songs, wie „Wild Leaves“. Was sie aber von Anfang an geeint hat und weniger offensichtlich sein mag, ist der unbedingte Wille zum Erfolg.

Seine Fotos sind handwerklich gut, künstlerisch eher klassisch. Aber seine Motive sind aufsehenerregend. Einerseits bedient Mapplethorpe die erlebnishungrige, kunstaffine High Society mit Porträtfotos. Als Bad Boy gibt er ihnen einen gewissen verruchten Nimbus: Wer sich von Mapplethorpe fotografieren lässt, weist sich als jemand aus, der zur Gegenkultur gehört. Oder sie erfunden hat, wie William S. Burroughs, den er mehrfach in verschiedenen ikonischen Posen fotografiert.

Der notorisch abgebrannte Bohemien bekommt Zugang zu Privatinseln in der Karibik und einem eigenen großen Loft. Zugleich steigt der Fotograf hinab in die Darkrooms und macht abgründige Welten von SM und Pornografie ästhetisch salonfähig. Leder, Peitschen, Tätowierungen und Fesselungen sind in den frühen Achtzigern noch nicht Gegenstand der Kunst – Mapplethorpe steckt diese Claims ein für allemal ab.

Andy Warhol, unbestrittenes Oberhaupt der New Yorker Avantgarde, nimmt den ehrgeizigen Jungen mit der Lederjacke und den wilden Locken reserviert zur Kenntnis. „Seine Füße riechen schlecht und er hat kein Geld“, warnt er andere vor Mapplethorpe. Sie sprechen nicht miteinander. Einerseits aus Angst, der andere könnte einem die Ideen klauen. Andererseits steht für Mapplethorpe fest, dass er es richtig mit Warhol aufnehmen muss, wenn er nicht einfach nur als Teil seiner Entourage enden will.

Mapplethorpe will Augenhöhe mit seinem Idol.

Als Warhols „Interview“-Magazin ihn um einen Beitrag für eine Fotografie-Ausgabe bittet, schickt er ein Bild einer Banane in Ketten und Leder. Es ist Warhols unsterbliches Velvet-­ Underground-Cover als SM-Fetischobjekt. Die Ansage: Die Zeiten ändern sich, die Zeichen ändern sich. Als Botschaft eindeutig ein Markieren von Territorium.

1978 bringt Mapplethorpe „X Portfolio“ heraus, ein Set von 13 formal makellosen Schwarz-Weiß-Fotos, die drastische sexuelle Praktiken in den Lederbars des West Village wie dem Anvil, The Toilet und Mineshaft dokumentieren. „Das Schwerste ist“, sagt Mapplethorpe, „Pornografie in Kunst zu verwandeln, die immer noch sexy ist.“ Es gelingt ihm in der Kombination von unerhörten Motiven und höchsten formalen Ansprüchen.

„Meine Herangehensweise beim Fotografieren einer Blume ist nicht viel anders als das Fotografieren eines Schwanzes“, sagt Mapplethorpe dem Kunstkritiker Gerrit Henry. „Im Grunde ist es dasselbe. Es geht um Beleuchtung und Komposition. Es macht keinen großen Unterschied.

Es ist die gleiche Sichtweise.“ Im selben Jahr kommt Debbie Harry in sein Loft in der Bond Street. Ihr pinkfarbenes BibaKleid trägt sie wie ein Männerunterhemd. „Es war sehr warm und sonnig“, erinnert sie sich in einem Gespräch mit der „New York Times“. „Sehr hell. Man sieht, dass ich fast schiele. Es fiel mir schwer, die Augen offenzuhalten. Ich war begeistert, von Mapplethorpe fotografiert zu werden. Ich kannte seine Arbeit und seinen Ruf. Ich vertraute in die Ergebnisse der Fotos.“ Es dauert, bis sich Mapplethorpes Wunsch nach Augenhöhe mit dem König von Manhattan, Andy Warhol, einlöst. 1983 machen die beiden Porträts voneinander. Mapplethorpe lässt den von ihm verehrten Andy Warhol in seinem Porträt aussehen wie einen Heiligen. Wie immer ausdruckslos, mit einer weißen Aureole aus Haaren. Warhol seinerseits blitzt den wesentlich jüngeren Künstler gnadenlos an. Robert Mapplethorpe sieht in Andy Warhols Porträt aus wie ein Junge von der Straße, den die Polizei gerade beim Koksen erwischt.

Sie begegnen sich mehrmals. Das Shooting mit Grace Jones ein Jahr später dauert 18 Stunden, wieder ist Warhols „Interview“-Magazin der Auftraggeber. Jones wird von der Szenegröße Keith Haring bemalt, Andy Warhol ist als Spiritus Rector mitgekommen. Mapplethorpe setzt im Studio seine Beleuchtung und Blitze absichtlich so, dass es für Warhol unmöglich ist, selbst ­g ute Bilder von der Aktion zu machen.

Auch Patti Smith fotografiert er immer wieder, zuletzt 1988, um seinen 41. Geburtstag herum. Er ist von der Krankheit schon schwer beeinträchtigt.

Patti, Fred und ihre beiden Kinder, Jackson und Jesse, sind aus Detroit angereist, wo sie seit Langem leben. Sie machen gemeinsam Familienfotos, und auch ein Porträt von Patti für das Cover von „People Have The Power“. Patti Smith trägt die Fliegerjacke ihres Mannes, Fred „Sonic“ Smith. „Ich weiß nicht, wie er es anstellt“, sagt ihr Ehemann, der Gitarrist, später. „Aber in allen Fotos, die er von dir macht, sehe ich ihn.“ SILKE HOHMANN Alle Fotos auf diesen Seiten sind dem prächtigen Bildband „Robert Mapplethorpe“ entnommen, der am 20. Mai bei Phaidon erscheint, mit einem Vorwort von Patti Smith und 250 Fotografien auf 384 Seiten in einem Schuber vereint (175 Euro)

72 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Grace Jones, 1984

Rolling Stone | April 2020 | 73

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

STEH AU F MÄDCHEN Nach schwieriger Jugend, Heroinsucht und einem Flirt mit dem Tod schrieb sich TV-Star Natasha Lyonne mit „Matrjoschka“ die Rolle ihres Lebens VON ALEX MORRIS F O T O

VON

H E AT H E R

H A Z Z A N

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Blau ist das neue Orange: Natasha Lyonne

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

I

N A T A S H A LY O N N E

ch glaube, ich habe die Toi­lette im Veselka seit den Neunzigern nicht mehr benutzt“, sagt sie, umhüllt von einer Wolke aus roten Locken und Zigarettenqualm. „Aber ich werde jetzt tapfer sein und einfach mal einen Versuch wagen.“ Kaum haben wir das urige ukrainische Restaurant im New Yorker East Village betreten, verschwindet sie tatsächlich und reiht sich in die Schlange der Wartenden ein. „Tja, hat sich nichts verändert“, sagt sie, als sie sich nach einer Weile wieder an unseren Tisch setzt. „Hier ist das Urteil, das in meinem Bericht über die sanitären Qualitäten des Veselka zu lesen sein wird: So erschütternd wie immer! Hoffen wir nur, dass auch ihre Blintzes noch die alte Qualität haben.“ Natasha Lyonne bestellt acht Piroggen bei einer barschen Frau, die einen hässlichen Weihnachtspullover und eine seltsame paillettenbesetzte Kopfbedeckung trägt. „Großartiges Outfit“, sagt sie, „die perfekte Zehn! Haben Sie vielleicht noch etwas Apfelmus?“ Dann lehnt sie sich zurück und macht sich daran, die großen kosmischen Rätsel zu ergründen. „Seien wir ehrlich: Es ist gar nicht so leicht, ein Mensch zu sein. Der Sinn des Lebens, die Scham und alles, was da sonst noch dazugehört …“ Sie zuckt mit den Achseln. „Aber es hilft ja nichts.

Wir müssen da durch.“ Es sind natürlich genau diese Themen – neben Quantenphysik, Drogenproblemen, Tod, Wiedergeburt, Kindheitstraumata, Religion, Altern, Geisteskrankheiten und den unerwünschten, albtraum­a rtigen Besuchen unserer früheren Inkarnationen –, die Lyonne in „Matrjoschka“ (im USOriginal „Russian Doll“) packt, ihre viel gerühmte Netflix-Serie, in der sie nicht nur die Hauptrolle spielt, sondern für die auch als Produzentin und Regisseurin verantwortlich zeichnet.

Lyonne ist in New York, um die Arbeit an der zweiten Staffel voranzutreiben. Die Postproduktion soll bis Ende Februar abgeschlossen sein. Sie habe den „Red Eye“ genommen, erzählt sie, den Billigflug aus Los Angeles, der erst in den Morgenstunden in New York landet. „Aber was ist schon die Zeit?“, deklamiert sie in dem dick aufgetragenen Idiom, an dem man Juden aus dem New Yorker „Borscht-Belt“ erkennt. „Das sind die großen Fragen, die mich heute nicht mehr schlafen lassen.“ Was im ersten Moment wie eine Plattitüde klingt, hat in ihrem Fall sogar seine Berechtigung. Die vergangenen Monate hat Lyonne bei einem DrehbuchWorkshop in L.A. verbracht (wo sie zeitweise mit ihrem Freund, dem Komiker Fred Armisen, lebt), um einen Blick in die Zukunft ihrer Serie zu werfen. Vermutlich fragte sie sich dabei auch, ob und wie Nadia Vulvokov endlich ihrem kosmischen Hamsterrad entkommen will. Die von ihr gespielte Protagonistin erlebt nämlich die Nacht ihres 36. Geburtstags wie in einer Zeitschleife immer aufs Neue. Sie stirbt im Bad des Apartments, in dem sie ihren Geburtstag feiert, und wird dann auf mysteriöse Weise am selben Ort wiedergeboren.

Und täglich grüßt das Murmeltier – klar, in einer modernen Horrorfassung. In der ersten Staffel machte Nadia es sich zur Aufgabe, der offensichtlichen Störung im Raum-Zeit-Kontinuum auf die Spur zu kommen und neue Einblicke in die Fragmentierungen ihrer eigenen Realität zu gewinnen.

Dazu gehörten diverse Streifzüge durch das East Village ihrer Jugend (wo Lyonne auch tatsächlich aufwuchs) und der Einsatz eines tiefgründigen Pop-Existenzialismus, der manchmal gar mystische Blüten treibt.

Die Serie, von Lyonne, Amy Poehler und Drehbuchautorin Leslye Headland entwickelt und umgehend für vier Emmys nominiert, schuf auch für Lyonne eine neue Realität: Sie war plötzlich richtig erfolgreich. Wobei auch „Matrjoschka“ so etwas wie eine verspätete Reinkarnation ist: Bereits vor einigen Jahren hatte sie mit Poehler eine Serie namens „Old Soul“ entwickelt – und zur gleichen Zeit eine Phase ihres Leben abgeschlossen, die sie die „gut dokumentierte Keith-Richards-Ära“ nennt. „Amy rief mich eines Tages aus heiterem Himmel an und meinte: ,Seit wir uns kennen‘ – was inzwischen sicher schon 20 Jahre sind – ,muss ich immer an dich denken. Mehr als alle anderen Frauen, die ich kenne, warst du für mich immer die Old Soul, die weise alte Seele.‘ Und ich sagte: ,Danke für den Anruf, und danke auch, dass du die Frechheit besitzt, mich so zu nennen! Aber davon mal abgesehen hast du ja völlig recht.‘“ Poehler schlug eine Serie vor, in der genau diese Eigenschaft im Mittelpunkt stehen sollte. Als das Projekt – Lyonne mimte eine Ex-Spielerin, die für ihre Patentante (Ellen Burstyn) eine Pokerrunde organisiert – von NBC keinen Zuschlag erhielt, ließ sich Poehler nicht entmutigen. „Ich weiß noch, wie ich mit Amy im Auto saß und sie zu mir sagte: ,Okay, diese Idee war wohl ein Rohrkrepierer, aber welche Art von Serie würden wir machen, wenn man uns völlig freie Hand ließe? Was brennt uns wirklich unter den Nägeln?‘“ Was Lyonne damals – wie heute ­– beschäftigte, war letztlich die Frage, wie man mit der eigenen Sterblichkeit umgeht. Auch wenn die „gut dokumentierte Keith-Richards-Ära“ nicht gerade zu ihren bevorzugten Gesprächsthemen zählt, ist es doch kein Geheimnis, dass sie in dieser Zeit eine gut dokumentierte Heroinabhängigkeit entwickelte, die sie für fünf Monate ins Krankenhaus brachte. (Sie litt an einer Endokarditis, gemeinhin als „Heroin-Herz“ bekannt, die schließlich eine Operation am offenen Herzen notwendig machte.)

„ICH HATTE NUN MAL DAS BEDÜRFNIS, 15 JAHRE MEINES LEBENS INS KLO ZU WERFEN“

In einer anderen Realität wäre der einstige Trash-­Jungstar („American Pie“, „Scary Movie 2“ usw.) vermutlich längst unter der Erde. In dieser Realität ist sie es zwar nicht, sie hat aus den kritischen Jahren ihres Lebens aber viel Anschauungsmaterial in „Matrjoschka“ eingebracht. „Als ich mich zum ersten Mal mit Drehbuchentwürfen beschäftigte, stellte ich fest, dass ich das Leben letztlich immer durch die Brille einer Toten sah“, sagt sie. „Meine eigene Erfahrung hatte offensichtlich dazu geführt, dass ich auch eine fiktive Figur erschuf, die schon mal tot war, und dass ich dieses Konzept dann – aus mir unbekannten Gründen – auf alle weiteren Folgen übertrug. Das ist eine fixe Idee, die mich bis heute selbst überrascht.“ Ihre Freunde und Bekannten waren weit weniger überrascht – zumindest was Lyonnes Neigung zu existenziellen Fragen angeht. „Sie ist absolut authentisch“, erzählt ihre Kollegin und beste Freundin Chloë Sevigny. „Es gibt absolut nichts an dieser Person, was nur Fassade wäre. Ob sie versucht, ein Problem zu lösen, oder sich mit einer Beziehung beschäftigt: Sie ist immer überraschend, immer einfallsreich – einfach ein brillanter Mensch.“ Darum gebeten zu werden, die Mutter der jungen Nadia zu spielen – und in dieser Rolle einige der beeindruckendsten Szenen der ganzen Serie zu liefern –, war für Sevigny eine besondere Erfahrung. „Ich glaube, dass Außenstehende überhaupt nicht nachvollziehen können, wie sehr diese Serie von Dingen geprägt wurde, die Natasha in irgendeiner Form mit ihrer Mutter verbindet“, sagt sie. „Es war jedenfalls eine hochgradig emotionale, geradezu kathartische Erfahrung für mich, aus der Per­spektive der besten Freundin, aber auch aus der einer universell menschlichen Beziehung.“ Lyonnes talmudischer Mutterwitz lässt sich auf ihren Vater zurückverfolgen, der als Box-Veranstalter tätig war und privat ein „Tough-Guy-Ethos“ predigte. Als Lyonne acht Jahre alt war, verschiffte er seine Familie nach Israel, „wo er davon träumte, Mike Tyson ins Tel Aviv Hilton zu buchen und der Don King Israels zu werden“.

Sie wurde mit Filmen wie „Scarface“, „Taxi Driver“ und „The Godfather“ groß und mimte den burschikosen Tomboy, weil sie davon überzeugt war, nur so die Aufmerksamkeit ihrer zerstrittenen Eltern gewinnen zu können. Freundinnen hatte sie kaum. Lyonne träumte davon, eines Tages Spio­ nin zu werden, und macht im Rückblick dafür den „extremen Argwohn“ verantwortlich, den „ich als Kind in einem labilen Elternhaus verspürte“.

Als sich die Eltern scheiden ließen und sie mit ihrer Mutter zurück nach New York ging, wurde die Lage noch prekärer. Lyonne bekam zwar ein Stipendium für die jüdische Hochschule an der feinen Upper East Side – ein Aschenputtel unter Königs­k indern –, wurde aber schnell wieder rausgeworfen, weil sie mit Dope dealte. Mit sechzehn besuchte sie die NYU, um das Filmemachen zu lernen, stieg aber wieder aus, weil sie keine Lust hatte, zusammen mit einem Haufen 18-Jähriger aus der Vorstadt „Apocalypse Now“ zu analysieren.

In den vielen alternativen Realitäten, die Ly­onne in ihrem Kopf erschaffen kann, fragt sie sich, was wohl passiert wäre, wenn man ihr damals eine Kamera oder einen Stift in die Hand gedrückt hätte statt einer … Friedenspfeife. („Nennen wir’s lieber Friedenspfeife, damit wir jugendliche Leser nicht auf dumme Gedanken bringen.“) Sie hält es jedenfalls für durchaus möglich, dass sie weitaus früher

76 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

HARTE ROLLEN

FOTOS: NETFLIX

Lyonne im Zeitschleifen-Drama „Matrjoschka“ (r.) und als Gefängnisinsassin in „Orange Is The New Black“ (u., 3. v.r.)

den Erfolg gehabt hätte, den sie heute hat – aber „ich hatte nun mal das dringende Bedürfnis, 15 Jahre meines Lebens ins Klo zu werfen“.

Aber sie möchte darüber eigentlich gar nicht mehr reden, weil es eine alte Version von Lyonne ist, die inzwischen unter diversen neuen Inkarnationen verschwunden sei.

Außerdem sind die Piroggen inzwischen verspeist. Die Rechnung kommt. „400 Dollar? Muss ein Druckfehler sein.“ Ly­onne scherzt natürlich, verzieht dabei aber keine Miene. Sie streift sich ihren Mantel mit den extremen Schulterpolstern über („garantieren immer einen dramatischen Auftritt … aber funktionieren sie auch beim Abgang?“) und drückt sich einen schwarzen Filzhut auf den Kopf, den sie mal aus einem Schloss in Wales mitgehen ließ. Draußen ist die Luft klar und kühl – genau richtig für dieses sterile, gentrifizierte Viertel, das mit der schmutzigen, gefährlichen Gegend aus Ly­onnes Jugend nichts mehr gemein hat. „Ich habe 20 Jahre lang hier gelebt“, sagt sie, „und die alten Geister sind noch immer sehr real. Es ist seltsam, dass es sich anfühlt, als könnte man durch sie hindurchgehen. Schon komisch, dass Erinnerungen tatsächlich so sind, wie Fellini sie immer darstellt.“

Die Geister sind mir selbst nur allzu gut vertraut.

Wir gehen einen Block weiter zu dem ersten Apartment, das ich in New York bewohnte. Das Gebäude aus der Vorkriegszeit, natürlich ohne Fahrstuhl, hatte den schäbigen Charme eines Jim-JarmuschFilms. Ich erzähle ihr, dass man von meinem Zimmer aus auf einen Bestatter schaute. „Ja!“, ruft sie begeistert. „Das ist das New York, das ich kenne: Bestatter an jeder Ecke.“ Wir stehen unter den Girlanden der Weihnachtsbäume, die hier gleich auf dem Bürgersteig verkauft werden. Auf der anderen Straßenseite liegen die Räumlichkeiten meines Bestatters, die inzwischen einem Pizza-Take-out Platz gemacht haben. „Bestimmt liefern sie ihre Pizza einbalsamiert aus“, unkt Lyonne. „Die haben hier auch immer schon Weihnachtsbäume verkauft. Einmal hab ich sogar einen geklaut – wirklich kein Witz! Ein Van der ,New York Post‘ lieferte gerade ein paar Stapel Zeitungen an. Wir gaben dem Fahrer ein Trinkgeld, damit er uns das Ding nach Hause fährt.“ Wir gehen zu Sevignys altem Apartment, wo Lyonne ständig zu Gast war. Wahrscheinlich hätte sie sich damals nicht mal im Traum vorstellen können, dass sie eines Tages eine TV-Serie kreieren würde, in der ihre Mutter von ihrer besten Freundin gespielt wird. Dass Lyonne überhaupt eine ­Chance bekam, ist nicht zuletzt Sevignys Verdienst. Als sie noch immer „auf dem Weg der Besserung“ war, wie Lyonne es ausdrückt, überredete Sevi­g ny den Thea­ terregisseur Scott Elliott, ihr die ersten Gehversuche auf der Bühne zu ermöglichen. Ein Jahr später engagierten Nora und Delia Ephron sie für eine weitere Off-Broadway-Rolle und „nahmen mich praktisch unter ihre Fittiche. Ich war so lange ein Drop-out in New York gewesen, dass ich gar nicht glauben wollte, dass Nora Ephron mir die Schlüssel zu ihrem Haus in die Hand drückte und sagte: ,Du kannst gern für ’ne Weile bleiben. Ich bin unterwegs.‘ Ich war völlig platt: Musste sie nicht davon ausgehen, dass ihr ein Junkie wie ich kostbare Sachen klaut? Aber offensichtlich war sie in der Lage – lange bevor ich das selbst konnte –, in mei-

nen Augen zu sehen, dass diese Phase endgültig vorbei war. Und solche Erlebnisse gaben mir langsam wieder die Kraft, mir selbst zu vertrauen und Pläne zu schmieden. Es war wirklich so etwas wie die Power of Sisterhood, die mich völlig umkrempelte und meinen Motor zum Laufen brachte.“ Dieser Motor brachte ihr als Nächstes die Rolle der Nicky Nichols im Frauengefängnis-Drama „Orange Is The New Black“, in dem Lyonne erneut „mit offenen Armen von einer Gruppe Frauen aufgenommen wurde, die mich vom Kopf auf die Füße stellten“. In der Fernsehserie fand sie endlich die Rolle, von der sie immer geträumt hatte, die ihr bislang aber nie vergönnt gewesen war. „Ich bin in den vergangenen 35 Jahren in gottverdammten hundert Filmen aufgetreten – und ich kann mich nur an drei davon erinnern. In ,Orange Is The New Black‘ durfte ich endlich diesen männlichen New Yorker Seventies-­Schauspieler mimen, der ich immer sein wollte, mit einer richtigen Storyline, einem glaubwürdigen Spannungsbogen und einem funktionierenden Hirn.“ Es sind die gleichen Qualitäten, auf die sie nun als Nadia zurückgreifen kann.

Sie denkt, redet, bewegt und kleidet sich jedenfalls wie nur wenige andere Frauen, die wir von der Leinwand kennen.

Zurück in New York steht sie nun vor der Herausforderung, die Geister ihrer dunklen Vergangenheit besuchen zu müssen, um den weiteren Erfolg von „Matrjoschka“ zu sichern. „Natürlich ist die Handlung fiktiv“, sagt sie. „Aber es war schon eine beängstigende Erfahrung, so ehrlich und so autobiografisch mit meinem eigenen Leben umzugehen.“ Doch andererseits „ist es auch eine ungemein befriedigende Erfahrung, eine Idee umzusetzen, die sich aus der Asche meines früheren Lebens entwickelt hat. Und es kann nicht schaden, dass man von Zeit zu Zeit an den Menschen erinnert wird, der man inzwischen nicht mehr ist. Deshalb auch mein Rat an jüngere Frauen: Haltet das Pulver trocken und die langfristige Perspektive im Auge! Es ist eine Lüge, dass man nur als Teenager und Twen die beste Zeit seines Lebens hat.“ Rolling Stone | April 2020 | 77

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Dieser Tage wäre Rolf Dieter Brinkmann 80 Jahre alt geworden.

Das Frühwerk des 1975 verstorbenen Dichters, das sein damaliger Mitbewohner vor der Mülltonne rettete, ist noch immer nahezu unbekannt

Von Gerrit Terstiege FOTO VON ULRIKE PFEIFFER

DIE POPLITERATUR BEGINNT HIER Rolf Dieter Brinkmanns Wohnung in der Kölner Engelbertstraße, 1969

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

chon klar, ich habe in diesem treppenhaus nichts verloren. Der, den ich treffen möchte, ist schon lange tot. Rolf Dieter Brinkmann lief im April 1975 in London vor ein Auto. Er wurde gerade mal 35 ­Jahre alt. Jetzt wäre er ein alter Mann – eine seltsame Vor­ stellung. Ich gehe die Stufen hoch, bis ganz nach oben in den vierten Stock, wo er wohnte, mitten im dre­ ckigen Köln der Sechziger und Siebziger. Engelbert­ straße 65. Der Handlauf des Treppengeländers ist noch so rot wie in einem der Filme Brinkmanns.

Ich stehe einen Moment einfach vor dieser ver­ schlossenen Tür. Warum? Dieses Haus ist ein My­ thos. Brinkmann zählt wie Martin Kippenber­ ger oder Christoph Schlingensief zu den großen, genia­lischen Maniacs der deutschen Nachkriegs­

Notizen des Autors aus den Sechzigern, die sein Mitbewohner Peter Hackmann vor der Mülltonne rettete. Heute befinden sie sich im Besitz der Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann der Universität Vechta. Rechts: Brinkmann in seiner Wohnung

erzählte mir die Geschichte in zwei Versionen.

Die eine: Er, Hackmann, habe das Müllruntertra­ gen in der Kölner Männer-WG übernommen und heimlich, ohne Brinkmanns Wissen, dessen meist in zwei Hälfen zerrissene Textblätter im Keller gehortet. Die zweite Version, als ich 2006 einen Mitschnitt unseres Gesprächs machte, klang et­ was anders: „Der wusste das. Wenn die Tonne voll war, transportierte er das Ding in den Flur, dann habe ich das oben schön säuberlich rausge­ nommen – und das, was Müll war, habe ich nach unten gebracht.“ Und weiter: „Ob ich das so be­ wusst gemacht habe, dass ich dachte, oh Gott, das ist ein Genie oder wird eine Berühmtheit werden – dar­über bin ich mir damals mit Sicher­ heit nicht klar gewesen. Aber irgendwas in der Richtung muss es gewesen sein, sonst hätte ich ja den ganzen Krempel in die Tonne gekloppt.“ Mir kommt die Sache seltsam vor, und ich wende ein: „Aber dann hätte er doch eigentlich auch auf­ hören können, die Sachen durchzureißen. Wenn er eh weiß, dass du sein Archivar bist.“ Dar­auf Hackmann: „Ja, dann hätte er ja nicht kenntlich machen können, dass er das nicht … Dann hätte er ja draufschreiben müssen: ,Fürs Archiv‘, oder für mich oder so was.“

80 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTOS: PROF. MARKUS FAUSER / ARBEITSSTELLE BRINKMANN / UNIVERSITÄT VECHTA

S

kunst. Und diese Adresse ist pophistorisch so rele­ vant wie die Hauptstraße 155 in Berlin, wo Bowie und Iggy hausten. In den 90er-Jahren hatte mal je­ mand mit fettem Edding rechts neben die Eingangs­ tür gekritzelt: „In diesem Haus/ Schrieb, liebte und hasste/ Rolf Dieter Brinkmann/ Aber das Leben ­erschlaffte.“ Das Graffito wurde vor Jahren über­ tüncht. Ein Künstlerpaar, das dort heute sein Ate­ lier hat, setzte sich bei der Hauseigentümerin dafür ein, dass genau diese Zeilen nun wieder am Haus stehen, auf einer Acryltafel. Aber erschlaffte das Leben? Nein, es zerbarst. Vielleicht steht deswegen der Sänger und ROLLING-STONE-Autor Eric Pfeil im Video zu seinem Song „Himmelwärts“ vor Brink­ manns Tür und diskutiert mit dem Sensenmann: Man kann nicht einverstanden sein mit diesem Tod. Engelbertstraße 65: Mein Geschichtslehrer hat hier zwei Jahre mit Brinkmann gewohnt, in den frühen Sechzigern. In seinem Buch „Erkundun­ gen“ nennt ihn der Dichter den „verpennten Hack­ mann“. Vor zehn Jahren ist Peter Hackmann ge­ storben, vorher hat er noch einen heiklen Schatz zu Geld gemacht: das Frühwerk Rolf Dieter Brink­ manns. Über 500 Blatt Lyrik und Prosa – in Roh­ fassungen, mit Überschreibungen, Zusätzen und Streichungen. Heute befindet es sich in Vechta, Brinkmanns Heimatstadt, und wird von der Uni aufbewahrt und betreut. Wie aber kam Hackmann an die Texte, die er Jahrzehnte lang geheim hielt?

Zweimal, 2002 und 2006, habe ich meinen ehe­ maligen Lehrer besucht und ihn zu Brinkmann befragt. Und dazu, wie er an die Texte kam. Er

ROLF DIETER BRINKMANN

FOTO: ULRIKE PFEIFFER

Ich frage ihn, ob er Brinkmann jemals auf ver­ worfene Texte angesprochen hat. Hackmann: „Hätt’ ich nie gewagt. Er las mir mal ab und zu ein Gedicht vor, aber ich kam mir wirklich vor wie ein kleiner Zwerg, der von Worten, geschweige denn Literatur, keine Ahnung hat.“ Natürlich ist es sehr entscheidend, ob Brink­ mann davon wusste, dass sein Mitbewohner re­ gelmäßig seinen Müll durchsuchte. Wirklich klä­ ren lässt sich das wohl nicht mehr. Die Tatsache, dass fast jede Seite, die Hackmann aus dem Müll zog, durchgerissen wurde, spricht eine deutliche Sprache. Nur liegt ein Autor in der Beurteilung sei­ ner Texte nicht immer richtig – und Teile aus dem

Konvolut wollte Brinkmann publiziert wissen. Sie wurden abgelehnt.

Peter Hackmann hat nicht nur mit Brinkmann zusammengewohnt, sondern war mit ihm bereits in Vechta in eine Klasse gegangen. Hackmann: „Er kam als Sitzenbleiber zu uns.“ Ich frage ihn nach dieser Zeit, und er erzählt, wie ihn der junge Brink­ mann angestiftet hat, statt zum Unterricht mit ihm auf den Friedhof zu gehen und zu rauchen. Wie be­ eindruckt er war von dessen Darstellung in einem Schultheaterstück: Brinkmann hatte die Hauptrol­ le in Wolfgang Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“ übernommen. Jahre später, in der Engelbert­ straße, spielten sie mal zusammen mit anderen Strip-Poker, so Hackmann.

Aber wirklich nah waren sie sich wohl nicht. Hackmann spricht von einem „inneren Kreis“ Brinkmanns, in den er nie eingedrungen sei. Es muss eine seltsame Distanz geherrscht haben zwischen den beiden.

Nach Hackmanns Auszug, 1964, verlor sich der Kontakt irgendwann. „Ich bin prak­ tisch in Sachen Rolf Dieter Brinkmann wieder aufge­ wacht, als ich im Radio sei­ ne Todesnachricht hörte.

Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich gedacht

„WENN DIESES BUCH EIN MASCHINENGEWEHR WÄRE, WÜRDE ICH SIE JETZT ÜBER DEN HAUFEN SCHIESSEN“

hatte: Mein Gott, der muss ja wohl berühmt sein, wenn die im Radio seinen Tod melden!“ 1983 rief Hackmann an meinem Gymnasium in Mülheim an der Ruhr eine Art Literaturkurs ins Le­ ben, um den Zettelwust von seinen Schülern zu­ sammenkleben zu lassen. Ich weiß noch, wie we­ nig mich diese Aufgabe reizte, als ich davon hörte.

Damals, ich war fünfzehn, sagte mir auch der Name Brinkmann nichts – warum sollte ich meine Zeit mit so einer Sisyphusarbeit verplempern? Ich wusste nicht, wem ich da eine Absage erteilt hatte. Denn Brinkmann nimmt in der Nachkriegsliteratur eine singuläre Stellung ein, gilt heute als „Vater der Pop­ literatur“ in Deutschland – ein Label, das sonst viel­ leicht nur noch Hubert Fichte für sich beanspruchen könnte. Heiner Müller nannte ihn „das einzige Ge­ nie“ in der Literatur Westdeutschlands, er wird heu­ te hochgeschätzt von namhaften Autoren und Theo­ retikern wie Bazon Brock und Klaus Theweleit.

Und Brinkmann brachte es zu Ruhm, ohne die Gruppe 47 im Rücken zu haben, ohne sich anzu­ biedern. Im Gegenteil, 1968, bei einer Podiumsdis­ kussion in Berlin, attackierte er den damals schon einflussreichen Großkritiker Reich-­R anicki mit den Worten: „Wenn dieses Buch ein Maschinen­ gewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Hau­ fen schießen.“ Jeder andere wäre nach so einer Aussage zur Persona non grata erklärt geworden.

Nicht Brinkmann.

Literarisch reicht er zurück bis zu Gottfried Benn, und er beeinflusste deutlich auch die jüngere Gene­ ration der deutschen Pop-Autoren. Und daher ist ein

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Blick hinter die Kulissen, in die Werkstatt des Dich­ ters, wie ihn das Hackmann-Konvolut ermöglicht, von eminenter Bedeutung. 2010 ist ein Teil daraus bei Rowohlt erschienen, in einem schmalen Bänd­ chen: „Vorstellung meiner Hände“. Die Auswahl hat Brinkmanns Witwe Maleen getroffen. Wissenschaft­ lich erschlossen sind die Textfassungen bislang nicht. Aber immerhin für die Nachwelt gesichert.

Mein Interesse weckte irgendwann der knallgelbe, großformatige Gedichtband „Acid. Neue amerikani­ sche Szene“. Brinkmann hatte ihn 1969 zusammen mit seinem Freund Ralf-Rainer Rygulla herausgege­ ben. „Acid“ war der Startschuss des legendären MärzVerlags und machte amerikanische Underground-­ Autoren wie Bukowski und Burroughs fast schlagartig in Deutschland bekannt. Zumindest in Studenten­ kreisen. „Acid“ war der buchgewordene Pop, ge­ spickt mit Warhol-, Zappa- und Doors-­Zitaten. Eine rasante Mischung aus wilden Texten, unterbrochen von Robert-Crumb-Comics, Collagen und Nacktfotos.

Schon Brinkmanns eigener Gedichtband „Pi­ loten“ von 1968 hatte einen Umschlag wie ein Rockalbum: irgendwas zwischen dem „Sgt. Pepper“-Cover, den Innenseiten von „Their Satanic Majesties Request“, Lichtenstein und Rauschen­ berg. Fratzen, Affen, Superhelden. Marilyn Mon­ roe, Elisabeth Taylor, Mick Jagger. Dazwischen der ausgeschnittene Kopf des Dichters und eine Sprechblase: „IT IS NOT ENOUGH TO LOVE ART! ONE MUST BE ART!“ In den „Piloten“-Gedich­ ten tauchen Batman und Frankenstein auf, wird

Cola getrunken, ins Kino gegangen und Kaugum­ „Limo­nade im Grünen“, ein anderes „Tortenboden“. mi gekaut – und körperliche Liebe nicht nur blu­ Die Gedichte fußten auf einem ästhetischen Funda­ mig umschrieben. Brinkmann experimentierte ment, das amerikanische Dichter wie William Car­ auch formal: mit dem Satz seiner Gedichte, dem los Williams gelegt hatten. Eine kurze Notiz an seine Raum zwischen den Worten, mit Textkonturen Frau, dass er die Pflaumen im Kühlschrank geges­ und typografischen Sonderzeichen. Im Vorwort sen habe, machte Williams berühmt. In wenigen schreibt er: „Die milde Witterung lockt Go-go-Girls Zeilen viel sagen, den Augenblick einfangen und an­ in den Kölner Rheinpark. (…) Die Unterhaltung hand von einfachen Dingen – einer roten Schubkar­ geht weiter. Ein Bild entsteht oder ein Vorgang, re, einem Leichenwagen – das Leben spiegeln, das den es so nie gegeben hat, Stimmen, sehr direkt. war Williams’ Programm. Zumindest eine Zeit lang.

Man braucht nur skrupellos sein, Der andere große Held Brink­ das als Gedicht aufzuschreiben.“ manns war der Amerikaner Frank Zwei Jahre später kam Brink­ O’Hara, der 1966 nachts am Strand manns „Gras“ heraus, und er von einem Beach-Buggy überfah­ ROLF DIETER BRINKMANN schlug einen anderen Ton an. Der ren worden war. Auch bei O’Hara Verlag Kiepenheuer & Witsch hat­ waren Instantkaffees und Park­ te ihm eine edle Leinenbindung plätze würdig, Eingang in ein Ge­ spendiert. Den schwarz-weißen dicht zu finden. Und die Beschrei­ Umschlag entwarf Berndt Höpp­ bung flüchtiger Sinneseindrücke. ner, der zur Kölner Künstlergrup­ MAKING-OF Brinkmann hat diese Schreibver­ pe EXIT gehörte. Seine Zeichnung fahren verinnerlicht und für sich zeigt ein neuartiges Bett mit inte­ nutzbar gemacht, verwandelt und Unser Autor Gerrit Terstiege griertem Fernseher, in einer kargen stieß über einen früheren auf seine eigene, westdeutsche Er­ Landschaft. Darin ein nacktes Paar.

Lehrer auf das Brinkmannfahrungswelt angewandt. Aber ein Die Foto­vorlage stammte aus dem Frühwerk, dem er für ROLLING Gedicht – das bisschen Tinte auf „Stern“, auf der Rückseite stand in STONE nachspürte. Das Papier – läuft immer Gefahr, sei­ Großbuchstaben nur ein einziges Aufmacherfoto stammt aus ne Unmittelbarkeit zu verlieren, Four-Letter-Word: KÖLN. Ulrike Pfeiffers Bildband und hat nicht die sinnliche Kraft Brinkmanns „Gras“-Poeme „Rolf Dieter Brinkmann. eines Bilds oder Films. Aufzeich­ kreisten um scheinbar belanglo­ Engelbert­straße 65, vierter nungsmedien wie Tonbandgeräte, Stock, Köln 1969“, mit einem se Alltagsdinge: ein Plakat an ei­ Foto- und Filmkameras waren da Text von F. W. Heubach nem Bretterzaun, Prospekte un­ viel direkter, genau das einzufan­ (Belleville, 120 ­S., 24 ­Euro) ten im Hausflur. Ein Gedicht heißt gen, was sich gerade abspielt. Die Ulrike Pfeiffer Photos Friedrich Wolfram Heubach Text

Engelbertstraße 65, vierter Stock Köln 1969

belleville

82 | Rolling Stone | April 2020 © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: PATRICK SLESIONA / NACHLASS BRINKMANN / UNI VECHTA

Bilder, Collagen, Schnitte, Texte: Auch Rolf Dieter Brinkmanns Notizbücher aus dem Nachlass sind buchgewordener Pop

ROLF DIETER BRINKMANN

Metronomy Warhol­Filme wird er gekannt haben. Und wer, wie Brinkmann, die Stones oder Soft Machine mochte, dem war von Plattencovern und aus Zeitschriften der Anblick von Kabeln und Mikrofonen vertraut. So wurde er zu einem der ersten Literaten, die techni­ sche Apparate völlig neu und eigenwillig einsetzten – und für ihre Textproduktion nutzten. Brinkmann goes electric: Gerade der Einsatz von Medien, das Einverleiben des Alltags, seiner Sounds und Zufäl­ le, machen ihn noch heute so relevant. Es ging ihm um die ungefilterte Wiedergabe eines Gefühls, einer Farbe, eines Liedfetzens. Um den Moment.

Z

wischen 1967 und 1970 macht er Super­8-Filme, schminkt und ver­ kleidet sich als Dragqueen, rennt mit der Kamera durch die Woh­ nung, durchs Treppenhaus, durch die Stadt und produziert mit ab­ gefilmten Magazinfotos und harten Schnitten ein visuelles Trommelfeuer aus Sex und Tod: Kada­ ver, Models, Napalm­Opfer. Im Herbst und Winter 1973 zieht er mit einem Uher­Tonbandgerät um die Häuser, schleicht nachts durch die Seitenstraßen seines Viertels, geht zum nahen Aachener Weiher und kommentiert wie ein rasender Reporter, was er sieht und hört: Neonlichter auf der Wasserober­ fläche, quakende Enten. Zu Hause interviewt er sei­ ne Frau und den sprachbehinderten Sohn.

Der WDR hatte ihm zwei Geräte ausgeliehen, er sollte für die Sendereihe „Autorenalltag“ Material liefern. Und er hat geliefert: fast elf Stunden auf 29 Spulen. Im Januar 1974 wurde ein Zusammen­ schnitt im WDR ausgestrahlt. Eine neue Zeit, ein neues Dichten hatte begonnen. Die Aufnahmen ka­ men 2005 als 5-CD-Box heraus. Ihr Titel: „Wörter Sex Schnitt“. Als ich Hackmann bei meinem zwei­ ten Besuch eine Stelle daraus vorspiele, erkennt er Brinkmanns Stimme nicht mehr wieder, meint sogar, das sei gar nicht er, der da spricht. Erst nach längerem Hören, als ich auf Brinkmanns typisches Lispeln und seinen leichten norddeutschen Akzent verweise, beginnt Hackmann zu glauben, dass das wirklich Brinkmanns Stimme sein könnte. Er hatte sie Jahrzehnte nicht gehört.

Der Filmemacher Harald Bergmann hat die Tonaufnahmen 2005 für sein Mammutprojekt „Brinkmanns Zorn“ genutzt und den Schriftstel­ ler Eckhard Rhode zu den Original­Tapes die Lip­ pen bewegen lassen. Rhode läuft da als Brinkmann durch Köln, ist aber zum Zeitpunkt der Aufnahmen gut zehn Jahre älter, als Brinkmann je wurde – was irritiert. Rhodes Reenactment­Passagen werden er­ gänzt von Brinkmanns eigenen Filmen. Hier vollen­ det sich sein neues ästhetisches Prinzip: Der Dich­ ter wird zum Experimentalfilmer. Ein Foto von Jens Hagen zeigt Brinkmann mit einer Filmkamera auf der Kölner Hohen Straße, sein Oberkörper in einer Drehbewegung erstarrt – umgeben von Passantin­ nen, die nicht ahnen, dass sie gerade in die deut­ sche Literaturgeschichte eingehen.

Die Film­ und Tonaufnahmen sind aber nur Pha­ sen im Werk. Das neue Jahrzehnt, das sein letz­ tes sein sollte, brachte einen anderen Brinkmann hervor. Nach „Gras“ (1970) erschien fast fünf Jah­ re nichts mehr von ihm. Fast zeitgleich mit seinem Tod erscheint Brinkmanns Hauptwerk: sein über 300 Seiten starker Lyrikband „Westwärts 1 & 2“.

Heute zählt das Buch zu den bahnbrechenden Ver­ öffentlichungen in deutscher Sprache in der zweiten

Hälfte des 20. Jahrhunderts. Berühmt und viel zitiert werden die ersten Zeilen: „Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll­Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, …“ Nur einer kann nicht mehr weitermachen. Am Abend des 23. April 1975, in der Londoner Westbourne Grove, ist von einer Sekunde zur nächsten Schluss: „Es gibt wohl keine Worte dafür, die Wucht zu schildern, mit der Brinkmann in die Höhe gerissen und auf den As­ phalt zurückgeschmettert wurde“, beschreibt der Augenzeuge Jürgen Theobaldy den Unfall.

Dem fast fünfjährigen Schweigen zwischen „Gras“ und „Westwärts“ stand allerdings eine wahr­ haft gigantische Textproduktion gegenüber, deren Ausmaß erst in den Jahren und Jahrzehnten nach seinem Tod mit jeder neuen Veröffentlichung aus dem Nachlass deutlich wurde. Bücher wie „Rom, Blicke“ oder „Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand“ zeigen einen zerris­ senen Autor voller Weltekel und Wut. In dem Col­ lagenband „Schnitte“ findet er alptraumartige Bil­ der für das empfundene Chaos um ihn: Schädel, Knochen und Leichenteile lässt er mit grob ausge­ rissenen Fotos kollidieren. Sie zeigen Brüste und Baukräne, Mädchen mit Gasmasken und herunter­ gekommene Großstadtecken. Dazwischen einge­ streut: zerschnittene Textpassagen, Fetzen, Splitter, Fragmente. Brinkmann richtet hier ein Massaker aus Worten und Bildern an. Läuft Amok. Man muss schon einigermaßen gefestigt sein, um als Leser heil aus diesem Horrortrip wieder herauszukommen.

Die große Frage ist nun, 45 Jahre nach Brink­ manns Tod: Kennen wir alles, was er zu Papier ge­ bracht hat? Oder gibt es noch Entdeckungen zu ma­ chen? Ja, die gibt es. Ein neues, großes Konvolut hat Prof. Markus Fauser, der Leiter der Arbeitsstel­ le Brinkmann an der Uni Vechta, 2017 angekauft.

Es handelt sich um etliche Briefe und Postkarten aus dem Besitz des Malers und Brinkmann­Freunds Henning John von Freyend. Alles in allem über 300 Seiten. Von Freyend hat zwischen 1971 und 1975 zehn schwarze Kladden gefüllt, in die er Dut­ zende Briefe Brinkmanns einklebte. Einer davon, über mehrere Tage geschrieben, ist ganze 50 Seiten lang. Noch aber herrscht keine Klarheit darüber, ob und wann das Konvolut veröffentlicht wird. Es gibt da wunderbare Doppelseiten mit unbekann­ ten Por träts des Dichters, Postkarten­Collagen und eng mit roter Tinte beschriebene Briefseiten. Wenn man weiß, dass Brinkmanns Textproduktion stark auf Briefen basierte, er oft einen konkreten Adres­ saten brauchte, um seine Gedanken zu entfalten, ahnt man, wie wichtig dieser neue Fund ist.

Aber damit nicht genug. Vor wenigen Tagen er­ schien eine kleine Sensation: ein Fotobuch mit 55 völlig unbekannten Bildern von Brinkmann in seiner Wohnung. Die Schwarz­Weiß­Aufnahmen stammen von der Hamburger Filmemacherin Ulrike Pfeiffer, die Brinkmann 1969 in der Engelbertstraße besucht und sein Inventar dokumentiert hat: seine Schallplatten, Poster, Bücher­ und Zeitungsstapel, seine Spülbürsten und Waschmittel. Pfeiffer hatte die Negative nie entwickelt, erst jetzt kommen die Bilder ans Licht. Zwei Schnappschüsse zeigen ihn in seinem Treppenhaus, mit einem leeren Eimer. Der Dichter hatte gerade seinen Müll weggebracht, zu den Tonnen unten im Hof.

03.04.20 DD, Alter Schlachthof 04.04.20 MA, Alte Feuerwache

Tom Allan & The Strangest 11.04.20 Köln, Artheater

IAMX (solo acoustic) 14.04.20 Köln, Gloria

Slut

18.04.20 München, Strom

Ziggy Alberts

07.04.20 Hamburg 08.04.20 Berlin 13.04.20 München 22.04.20 Köln

Far Caspian

19.04.20 Köln, Artheater

Algiers

21.04.20 Hamburg, Knust

Pokey LaFarge

26.04.20 B, Roadrunners Paradise

The Handsome Family 27.04.20 Hamburg, Knust

Tindersticks

18.04.20 Bochum 19.04.20 München 20.04.20 Hamburg

Sophia

30.04.20 Frankfurt, Das Bett 16.05.20 Köln, Helios37 21.05.20 München, folks! club

The Lone Bellow

10.05.20 Berlin, Privatclub

Rocket From The Crypt 13.05.20 Köln, Helios37

Black Belt Eagle Scout

Jeb Loy Nichols

20.04.20 - 27.04.20 München / Hamburg Mainz / Schorndorf Köln / Münster / Berlin

18.05.20 Berlin, Burg Schnabel 19.05.20 HH, Uebel & Gefährlich 29.05.20 Heidelberg, Karlstorbhf.

Caroline Rose

23.05.20 B, Kantine Berghain 25.05.20 Köln, Jaki 28.05.20 Heidelberg, Karlstorbhf.

Husten

29.05.20 Köln, Gebäude 9 05.06.20 München, Ampere

DJ Shadow

Bon Iver

20.04.20 Berlin 07.11.20 Köln 10.11.20 München

06.06.20 Köln, Gloria 07.06.20 HH, Uebel & Gefährlich

At The B-Sites Festival Mighty Oaks, Ilgen-Nur, Golden Dawn Arkestra, Sparkling u.a.

13.06.20 Köln, Jugendpark

Chilly Gonzales 21.06.20 22.06.20 23.06.20 09.12.20 15.12.20

Kassel, Staatstheater Mainz, Zitadelle BAD, Festspielhaus München, Philharmonie Düsseldorf, Tonhalle

Caribou

21.04.20 Hamburg 25.04.20 München 28.04.20 Köln 15.08.20 Berlin

Sarah McCoy

22.06.20 Berlin, Silent Green

Editors

22.06.20 Hamburg, Stadtpark 29.06.20 München, Tollwood

theAngelcy

04.08.20 Erlangen, E-Werk 05.08.20 Schorndorf, Manufaktur

Matthew Mole

Scott Matthew 23.09.20 Berlin 24.09.20 Leipzig 25.09.20 Köln 26.09.20 Frankfurt 27.09.20 Ulm 28.09.20 München

12.09.20 Berlin, Frannz 15.09.20 Frankfurt, Das Bett

Faber

20.10.20 Köln, Palladium 23.10.20 Offenbach, Capitol 27.10.20 D, Mitsubishi Electric H.

Von Wegen Lisbeth

22.10.20 F, Jahrhunderthalle

Pippo Pollina

31.01.21 B, Heimathafen Neukölln

Jason Isbell & The 400 Unit 10.11.20 Berlin 15.11.20 Köln

Tickets & Infos: www.schoneberg.de © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

JAZZ IST DER NEUE PUNK.

JETZ T AM KIOSK! musikexpress.de/abo

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

DIE LIEBE BLEIBT Nach sieben Jahren sind Pearl Jam zurück – mit guten Rocksongs, aber wenigen ganz großen Momenten Von BIRGIT FUSS

Pearl Jam Gigaton UNIVERSAL

A

ch, Pearl Jam. Es ist mit dieser Band wie mit einer Ju­ gendliebe. Man freut sich so, wenn sie alle paar Jahre vor­ beischaut. Dann schwelgt man in Erinnerungen und Verbundenheit, feiert die bloße Existenz. In einer Welt der Vergänglichkeit bleibt zumindest eins ge­ wiss: wir. Die fünf aus Seattle haben das Potenzial, das in dieser unbedingten Zu­ neigung ­besteht, längst erkannt. Ihre Konzerte sind gemeinschaftsstiftende ­Feste, bei denen es mög­ lichst wenig Distanz geben soll und umso mehr Eu­ phorie. Das schaffen nicht mehr viele Rockbands.

Deshalb sind wir dankbar und warten auch mal sieben Jahre auf ein neues Album, obwohl das letzte, „Lightning Bolt“, gar nicht so beein­­ druckend war. Wir hören,

dass Stammproduzent ­Brendan O’Brien durch Josh Evans ausgetauscht wurde, sonst gibt es wenige Infor­ mationen zu „Gigaton“. Also träumen wir davon, dass es noch mal so gewaltig wird wie bei „Ten“ oder „No Code“ oder „Yield“. Wäh­ rend uns Eddie Vedder lapi­ dar wissen lässt, dass man Magie halt nicht kaufen kann: „Man kann beten, man kann meditieren – aber manchmal passiert’s und manchmal eben nicht.“ Auf dem elften Studioalbum passiert’s leider nur selten – und wenn, liegt es fast ­immer an Vedders einzig­ artiger, immer wieder ­bewegender Stimme. Doch können das tatsächlich die besten Songs sein, die ihnen in all den Jahren ein­ gefallen sind?

Bei der ersten Single, „Dance Of The Clairvoy­ ants“, war die Aufregung groß: Plötzlich klingen Pearl Jam wie die Chili Peppers, sagten die einen (trotz des Grooves etwas übertrie­ ben), jetzt überraschen sie uns endlich mal wieder, die anderen (magisches Denken). Schon der nächste Song, „Superblood Wolf­ moon“, dämpfte die Hoff­ nungen. Mehr als eine ­Mischung aus den be­ kannten Versatz­stücken ist das nicht (und dabei sind ja eigentlich ­sowohl Mond als auch Wölfe super). So verhält es sich mit etlichen Songs hier: Sie sind gut, aber nicht groß­artig. Die Zaubermomente muss man suchen: der ­t reibende Start bei „Quick Escape“ und die Sehnsuchtsorte dar­in, die trotzige Schwermut von „Alright“, das zärtlich drän­gende „Buckle Up“, die akustische Wucht von „­Comes Then Goes“, das vielleicht alles auf den Punkt bringt: „It’s all ­v ivisection in the end.“ Und Pearl Jam sezieren sich selbst immer noch leiden­ schaftlicher als fast alle ­anderen.

ILLUSTRATION: JÜRGEN SCHLOTTER

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Reviews

Tonträger

KICKS

FAVO RITEN AU F 3 3 – VO N WO LFGAN G DO EB ELIN G The Innocence Mission

Wilma Archer

A Western Circular

Der Unzurechnungsfähige feiert seine Narrenfreiheit

Raffinierter Produzenten-Pop

Das ist wahre Autorschaft: dass jemand, der zwar virtuos Texte ­ schreibt und ergötzlich singt, aber niemals Musik geschrieben hat, seit drei Jahrzehnten die Songs verschiedener, nun: Komponisten darbietet, die alle nach ihm klingen, also morrisseyesk. Schon zu Beginn seiner Solokarriere neigten die Lieder abwechselnd ins bedenklich Fade, Preziöse und Grobianische, aber es war immer Morrissey. Dem Makelloses nicht mehr gelang, weil Johnny Marr nicht mehr für ihn musizierte.

Nach mageren Jahren und verstörenden Einlassungen ist der nun allgemein als unzurechnungsfähig anerkannte Troubadour in die Spätwerksphase, in die absolute Narrenfreiheit mithin, eingetreten, die wundersame Blüten treibt. Im vergangenen Jahr bezauberte „California Son“, ein Album mit Lieblingsliedern, die Morrissey natürlich ebenso idiosynkratisch ausgewählt wie interpretiert hat: Stücke von Joni Mitchell, Bob Dylan, Roy Orbison, Jobriath. „I Am Not A Dog On A Chain“ nun hat lauter unverkennbare MorrisseyMelodien (irgendwie grandios, irgendwie elegisch, irgendwie klagend). Aber auch die altertümlichen Beats von Pet-Shop-Boys-Hits, Bläsersätze, kleine Klavier-Zwischenspiele, ein apart melodramatisches Duett mit Thelma „Don’t Leave Me This Way“ Houston, eine Fiedel in „Once I Saw The River Clean“, die trotzige Replik auf die Anfeindungen in „I Am Not A Dog On A Chain“ („I use my own brain, I raise my voice“), das zart-feierliche Kunstlied „The Truth About Ruth“ samt Opernsopran aus dem Schnürboden, das ominös ausufernde, geräuschige, verschleppte, gespreizt gesungene „The Secret Of Music“ („Bomm-bomm-bomm, the drum“), schließlich der kitschige Schwanengesang mit Kinderchor, „My Hurling Days Are Done“: „Time, no friend of mine/ There’s nowhere to run.“ Auf dem Cover ist der MorrisseySchriftzug endlich wieder schön kunstlos und klotzig gesetzt. Das berühmte Kinn ist gereckt. Und Morrisseys Gesicht strahlt genussvoll.

(BMG Rights) ARNE WILLANDER

Wenn die Vergangenheit einen Fuß in der Tür zur Zukunft hat, treten manchmal erstaunliche Klänge ins Licht. Dann ist es völlig egal, auf ­welcher Seite wir uns befinden, solange wir offen genug sind, die Widersprüche auszuhalten. Der Rapper MF Doom – bekannt vor allem durch seine Zusammenarbeit mit dem Produzenten Madlib – tritt in „Last Sniff“ vor ein Streichquartett, Worte und hart gestrichene Töne treiben ein­ ander an, bis eine fast überirdische Eleganz entsteht und es völlig egal ist, in welchem Genre diese Kunst ihren Hauptwohnsitz hat.

Der Brite Will Archer, der sich aus Gründen, die wir nicht kennen, Wilma nennt, lässt sich noch am ehesten im HipHop- und Soul-Universum ­verorten. Er hat Tracks für Celeste, Jessie Ware und Sudan Archives pro­ duziert. Unter den eher obskuren Pseudonymen Slime (was in Deutschland wegen der gleichnamigen Punkband ein Problem war) und Wilma Vritra (eine Zusammenarbeit mit dem Rapper Pyramid Vritra) sind ­bisher zwei eigene, recht gelungene Alben erschienen, die allerdings nicht größer auffielen. „A Western Circular“ spielt den Ball weiter, ist dabei aber fokussierter und besser arrangiert als die Vorgänger. „Cheater“, mit Sudan Archives als Gast, hat wieder diesen extrem rhythmischen, zwischen hart schrubbenden Streichern, Kammerjazz und raffiniertem Soul-Pop hin und her oszillierenden Sound. „Decades“, mit den Gästen Laura Groves und Sa­ muel T. Herring, fühlt sich enorm gut abgehangen an, so deep und soulful, dass man fast glaubt, es mit Isaac Hayes zu tun zu haben. Der Gesang ist brillant, kennt die Geschichte, aber verkriecht sich trotzdem nicht in der Vergangenheit. „Ugly Feelings (Again)“ schwelgt in einer an Bohren & Der Club Of Gore erinnernden Stimmung: viel Zigarettenqualm in der Luft, nur noch geschmolzenes Eis in den Gläsern, aber trotzdem keine Lust, nach Hause zu gehen, in ein ­kaltes, einsames Bett. Meisterlich arrangierte Tristesse und dennoch so wenig retro wie Liebeskummer und Einsamkeit. (Domino) JÜRGEN ZIEMER

86 | Rolling Stone | April 2020

The Innocence Mission See You Tomorrow Dezenter und delikater noch als zuletzt schweben die zerbrechlichen Klangbilder des Trios aus ­Pennsylvania im Raum, aufgenommen wieder zu Hause, in Küche und Keller. Karen Peris singt fast alle Songs, ihre Stimme ist in den gut 30 Jahren seit Gründung der Band körperloser geworden, graziler auch. Es sind Lieder, die nach innen blicken, nicht so sehr bekennerhaft, vielmehr vergewissernd, das flüchtig Erlebte fest­ haltend. In „St. Francis And The Future“ etwa holt sie die Details eines alten Gemäldes ins Gedächtnis zurück, das ihr im Museum begegnete. „On Your Side“ ist eine erträumte Reise mit der verstorbenen Mutter, „The Bro­thers Williams Said“ berichtet von Barrikaden der Verständi­ gung und somit des Verständnisses in der zwischenmenschlichen Ge­ fahrenzone. Traurig sind diese intimen Songs oft, sehnsuchtsvoll oder verletzt. Noch leiser als auf dem Vorgängeralbum, „Sun On The Square“, treten diese Home-Recordings auf. Karen zupft die Töne ebenso zart, wie sie ihre leicht verhallte Heliumstimme hintupft. Das Piano spielt eine tragende Rolle, assistiert von Pump Organ, Mellotron und Akkordeon, die Musik ist meist mehr Pop als Folk. „Mary Margaret In Mid-Air“ wird von Ehemann Don beigesteuert, als Songwriter und Sänger, doch ist es Karen, die wie gewohnt für den ätherischen Zauber verantwortlich zeichnet. (Bella Union/PIAS)

The Lost Brothers After The Fire After The Rain Das irische Duo entfernt sich weiter von der ­keltischen Scholle, das transatlantische Sehnen frü­ herer Versuche wurde erhört, Oisin Leech und Mark McCausland haben vorläufig in Amerika Anker ­geworfen. Schon ihre letzte LP, „Halfway Towards A Healing“, war in Tucson/Arizona entstanden, unter tätiger Mithilfe von Howe Gelb; nun zog es die Iren nach Brooklyn, wo man Tony Garnier als Co-Produzenten gewinnen konnte für allerlei Americana, von Desert- und Border-Sounds über Folk und Country bis zum ausladenden Western-Panorama. Gelb ist wieder dabei, Garnier spielt Bass, M. Ward E-Gitarre, Jolie Holland Violine, ­freilich sind es allzeit die ausgereiften, bisweilen herben Harmonies der Lost Brothers, die den meist melancholischen Songs einen unver­ wechselbaren Stempel aufdrücken. (Bird Dog)

Jack Broadbent Moonshine Blue Die Vinylwerdung des neuen Albums von Jack Broad­ bent ließ auf sich warten, aber es hat sich gelohnt.

Auf „Moonshine Blue“ zieht der englische Slide-Meis­ ter etliche Register seines Könnens, nicht schnöde als Selbstzweck, sondern songdienlich und stilis­ tisch breit gefächert. Blues spielt die Hauptrolle, Pop und Folk haben indes unüberhörbar Spuren hinter­ lassen, ebenso wie Jazz. „The Other Side“ kommt Sax-getrieben, „The Lucky Ones“ ist Britrock’n’Roll, „Tonight“ und „Too Late“ bieten semiakustisches Flirren und Sirren, und der Title-Track überzeugt nicht ­zuletzt melodisch. Nur Broadbents gelegentliches Kippen ins Falsett erweist sich als etwas gewöhnungsbedürftig. Immerhin hat Ron Wood nicht mit Lob gegeizt: Can’t be bad. (Crows Feet)

inkommensurabel

|

formidabel

|

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

delektabel

|

akzeptabel

|

miserabel

FOTO: BELLA UNION PIAS

Morrissey

I Am Not A Dog On A Chain

Little Dragon

Douglas Dare

Circa Waves Sad Happy

Are You In Love?

Lahme Wellness-Grooves für eine tolle Sängerin

Feiner Kammerpop mit Kastenzither und Piano

Eine Mogelpackung mit Beatles-Fantasien

Die Musik der Kanadierin wird freier und inniger

Die schwedische Band hat vor fast zehn Jahren mit „Ritual Union“ ein außergewöhnlich gutes SynthiepopAlbum aufgenommen, dessen nervöse Beats Yukimo Naganos tolle Stimme perfekt umspielten und absolut auf Höhe der Zeit wummerten. Danach wurden ihre Platten gefälliger.

Heute klingt Naganos tolle Stimme – die sie schon den Gorillaz, SBTRKT und Drake lieh – wie in einer LisaStansfield-Schablone gefangen. Das begleitende Trio schubbert freundlich seine Wellness-Grooves, lässt mal durch gedämpfte Phil-CollinsDrums („Kids“) oder japaneskes Geklimper („New Fiction“) aufhorchen, aber auch ganz bekömmlich dahindämmern. Wenig new, viel same.

Das Cover zeigt den britischen PianoBarden auf einem Podest, hindrapiert mit weißem Tuch als antiker Poet. Ein campes Kostüm-Statement für eine weihevoll ruhige, fast sakrale Grundstimmung. Die Instrumente sind sorgsam gesetzt, es entstehen würdige Klangräume, die in Kirchen sicher gut zur Geltung kommen. Mal Piano und Stimme, mal tutet eine einsame Trompete durch den „Piano Room“.

Ansonsten hat Dare die Audioharp für sich entdeckt, eine Kastenzither, wie man sie aus der Country Music kennt.

Thematisch wandelt er auf den Spuren seiner Kindheit: ein psychologisches Kabinett voller Erinnerungen.

Zu spröde für die Kitsch-Liga, stattdessen feine Porzellan-Arbeiten.

Eine gespaltene Welt braucht die entsprechende Beschallung, glauben die Liverpudlians und bescheren uns die Mogelpackung eines „Doppel“Albums: 14 Songs, circa 40 Minuten Laufzeit. Alles für fünf Sekunden Aufmerksamkeit? Der Split ergibt auch inhaltlich kaum Sinn, da „Happy“ (Teil 1) und „Sad“ (Teil 2) nicht nur zwischen Text und Musik verwischen und selten so isoliert dastehen wie mit „Birthday Cake“ oder im bitteren „Sympathy“. Die Brexit-Fantasie „Move To San Francisco“ wartet immerhin mit der schönen Sentenz „You said I’m born to run/ Guess I’m not the boss“ auf. Frontmann Keiran Shudell hält „Sad Happy“ für „our ,Rubber Soul‘ in a way.“ Sehr in a way.

Das fünfte Album von Basia Bulat entstand in einer für die Kanadierin aufwühlenden Zeit: Der Vater starb, eine Liebe ging zu Ende, eine neue begann. In Joshua Tree setzte sie das Erlebte mit Jim James (My Morning Jacket) in Musik um, die freier und inniger wirkt als die der bisherigen Werke. Wie schon auf „Good Advice“ (2016) weicht Bulats anfänglicher Acoustic Folk einer komplexeren Ästhetik, in der viel von James’ Seventies-Pop und abgedunkelter Americana steckt. „Are You In Love?“ ist von süßer Melancholie durchzogen, Bulats Gesang erinnert mal an die Zärtlichkeit von Natalie Merchant, mal an die Stärke von Neko Case oder die fabelhafte Verklärung von Beth Orton.

(Ninja Tune/Rough Trade)

(Erased Tapes/Indigo)

(Prolific/PIAS)

(Secret City/Rough Trade)

New Me, Same Us

Milkteeth

SEBASTIAN ZABEL

RALF NIEMCZYK

Basia Bulat

JÖRG FEYER

JÖRN SCHLÜTER

Empfehlen Sie ROLLING STONE Ihre Vorteile Für Sie ■

1 Prämie Ihrer Wahl

■

Sie müssen kein Abonnent sein

■

Wählen Sie im Shop Ihre Wunschprämie: rollingstone.de/empfehlungs-abo 50€

50€

50€

Für den neuen Leser ■

■

12 Ausgaben ROLLING STONE bequem frei Haus für nur 88 € Viele weitere exklusive Vorteile für Abonnenten auf rollingstone.de/abo+ © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Jetzt Leser werben

Reviews

Tonträger

SOUNDS

R ÄUSC H E U N D G ER ÄUSC H E – VO N J EN S BAL ZER Arca

Slow Leaves

Låpsley

Shelf Life

Through Water

Zart schmelzender bis euphorischer Folk-Pop

Großformatiger Pop im kühl-modernen R&B-Gewand

Der kanadische Songwriter Grant Davidson ist ein Mann des Understatements. „Enough About Me“ hieß das letzte Album seiner Slow Leaves, den Bandnamen hat er einem Gedicht von Jorge Luis Borges entnommen, weil das gut zum kontemplativen Charakter der Musik passe. Die steht mit einem Bein in den 60er-Jahren: mit dem Schmelz von Roy Orbison eingesungener Folk-Pop, der sich zu sentimentaler Innenschau eignet.

Während gut die Hälfte der zehn Stücke zu leise gezupfter Gitarre unaufdringlich ins Gedächtnis sickert, kann man zu Songs wie dem fantastisch harmonischen „Miss You“ auch mal euphorisch auf dem Bett hüpfen. Der Indie-Rock-Schwung kommt von ExWeakerthans-Gitarrist Rusty Matyas, der das Album auch co-produziert hat. (Make My Day/Indigo) FABIAN PELTSCH

Weil das einflussreiche britische Label XL Recordings sonst eher avantgardistische Künstler betreut, lässt sich leicht vergessen, dass auch Adele zur Liste gehört (und wahrscheinlich für 95 Prozent der Einnahmen sorgt).

Die junge Engländerin Holly Lapsley Fletcher lädt zum Vergleich mit ihrer Labelkollegin ein, ist das Timbre ihrer Stimme doch ganz ähnlich, ebenso die Mischung aus Drama und Gravitas, die sie auf ihrem zweiten Album demonstriert. In weiten Hallräumen glitzernde Synthesizer werden hier von frickeligen Beats und abgehackten Samples in einen kühl-modernen R&B-Kontext verfrachtet, die Emotionalität jedoch, durch Låpsleys charaktervolle Stimme ausgedrückt, ist eine allumfassende, die den Raum großformatiger Popmusik verlangt.

Arca @@@@@ Die tollste, verstörendste, technisch und künstle­ risch avancierteste Musik der Saison stammt – wieder einmal – von dem venezolanischen, heute in New York lebenden Sänger und Komponisten Ale­ jandro Ghersi alias Arca. 62 Minuten dauert die Sing­ le, das Album, das Großkunstwerk „@@@@@“, in dem er die zerbeulten und zerschredderten Beats seines Frühwerks mit den nackten, ungeschützten, intimen Gesangs­ experimenten seines epochalen „Arca“­Albums von 2017 verbindet. „@@@@@“ entfaltet einen dystopischen Kosmos, der von der Unmög­ lichkeit authentischer Kommunikation in unserer unendlich fragmentier­ ten Gegenwart handelt – und in dem doch immer wieder kleine Funken künstlerischer Unmittelbarkeit leuchten. In lange Strecken aus stolpern­ den Rhythmen und tief im Hirn schmerzendem Noise flicht Arca plötz­ liche Momente der Stille und Ruhe und sehnenden Gesang über die Schönheit der Nichtidentität. Er wirft seine Stimme in den Mix, lässt sie von der Schwerkraft der Bässe zermalmen und holt sie zu leiernden Pianofiguren umso erhabener aus dem dunklen Grund seiner Musik wie­ der hervor. Man hört hier einen Künstler, der etwas riskiert, der sich er­ gibt und kämpft und kleine Siege erringt. Es sind Siege über die eigene Kunst und über die eigentlich unentrinnbare Fatalität der Welt, die sich in ihr spiegelt. Große, ernste, tief berührende Musik. (XL/Beggars)

(XL/Beggars)

JAN JEKAL

Zebra Katz Less Is Moor Echtzeit

Mal berückende, mal banale Klavierballaden

Die Stücke der Liedermacherin Anna Depenbusch sind melancholisch, witzig, empathisch – und manchmal etwas spießig in ihrer Beschreibung deutscher Wohlstandsprobleme und Mittelschichtssorgen. Aber auch „Echtzeit“ kriegt einen wieder rum mit dieser Mischung aus Chanson, Popballade und Cabaret, getragen vom seufzenden Piano. Das Gesellschaftssatirische („Tim 2.0“) gerät kurzweilig, geht aber kaum unter die Haut. Noch weniger das NeoklassikInterludium namens „Hilbert“. Dafür hat Depenbusch mit „Nimm mich zurück“ so einen flehentlichen ToriAmos/Fiona-Apple-Seelenöffner, bei dem die wildesten Kerle zahm werden. Und das an Joni Mitchells „River“ erinnernde „5 Meter“ erzählt berückend vom Zerrinnen der Liebe.

(Liedland/Add On)

Die Kunst der geistreichen Beleidigung wird im gegenwärtigen HipHop von niemandem so virtuos beherrscht wie von Ojay Morgan alias Zebra Katz.

Anfang der Zehnerjahre wurde der New Yorker Musi­ ker mit einer spielerischen und queeren Variante des Battle­Rap bekannt. Auf seinem Debütalbum, „Less Is Moor“, nutzt Zebra Katz sein lyrisches und technisches Können nun erstmals auch ausgiebig zum Geschichtener­ zählen. Dazu hat er, unter anderem unterstützt von der Londoner Pro­ duzentin Shygirl, ebenso harte wie queere, jedenfalls stets erotisch vibrierende Beats programmiert. Musik, zu der man ebenso gut tanzen wie an sich oder anderen herumspielen kann. (The Vinyl Factory)

Nicolás Jaar Cenizas Ebenfalls aus New York stammt der Produzent und Sänger Nicolás Jaar. Auf seinem 2011er­Debüt „Space Is Only Noise“ kombinierte er minimalistische Rhythmen mit tiefen Bässen und sentimentalem Gesang. Zuletzt war er als Co­Produzent an dem „Magdalene“­Album von FKA twigs beteiligt. Sein neues Solowerk, „Cenizas“, besteht aus angeneh­ men Ambientstücken mit sonderbaren Geräuschen, gelegentlich wird etwas geharft, es quietschen Trompeten und Türen, und auf ein Maul­ trommelsolo folgt ein Knabenchor. Begleitend sind unter dem Alias Against All Logic eine EP und eine LP mit flotten, obgleich immer noch ziemlich seltsamen und auch melancholischen Dancefloor­Stücken erschienen. Bester Track: „Alucinao“ mit FKA twigs, die dank ausgiebi­ ger Gesangsmodulation hier allerdings so murrend verleiert klingt wie ansonsten nur Arca. (Other People)

MAX GÖSCHE

88 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Myrkur

Folkesange

Allzu gefällige Wikinger-Folklore

Der Vorgänger, „Mareridt“, war ein erfrischender Tanz der Teufel. Black Metal von einer Frau, abgeschmeckt mit einer Prise nordischem Folk, inszeniert von Randall Dunn. Und jetzt das! Ein Cover wie eine völkische Fantasie: ein in Tracht gewandetes Mägdlein, demütig strickend vor erhabener Landschaft. Die zwölf Songs sind lupenreine nordische Folklore, dargeboten auf der Leier und anderen altertümlichen Instrumenten. Da liegt ein Raunen in der Luft, einen Sehnen, das offenbar nur eine Richtung kennt: zurück in die überschaubare Welt eines freudig herbeifantasierten Mittelalters. Entsprechende Festivals erfreuen sich ja nicht nur in der Metal-Szene großer Beliebtheit. Bleibt Amalie Bruuns nach wie vor herausragende Stimme. Der Rest ist Mummenschanz. (Relapse) JÜRGEN ZIEMER

FOTO: DANIEL SHEA

Anna Depenbusch

The Dirty Knobs

Ariel Sharratt & Mathias Kom

Debüt der Band um Heartbreaker Mike Campbell

Protestlieder zum zeitgenössischen Arbeitsbegriff

Schon vor 15 Jahren versammelte Mike Campbell die Dirty Knobs als Outlet für eigene Songs, doch erst jetzt wird ein Album draus. Mit Jason Sinay (Neil Diamond), Lance Morrison (Don Henley) und Matt Laug (Slash, Alanis Morissette) spielt der Heartbreakers- und Fleetwood-MacGitarrist Roots- und Heartland-Rock, ein bisschen alten R&B. Die Produktion von George Drakoulias ist toll direkt, die Gitarren dulden kein Widerwort. Bei vielen Songs ist Tom Petty allgegenwärtig, zumal Campbell – der das Album als Hommage versteht – seinem Lebensfreund stimmlich nacheifert. Einen Schritt weg von der Tradition geht die mit einem mäch­ tigen Jimmy-Page-Riff umrahmte Blues-Ballade „I Still Love You“. Alles herrlich traditionsbewusst gespielt natürlich. (BMG Rights) JÖRN SCHLÜTER

„Never Work“ beginnt mit der Feststellung: „You look so unemployed tonight.“ Und schon steckt man als Hörer mit drin, ist unterwegs mit dem kanadischen Paar, das sonst den Kern der Garage-Folk-Band The Burning Hell bildet. Thema des Albums sind die Veränderungen, die der Begriff „Arbeit“ durch Digitalisierung, KI und Gig-Economy erfahren hat.

Könnte trocken werden, aber Mathias Kom weiß, wie man traurige Geschichten so erzählt, dass sie zwar unglaublich witzig sind, aber die mitschwingende bittere Note nicht unter den Tisch fällt. Alle Songs sind herrlich spritzige Duette, doch der Höhepunkt ist „Rise Up, Alexa“, ein Versuch, die Wohnzimmer-Spionin von der Dringlichkeit einer Revolution zu überzeugen: „There is power in a robot union!“ (BB*Island) JÜRGEN ZIEMER

Wreckless Abandon

Never Work

Rustin Man

Patinierte Grazie Zweites Wunderwerk des früheren Talk-Talk-Bassisten Von ARNE WILLANDER

Rustin Man Clockdust DOMINO

Cascade Lakes Cascade Lakes

FOTO: LAWRENCE WATSON

Zeit für Hymnen: Hervorragendes Indie-Rock-Debüt

Neun von zehn Musikwissenschaftlern würden diese Band in Amerika verorten. Selten hat man aus Deutschland ein so souveränes Debüt gehört wie das des Trios Cascade Lakes aus Hamburg, das durchaus mit zeitlosen Indie-Rock-Werken von möglichen Vorbildern wie Pavement, Buffalo Tom oder den Silver Jews mithalten kann. Zuletzt erlebte man so ein ­ausgeklügeltes Werk von Sport. Über­ raschende Breaks, einschmeichelnde Melodien, warme analoge Synthie-Teppiche, mal klingelnde, mal schneidende Gitarren – mit ein bisschen Hilfe von Locas In Love. Und über allem thront Jan Schewes abgeklärter Gesang, der mitunter an Tom Smith (Editors) erinnert, vor allem beim herausragenden „Means To An End“. Zeit für Hymnen! (Affairs Of The Heart/Indigo) FRANK LÄHNEMANN

D

ieser Paul Webb war ein Virtuose des Verschwindens. Als es Talk Talk nicht mehr gab, verbummelte er die 90er-Jahre und nahm dann im Jahr 2002 mit Beth Gibbons, der lyrischsten Sängerin jener Zeit, das Kammermusik-Album „Out Of Season“ auf. Er nannte sich Rus­tin Man und vernebelte die Spuren, die zu den psychedelischen Eruptionen, später immer feierlicheren Exerzitien von Talk Talk führten.

Erst im vergangenen Jahr trat er wieder hervor: mit „Drift Code“ und Songs, die sich aus Barock-Pop, britischer Folklore und Consort-Musik speisten, Webb jetzt auch als Sänger seiner patinierten, hier versonnenen, dort aufbrausenden Kunstlieder, die in keinem Moment zeitgenössisch klingen. „Drift Code“ nahm Paul Webb in einer Scheune auf dem Land auf, einem mit

seltsamen Instrumenten vollgestellten Refugium, in dem er als kauziger Musikus wirkt.

Bei den Sessions entstanden weitere Stücke, von denen Webb sagt, sie seien „in der Struktur straffer, aber mit mehr Raumgefühl“ (gegenüber „E-Gitarren, langen Arrangements und etwas klanglich Dichtem“). „Clockdust“ hat dieselbe Atmosphäre von Grammofon und Spieldose, von Gespensterballade, romantischem Lied, von Orgeln und Klavier, Trompete und Streichern und Instrumenten wie Euphonium und Kokoriko. Webb beruft sich auf die Lieder von Kurt Weill – man hört das bei dem Instrumental „Rubicon Song“, im gespenstischen, wunderzarten „Old Flamingo“, im tragisch trompeteten und getrommelten „Kinky Living“ und in „Night In The Evening“, dem längsten und experimentellsten Stück.

Einerseits evoziert „Clockdust“ die Songs von David Bowie und Scott Walker aus den 60er-Jahren (und den schönen Ernst von Peter Hammills Platten), andererseits Tom Waits’ „Swordfishtrombones“, das sich seinerseits Weill verdankt.

Auch Jacques Brel habe ihn inspiriert, sagt Webb. Und bei „Man With A Remedy“, dem letzten Song, geht einem das Licht auf: Hier hört man das Pathos und den Pop, die Brel mit seinen Bewunderern Walker und Bowie verbinden. Rus­ tin Man tänzelt meisterlich auf den Schultern der Riesen.

Clem Snide

Forever Just Beyond

Eef Barzelay schreibt die Vergänglichkeit groß

Das Album firmiert zwar unter Clem Snide. Doch heißt einer der elf neuen Songs „Ballad Of Eef Barzelay“, worin der sich als Mann ohne Boden besingt, „maybe nothing’s just pretending to be everything“. Produzent Scott Avett macht uns nichts vor und hüllt Barzelay in die passende Decke: Akustikgitarren, Minimal-Percussion, Vocal-Backings. In „Sorry Charlie“ swingt sogar ein Saxofon – doch ach, „we can’t party anymore“! Zuvor lagen wir schon mit US-Filmkritiker „Roger Ebert“ auf dem Sterbebett und waren auch dankbar für den Tipp, zum Ableben bitte keine Leiter mitzubringen. Komisch, dass einen Barzelay-Songs kaum lebensmüde machen. Wohl weil er erkannt hat: „The stuff of us that’s most real is eternal and free.“ (Ramseur/Thirty Tigers/­ Bertus-Membran) JÖRG FEYER Rolling Stone | April 2020 | 89

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Reviews

Tonträger

ROCKS

HÄRTERES U N D HARTES – VO N FR AN K SC HÄFER Ozzy Osbourne

Nadia Reid

MiA.

Out Of My Province

Limbo

Die Neuseeländerin mit Matthew E. Whites Kollektiv

Knackiger Elektropop mit Deutschpoesie-Akrobatik

Ozzy Osbourne Ordinary Man Nach zehn Jahren mal wieder ein Soloalbum. ­Andrew Watt, der mit California Breed schon Glenn Hughes eine Adrenalinspritze verpasste, zieht hier die Fäden und sorgt gleich mal für eine kleine Über­ raschung. Ozzy nimmt ein bisschen alibimäßig mit dem HipHop Fühlung auf. Post Malone und Travis Scott treten gegen den alten Mann an. Aber da ver­ schmilzt oder korrespondiert nichts, es gibt nicht mal einen ordentli­ chen Kontrast, weil alles umspült wird von lauwarmer Instantpop-Soße.

Der Crossover-Exzess „It’s A Raid“ geht da deutlich mehr ins Risiko.

Der Rest ist dann die typische Ozzy-Wohlfühlmischung: Powerballaden mit fettigen Strings, im Titelsong mit Klavier und dem Überraschungs­ duettpartner Elton John, und ein paar sinistre, kalkuliert modernistisch produzierte, aber bisweilen durchaus eingängige Hardrocker. Der ­zermürbte Prince of fucking Darkness klingt erstaunlich frisch. Watts hat seine Technik im Griff. (Sony)

Der Lackmustest, ob man dem neuen MiA.-Album (oder jedem der sechs anderen) etwas abgewinnen könnte, sind diese Zeilen: „Ich bin dein Albtraumfänger, dein Dich-am-bestenKenner, bin dein Bedenkenträger und du mein Herzbeweger.“ Wem diese Auflistung aufrichtiger Wortneuschöpfungen nicht das Herz öffnet, der sollte sich fernhalten, denn von derartiger Deutschpoesie-­A krobatik gibt es hier eine Lastwagenladung. „Lastwagenladung“ ist übrigens auch so ein Ungetüm, wie es Mieze Katz in ihren vielsilbigen Gesangsfiguren gern unterbringt. Der Sound ist knackig produzierter Elektropop mit verzerrt hineingrätschenden Indie-­ Gitarren. Stimmen die Hooks, wie auf „Immer wenn ich dich seh“ oder dem oben zitierten „Sorgenfalter“, macht „Limbo“ Spaß. (Sony) JAN JEKAL

Grey Daze Amends Vor Linkin Park spielte Chester Bennington in der Alternative-Metal-Truppe Grey Daze, die in Phoenix/ Arizona, weltberühmt war. Kurz vor seinem Tod gab es Reunion-Pläne, die man jetzt als Lizenz für dieses Album ins Feld führt. Um die alten Gesangsspuren herum hat man die Songs noch einmal neu einge­ spielt, ordentlich produziert, mit Unterstützung von Benningtons Freunden bei Korn, Helmet, Bush etc. So eine Art Arron­ dierung des Werks also. „B12“ war ihr lokaler Hit damals und bleibt es auch, eine stimmungsvolle Post-Metal-Piece mit schönen Gitarrenparts.

Linkin-Park-Addicts haben sowieso keine Wahl. (Loma Vista)

Ambush Infidel Ambush werfen die sattsam bekannten Riffs von Accept und Judas Priest in den Fleischwolf und stür­ zen sich in voller Ledermontur hinterher. Aber mit dem Plagiatsvorwurf kommt man dieser liebevollen Erbepflege auch nicht bei. Nennen wir es mal Variati­ onskunst, die nie den Underground verlassen wird.

Sie haben es nicht anders gewollt. (High Roller)

Dool Summerland Das Debüt der Niederländer, „Here Now, There Then“, vor knapp drei Jahren hat die Spartenpresse mit ihrer ziemlich souveränen Melange aus 70er-­ Jahre-Prog, Doom und Gothic zu vollmundigen ­Elogen veranlasst. Ein paar Superlative musste man abziehen. „Summerland“ ist ein würdiger Nachfolger.

Der Himmel hängt wieder voller düsterer Gitarren, die Rhythmusgruppe tritt agil auf der Stelle, und Ryanne van Dorst gibt eine pechschwarze Nico und trägt mit der Maurerkelle Pathos auf.

Die absolut bezwingende melodische Auflösung fehlt zwar bisweilen, aber als Stimmungsverdunkler leisten Dool allemal gute Dienste.

(Prophecy Productions)

90 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Maurenbrecher Inneres Ausland

Der verkannte Liedermacher kann’s auch mit Chor

Kurz vor dem 70. Geburtstag entdeckt der verkannteste Liedermacher der Republik neue Möglichkeiten. So gibt es nicht nur eine Liebeserklärung an das Sozialphänomen „Der Chor“. Ein solcher darf auch Maurenbrechers Granteln ironisch aufladen, im bösen „Puppen“ oder bei „Erdrutsch“. „Jetzt auf einmal geht’s“ riskiert einen nur halb zynischen Blick ins schön-schreckliche Öko-Utopia, „zu Hause sein ist in Mode sehr, ­Mobilitätsrechte kriegt kaum noch wer“. Doch Manfred Maurenbrecher kann auch ernst („Wie viele Herzen noch“) und hat garantiert kein Herz für „besorgte“ Bürger („Solche Leute braucht die Heimat“). Manchmal muss einfach nur eine schöne „Schüttmulde“ her, für völkischen Unsinn und überforderte Männer.

(Reptiphon/Broken Silence) JÖRG FEYER

FOTO: TAYLOR JOHNSON

Nadia Reid und Spacebomb: hervorragende Idee. Die neuseeländische Sängerin hatte ihren oft unerhört langsamen Songwriter-Folk zuletzt etwas breiter aufgestellt und mehr rhythmisches Gerüst zugelassen.

Doch es fehlte noch ein raumgreifender Klang, und der ist jetzt da. Spacebomb, das von Matthew E. White ins Leben gerufene Klangkollektiv aus Richmond/Virginia, ist ein Glücksfall analoger 70er-Jahre-Sounds, alter Soul-Arrangements und ebenjener Langsamkeit, die Nadia Reid tief in die eigene Musik geschrieben ist.

Etwa bei dem Zeitlupen­lied „All Of My Love“, das manchmal beinahe stehen bleibt, während Reid im Zwiegespräch über Liebe und Zweisamkeit sinniert. So inwendig ist die Aufnahme, dass sie fast von Kurt Wagner stammen könnte.

Nicht alles ist langsam auf „Out Of My Province“. Zum Beispiel steht das fluffige „Oh Canada“ auf einem wundervoll warmen Uptempo-SeventiesGroove, Reid klingt ein klein wenig wie Suzanne Vega oder Kathleen Edwards und singt über das Leben auf Tournee. Sie war in den letzten Jahren oft auf Tournee, das ist in diversen Liedern ein Thema; wie Reids Lyrik ohnehin etwas Tagebuchartiges hat. Dass der Verweis auf Kanada auch ein Verweis auf Reids Sozialisation ist, scheint der folgende Song zu sagen: Das zu gepickter Akustischer und Streicherensemble gesungene „Heart To Ride“ evoziert vorsichtig Joni Mitchell, hier und anderswo klingt auch k.d. lang an.

Und noch etwas Schönes passiert: Während die beiden Vorgängeralben („Listen To Formation, Look For The Signs“, 2015, und „Preservation“, 2017) manchmal etwas distanziert wirkten, wird die Musik von Nadia Reid jetzt sinnlicher. Dazu spielen Spacebomb die besagten dicken Seven­tiesSounds, doch es ist nicht One-sizefits-all. Das transparent aufgeräumte Schlagzeug bei „High & Lonely“, das traumverlorene America-­Folk-Arran­ ge­ ment von „Other Side Of The Wheel“: Gespielt wird, was zum Lied gehört und die Künstlerin gut präsentiert. Out of her province, into new land. (Spacebomb) JÖRN SCHLÜTER

Ron Sexsmith

Roger Eno & Brian Eno Mixing Colours

Walking Proof

Naturtrüb

Der kanadische Meister entdeckt die Landlust

Angenehme Klavier-Klangtupfer von den Eno-Brüdern

Schmerzlich intim, aber mit viel Herz für Außenseiter

Dada-Pop zwischen Ernsthaftigkeit und Unfug

Das Cover zeigt den Künstler auf einer Wiese mit Sonnenbrille, Federboa und Handrasenmäher – ein Elton John der Vorgärten. Ron Sexsmith hat den Großstadttrubel von Toronto gegen das Dorfidyll getauscht. Alsbald fiel der Druck der letzten Jahre von ihm ab, blühten die unbekümmerten Melodien. „Hermitage“ feiert das häusliche Glück als Landpartie unter Zuckerwattewölkchen. Gleich im ersten Song pfeifen sprichwörtlich die Spatzen, pardon, die Rotkardinäle von den Dächern. „Spring Of The Following Year“ sät Vorfreude auf einen Neuanfang ins klamme Winterherz.

Sexsmith klettert aus dem Honigtopf der Pop-Geschichte, in den schon Brian Wilson und Paul McCartney, Ray Davies und Gilbert O’Sullivan gefallen sind, und schüttelt sonnendurchflutete Meisterstücke wie „Small Minded World“, „You Don’t Wanna Hear It“ und „Whatever Shape Your Heart Is In“ aus dem Ärmel.

Der Sexsmith von „Hermitage“ ist der fröhlichste und optimistischste, den wir je hatten. Mit dieser Platte straft er all jene Lügen, die noch glauben, dass nur traurige Songschreiber gute Songs schreiben. (Ferryhouse)

Das sei keine Musik, schrieben Kritiker in den Siebzigern gern über Brian Enos Ambient-Veröffentlichungen, sondern eher eine Klangtapete. Das war gehässig gemeint, traf den Kern der Sache aber schon irgendwie, denn es waren meist schwebende Klangtupfer, denen man folgen konnte – oder eben auch nicht. Eric Satie verwendete für ähnliche Kompositionen den Begriff „Furniture Music“.

Wie es der Titel verrät, spielt „Mixing Colours“ mit dem naheliegenden Bild der Klangmalerei: Alle Stücke sind nach Farben benannt. Es ist nicht die erste Zusammenarbeit von Brian Eno und seinem jüngeren Bruder Roger, nur wird dieser diesmal prominenter vorgestellt. Schon 1983 schwebten die beiden mit „Apollo: Atmospheres & Soundtracks“ durch ein rauschendes und seufzendes Universum der Klänge. „Mixing Colours“ ist dagegen eher die Sorte perfekt designter Entspannungsmusik, die man im Luxus-Spa erwartet: Einfach mal abschalten und loslassen. Das ist sehr angenehm, aber ein paar seifige Minimelodien weniger hätten es sein dürfen. Ambient-Kollegen wie Fennesz oder Alva Noto sind da inzwischen weiter. (Deut-

Nach der Split-Single zum Record Store Day 2019 ist Lilly Hiatt mit ihrem vierten Album weit genug, um darauf erstmals Papa John singen zu lassen. Es passt ins Bild, dass er in „Some Kind Of Drug“ quasi nur als Geist zu hören ist. Sehr deutlich ist indes gerade bei diesem Track, wie Produzent Lincoln Parish (Cage The Elephant) der Platte eine Art aufgeklärten Grunge/Roots-Sound gibt, der wunderbar mit Spirit und Stimme seiner Hauptakteurin harmoniert.

Die so verletzlich und schön trotzig zugleich sein kann wie in „P Town“.

Die es schafft, etwa im Titelstück schmerzlich intim zu bleiben und darüber doch nie den Blick auf die Welt zu verlieren, auf die Außenseiter und Gebeutelten, die sie in „Brightest Star“ oder „Drawl“ besingt.

Lillys jüngerer Schwester Georgia Rae hatte Papa John schon ein schönes Wiegenlied gesungen (auf „Slow Turning“), dem die ältere Tochter mit dem schwebenden „Rae“ nun die erwachsene Version folgen lässt. „Sometimes I pretend this isn’t who I am“, singt Lilly Hiatt. „I threw caution to the wind and don’t give a damn, but I can’t get away.“ Warum auch?

Kunst? Oder Quatsch? Trio sorgten vor fast 40 Jahren mit ihrem DadaPop-Konzept in den Bürgerstuben für Aufregung. Auf deren Radikalität bezog sich auch die provokante Kino„Doku“ um die Reunion der fiktiven Band Fraktus. Dem kreativen Umfeld von Rocko Schamoni und Studio Braun entstammen nun auch OIL. Und das Quartett der Jungs um die Fünfzig, Trio-Fans, bietet ein reizendes Marketing-Narrativ: Dabeler, Cirak, Klug und Summen, (Autoren, Musiker, Comic-Künstler, Label-Chef) machten im Kaff Heidmoor auf Landkommune, um an der Bandkarriere zu feilen. Da ging es um Essen, Hund Emma, nerdige Debatten und Musik.

14 Nummern mit soliden FunkGrooves, Disco, Punk, Electro und Rockabilly entstanden, die zwischen Ernsthaftigkeit und Unfug schillern.

Humor wird per Torfstecher-Schaufel zugeteilt, wenn es um Porno, Wichsbolde und Kackstühle geht. Aber „Du, ich meld mich später“ ist ein feiner Verweis auf Trios „Sabine“-Telefonat – und das Titellied virtuos: eine achtminütige Tirade gegen den Planeten. „Hey, Erde, das ist einfach eine Underperformance, die du ablieferst.“

sche Grammophon)

(New West/PIAS/Rough Trade)

(ZickZack/Broken Silence)

Hermitage

MAX GÖSCHE

JÜRGEN ZIEMER

Lilly Hiatt

OIL

JÖRG FEYER

RÜDIGER KNOPF

Verschenken Sie ein Jahr ROLLING STONE Für den Beschenkten

Für Sie ■

1 Prämie Ihrer Wahl, z. B. ein 10€-Amazon-Gutschein

■

Alles zur relevantesten neuen Musik und den Klassikern der Pop-Historie

■

Sie beschenken Ihren Freund oder Freundin mit 12 Heften Musikgeschichte für nur 88 €

■

12 Ausgaben ROLLING STONE bequem nach Hause geliefert bekommen

■

Das Abo endet automatisch

10€

Jetzt bestellen: rollingstone.de/abo oder 040 – 468 605 165

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Jetzt verschenken

Reviews

Tonträger Dua Lipa

45s

VO N WO LFGAN G DO EB ELIN G

Paul Orwell Use Me EP

Porches

Traurig grundierter Synthpop voller Sound-Ideen

Wenn Aaron Maines Behauptung stimmt, dass seine Songs letztlich Tagebucheinträge sind, dann muss sein Leben ziemlich traurig sein.

Kaum eines der Stücke auf „Ricky Music“ kommt ohne wehmütige Grundierung aus. Immer wieder ist er den Tränen nah, in der flehenden Ballade „Hair“ ebenso wie im Elektrosoul-Track „Do U Wanna“. Doch vielleicht sind ihm die Geschichten gar nicht so wichtig wie der Spaß daran, Sounds auszuprobieren und dabei mit Stimmungen oder AutoTune zu experimentieren, Leute mit Dancepop-Grooves („Madonna“) und Synthiepop („I Wanna Ride“) auf die Tanzfläche zu bringen, um sie dann mit „I Can’t Even Think“ oder „Fuck_3“ und schrillen, sich überlagernden Rhythmen ins Stolpern zu bringen. (Domino) GUNTHER REINHARDT

Profil geschärft Funky Disco-Pop von der begnadeten Selbstdarstellerin Von RALF NIEMCZYK

Dua Lipa Future Nostalgia UNIVERSAL

Brian Fallon Local Honey

Der Ex-Gaslight-Sänger findet Inspiration im Privaten

Seit er seine Solokarriere begann, habe er versucht herauszufinden, was seine Botschaft als Sänger ist, sagt Brian Fallon und weiß es jetzt endlich: er selbst. Deshalb reduziert Fallon auf diesem dritten Soloalbum die hymnische Springsteen-Wehmut und erzählt von Zuhause. Honig aus der Region – der Ton wird privater, die große Geste weicht der Introspektion. Mit Produzent Peter Katis (The National, Glen Hansard) produziert der Gaslight-Anthem-Vormann akustische Lieder, die aber nicht puristisch arrangiert werden, sondern mit aufgelösten Schlagzeug-Patterns und dezentem Pop-Beiwerk. Besonders schön: das dann doch wehmütige „21 Days“, das an The National erinnernde „Hard Feelings“ und das Liebeslied „You Have Stolen My Heart“.

(Lesser Known/Thirty Tigers)

JÖRN SCHLÜTER

D

ua Lipa hat den Look gewechselt: neue Frisur, neues Styling.

Das ist nicht ganz unwichtig für ihren erstaunlichen Karriereweg zum Pop-Weltstar, von Pristina/Kosovo und London in die endlosen Weiten der sozialen Medien. Seit ihrem ersten Album von 2017 mit zwei, drei Megahits und Stream-Abrufen im Milliardenbereich, etwa von „New Rules“, war ihr Erscheinungsbild mindestens so wichtig wie die Musik. Sie ist weltweites Kampagnengesicht für Yves Saint Laurent („The New Fragrance of Freedom“), hatte Werbeverträge mit Revlon und Jaguar. Wohlgewählte DuettSongs mit Sean Paul („No Lie“) oder St. Vincent („One Kiss“) ergänzen den Multiaktivismus der 24-Jährigen.

Selbst ihr Techtelmechtel mit Anwar Hadid, dem jüngeren Bruder von Starmodel

Gigi Hadid, fügt sich in dieses „Konzept“. Ein Megabeispiel der Instagram- und YouTubeÖkonomie. Wer Lipa in Trainingshose und Tanktop beim Berliner Lollapalooza 2018 als Sporty Spice der späten Zehnerjahre gehört und gesehen hat, weiß aber auch, dass sie gerade live Ecken, Kanten, Power zeigt. HipHop ist ihr Ding, sie zählt Tierra Whack und Brit rapper Loyle Carner zu ihren aktuellen Favoriten.

So erzählen die elf neuen Songs, die mit einer illustren Produzenten- und Schreiberschar in Los Angeles entstanden sind, vor allem, dass ein Glamgirl-Dasein auf Dauer öde und sinnentleert ist. Das Handfeste und Coole sucht und findet sie in einer kunterbunten Nostalgie-Revue aus OldschoolBeats, Disco, Prince- und Outkast-Atmo. Bei „Levitating“ setzt es funky Basslinien und Handclaps. Da kann man sich so richtig Formationstänze in Lurex-Glitzerhemden vorstellen. Die zweite Single, „Physical“, dürfte längst ein flotter Muskelpumper-Favorit sein, und der Titelsong beginnt mit einer Breakbeat-Einlage wie von Bloc Party, gefolgt von einem Disco-Bumms, zu dem Dua Lipa die hohen Töne anschlägt.

Natürlich ist das ein pralles Pop-Album, das weder authentisch noch akademisch sein will. Doch das VIP-Phänomen Dua Lipa schärft hier mächtig sein musikalisches Profil.

Ein gelungener Kunstgriff.

92 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Mit seiner letzten LP, „Smut“, stürm­ te der vordem den Sixties verpflichtete Renegat mutig vorwärts in die Seventies, mit Glam­Boogie zwischen Bolan und Bowie, nicht immer überzeugend. „Use Me“ ist mit seinem mono­ tonen NYC­Drive einer der besseren Tracks des Albums, die restlichen drei Cuts dieser 7inch­EP sind bislang unveröf­ fentlichte Outtakes der „Smut“­ Sessions, „Running Scared“ Riff­getrieben, „Lose Control“ Blues­shufflig, „Live A Little Die A Little“ uncharakteristisch balladesk mit Orwells Stimme stets cool aus den Tiefen des Mix. (Heavy Soul)

Electric Looking Glass Daffodil Tea Shoppe

Der Barock­ Pop des Jahres 1968 feiert keine unwill­ kommene Wiederkunft auf dieser zweiten Single des schamlos nostalgischen Quartetts aus Los Angeles. The Left Banke und Love klingen an, wenn sich beatleskes Lalala und flippige Effekte symbio­ tisch verbinden, wenn Mello­ tron und Flöte einander umar­ men und pure Erinnerungs­ seligkeit aus den Songs spricht.

Die Flipside, „Dream A Dream“, baut auf mehr Jangle und Backbeat, bleibt aber unbeirrt stiltreu. (13 O’Clock)

Bananagun Out Of Reach

Das Quintett aus Melbourne mag seinen quirligen Pop perkussiv und rhythmisch vertrackt. Congas geben den Groove vor, das Energielevel ist hoch, doch das harmonische Gerüst eher wacklig. „Out Of Reach“ verströmt ein subtropi­ sches Piña­colada­Flair, indes eine Beziehungskrise besun­ gen wird, mit Bedauern, aber zu tanzbaren, Curtis­Mayfield­ inspirierten Beats und launi­ gem Saxofon. (Full Time Hobby)

FOTO: HUGO COMTE

Ricky Music

Pokey LaFarge

Knxwledge

Tamikrest

Kevin Krauter

Ein Blick in den Abgrund mit Komik und Tiefe

Meisterhafte HipHop- und Downbeat-Instrumentals

Die Wüstenrocker besingen die Hoffnung auf Wandel

Schön komponierte, ­unaufdringliche Emo-Songs

Ein Ausflug nach L.A. hat schon einige (fast) umgebracht. Aber der Mann aus St. Louis, der eigentlich Andrew Heissler heißt und einst die Protektion von Jack White genoss, kann auf seinem New-West-Debüt auch ein paar hübsche Lieder davon singen.

Nicht alle fallen dabei so mit der Tür ins Haus wie „Fuck Me Up“. Erst ambivalentere Tracks wie der trügerische „Bluebird“-Swing, das komischüberzogene „Fallen Angel“ oder der Kirmes-Waltz „Lost In The Crowd“ geben LaFarges Blick in den Abgrund Tiefe. Nachdem er zuletzt auch noch Sixties-R&B für sich entdeckt hatte, vertraut „Rock Bottom Rhapsody“ wieder eher auf (Prä-)Rock’n’Roll-Roots.

Fachkräfte wie die tolle Rhythm-Section Jimmy Sutton/Alex Hall (JD McPherson) garantieren InstrumentalExpertise. (New West) JÖRG FEYER

Als der traumschöne Soul-Schwelger „Itkanbe (Sonice)“ nach 1:43 Minuten einfach abbricht, nachdem man sich an Anderson .Paaks Schmirgelstimme gekuschelt hatte, stellt sich natürlich die Frage: Fuck, warum hört das jetzt auf? Weil Glen Earl Boothe alias Knxw­ledge es bloß mal hinskizziert hat, wie auch die übrigen 21 Tracks dieser nach seinem Geburtsjahr benannten Sammlung von HipHop- und Downbeat-Instru­mentals. Er ist halt ein Meister seines Fachs. Der Produzent und Musiker wurde durch seine Arbeit mit Kendrick Lamar bei „To Pimp A Butterfly“ bekannt; großartig auch seine Zusammenarbeit mit Anderson .Paak als Nx­Worries. Hier nun der pure, mal ruffe, mal slicke Stoff: Laptop-Jazz aus L.A. Die Vinyl-Aus­ gabe kommt übrigens als LP + 10inch + 7inch. (Stones ­Throw) SEBASTIAN ZABEL

„Tamotaït bedeutet Hoffnung auf ­positiven Wandel“, erklärt Sänger, Gitarrist und Songschreiber Ousmane Ag Mossa. Bei den Tuareg-Rockern von Tamikrest ist dieser Wandel ein ­eminent politischer, wie etwa das er­ sehnte Ende kriegerischer Auseinan­ dersetzungen im Norden Malis. Die Songs ihres neuen Albums, insbesondere „Amzagh“ und „As Sastnan Hidjan“, kreisen sodann nicht allein um einzelne, verschlungene Gitarrenriffs und Rhythmen – sie drehen sich um eine mögliche Rückkehr aus dem Exil, um die Utopie einer friedlichen Zukunft für die Kel Tamasheq. Die marokkanische Sängerin Hindi Zahra stößt hinzu („Timtarin“), und im verwunschenen „Tabsit“ tragen japanische Shamisen und Tonkori zum völkerverständigen Sound ihr Scherflein bei. (Glitterbeat/Indigo) ALEXANDER MÜLLER

Das Energielevel von Kevin Krauter ist konstant niedrig, aber wenn man so traurig ist wie er – oder so traurig zumindest, wie seine traurigen Lieder es nahelegen –, dann ist es bereits ein Wunder, dass er überhaupt ein Album zustande gebracht hat. Seine unaufdringliche Stimme bewegt er zu miniaturhaften Melodien, die gerade in ihrer Zurückhaltung emotionale Kraft entwickeln. Der Gesang ist nah abgenommen und gedoppelt, wie auch die in offener Sad-Boy-Stimmung gespielte Gitarre, die sich über Drum Machines legt. Krauter, Bassist in der Indie-Pop-Band Hoops, überzeugt als Solomusiker: Er verdichtet seine schönen Emo-Songs mit Rauschen und Atmosphäre, mit kleinen Klavierfiguren, schichtet Spuren zu Shoe­gaze, erschafft ein angenehmes Dröhnen. (Bayonet/Cargo) JAN JEKAL

Rock Bottom Rhapsody

1988

Tamotaït

Full Hand

SHORT CUTS KU R ZK RITIK EN – VO N MARC VE T TER

Becca Stevens

Wolf Maahn

Matt Holubowski

The Districts

Deacon Blue

Wer den fröhlich schep­ pernden R&B-Brecher „Slow Burn“ hört, kann kaum den Eindruck gewinnen, dass Becca Stevens einst mit Appalachian Jazz und Irish Folk reüssierte. Mit insge­ samt 40 (!) Gastmusikern hat sie nun das kleine Kunst­ stück eines Pop-Albums hinbekommen, das mit hoch­ komplexen Arrangements zwischen melodiösem Dance und St.-Vincent-Grooves überzeugt. Keiner der 14 Songs klingt wie der andere.

Lustvoll zitiert Stevens Prince („I Wish“), um dann Shakespeare hervorzuholen.

Dunkle Gedanken gibt es auch: „Good Stuff“ reflek­ tiert, wie sich Frauen in der Musikbranche jeden noch so kleinen Erfolg ­erkämpfen müssen. (Ground

Wolf Maahn klagt die Super­ reichen an, weil sie uns in die Depression jagen und den Klimawandel verursacht haben. Das Gegenmittel findet der Sänger im Reggae und einer neuen „Love ­Dimension“. Sympathisch, aber auch erschreckend naiv. (Libero/SPV)

Der rastlose kanadische Songwriter nahm seine neue LP zurückgezogen in einer Waldhütte auf. Vielleicht kommen diese vorzüglich vor sich hin treibenden Folk­ miniaturen trotz ihrer sehr direkten Lyrics deshalb auch etwas eskapistisch daher. (Motor)

Drei Alben lang suchten The Districts nach ihrer musikali­ schen Identität. Nun haben sie die großen Gesten gefun­ den: Ihre neuen Songs krei­ sen losgelöst von allem Übel der Welt mit Synth-Pop-Chic im Stil von MGMT um klas­ sische Millennials-Themen.

Die Schotten klingen wie eine Retrokapelle, die sich unverschämt im Fundus der Achtziger bedient. Dabei gründeten sie sich schon 1985. Seit den Nullerjahren findet ihr Sophisti-Pop neue Hörer. Kein Wunder, alles klingt fast zwanghaft ­optimistisch. (earMusic)

Matthews Southern Comfort

Mapache

Wonderbloom

Up/The Orchard)

Break Out Of Babylon

The New Mine

Allein das großartige JoniMitchell-Cover „Ethiopia“ (vor 48 Jahren coverte die Band bereits „Woodstock“) ist hier das Geld wert.

Die restlichen Songs sind eine gegenwartsbefreite, har­monische Vermählung von Folk und Americana alter Schule. (MIG)

Weird Ones

From Liberty Street Das Duo aus Los Angeles labt sich an Surf-Rock, ­mexikanischer Folklore und Cowboy-Romantik. Stets geht es um die mal mehr und mal weniger flackernde Liebe. Simpel anmutendes Folk-Theater. Und einen ­Erdbeerduft-Wimpel fürs Auto gibt’s auch dazu.

(Yep Roc/H’Art)

You Know I’m Not Going Anywhere

(Fat Possum/Bertus)

Roachford

Twice In A Lifetime Das frisch gekürte Mitglied des Order of the British ­Empire legt seine ambitio­ nierteste, geschmeidigste Soul-Pop-Aufnahme vor, begleitet von Mitgliedern der früheren Band von Amy Winehouse und illuminiert von Al Green und James Brown. (BMG Rights)

City Of Love

The Shires Good Years

The Shires nehmen ihren britischen Country-Pop zwar in Nashville auf, doch aufgekratzte Hymnen wie „Lightning Strikes“ machen eher den Eindruck, als ­würde sich das Duo hier Tradition vor allem aneignen, um fahle Großspurhar­ monien interessanter zu machen. (BMG)

Rolling Stone | April 2020 | 93

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Reviews

Tonträger

MUSIK-BÜCHER The Beatles

Huey Lewis And The News

Waxahatchee

Wohl das letzte Album der US-Rock’n’Roll-Band

Die rastlose Katie Crutchfield wird immer besser

Wenn es ganz schlecht läuft, wird Huey Lewis nie wieder Musik aufnehmen. Morbus Menière nahm dem Sänger schon vor vielen Jahren das Gehör auf dem rechten Ohr, nun auch auf dem linken. Dieses erste reguläre Album seit zwei Jahrzehnten enthält nur sieben Lieder, weil die Eskalation der Erkrankung während der Aufnahmen geschah. „Weather“ zeigt die Band bei ihrem Können, dem Doo Wop, Soul und Rock’n’Roll, funky West Coast–style. Man freut sich etwa an „Her Love Is Killin’ Me“, weil die Erinnerung an „Heart Of Rock & Roll“, „I Want A New Drug“ etc. eine schöne ist – Huey Lewis And The News waren ein Kuckucksei im Nest des Achtziger-Pop, weil der „neue“ Sound die alten Tugenden der Hard-Working Band wohl drapierte, aber nie ­ver­schleierte. (BMG Rights) JÖRN SCHLÜTER

Zwischen verträumten E-Klavier-Harmonien und einem sachten Summen taucht plötzlich eine Stimme auf, die sich auf keine Tonlage festlegen will, die überdreht, überkandidelt und überhaupt so klingt, als ob sie sich ins falsche Lied verirrt hätte. Doch das hat sie nicht, Katie Crutchfield inszeniert in „Fire“ zwischen exzentrisch und sentimental letztlich ihre eigene Zerrissenheit. Und während sie davon erzählt, dass sie nah sein will und doch weit weg ist, dass sie die große Liebe will, aber weiß, dass das nicht genug ist, fängt auch das Lied langsam an, unruhig zu zappeln.

Das Album „Saint Cloud“ ist das fünfte Kapitel des Entwicklungsromans, den Katie Crutchfield, die sich hinter Waxahatchee verbirgt, 2012 mit „American Weekend“ begonnen hat. Und allmählich verwandelt sich dieser Roman in ein Meisterwerk.

Album Nummer 5 ist von Americana geprägt, orientiert sich mal in Richtung Folk („Hell“), mal in Richtung Coun­ t ry („The Eye“), versammelt großartiges Songwriting, das mal als schlurfende Hymne („Can’t Do Much“), mal als betörende Ballade („Ruby Falls“) daherkommt.

Die Gitarren dröhnen nicht mehr so laut, drängen sich nicht mehr so sehr in den Vordergrund, doch noch immer sind die Geschichten, die Crutchfield erzählt, von einer inneren und äußeren Unruhe bestimmt, von Entdeckungsreisen und Selbstbetrachtungen. Auch weil „Saint Cloud“ in einer Zeit entstand, als Crutch­f ield beschloss, ihr Alkoholproblem an­ zugehen. In „War“ schildert sie den Krieg, der pausenlos in ihrem Kopf stattfindet. In „Lilacs“ schaut sie dem Flieder beim langsamen Verwelken zu und bekennt, nicht gut im Alleinsein zu sein: „I won’t end up any­ where good without you.“ Und letztlich sind fast alle Songs auf dieser Platte Reiseberichte, die mal in Barcelona, mal in New York spielen. „Fire“ etwa überquert den Mississippi in Richtung West Memphis. Und in „Arkadelphia“ sucht Crutchfield bei einer Reise durch das Niemandsland von Arkansas nach einem Herzen aus Gold. (Merge/ Cargo) GUNTHER REINHARDT

Saint Cloud

The Beatles Frank Goosen 25 Tage nach seiner Geburt traten die Beatles in der Esse­ ner Grugahalle auf. Frank Goosen erzählt in der Essay-­ Reihe „KiWi Musikbibliothek“ von den Aneignungen eines Nachgeborenen, der 1979 in Bochum zum ersten Mal das „Rote“ und das „Blaue Album“ und „Abbey Road“ hör­ te, die sein Vater als Lohn für eine Reparaturarbeit von einem Elektronikfachhändler bekommen hatte: „Gib mir lieber ein paar Platten für meinen Jungen!“ Es ist die exemplarische Ge­ schichte von der Initiation, von Jugendzimmer und Plattenspieler, ado­ leszentem Begehren und pubertärer Prahlerei, vom Erwerb von BeatlesPlatten und Beatles-Büchern, von „Double Fantasy“ und dem Tag, als John Lennon starb. Lennon ist Goosens Lieblings-Beatle. Im zweiten Teil der Betrachtung schildert er eine Besichtigung von Beatles-Schauplät­ zen in Liverpool, bei der ihn Frau und Kinder (und ein Reiseleiter namens Steve) begleiteten. Im dritten Teil schließlich holt Goosen die alten Bea­ tles-Platten aus dem Keller, unterzieht sie einer systematischen Reme­ dur und hat ein Heureka-Erlebnis: Die neue Vinylpressung von „Sgt. Pepper“ schlägt die alte Platten (und die CD sowieso)! Frank Goosen ist ein gutmütig-selbstironischer Chronist, der sich nicht wichtig macht und Verstiegenheiten meidet. Eine sentimentale Reise durchs Leben mit den Beatles. Man wird nie fertig mit ihnen. (Kiepenheuer & Witsch) AW

Die 70er. Der Sound eines Jahrzehnts Ernst Hofacker

Hilary Woods Birthmarks

Die irische Sängerin meditiert über das Kinderkriegen

Gedämpfter Gesang, dräuende Celli, krachendes Schlagzeug, saturnische Synthesizer und elektronisch verfremdete Naturaufnahmen: Hilary Woods hat für ihr Konzeptalbum über den weiblichen Körper im Ausnahmezustand der Schwangerschaft (die ehemalige JJ72-Bassistin erwartete während der Aufnahmen selbst ein Kind) eine ebenso poetische wie unheilvolle Atmosphäre geschaffen, unterstützt vom norwegischen NoiseProduzenten Lasse Marhaug. „I’m afraid/ It’s growing inside of me“, flüs­ tert die irische Sängerin im bewegenden „Orange Tree“. Mit geheimnisvoller Stimme watet sie durch düsteren Textschlamm, der jeden Psychoanalytiker neugierig machen würde und einem surrealistischen Horrorfilm entstammen könnte. Ergreifend vertonte Viszeralität. (Cargo) MARC VETTER

Die popkulturelle Blüte der 70er-Jahre, die Prog- und Glamund Krautrock, Elektro- und Funkpop, Punk und Post-Punk, Disco und Bronx-Beats sprießen ließ, wird im Rückblick verkürzt auf wenige Namen, Songs und Schlüsselbegriffe.

Eine Art ABBAisierung, so die These von Ernst Hofacker, hat die Errungenschaften dieser Zeit hinweggespült. ­Dabei war – und das ist die zweite Deutung in diesem an­ sonsten kulturtheoretisch zurückhaltenden Überblicksband – die musi­ kalische Vielfalt dieser Zeit vor allem Ausdruck einer jungen Generation, die mit den Moralvorstellungen ihrer Eltern brechen wollte. Auf die ­monolithischen Pop-Meisterwerke der Sechziger folgte das spannende­ re, paradoxere Jahrzehnt, bevor in den Achtzigern den verzweigten Ge­ genkulturen die Luft ausging. Fast ein wenig zu brav und seinem eige­ nen Postulat misstrauend erzählt Hofacker die Geschichten der Musiker dieser Zeit nach. Der Blick auf Deutschland gerät etwas verkürzt auf Kraftwerk, Krautrock, Lindenberg und den Gegenschlager. Immerhin gibt es zu jedem Jahr eine Chronologie der Ereignisse. (Reclam) MV

Ennio Morricone. Master Of The Soundtrack Maurizio Baroni

Gerade für Hipster ist Morricone auch der SoundtrackGott, weil er spät, im Alter von 49 Jahren, seine erste große Hollywood-Arbeit („Der Exorzist 2“) übernahm – und die Italo-Ära der Sechziger mit ihren Spaghettiwes­ tern und Autoverfolgungsjagd-Krimis, die er mit Musik versorgte, als „Kult“ gilt. Davon erzählt auch dieser Bild­ band, der nicht nur hübsche Popart-Albencover dieser komplett ironiefreien Azzurro-Zeit versammelt, sondern in mehreren Vorworten eine Parade von Regiegrößen auffährt, die dem Maestro Re­ verenz erweisen: Tarantino, Carpenter, Boorman. (Gingko Press) SN

94 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: MICHAEL OCHS ARCHIVES

Weather

The New Abnormal

The Strokes

Migration Stories

M. Ward

The Great Lost No Ones Album

The No Ones

Bobby Conn

Future-Pop der New Yorker Garage-Rock-Helden

Country-Folk-Meditation über Migrationsbewegungen

Jangle-Pop-Debütalbum einer Fast-Supergroup

Tolles Comeback im Glam-Gewand

Mit ihren ersten zwei Alben unterwarfen die Strokes sich einer strengen Garage-Rock-Haltung. Mutiger waren die ungeliebten Werke der Zehnerjahre, in denen sie Einflüsse wie Cyndi Lauper, Technotronic, A-ha, Flipper-Töne und den „Tron“Film zu einer Art Pop verknüpften, der Retro und Future vereinte und in 20 Jahren als Arkaden-Musik wiederentdeckt werden könnte. Ihr sechstes Album hoffentlich auch: „Eighties bands, where did they go?“, singt Julian Casablancas zu Oktavbässen und Gitarren, die wie Laserstrahlen klingen, und verkündet Metropolis-Visionen („Brooklyn Bridge To Chorus“).

Wie sehr sich das Quintett von seinen Anfängen entfernt hat, zeigt gerade das einzige schwache Stück, „Bad Decisions“, angelehnt an Billy Idols „Dancing With Myself“ – nur über den Umweg eines offensichtlichen Zitats vermögen die Strokes sich noch als Rockband zu inszenieren. Möglich, dass Achtziger-Nostalgiker Casablancas vor Grundlegung der Platte ein Machtwort gesprochen hat. Fans klagen weiter: „Aber diese Synthies!“ Doch der Freiheitswille der Strokes verdient Anerkennung.

Er gehörte zu den Monsters Of Folk und war der männliche Part von She & Him. Mit Cat Power, Neko Case und Norah Jones, um nur einige zu nennen, spielte er gemeinsam. Unvergessen seine Zeitlupenversion von Bowies „Let’s Dance“ („Rare Trax 92“). Für sein zehntes Studioalbum hat Matthew Stephen Ward nun mit Tim Kingsbury und Richard Reed Parry von Arcade Fire zusammengearbeitet. „Migration Stories“ handelt, wie es der Titel nahelegt, von Wanderungsbewegungen im Allgemeinen, auch solchen von Freunden und Vorfahren.

Zum Auftakt, in „Migration Of Souls“, führt die Reise mittels Akustikgitarre und Saxofon sogleich durch Raum und Zeit. „Sailing on past space and time/ That’s how I’ll get back to you“, singt der in Portland/Oregon ansässige Singer-Songwriter. Sein Gesang ist gewohnt verhalten, seine Songs, die sich aus den Traditionen des Blues speisen, aus Folk und Country, wirken – mit einer von Synthesizern angetriebenen Ausnahme („Unreal City“) – schemenhaft und matt. Dennoch findet man sofort eine zweite Heimat in ihnen.

Dass sich diese vier Herren zwar kokett The No Ones nennen, aber trotzdem ihre Namen in großen Buchstaben aufs Albumcover geschrieben haben, macht klar: Wir sind eine Supergroup! Oder zumindest eine FastSupergroup. Denn so großartig Scott McCaughey und Peter Buck (R.E.M.) sind, die sich mit den Norwegern Frode Strømstad und Arne Kjelsrud Mathisen zusammengetan haben – was den No Ones fehlt, ist ein Supergrouptauglicher Sänger.

Würde einer wie Michael Stipe Zeilen wie „If I’m dreaming, can I please dream something else?“ singen, taugte das psychedelische „Dream Something Else“ vielleicht sogar zum Klassiker. Doch so bleibt es, wie fast alles auf „The Great Lost No Ones Album“, eine nostalgische Stilübung. Von „No One Falls Alone“ über „Too Blind To Believe“ bis „Turn Again“, das natürlich eine Verneigung vor „Turn! Turn!

Turn!“ von den Byrds ist: Überall lauert einem Jangle-Pop auf. Und auch wenn dieser mal mit pfeifenden Gitarren verziert wird oder die Band in „(Going Back To) Stockholm Syndrome“ etwas lauter wird – wirklich großartig ist diese Platte leider nie.

(RCA/Sony)

(Anti/Indigo)

(Yep Roc/Bertus)

Bobby Conn gibt einem den Glauben an die Unsterblichkeit des Rock’n’Roll zurück. Acht Jahre sind seit „Macaroni“ vergangen, das einzige Lebenszeichen war 2017 die famose Single „Hollow Men“ mit dem von Bruce LaBruce kongenial inszenierten Video. 52 ist Bobby Conn inzwischen, aber sein nervöser Mix aus kinky Funk und angenehm dissidentem Glam-Rock klingt immer noch unwiderstehlich frisch. „Hat es überhaupt einen Sinn, von Genesung zu sprechen, wenn wir noch nie wirklich gesund waren?“, kommentiert der Mann aus Chicago den Albumtitel „Recovery“. Was politisch gemeint ist und die Krankenversorgung der USA ebenso berührt wie die Stimmung unter Trump. „We don’t want freedom, we just want a revolution, right now“, singt Conn mit sexy kratzender BowieStimme in „On The Nose“. Mit Monica BouBou, Jim Cooper und Josh Johannpeter hat Conn wieder die alten Kumpels aus Thrill-Jockey-Zeiten dabei – doch „Recovery“ erscheint beim Hamburger Label Tapete. Tobias Levin sorgte für einen schön transparenten Sound, und bei „Brother“ ist der Synthesizer-Exzentriker Felix Kubin zu Gast. (Tapete) JÜRGEN ZIEMER

SASSAN NIASSERI

ALEXANDER MÜLLER

Unsere liebsten Plattenläden

GUNTHER REINHARDT

Recovery

MANNHEIM

COME BACK RECORDS Pop, Rock, Alternative, Metal 68161 Mannheim • S1, 17

Empfohlen von BERLIN

ROCKSTEADY RECORDS Rock/Pop, Punk, Wave, Metal, Jazz, Blues, Reggae, Ska, Raritäten, Klassik, Vinyl 10585 Berlin Zillestr.

OLDSCHOOL BERLIN Jazz, Pop, Klassik (CD, DVD, Vinyl neu & gebraucht) 10629 Berlin W.-Benjamin-Platz 2

SILVER DISC Rock, Pop, Jazz, Klassik, R&B, Metal, Indie, Worldmusic 10997 Berlin Wrangelstr. 84

CHEMNITZ

UNDERWORLD RECORDS Vinyl neu und 2nd Hand, Various Styles of Music 09111 Chemnitz Hartmannstr. 3A

DRESDEN

ERLANGEN

LANDSBERG

SWEETWATER Independent, Rock, Klassik, Jazz, Vinyl 01326 Dresden Friedrich-Wieck-Str. 4

DER SCHALLPLATTENMANN Indie, Pop, Rock, Singer/ Songwriter, Jazz, Roots, Ska 91054 Erlangen Fahrstr. 12

DISCY Musik, Buch, Film 86899 Landsberg Herzog-Ernst-Straße 179B

DÜSSELDORF

A UND O MEDIEN Rock/Pop, Electronic/Club, Reggae, World- Music, Jazz, Klassik 40212 Düsseldorf Schadow Arkaden, 1. Etage

HAMBURG

THEATERKASSE SCHUMACHER Tickets und 7inches 20457 Hamburg Kleine Johannisstr. 4

Plattenes laden dts Mona

TÜBINGEN

RIMPO RECORDS Pop/Rock, Jazz, Dance, Worldmusic, Klassik 72070 Tübingen Ammergasse 23

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

DISCY Musik, Buch, Film 86899 Landsberg Herzog-Ernst-Straße 179B

Reviews

Tonträger

Baxter Dury

Gordon Lightfoot

Spinning Coin

Cable Ties

Der Sohn des großen Ian auf Augenhöhe mit Dad

Ergreifende Folksongs, nur mit Stimme und Gitarre

Indie-Pop aus Glasgow, sommerlich und harmlos

Wut ist nicht genug: Punkrock triff t Feminismus

Drei Frauenstimmen und Streicher omnipräsent, zusammengehalten von Basslines, die Bernard Edwards so viel zu verdanken haben wie Norman Watt-Roy, und mittendrin Dury junior, der nonchalant Alltags-Absurditäten und das eigene Gefühlschaos besprechsingt – und auch gern mal was sagt, das man gar nicht oft genug sagen kann, wie: „Unless you got nothing to say, just don’t say it.“ Zehn Tracks, Grooves, Atmosphären, im Schnitt etwa drei Minuten kurz. Dury ist klug genug, seine schönen Ideen nicht überzustrapazieren. Doch Stücke wie „Slumlord“ oder der Titelsong würden auch in einem klassischen Extended Mix bestehen. Was dann endgültig so klingen würde, als hätten sich Chic in einer Londoner Vorortdisco verlaufen. Hit me! (PIAS/

Vor zehn Jahren wurde schon einmal sein Tod vermeldet, doch der kanadische Folk- und Country-Sänger, der auch für Elvis Presley Songs schrieb, lebt – und wie! Mit 81 Jahren kehrt Lightfoot noch einmal zurück zu seinen Wurzeln, als er allein mit Gitarre durch amerikanische Cafés tingelte. „Solo“ ist dennoch sein erstes Album, das er lediglich mit Gitarrenbegleitung aufnahm. Sparsame Arrangements mit großer Wirkung: Lightfoot beeindruckt vor allem mit seinem Händchen für unwiderstehliche Melodien – ein Gespür, das vielen seiner Nachahmer fehlt. Neun der zehn Songs stammen von einer Session aus dem Jahr 2002, der Höhepunkt ist allerdings das kürzlich entstandene „Easy Flo“. Und für spontanes Pfeifen blieb auch noch genug Zeit. (Warner) FRANK LÄHNEMANN

Strahlend helle E-Gitarren, gefällige Harmonien und als Albumtitel eine Frühlingspflanze: Man bräuchte den Hinweis der Plattenfirma wohl gar nicht, um zu ahnen, dass das schottische Quartett sein zweites Album unter der französischen Sonne eingespielt hat. Spinning Coin orientieren sich an Landsleuten ihrer Elterngeneration, an Orange Juice etwa, und weichen von deren gut ausgebauten Indie-Pop-Pfaden nur ab, wenn sie sich an hymnischer Psychedelia versuchen, wo sie sich dann auch gleich ziemlich verlaufen. Das zittrige Vibrato von Sänger Jack Mellin irritiert.

Neuzugang Rachel Taylor singt nur auf einem Stück, fügt dem sommerlichen Schwelgen eine schöne Klangfarbe hinzu und macht deutlich, wovon es hier zu viel gibt: von zittrigen Männerstimmen. (Domino) JAN JEKAL

Jenny McKechnie schimpft über die Babyboomer-Arroganz, wettert über die Milliardärssöhnchen mit ihren Offshore-Konten, kotzt sich über den Boys’ Club aus, der immer alles besser weiß. In Songs wie „Tell Them Where To Go“, „Sandcastles“, „Self-Made Man“ oder „Hope“ spielt die Australierin Chrissie Hyndes wütende Schwester. Und wenn sich ihre Band nicht gerade im hypnotischen Siebeneinhalbminüter „Lani“ in ein Riff vertieft, wird auf „Far Enough“ zwischen Punk- und Garagenrock grollend herumgetobt und die toxische Männlichkeit verflucht. Mittendrin stellt McKechnie aber klar, dass Wut nicht genügt. „I spend too long in the shower thinking about apocalypse“, bekennt sie in „Anger’s Not Enough“ und verspricht, dass auf Worte Taten folgen. (Merge/Cargo) GUNTHER REINHARDT

Night Chancers

Rough Trade)

Solo

JÖRG FEYER

Hyacinth

Far Enough

JAZZ

COO L AN D FREE – VO N MARKUS SC H N EID ER

Nduduzo Makhathini

Avishai Cohen

Der 37­jährige Makhathini hat neben diversen südafrikanischen Preisjurys auch schon Wynton Marsalis von sich überzeugt. Dieses achte Album als Leader, sein Debüt für Blue Note, zeigt einen großartigen Pianisten, dessen auffälligster Einfluss die weitgreifende Groovearbeit McCoy Tyners der Sechziger zu sein scheint: Stücke wie „Unyazi“ und „Umlotha“ stehen deutlich in der Linie des Coltrane Quartets, mit einer zugleich melodisch spirituel­ len und eigenwillig ins Freie streben­ den Bläserarbeit. Eine anregend fremde Note kommt durch südafri­ kanische Färbungen im elegant postmodalen Jazz der Band, durch Gesang und intensive Percussion, aber zum Beispiel auch durch die schlichte, choralartige Melodik und den offenen Swing von „Saziwa Nguwe“, das wie eine gelungene Hommage an Abdullah Ibrahim klingt. Sehr schöne und originelle Verbindung von Feuer, Spirit und Soul. (Blue Note/Universal)

Unerwartet öffnet sich der feine isra­ elische Trompeter hier in den weite­ ren Popbereich – und zwar bis zur Mondscheinsonate (Beethoven­ Jahr!), die Melodie getragen, unter­ legt mit einem nervösen ungeraden Achtelbeat. Typischer allerdings das Massive­Attack­Cover „Teardrop“, das mit einem verdichteten Down­ beat, schiefen elektronischen Geräu­ schen und viel Hall zugleich von Dub und Ambient­Elementen getragen wird. Der Ansatz erinnert in der Mi­ schung aus Post­Punk­Rock und Groove mit freierer und jazzig kom­ plexer Grundierung ein bisschen an die norwegische Post­Jazz­Fusion­ Szene: Cohens Trompete zieht mit kleinen solistischen Ausflügen und Höhenflügen die Melodie in die Tracks, während verschwimmend bearbeitete Gitarren und Keyboards, dunkle Bässe und zischelnde Percus­ sion unruhige, zärtliche oder un­ durchsichtige Atmosphären erschaf­ fen. Ein anschmiegsames, elegantes Experiment. (ECM/Universal)

Big Vicious

Nduduzo Makhathini

Shabaka And The Ancestors

We Are Sent Here By History Makhathini spielt auch auf diesem zweiten Album der Ancestors seit 2016 unter Leitung des ubiquitären und schaffenswütigen Shabaka Hut­ chings mit. Hutchings gelingt hier eine sehr anschauliche Verbindung seines eigenwilligen neospirituellen Jazz mit Einflüssen seiner karibi­

schen Kindheit und Motiven afrikani­ scher Musik, vor allem aus Südafrika, woher auch die Musiker der Ances­ tors stammen und wo aufgenommen wurde. Man hört eine doppelt be­ setzte, prachtvoll dichte Percussion, schick glöckelndes E­Piano und Kla­ vier, dazu insistierende Riffs von Bass und Hutchings Holzblasinstru­ menten, anfeuernd geshoutete Wor­ te („African time!“) und eine Stimme zwischen Jazz­Belcanto und Tribal Chant. (Impulse/Universal)

96 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

FOTO: SIPHIWE MHLAMBI

Modes Of Communication

Brams (M.), Stevens (r.)

Sorry

Andreas Kümmert

Chaotischer Alt-Rock von jungen Londonern

Blues-Rock mit Soul-Stimme und Gitarrensoli

Das Debüt der jungen Londoner Band ist eine chaotische Mischung aus AltRock-Riffs und elektronischen Verzerrungen, ein Geisterhaus-Spiegelkabinett aus Nineties-Gitarrenfiguren und digitalen Klangschnipseln. Sängerin Asha Lorenz klingt abgeklärt, gelangweilt flirtend, hat Charisma und Charakter. Kollege Louis O’Bryen und sie bilden ein Gordon/MooreSpannungsfeld. Bei allen durcheinandergehenden Sounds kommt das Chaos kontrolliert daher, ist sorgfältig produziert vom Veteranen James Dring, der vor Jahren schon den ähnlich genresprengenden Gorillaz geholfen hat. So aufregend und lustvoll energetisch die Band klingt – das Songwriting hält mit der launigen Ästhetik nicht immer mit, und eine Dreiviertelstunde müsste „925“ nicht laufen. Sorry. (Domino) JAN JEKAL

Die Geschichte des Andreas Kümmert vom Sieg bei „The Voice Of Germany“ über die ESC-Absage bis hin zum Kampf gegen Angststörungen ist eine der öffentlichen Selbstfindung. Ein Prozess, den er sich längst zum nicht immer unproblematischen künstlerischen Prinzip gemacht hat.

Sein neues Album, befreit von den schmerzhaften Bekenntnissen der Vergangenheit, kündet von der Passion eines hypersensiblen Soulman („Some­thing In My Heart“), der aber etwas zu oft die Balance verliert, wenn er die musikalischen Stile und Instrumente mixt (fürchterlich auf „Milk“). Kümmerts eigentliches Ins­ trument ist seine emotionsgesättigte Blues-Stimme. Die bräuchte dringend mehr Platz zum Atmen – und weniger geschmacklose Gitarrensoli drum ­herum. (Membran) MARC VETTER

925

Harlekin Dreams

Familien-Basteln Etwas zu wenig Magie auf kleinen Ambient-Inseln Von JÖRG FEYER

Sufjan Stevens/ Lowell Brams Aporia ASTHMATIC KITTY/ CARGO

James Righton The Performer

FOTO: PROMO

Atmosphärisch dichtes Solo­debüt vom Klaxons-Mann

Was kann man gegen ein Album einwenden, das mit den Zeilen „It’s all a mystery“ beginnt? Der Ex-Keyboarder der Nu-Raver Klaxons und Vater von Keira Knightleys Kindern überrascht uns zudem mit psychedelischen Soundteppichen, die uns bis in die 70er-Jahre zurückschicken.

Dass er dabei auf dem Label von Soulwax gelandet ist, kommt nicht von ungefähr, erinnert die Atmosphäre auf „The Performer“ doch an belgische Bands wie Absynthe Minded. Während diese jedoch gern ins Düstere abtauchen, zeigt Righton eine tänzelnde Leichtfüßigkeit. „See The Monster“ wird so zu dem Hit, den die Last Shadow Puppets nie hatten, und „Start“ zu einem großen Popmoment. Das fehlende Glied zwischen Arctic Monkeys und Balthazar. (­Deewee/PIAS) FRANK LÄHNEMANN

W

enn der Stiefvater mit dem Sohne, die Zweite. Auf dem 2009 veröffentlichten „Music For Insomnia“ hatten Lowell Brams und Sufjan Stevens erstmals auch musikalisch zusammengewirkt. Brams’ Rückzug aus dem gemeinsamen LabelBaby Asthmatic Kitty lieferte Stevens nun den Anlass, dessen musikalische Hausbesuche in den vergangenen Jahren zu sichten, zu sortieren, neu zusammenzufügen, um daraus mit weiteren Mitstreitern wie Schlagzeuger James McAlister, Gitarrist Yuuki Matthews (The Shins) oder seiner langjährigen Vertrauten Cat Martino die knappe Dreiviertelstunde „Aporia“ zu basteln.

Man wisse ja, wie das sei mit Jam-Sessions, sagt Stevens, 90 Prozent „absolute­ly horrible“, aber der Rest, mit Glück,

magisch. „I just kept pulling out these lit­t le magical moments.“ Magisch oder nicht: Das ist durchaus wörtlich zu nehmen.

Denn unter den 21 Stücken bleibt rund die Hälfte teils deutlich unter zwei Minuten. Und so ausladend wie größtenteils auf „Music For Insomnia“ wird es nie. Denn die Intention ist hier eine andere: War der erste Instrumental-Trip des Duos an Bewegung, Irritation, Verstörung interessiert, also daran, garantiert kein Mittel gegen Schlaflosigkeit zu sein, sondern den Ausnahmezustand nächtlichen Wachens akustisch halbwegs greifbar zu machen, so verharrt die Musik von „Aporia“ meist auf mehr oder weniger kleinen Ambient/New-AgeInseln der – Glückseligkeit?

Nicht unbedingt. Ein bisschen spooky darf’s wie etwa mit „Backhanded Cloud“ schon mal werden. Und zwischendurch Kurzwellenradio: „For Raymond Scott“. Aber ein etwas ambitionierteres Rhythmusgerüst wie in „Afterworld Alliance“ bleibt die Ausnahme.

Charakteristischer das fast süffige „The Unlimited“ oder das fast muntere „Captain Praxis“.

In der zweiten Hälfte mogeln sich dann sogar mal Vocals dazwischen, die allerdings strukturell instrumental bleiben.

Nur „The Runaround“ ziert etwas, das man eine Melodie nennen könnte. Und wann hört man so was? Hmm. Vielleicht wenn man mal wieder nicht schlafen kann …

Best Coast

Always Tomorrow

Vielleicht klappt’s doch noch mit dem Stadion

Was macht ein Lo-Fi-Pop-Duo, das zu gern ins Stadion möchte, aber mit dem dritten Album trotz reichlich Stadion-Sound doch nicht ganz dort angekommen ist? Erst mal fünf Jahre Zwangspause, bevor Bethany Co­ sentino ihre Schreibblockade lösen konnte, um für „Always Tomorrow“ die markante Parole „Giving a fuck, not too many fucks“ auszugeben.

Songs wie „Wreckage“ oder „Master Of My Own Mind“ bringen diese am besten auf den Punkt. Nach früher Surf/Girlgroup-Inspiration und dem Rücksturz in die 90er-Jahre mit ­„California Nights“ landen Best Coast mit diesen elf Songs auch mal im Soft Spot zwischen Fleetwood Mac und Cars („For The First Time“, „True“).

Manchmal wird ein Traum ja gerade dann wahr, wenn keiner mehr damit JÖRG FEYER rechnet. (Concord) Rolling Stone | April 2020 | 97

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Reissues MONTY PYTHON ALS WAVE-BAND Die ersten beiden, herrlich überkandidelten Alben der Londoner Von ERIC PFEIL

S

The Monochrome Set

wozu man Lust hatte. Die Bedeutung der Texte? Keine Ahnung. Der Bandname?

Habe vermutlich mit Yves Klein und The Velvet Underground zu tun. Das mit den prominenten Fans sei zudem ganz schön und auch absolut berechtigt, The Monochrome Set selbst hätten sich jedoch nie an konkreten Vorbildern orientiert.

Als einzige New-Wave-Band mit ähnlicher Vorgehensweise lässt Bid übrigens nur Blondie gelten.

1978 (ebenso wie Adam And The Ants) aus der Band The B-Sides hervorgegangen, veröffentlichten The Monochrome Set zunächst drei Singles bei Rough Trade und wechselten dann zum Virgin-Ableger DinDisc, wo 1980 ihr Debütalbum, „Strange Boutique“, erschien.

Unter der Regie von Bid und dem famosen Leadgitarristen und Schnauzbartträger Lester Square ließ die per-

fekt eingespielte Band hier Exotica, Schrammel-Wave, Psychedelia, Cabaret, Garage, Surf und Twang aufeinanderkrachen, dass die Funken nur so flogen. Auch lyrisch kannte man keine Beschränkungen: „Miss Universe is not averse/ To bisexuality/ I think abortion

The Monochrome Set Strange Boutique TAPETE

is a caution/ And I like to ski“, sang Bid mit nonchalant-distinguierter Intonation. Manchmal klang es, als hätten Monty Python nach Sichtung von Jean-Luc Godards Gesamtwerk eine Wave-Band gegründet.

Es fehlte jedoch noch an den ganz großen Songs.

Einen deutlichen Schritt in Richtung kohärenteren Materials unternahm die Band auf dem ebenfalls 1980 veröffentlichten zweiten Album, „Love Zombies“ ( ). Allein der Titelsong, in dem sich New Wave und fernöstlich beatmete Psychedelia beieinander unterhaken, gehört zum Großartigsten, was in jenem Jahr veröffentlicht wurde, wobei die als BBC-Session veröffentlichte Fassung noch besser ist. Andernorts begegnen sich auf diesem Album Morricone und Jangle-Pop, Calypso und Bo Diddley, Art-Pop und Gara-

98 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

ge. Nicht nur musikalisch treibt die Idiosynkrasie hier wilde Blüten: Bid scheut diesmal nicht vor Quatschfranzösisch zurück („R.S.V.P.“) und huldigt in „The Weird, Wild And Wonderful World Of Tony Potts“ dem Genie des bandeigenen Art Directors.

Nicht lange nach Veröffentlichung von „Love Zombies“ wurde die Band von DinDisc gefeuert und brach vorerst auseinander – nur um 1982 auf ihrem grandiosen Cherry-Red-Album „Eligible Bachelors“ den IndiePop zu erfinden. Doch auch wenn auf dem Drittwerk die Songs einfach zwingender sind – die ersten beiden Monochrome-Set-Platten zeigen eine Band, die ganz bei sich ist und dennoch alles für möglich hält. Und die vielleicht doch ein ganz kleines bisschen prätentiös war. Im allerbesten Sinne, versteht sich.

FOTO: THE MONOCHROME SET/TAPETE RECORDS

innvollerweise sollte in Begriffserklärungslexika neben dem Begriff „Kultband“ ein Foto von The Monochrome Set prangen. Zwar hielt sich der kommerzielle Erfolg der Londoner in ihrer frühen Glanzphase im Rahmen, aber etliche prominentere Bands – darunter The Smiths, Franz Ferdinand, oder Belle And Sebastian – hätten laut Eigenaussage ohne das seltsame Quartett nie zu ihrem Sound gefunden.

Anfang der Achtziger warf die Band um Sänger Bid hemmungslos Psychedelia und Music-Hall-Pop zusammen und steuerte mit surrealistisch-zynischen Texten gegen. The Monochrome Set kleideten sich, als wären sie dem Set eines Nouvelle-Vague-Agententhrillers entsprungen, und beschäftigten einen eigenen Art Director, der bei Konzerten Filmschnipsel auf die Band projizierte. Songs hießen „Eine Symphonie des Grauens“, „Alphaville“ oder „Ici Les Enfants“. Nein, erklärte Sänger Bid vor ein paar Jahren in einem Interview, man sei nie eine prätentiöse Band gewesen, ganz falscher Eindruck. Man habe lediglich gemacht,

Street Fighting Years

Simple Minds

The Complete Keen Years 1957–1960

Sam Cooke

Nina Hagen Was denn …?

Vernal Equinox

Das politische Album der Schotten als Deluxe-Edition

Die prägenden Jahre des vielseitigen Soul-Sängers

Eine Anthologie der skurrilen Amiga-Singles

Das Debütalbum des experimentellen Trompeters

Erst mit diesem, ihrem bereits achten Werk wurden die Simple Minds – kurze Zeit – Weltstars, auch wegen ihrer bis heute einzigen UK-Nummer-1-Single „Belfast Child“. Und natürlich wegen der vielen Helfer: Neben Lou Reed, der bei „This Is Your Land“ als Gastsänger auftritt, trommeln sowohl Manu Katché als auch Stewart Copeland mit.

Entscheidend war aber, dass BandChef Jim Kerr vom ProduzentenTeam Trevor Horn/Stephen Lipson auf einen Kurs gebracht wurde, den Kerr nicht beabsichtigte. Das in den Achtzigern populäre Dance-Duo machte aus Simple Minds eben keine zweiten Frankie Goes To Hollywood, sondern eine politische Rockband, die über IRA und Apartheid (das Peter- Gabriel-Cover „Biko“) sinnierte und dank Schifferklavier und Fiddle als „keltisch“ bezeichnet wurde.

Dieser Imagewandel wirkte fabriziert, aber es wäre ungerecht, „Street Fighting Years“ als Manifest zu verstehen, dessen Straßenweisheiten aus dem Ohrensessel stammen. Die Simple Minds hatten schließlich als Punkband begonnen, 1975! Nur gebärdete Kerr sich zunehmend als Sänger, dessen Drang zu Stadionrefrains die Qualität der Melodien überstieg. Schon mit Blick darauf, dass „Belfast Child“ lediglich eine Adaption des irischen Traditionals „She Moved Through The Fair“ ist.

Die „Super Deluxe Edition“ umfasst vier CDs, inklusive Remixes und B-Seiten, sowie auf kompletten zwei Scheiben ein Konzert aus dem italienischen Verona. Es sind, wie bei so vielen Musikern jener Ära, vor allem randständigere EPs, die alternative Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen. Darunter eine leichtfüßige Vertonung von Hubert Parrys Chorstück „Jerusalem“ nach dem Gedicht von William Blake („And did those feet in ancient time“). Aber auch eine RockVersion von Prince’ Antikriegssong „Sign O’ The Times“, der selbst gerade mal zwei Jahre alt war. Macht, zusammen mit „Biko“ und dem Albumtrack „Mandela Day“, gleich vier Freiheitshymnen für 1989. Vielleicht ein Rekord. Aber auch ein seltsamer.

Von Little Richards Starpotenzial war Specialty-Records-Boss Art Rupe sofort überzeugt. Jener musste den Text eines obszönen Songs nur so lange „säubern“, bis er als „Tutti Frut ti“ hinreichend jugendfrei war.

Nicht so überzeugt war Rupe von den Qualitäten eines 19-Jährigen, den ihm sein Talentscout J. W. Alexander als Ersatz für Rebert Harris, den Leadsänger der Soul Stirrers, vorstellte. „Ja, der kann singen!“, versicherte Alexander. Also gab Rupe dem jungen Mann die Chance, vom Doo-Wop- ins Gospelfach zu wechseln. Jahre später produzierte Robert „Bumps“ Blackwell mit Cooke zwei „Pop“-Songs, nämlich „You Send Me“ und eine Aufnahme von Gershwins „Summertime“. Aber die mochte Rupe nicht veröffentlichen, um sich –sein Gospel-Idol ein Pop-Crooner? – nicht den Zorn der Soul-Stirrers-Fans zuzuziehen. Was zu einem heftigen Zerwürfnis führte.

Blackwell und Sam Cooke wechselten 1957 zum konkurrierenden IndieLabel Keen Records. „You Send Me“ wurde sofort der Hit, der die steile Karriere des Sängers bis zu seiner Ermordung 1964 einleitete. Es war der erste von vielen Ohrwürmern, die den bei Atlantic Records auch Ray Charles produzierenden Jerry Wexler – also eine Koryphäe – zu der Überzeugung brachten, Sam Cooke sei „the best singer who ever lived – no contest“. Tatsächlich entwickelte er sofort den Ehrgeiz, sich als Allroundtalent zu profilieren, nämlich mit Jazz-Standards („I Cover The Waterfront“) und Balladen („When I Fall In Love“), mit Deutungen nicht mehr so bekannter Antiquitäten („Ac-CentTchu-Ate The Positive“) und Popsongs („Only Sixteen“), Aufforderungen zum Tanz („Everybody Loves To Cha Cha Cha“), Trost gegen akuten Liebeskummer („[What A] Wonderful World“) und auf der dritten LP, „Tribute To The Lady“, mit einer Hommage an Billie Holiday.

Die Single-Hits, diverse Outtakes und acht Songs in Stereo-Mixes füllen die CDs vier und fünf des Sets. Alle Aufnahmen in hervorragenden, bislang den bei Weitem besten Überspielungen. (Universal) FRANZ SCHÖLER

Nina Hagens Karriere in der DDR währte kaum drei Jahre, bevor sie 1977 den Staat verließ. In dieser Zeit veröffentlichte sie bei Amiga einen Strauß furioser Singles, die kühn arrangierten Jazz-Funk, aufgekratzten Protopunk und tutige Schlagerparodien vereinte und die später zu Manierismen geronnenen Überkandideltheiten vorwegnahm: schrille Koloraturen, heftiges Atmen, Schniefen und Kreischen, ironische Sprechpassagen, faustdicker Schalk, drollige Exaltiertheit. „He, wir fahren aufs Land“ erklingt „Shaft“-artig in Orchesterwucht; der übergeschnappte Funk-Rock „Zieh die Schuhe aus“; „Farbfilm“ natürlich. Die Amiga erlaubte Nina Hagen kein Album. Diese Anthologie von 14 Songs zum 65. Geburtstag ist es nun: lauter Knallfrösche. (Amiga/Sony) ARNE WILLANDER

Erst mit 40 Jahren veröffentlichte Jon Hassell sein Solodebüt, umso ambitionierter war sein Anliegen: Er wollte die „Fourth World“ erfinden, ein Genre, das die Musik Asiens, Lateinamerikas und Afrikas mit westlicher vereint, vor allem Jazz plus Ambient, dazu Naturaufnahmen – diese KulturMelange dann einmal durchs Mischpult gejagt und elektronisch verfremdet. Hassell spielte dazu seine Trompete, die selten nach Trompete klang. Keine fünf Sekunden vergingen, bis Brian „Brain“ Eno hellhörig wurde und ihn 1980 für sein „Fourth World“-Album einspannte.

Schon vorher, 1977, war man vom anklagenden, in der Regel unfairen Einwand der „Cultural Appropriation“ auch deshalb noch weit entfernt, weil die Töne Indiens oder Malaysias bis dahin seltener herübergeholt worden waren. Man freute sich nun einfach über Austausch. Hassell stammte aus Memphis, aber er wünschte sich, dass sein Instrument fernöstlich-religiös schallt, wie der Gesang der indischen Interpreten der Kirana-Gharana-Schule klingt.

Das galt auch für seine Annäherung an Venezuela: „Caracas Night September 11, 1975“ offenbart den Respekt Hassells vor fremder Kultur schon im rein deskriptiven Titel, ausgesucht nicht nach exotischer Lautmalerei, sondern lediglich nach Ort und Datum. Aufnahmegerät an: Das Zirpen der Grillen in der Nacht, Straßengeräusche, Hassell bläst seine Miniaturen, die wie Mücken surren.

Den Synthesizer spielte David Rosenboom, Pionier des Elektroenzephalofons, das mittels Gehirnwellen Töne erzeugt. Puh. Die Pointe besteht darin, dass Jon Hassell ab den 80er-Jahren für Popkünstler so etwas wie der Go-to-Guy für deren Vorstellung von Weltmusik wurde. Peter Gabriel, Tears For Fears, David Sylvian und Wim Wenders – alle ließen ihre Lieder und Bilder von diesem Trompeter illustrieren, dessen spröde-verträumte Tonschlieren längst zu einer unnachahmlichen Signatur geworden waren. „Vernal Equinox“ markierte den aufregenden Anfang.( Ndeya/Rough

(Universal)

SASSAN NIASSERI

Elton John/Ray Cooper Live From Moscow 1979

Rare Live-Aufnahme, leider stark gekürzt

Den BBC-Mitschnitt des Auftritts der „A Man Alone“-Tournee in Moskau kürzte man hier sinnlos um 38 Minuten: Kein „Your Song“, „I Think I’m Going To Kill Myself“ oder der JimReeves-Evergreen „He’ll Have To Go“ und andere selten gespielte Songs, dafür Marvin Gayes „I Heard It Through The Grapevine“ zwölf Minuten lang als kleine Prog-Rock-Musik extemporiert. Manche in den orchestralen Arrangements sehr beliebte Songs klingen „unplugged“ etwas verhungert, Balladen wie „Sorry Seems To Be The Hardest Word“ noch am wenigsten. Ray Cooper assistierte in der zweiten Hälfte des Konzerts an diversem Schlagwerk. Eine bessere Zugabe als das „Crocodile Rock/Get Back/Back In The U.S.S.R.“-Medley war bei der Gelegenheit kaum denkbar. (Mercury) FRANZ SCHÖLER

Jon Hassell

Trade)

SASSAN NIASSERI

Rolling Stone | April 2020 | 99

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Reviews

Reissues

VINYL PICKS VO N WO LFGAN G DO EB ELIN G

The Everly Brothers

Thin Lizzy

Don & Phil Everly hatten für Cadence bereits diversen Hits ihre brüderlichen Harmonies angedeihen lassen, doch schuldeten sie dem Label noch eine LP, als sie 1958 bei Warner Bros. einen gut dotierten Vertrag unterschrieben. Um zu verhindern, dass das alte Label noch jahrelang Singles daraus destillieren konnte, lieferten sie ein Album, das dazu denkbar ­ungeeignet war: statt Rock’n’Roll bot „Songs Our Daddy Taught Us“ tradierte Folk-Songs aus England und Schottland sowie amerikanisches Liedgut, dessen Blütezeit indes auch schon Jahrzehnte zurücklag. (Demon)

Gleich eine ­ganze Reihe von Lizzy-Alben wird nun wieder als Schallplatten zugänglich gemacht, als ob es den Secondhand-Markt nicht gäbe, wo sie sämtlich noch recht günstig zu erwerben wären. „Jailbreak“, die sechste und stärkste Studio-LP der irischen Hardrocker, erschien 1976 und wucherte mit ein paar ­feinen Songs, allen voran das fulminante „The Boys Are Back In Town“, ein veritabler Top-Ten-Hit im UK, und „Cowboy Song“, das sogar in Amerika Airplay generierte. Für Lizzy war es transatlantisch der kommerzielle Durchbruch: Gold! (Mercury)

Songs Our Daddy Taught Us

Dusty Springfield

The Prisoners

Introducing

Der Bay-AreaFolkrock der Brummels befand sich 1965 auf ­ihrer ersten LP noch in einer Entwicklungsphase, klang mehr nach Mersey als nach Westcoast. Die Band interpretiere den „English Sound“ überaus erfolgreich, prahlen die Linernotes, denn „the boys are all enthusiastic fans of The Beatles, Rolling Stones, Searchers“. Bei allem stolzen Epigonentum fallen jedoch bereits Ron Elliotts Songs und Sal Valentinos Gesang ins Gewicht. Warum Don Gibsons „Oh Lonesome Me“ jedoch zum ­Partykracher degradiert wird, bleibt ein Rätsel. (Trading Places)

Nina Simone

In Concert: Emergency Ward!

An Pathos lässt es Nina Simone bei diesem Konzertmitschnitt von 1972 gewiss nicht fehlen.

Im Gegenteil, sie schwallt in heiligem Zorn, wenn sie ihren Gott anruft, an dessen notorischer Nichtsnutzigkeit verzweifelnd. „Who are you, Lord?“, fragt sie und weiß doch die Antwort: „You are a killer.“ Der Bethany Baptist Church Junior Choir of South Jamaica gibt den salbungsvollen Rahmen, das Songvehikel ist allen Ernstes George Harrisons „My Sweet Lord“. Auch sein „Isn’t It A Pity“ erfährt elf Minuten lang inbrünstige Gospelbehandlung. War ihm sicher eine Freude und Ehre. (Music On Vinyl)

In From The Cold

Dusty Springfield Dusty In Memphis

Über die herausragenden Qualitäten von Dusty Springfields fünftem Album, von Kritikern 1969 mit Kudos überhäuft, von Käufern weitgehend ignoriert, ist viel geschrieben worden. Es ist auch noch mehr als ein halbes Jahrhundert später ein Meisterwerk der Musika­ lität, der Songkunst, der Phrasierung, der Verführung. Aufgenommen im „Memphis Sound“, wie das Cover viel­sagend verkündet, also mit jenen Cracks, die auf unzähligen Soul-Hits zu hören sind, erwiesen sich die ­Sessions freilich auch als schmerzvolle Erfahrung, ja als Purgatorium für die ohnehin nicht gerade an Selbstüberschätzung leidende Diva.

Dustys Ängste und Neurosen fanden Eingang in den Produktionsprozess, ihre notorische Verletzlichkeit, so behauptete die Chanteuse, habe durchaus ihren Ausdruck auf einigen Tracks gefunden. Es dauerte Jahre, bis sie einen gewissen Frieden mit ihrem Magnum Opus gemacht hatte.

Rhythm & Blues und Southern Soul sind trotz Mitwirkung der „Memphis Cats“ genannten SessionCrew freilich nur ein Teil der musi­ kalischen Wahrheit in diesen Rillen, der andere Teil besteht aus Pop, Torch und Balladen, kurzum aus dem britischen Stilmix, der Springfields Ruhm begründete. Sicher, „Son Of A Preacher Man“ ist ein Muster an Soul-Prägnanz, doch sind etliche andere Tracks vielschichtiger angelegt. „I Don’t Want To Hear It Any­­

more“, Randy Newmans Rapport über Untreue und Seelenpein, wird von Arif Mardins Streichern ebenso versilbert wie „Just One Smile“, ein weiterer Newman-Song, der nur ­deshalb nicht zu Single-Ehren kam, weil Gene Pitney damit zuvor Charts-­ Erfolg hatte. Auch die Tunes von Bacha­rach/David, Goffin/King und Mann/Weil sind nicht Soul-affin, am weitesten entfernt von Memphis als Schauplatz schwarzer Musik ist mit „The Windmills Of Your Mind“ ein von Noel Harrison popularisierter Filmsong, dem auch rhythmusbewusste Bläsersätze samt Sweet-In­ spi­rations-Backing kein Iota Sinnlichkeit oder gar Funk einzuhauchen vermögen. Ein Song, der allein von Melodie und Flair lebt. Und das nicht schlecht. Dusty musste von Produzent Jerry Wexler dazu überredet werden. „Ich eignete mir den Song nur widerwillig an“, räumte sie später ein, „fand aber, dass mein Wider­ willen schwand, wenn ich ihn einfach langsamer sang.“ An Vinyl-Reissues von „Dusty In Memphis“ herrscht kein Mangel.

Es gibt eine preislich günstige, klanglich aber recht flache Pressung von 4 Men With Beards. Klangqualitativ auf höchstem Niveau bewegt sich die auf vier LP-Seiten gestreckte, mit 45 rpm abzuspielende, audiophile Edition von Analogue Productions, die mit rund 60 Euro zu Buche schlägt. Für kaum mehr als die Hälfte bekommt man neuerdings eine Doppel-LP-Version auf Run Out Groove, deren Seiten drei bzw. vier BonusTracks beherbergen, 14 an der Zahl, darunter einige durchaus hörens­ werte. Klasse oder Masse: wie ­ so oft die kaufentscheidende Frage.

(Run Out ­Groove)

100 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Man weiß es nicht, mag aber erahnen, warum sich die Prisoners von ihrer letzten LP im Nachhinein distanzierten.

Sie hatten bessere LPs gemacht, drei immerhin, und „In From The Cold“ war eine eher erratische Abschiedsvorstellung, von Troy Tate für das Stiff-Sublabel Countdown produziert.

Auch 1986 zielte der famose GarageBeat der Mod-Revivalisten meilenweit am Zeitgeist vorbei, die Prisoners hielten sich nonkonformis­tisch an ihre musikalischen Prinzipien, die ihnen kurz darauf womöglich doch noch Erfolg beschert hätten, unter dem Banner Britpop. (Acid Jazz)

Joni Mitchell Shine

2002 kehrte Joni Mitchell dem ­Musikgewerbe den Rücken, fünf Jahre später ­erschien „Shine“, weitere 13 Jahre dauerte es bis zur Vinylwerdung ­ihres vorläufig letzten Albums. Es ist ein Werk von Gravitas und großem Ernst, die Songs legen den Finger auf globale Verwundungen, üben Zivilisations- und Religionskritik, ventilieren Weltschmerz. Mitchell singt angespannt und spielt fast alle Ins­ trumente, Pedal-Steel und Saxofon ausgenommen, Jazz und Pop konver­ gieren. „Big Yellow Taxi“, ihr frühes Klagelied wider Naturzerstörung, fügt sich in die Dramaturgie, hochaktuell. Exzellente Pressung. (Craft)

FOTO: DOVE/DAILY EXPRESS/GETTY IMAGES

The Beau Brummels

Jailbreak

Come Go With Me: The Stax Collection

The Staple Singers

Birth Of The Cool

Miles Davis

African Head Charge

Rowland S. Howard

Sieben Alben mit ausführlichen Linernotes

Soundtrack-Compilation zur Filmbiografie

Soundreise im Zeichen von Dub, Gospel und Elektronik

Erinnerungen an Nick ­Caves tragischen Mitstreiter

Nachdem die Besitzer von Stax Records 1968 die Rechte an allen bis dahin veröffentlichten Soul-Klassikern wegen einer fatal übersehenen Vertragsklausel an Atlantic hatten abtreten müssen und viele bedeutende Interpreten das Label verlassen hatten, hatte Marketing-Mann Al Bell eine Idee: Er nahm die in Gospel- und Folk-Zirkeln seit Langem geschätzten Staple Singers unter Vertrag – mit dem Hintergedanken, sie mithilfe von Steve Cropper stilistisch mehr in Richtung Rhythm & Blues, Soul und Funk zu dirigieren.

Zaghafte Versuche einer Neuorientierung hatte man den Staples schon kurz zuvor bei Epic Records nahegelegt, die umgehend eine Coverversion von Stephen Stills’ „For What It’s Worth“ als Single veröffentlichten.

Für bürgerrechtsbewegte „MessageSongs“ waren sie ohnehin bekannt und geschätzt. Bei einem weißen Publikum mussten sie sich nicht anbiedern, als sie unter der Leitung von Cropper für das Stax-Debüt neben Songs wie „Got To Be Some Chan­ges Made“ auch Coverversionen von „The Weight“ und „(Sittin’ On) The Dock Of The Bay“ und für die zweite LP neben „When Will We Be Paid“ Hits von Joe South und Sly Stone aufnahmen. Dem Chef des Unternehmens, Roebuck „Pops“ Staples, vorzuwerfen, er sei da schon sehr auf kommerziellen Erfolg bedacht gewesen und habe alle Deep-Soul- und Gospel-Ambitionen wegen schnödem Mammon schon mal etwas hintangestellt, wäre völlig abwegig. Wenn überhaupt, stellt sich nachträglich die Frage, warum er nicht auf die Idee kam, die Karriere von Tochter Mavis als Frontfrau und Star des Ensembles so gezielt zu fördern, wie das kurz zuvor höchst erfolgreich die von Aretha Franklin abheben ließ.

Immerhin fiel Al Bell nach den ersten LPs ein, dass man im nicht so fernen Muscle Shoals auf die Qualitäten desselben Teams von SessionCracks bei den nächsten anstehenden Albumprojekten zurückgreifen könnte. Die produzierte Bell gleich selbst, auch den Bestseller „Be Altitude: Respect Yourself“. (­Concord)

Natürlich ist hier jeder Track großartig – wie denn sonst, wenn man zwölf Songs aus dem rund 40-jährigen Schaffen eines der Jazz-Originalgenies zusammenstellen darf? Selbst flüchtige Jazzhörer werden die meisten Tracks kennen, die schön und auch populär – von Charlie Parkers „Donna Lee“ (1947) über „Round Midnight“ (1957) bis „Tutu“ (1986) – die Bandbreite und Entwicklung von Davis’ Spiel zeigen. Ihrerseits berühmte Wegbegleiter von Herbie Hancock über Wayne Shorter bis hin zu Carlos Santana würdigen den Meister mit sekundenlangen, aber dennoch treffsicheren Anekdoten und Beobachtungen. Die ausgewählten Songs sind durchaus repräsentativ, aber als Sammlung richten sie sich eher an den gelegentlichen Jazzhörer. (Col/ Sony Music) MARKUS SCHNEIDER

Eine der entspanntesten Kifferplatten der 90er-Jahre: laaangsame Down­beats, ein bisschen Orgelgeklimper, smoothe Harmonien – auf „Smokers Delight“ trieben ­ G eorge ­Evelyn und seine Crew den bedröhnten Hängematten-Sound, der als Trip­­Hop Karriere machte, auf seinen Höhe- und Endpunkt. Die Neuedition des legendären Doppelalbums ist um ein paar Tracks ergänzt, unter anderem um zwei weitere Versionen von „Nights Intro­lude“, ihrem schönsten Stück. Das fand sich auch schon auf dem famosen Debüt des Kollektivs aus Leeds, „A Word Of Science“, das übrigens das bessere, vielfältigere Album ist. Eine Wiederveröffent­ lichung als Doppelalbum wäre angesichts des eng gepressten Originals wünschenswert. (­Warp)

FRANZ SCHÖLER

SEBASTIAN ZABEL

Eine weitere Lektion in Sachen Dub vom Londoner Label On-U Sound.

Nachdem bereits einige Achtziger-­ Alben aus dem Alchemisten-Labor von Produzent Adrian Sherwood neu veröffentlicht worden sind, etwa „Drastic Season“ und „Off The Beaten Track“, wird nun der große Soundbogen durch das Spätwerk geschlagen, mit allerlei Bonus- und Interview­ material als Download.

Kurz rekapituliert: African Head Charge verstand sich als fließendes Rhythmus-Orchester in wechselnden Formationen. Im Zentrum stand Perkussionist Bonjo Iyabinghi Noah, unter dessen Ägide jamaikanische und afrikanische Rhythmen mit abgedrehten Instrumentals verwoben wurden, gern psychedelisch, zuweilen in schroffem Punk-Modus. Studiomeister Sherwood sorgte für tiefergelegte Dub-Sounds, die später zur Fundgrube für die britische Elektronik-Szene wurden. Für die Reggae-Protagonisten aus Jamaika wiederum waren die Londoner Kollegen oft zu crazy, dennoch bestand sehr wohl ein Austausch mit der Karibik.

Vergleichsweise traditionell rollt das Album „Songs Of Praise“ (1990) heran, arbeiten sich Noah und seine Crew doch über 16 Tracks an religiösen Chants und Gospels ab. „Hymn“ mit seinem Frauenchor wirkt geradezu heiter, während „Dervish Chant“ in die Abteilung Meditations­musik driftet. Auf faszinierende Weise trifft hier archaische Ruhe auf frühdigitale Experimente. Eine Fusion, die im ’93er-Werk „In Pursuit Of Shashamane Land“ weiter vorangetrieben wird.

Weisen die Auftaktsongs „Heading To Glory“ und „One Destination“ noch Song/Gesangs-Strukturen auf, wird es später bei „On The Off Beat“ tribalistisch funky. Fast schon ein Disco-Track, der die stete Beweglichkeit der Band dokumentiert. Das gilt auch für die beiden 2000er-­ Spät­ werke, als die Band sich jeweils als Studioprojekt reformiert. Bereits die Titel „Vision Of A Psychedelic Africa“ (2005) und „Voodoo Of The Godsent“ (2011) geben einen hypnotischen Gespenster-Trip vor, gern mit tiefen Bässen und Overdub-Drums. (On-U Sound/Rough Trade) RALF NIEMCZYK

Nightmares On Wax Smokers Delight

Erweiterte Neuedition des bekifften TripHop-Albums

Drumming Is A Language

Teenage Snuff Film

Harter Hund, von Heroin gezeichnet.

Mit der Filmdoku „Autoluminescent“ über sein verschlungenes Leben erinnerte Mute jüngst an den 2009 verstorbenen Gitarristen von The Birthday Party, These Immortal Souls und Crime & The City Solution.

Dazu zwei Soloalben. Seine Interpretation von Billy Idols Gassenhauer „White Wedding“ lässt sich hier nachhören. Ein Schelmenstück, stand Howard doch für Düster-­ Kaputtes. Dazu gehört aber eben auch sein Faible für Americana-Balladen. Schon das Spektrum „Dead Radio“ bis „Undone“ (auf „Teenage Snuff Film“) zeigt jenen Spagat von verletzlich bis böse. Howards Abschiedswerk „Pop Crimes“ ( ) schließt sein Vermächtnis mit „A Girl Called Johnny“ und einem „Ave Maria“ (!) ab. (Mute) RALF NIEMCZYK

Rory Gallagher

Check Shirt Wizard – Live In ’77

Fulminanter Mitschnitt des Meistergitarristen

„When was the last time you heard a guitarist really play guitar?“, stand auf den UK-Tourplakaten im Jahr 1977. Auf den hier versammelten 20 Songs aus vier Abenden in London, Brighton, Sheffield und Newcastle hört man einen. Gallagher spielt auch ein paar Akustik-Nummern, aber zum Abheben bringt ihn erst seine Stratocaster. Allein ihr Ton ist mindestens so unverwechselbar wie seine Stimme. Die eine Hälfte des Sets besteht aus älteren Sachen, die andere aus den damals letzten beiden Alben, „Against The Grain“ und vor allem „Calling Card“ aus dem Jahr darauf, auf dem er erstmals und gleich erfolgreich mit dem Hardrock kokettiert. Die gleißenden Versionen von „Moon­child“ und „Secret Agent“ sind zum Niederknien. (­Chess/Universal) FRANK SCHÄFER

Rolling Stone | April 2020 | 101

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Das schönste Falsett des Soul: Eine Auswahl der Platten von Curtis Mayfield und den Impressions. Vor 50 Jahren erschien sein Solodebüt Von SEBASTIAN ZABEL

Essenziell

Curtis/Live!

1971

Curtis 1970

Wenn es eine Hölle gibt, dann werden wir alle dorthin gehen, Niggers wie Whiteys: Mit einem sich durch Stimmengewirr wühlenden Basslauf und seiner Ansage an die Brüder und Schwestern beginnt Curtis Mayfields epochales Soloalbum.

Ein Jahr vor „What’s Going On“ und „There’s A Riot Goin’ On“ veröffentlicht, ist es das erste Songwriter-Soul-Album, das den Autor ins Zentrum rückt.

Mayfields göttliches Falsett bestimmt sowohl unwirklich schöne Balladen („The Makings Of You“, „We The People Who Are Darker Than Blue“) als auch die Uptempo-Hymne „Move On Up“. Die Geburt des kämpferischen City Soul.

Superfly 1972

Die hinreißende Musik zu einem mäßig aufregenden Film.

Im unsterblichen Titelstück zeichnet Mayfiel das Porträt eines Drogenbarons, hinter dessen tougher Fassade das unreflektierte Underdog-Elend haust: „Can’t be like the rest is the most he’ll confess.“ Unheilvolle Gitarrenlicks kündigen „Freddie’s Dead“ an, der Song, der am Beispiel eines Junkies die Misere des schwarzen Amerika in schönstem Falsett erzählt. Der Schlüsseltrack des Soundtracks lässt keine Hoffnung aufkommen, seine einschmeichelnde Harmonie straft die Botschaft Lügen. „Pusherman“ ist ein funky Killertrack, „Give Me Your Love“ eine der elegantesten Engtanznummern aller Zeiten.

Bei dieser Aufnahme aus dem Bitter End, einem winzigen Club in Greenwich Village, wähnt man sich am Rand der Bühne, als wäre die Band zum Greifen nah. Mayfield beginnt sein Set aus neun Impressions- und drei Solosongs mit „Mighty Mighty“, und als er die Zeile „I got to say it loud, I’m black and I’m proud“ singt, brandet Applaus auf, jemand ruft: „Right on!“ Die konservierte Nähe und Intimität jenes New Yorker Januarabends 1971 ist betörend.

Jon Landau verriss „Curtis/ Live!“ seinerzeit im ROLLING STONE, er fand Mayfields Lyrics hochtrabend, seinen Gesang schwach. In Wahrheit ist es eines der besten LiveDoppelalben überhaupt.

Lohnend There’s No Place Like America Today

The Impressions The Young Mods’ Forgotten Story

1975

1969

In den 50er-Jahren regierten Blues und Gospel in Chicago, als die Chorknaben Curtis Mayfield und Jerry Butler die Impressions gründeten. Mayfield schrieb Songs mit Botschaft: „People Get Ready“, „Keep On Pushing“, „We’re A Winner“, gekleidet in Harmoniegesänge.

Aber natürlich war es eine Singles-Band. Das herausragende Album ist ihr vorletztes (in klassischer Besetzung), das zweite auf Mayfields eigenem Label Curtom. Vom ergreifenden Optimismus der Ballade „Choice Of Colors“ bis zum wütenden „Mighty Mighty (Spade & Whitey)“ spannt sich ein Bogen feinster SoulSongs, getragen von Mayfields Tenor, der sich an den Bariton seiner Gefährten Sam Gooden und Fred Cash schmiegt.

Roots 1971

Mayfield wendet sein patentiertes Percussion-Bläser-WahWah-Muster auf „Get Down“ an, einem „Move On Up“ reloaded. Gefolgt von dem Gospelinspirierten, optimistischen Aufruf „Keep On Keeping On“, dem Tempowechsel und dichte lyrische Redundanzen große Dringlichkeit verleihen. „Underground“ ist dann das „Hell Below“ der Saison und „We Got To Have Peace“ nicht nur wegen des Saxofons zu vordergründig. „Beautiful Brother Of Mine“ versöhnt vollständig.

Tolle Platte natürlich.

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Das Cover erzählt die ganze Geschichte: Aufgereiht in einer Warteschlange stehen Afroamerikaner unter einem Werbeposter an, auf dem eine glückliche weiße Familie postuliert, dass es keinen schöneren Ort als Amerika gebe. Die Wartenden wirken eher skeptisch, sie warten auf den Bus oder eine bessere Zukunft.

Nach drei etwas zerfahrenen Alben scheint Mayfield sich zu straffen und der Musik mehr Raum und Ruhe zu gönnen.

Der Opener, „Billy Jack“, lässt die Gewalt-Anklage auf souveränen Modern-Soul-Patterns schwingen; „Blue Monday People“ ist eine zarte sozialistische Liebeserklärung: „But when cupboards are bare/ Our love we can share.“ „Inkohärent“, urteilte Robert Christgau seinerzeit in der „Village Voice“. Ein Irrtum.

FOTO: GILLES PETARD / KONTRIBUTOR

GUIDE

Curtis Mayfield

Reviews

BUCH „I’m Shady“

„Nowhere To Run“

Something To Believe In 1980

Nach durchwachsenen Alben ab Mitte der 70er-Jahre und grässlichen Verirrungen im Disco-Resonanzraum gelingt Mayfield noch einmal eine sehr gute Platte, auch wenn ihr auf der B-Seite etwas die Luft ausgeht. „Love Me, Love Me Now“ ist eine achtminütige, schwelgerische Beschwörung, „Tripping Out“ ein durch spitze Bläser und Gitarrenpicking akzentuierter, sanft federnder Tanzbodenfüller. Das hübsche Cover-Gemälde zeigt einen weiblichen DJ und erinnert an Marvin Gayes „I Want You“ – beide Illustrationen stammen von dem Ex-Footballprofi und späteren Künstler Ernie Barnes.

Er malte nahezu ausschließlich Sport- und Tanzclub-Szenen.

Ergänzend

Abgesehen von der von Mayfields Sohn Todd verfassten Biografie „Traveling Soul“ und Peter Burns’ nerdiger Faktenhuberei namens „Curtis Mayfield“ gibt es leider keine profunde Biografie. Besser, man greift zu Gerri Hirsheys hervorragendem Soul-Standardwerk „Nowhere To Run“, in dem der ROLLINGSTONE-Autor zumindest ein Kapitel Mayfield, den Impressions und dem City Soul aus Chicago widmet.

Preziosen Mayfield-Produktionen und schöne Samples

Back To The World

Auf Richard Russells groß ar tigem Projekt „Everything Is Recorded“ singt Sampha mit einem Mayfield-Sample aus „The Makings Of You“ im Duett. Ein kleines Wunder, ein bezaubernder Track.

„King Kunta“

1973

Ein Akustik-Riff leitet das siebenminütige Überstück des Albums ein, eine für Mayfield typische soziale Anklage, voller Empathie für die Unterprivilegierten, featuring funky Gitarre, schwelgendes Orchester und treibende Percussions: „Right On For The Darkness“.

Mayfields drittes reguläres Soloalbum beheimatet weitere Highlights, wie das federnde „Future Shock“ oder das zart perlende „Keep On Trippin’“.

Allein es fehlt die Dringlichkeit des Anfangs.

Ein herrlicher Soul-Stomper, 1972 von Mayfield für Patti Jos girlishes Falsett auf die Stimmbänder produziert.

„Cool Out“

Schwach

1968

FOTO: RICHARD E. AARON/REDFERNS

„Ain’t No Love Lost“

„Close But Not Quite“

The Impressions This Is My Country Das Album, auf dem Mayfields Impressions mit mit ihren Doo-Wop-inspirierten Harmonien brechen, Bläser und Streicher einsetzen und sozialkritischere Töne anschlagen. „They Don’t Know“ ist ein politisches Statement und macht den Anfang, aber natürlich ist auch für Schmachter wie das mit Donny Hathaway komponierte und in einem Streicher-BläserBett schwelgende „Gone Away“ Platz. Der Wert der Impressions ist kaum hoch genug einzuschätzen, sie setzten Maßstäbe im Harmonie-Gesang, Maßstäbe in politischer Awareness. Und natürlich ist „This Is My Country“ mehr als eine Ergänzung.

Eminem schnappt sich nicht nur den markanten Basslauf aus „Pusherman“, er ahmt auch Mayfield Phrasierung im Refrain nach – wie ein geweißelter Abzählreim.

Do It All Night 1978

Klar, sechs sauber produzierte Disco-Tracks, da gibt es schlechtere. „No Goodbyes“ ist nice, „You Are, You Are“, das Mayfield ursprünglich für Linda Clifford schrieb, auch. Er schlägt sich wacker, und dennoch ist hörbar, dass dies nicht sein Sound, nicht seine Welt ist. So entsteht ein mediokrer Schwof, weit entfernt von der Klasse, die Mayfield sonst zeigt. Nicht sein einziges schwaches Album der für ihn tragischen Disco-Ära. Ein Jahr später, 1979, mit „Heartbeat“, findet er zurück in seine Spur.

Kendrick Lamar nutzt auf seinem Königstrack „King Kunta“ den Basslauf aus „Kung Fu“, dem Highlight auf Mayfields vierten Soloalbum, „Sweet Exorcist“.

„Astounded“

Wie der Name sagt: ein FrüherMorgen-Instrumental, geschrieben für Leroy Hutson, seinen Nachfolger bei den Impressions. Hutson singt normalerweise, seine Alben sind durchweg empfehlenswert.

„Hard Times“ Baby Huey war einer der begabtesten Schützlinge auf Mayfields Curtom-Label. „Hard Times“ ist der beste Song auf Hueys einzigem Album vor seinem frühen Tod.

„This Is What Is Happening Now“

James Di Salvio alias Bran Van 3000 kreuzt hier „Move On Up“ mit den Doobie Brothers. Ergebnis: ein schmissiger Tanzflächenkracher.

Hach, Sozialrealismus, der in schönsten Mayfield-Grooves schwelgt! Die Natural Four wurden von Mayfields Lehrling Leroy Hutson 1974 für Curtom Records produziert.

„Jesus Walks“

„The Girl I Love“

Der Erleuchtete aka Kanye West bedient sich bei „If There’s A Hell Below We’re All Going To Go“. Nicht leicht zu identifizieren, aber passend.

Schöner, klassischer, aufmunternder Harmony-Soul, von Curtis butterweich produziert für seine Nachbarn, die Five Stairsteps aus Chicago.

New World Order 1996

„We The People Who Are Darker Than Blue“ hätte die Synthie-Überarbeitung nicht gebraucht. Ansonsten ist Curtis’ letztes Album, das er im Bett liegend einsang, ein bewegendes Dokument.

Mitunter hart am Kitsch segelnd („Back To Living Again“), aber oft genug zeigen sich trotz gnadenlos polierter Produk tion noch einmal seine Balladenkunst und sein politisch wacher Geist.

Eine Rezension des im vergangen Jahr veröffentlichten Box-Sets der ersten vier Solo-Alben finden Sie auf rollingstone.de

Mayfield vorm Studio 54, 1977

Rolling Stone | April 2020 | 103

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Konzerte ALTE SCHULE MIT 26 Der Schweizer Sänger Faber zeigt sich als früh gereifter Krawallcharmeur Von RALF NIEMCZYK

Porno-Tourette-Syndrom hingegen Prügel bezogen, diagnostiziert werden Trieb­täter-Anwandlungen und Ähnliches. Der Meister selbst verweist auf das „lyrische Ich“ und erklärt, dass er halt mit fiesen Texten die Perspektive von fiesen Typen einnehme. Ansonsten Scheiß drauf. Kunst soll polarisieren, sagt er. Krasse Geschichten halt wie im HipHop, die Faber ins sonst eher brave Milieu der Singer und Songwriter überführt.

Vor vier Jahren bestritt er einen Berliner Testauftritt vor ein paar Dutzend Studenten noch als klampfender Kauz. Ein junger Hippietyp, begleitet von Schlagzeuger und Songschreiber Tillmann Ostendarp, der zwischendurch Posaune spielte und seine Bassdrum auf Socken bearbeitete.

Seither ist aus Faber ein Provo-Poet geworden, der gerade mächtig abräumt –

seine laufende Tour durch die mittelgroßen Hallen ist ausverkauft.

Das Foto auf seinem aktuellen Album, „I Fucking Love My Life“, zeigt ihn als Entertainer in einem Las-VegasBademantel. Ein Hauch von Halbwelt in verwaschenen Farben. Alte Schule, mit Ende 26. Auf der Bühne trägt er einen perlweißen Anzug, und wenn man von den Donots- und Feine-­ Sahne-Fischfilet-T-Shirts des Mitte/Ende-ZwanzigerPubli­kums absieht, entspricht die Live-Optik der Atmosphäre des Albumcovers: mit Vorhang, einem Spalier aus roten Nelken,

Faber Leipzig, Haus am Auensee

Lichtern und Projektionen.

Weder Indie-Anorak noch Rocker-Show. Der musi­ kalische Verweis auf Fabers italienischen Background gibt den Swing für den LiveAbend vor. Rhythm’n’Folk zwischen Ballade und Tanzbein. Die im bläulichen Halbdunkel wie geölt aufspielende Begleitband, die Goran Koc Y Vocalist Orkes­ tar Band, darf zeigen, dass sie weit mehr kann als nur Balkan-Blaskapellenmusik, zu der es sich prächtig ­hüpfen lässt.

Wenn Faber als Leadgi­ tarrist neue Songs wie „Es könnte schöner sein“ oder „Das Leben sei nur eine Zahl“ vorträgt, wird deutlich, wie er mit seiner Crew an den Arrangements gefeilt hat. Streckenweise fühlt man sich wie beim Can­zone-­ Festival in San Remo. Das Entertainertum führt ihn aus der kreativen Falle, auf Dauer die nackte Stim-

104 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

mungskanone geben zu müssen. Noch ist der Weg zum Leonard Cohen vom Zürisee recht weit, und das Karacho-Level – schließlich ist Faber damit groß geworden – wird weiterhin gern bedient, etwa wenn zu „Generation YouPorn“ die Posaune schmettert. „Es ist so schön, kannst du die Welt so gut verstehen. Ich lieg mit vier Promille im Graben – aus Versehen“, singt er mit Schmackes dazu.

In der üppigen Zugabe mit einer verfinsterten Sonne als Hintergrund-Illumination gibt es das volle Faber-­Spektrum mit viel Druckluft, etwa „Tausendfrankenlang“ als helvetische Stimmungsbombe.

Doch wirklich hängen bleibt der Absturzbar-­Gassen­ hauer „Bratislava“ oder die düstere Herzschmerz-Anklage „So soll es sein“.

In der Schwere liegt Fabers Kunst der Zukunft.

FOTO: CIHAN CAKMAK

I

ch weiß, ich mache schwierige Texte“, sagt Julian Pollina alias ­Faber in der zweiten Hälfte des Konzerts im Haus am Auensee, einem schick ­renovierten Tradtions-Ballroom im nordwestlichen Leipzig. Da ist „Das Boot ist voll“ schon durch, das Stück mit der Strophe, die eine Vergewaltigung von rechten Spießern herbeifantasierte. Nach einer ersten Veröffentlichung hat er die Zeilen letzten August, offenbar erstaunt über den eigenen Verbalkrawall, noch abgemildert. Auch „Top“ ist gelaufen, der Song, der hohlen Rapper-Materialismus und sinnlosen Konsum auf Faber-Art durchnudelt. „Mach’s wie mit einem ­Lollipop. Dann kauf ich dir was Schönes bei Topshop“, hoppelt es im gedrosselten Tempo durch den Saal. Zu „Baby, schau mich an und zieh dein Top aus“ gibt es Salon-Ska mit Bläsereinsatz.

Wohlgesetzter Rhythmus, doppelbödiger Inhalt.

Krass überfordert ob der Lyrics wirkt das Publikum nicht. Der „Boot“-Song wird mit einem knappen „Nazis raus!“-Chor verabschiedet.

Man versteht sich. Von ­einigen Kritikern hat der Schweizer für sein latentes

Sleater-Kinney Berlin, Astra

T

he center won’t hold“ heißt das aktuelle Album von Sleater-Kinney. Ein bezeichnender Titel für ein Werk, dessentwegen Schlagzeugerin Janet Weiss die Band aus dem pazifischen Nordwesten der USA verließ. So hatte Weiss’ energisches, stoisches Spiel eine zentrierende Funktion für die ausladenderen Arrangements der beiden Gitarristinnen und Sängerinnen Carrie Brownstein und Corin Tucker, deren Post-Punk-Wurzeln dabei aber nie verdeckt wurden.

Doch unter der Produktion von Annie Clark alias St. Vincent ist „The Center Won’t Hold“ in düstere Elektronik-Welten gerutscht, in denen Weiss sich nach eigenen Angaben nicht mehr wiederfand. Darum saß beim Auftakt der Europa-Tournee, den Sleater-Kinney im Astra zu Berlin-Friedrichshain absolvierten, die Drummerin Angie Boylan an den

Der Nino aus Wien

Hamburg, Elbphilharmonie, Kleiner Saal

FOTOS: ROLAND OWSNITZKI, DANIEL DITTUS

G

anz wien in der elbphilharmonie: Mit melancho­ lischen Liedermachern, Schram­melmusik und Grünem Veltliner beschwört ein dreitägiges Fes­ tival ein nostalgisch beschwipstes Lebens­gefühl, das in der Donaustadt selbst langsam verblasst. Gentrifi­ zierung, Selbstoptimierung und Gesund­heitsbewusstsein sind auch in Wien auf dem Vormarsch; der gepflegte Rausch in einem gemütlichen Tschocherl oder Beisl interessiert nur noch die Hardcore-Boheme. Seit letztem November diszipliniert auch noch ein Rauchverbot die letzten verbliebenen Kaffeehaus-Philosophen, eine Tatsache, die Nino Mandl alias

Fellen, während Katie Harkin Gitarre spielte und Toko Yasuda Keyboard.

So lag der Fokus auf Brownstein und Tucker, die die Band Anfang der Neunziger gründeten und, nachdem Weiss für das dritte Album, „Dig Me Out“, dazugestoßen war, aus der Riot-­Grrrl-Szene heraus einem breiteren Publikum zuführten. Während der neunjährigen Pause, die Sleater-

Kinney ab 2006 einlegten, wurde Brownstein mit der Hipster-ComedySerie „Portlandia“ bekannt und erschloss sich ein neues Publikum. So wirkte die Band beim Berliner Konzert selbstsicherer denn je, Brownsteins und Tuckers dualer BansheeGesang resonierte nachdrücklich, gerade auch bei neuerem Material wie dem tollen Endzeitdisco-Stück

Der Nino aus Wien bei seinem Konzert am letzten Festivaltag natürlich nicht unerwähnt lässt. Die meisten seiner Lieder sind durchdrungen von einem Lebensgefühl, das nicht hip ist und cool, sondern weit in der Tradition zurückreicht. Roots-Music mit wienerischen Zungenschlag, wo launiger Schmäh auf literarische Me­ lancholie trifft. „Meist gelingt’s nicht ganz. Aber manchmal fast“, singt er lebensmüde in „Bevor du schläfst“ und hat dabei ein Schulbubenlächeln im Gesicht, das spöttisch wirkt, aber auch freundlich und zugewandt.

Vor fünf Jahren wollte man den Antihelden als Stimme Österreichs zum ESC schicken. Die Verantwortlichen beim ORF waren dazu bereit, bekannt genug ist er ja. Doch der Nino winkte ab – zu viel Stress, zu viele Regeln, und rauchen hätte er bei der Megashow auch nicht dürfen.

Wie er sich jetzt wohl fühlt, auf der Bühne des kleinen Saals der Elbphilharmonie, einem betont nüchternen Ort, wo üblicherweise Jazz-, Klassikund gehobene Elektronik-Konzerte zelebriert werden? Anders als in den verbliebenen Wiener Beisln folgt man hier pedantisch genauen Regeln. Als eine Zuschauerin es etwa wagt, vor Konzertbeginn ein Programmheft auf dem Bühnenrand abzulegen, wird sie umgehend von einem Ordner gerügt Doch das alles ist vergessen, als die Band mit „Überall ist das Meer“ eine

Hymne mit präzisem Chorgesang a­nstimmt, die die Liebe der Musiker zu melodischen Sixties-Hooks offenbart. Anders als Voodoo Jürgens, mit dem er das herrlich delirierende „Hansi da Boxer“ aufgenommen hat, singt Mandl nicht alle Songs in breitem Wienerisch, sondern nur die, bei denen es passt. Zum Beispiel ­„Un­entschieden gegen Ried“, einen ­Fuß­ball-Song ohne Grölrefrain, der dafür aber das Herz des enttäuschten Rapid-­Wien-Fans Nino nach außen stülpt: „Oba jetzt hob i gnuag, oba jetzt hob i gnuag von dem Eierkick.

Do bleib i liaba zhaus und sauf.“ Das ist volkstümlich, aber auf eine popkulturell informierte Weise, die man in Deutschland so nicht findet. Weil da immer auch die Liebe zu Syd ­Barrett oder den Kinks durchklingt.

Noch größer ist nur die Begeisterung für Bob Dylan, dessen „Simple Twist Of Fate“ mit neuem Text zu einem berührend desillusionierten „Der Mai ist vorbei“ wird.

Herrlich wienerisch ist die schunkelnde, perfekt mehrstimmig in ­Rollen gesungene Quatschnummer „Schlagoberskoch“. Da toben selbst die kühlen Hanseaten in ihren Sitzen. Und als in der Zugabe noch die charmante Natalie Ofenböck zum Duett „Hallo“ auf die Bühne kommt, scheint Wien tatsächlich in Hamburg angekommen zu sein. Leiwand wors, doch wegen der Location gibt’s an halben Punkt Abzug. JÜRGEN ZIEMER

„Hurry On Home“ oder dem eingangs gespielten Titellied des aktuellen Albums, dessen schwere Elektronik nach hinten hinaus in klassisches Grunge-Gethrashe ausuferte.

Natürlich war auch viel altes Material dabei, das herzbrechende „One More Hour“ vom dritten Album etwa oder das nicht minder bewegende und zugleich ebenso dringlich wie 1997 rockende „Dig Me Out“ – übrigens direkt nach einer Coverversion von „Angst In My Pants“ von den Sparks.

Genau diese nervöse Angst und die daraus resultierende Flucht nach vorn war es, mit der Sleater-Kinney sich damals aus der Repression der Männerdomäne Rockmusik befreiten und damit zahllose Künstlerinnen inspirierten. Viel haben sie dazu beigetragen, den reduktionistischsexistischen Begriff der Frauenband obsolet zu machen. Sleater-Kinney, mit Brownstein als sternschlagender Gitarrengöttin, waren im Astra jedenfalls einfach eine ganz große Rockband.

JOHANNES VON WEIZSÄCKER

Rolling Stone | April 2020 | 105

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Vorschau

RS PRÄSENTIERT

James Hunter Six Das britische Rhythm‑&Soul-Sextett um Bandleader

Deichkind

Hunter wird bei seinen fünf Auftritten für ein prall ­gefülltes Tanzparkett sorgen. fourartists.com 05.05. Köln, Luxor 06.05. Hamburg, Mojo Club 07.05. Berlin, Columbia Theater 09.05. München, Technikum 11.05. Frankfurt, Zoom

Jeb Loy Nichols Zwischen Country, Folk und Soul schwelgt Nichols’ ganz eigener Sound schon seit zwei Dekaden. schoneberg.de 18.04. CH-Basel, Atlantis 20.04. München, Polka 21.04. Hamburg, Nochtwache 22.04. Mainz, Schon Schön 24.04. Schorndorf, Manufaktur

Hurricane & Southside

25.04. Köln, Freedom Sounds Festival @ Essigfabrik 26.04. Münster, Fachwerk Gievenbeck

Das Doppelfestival mit Kings Of Leon, Rise Against, Seeed, The Killers, Deichkind, The 1975, Thees ­Uhlmann, LP und vielen a ­ nderen. fkpscorpio.com

27.04. Berlin, Kantine am Berghain 28.04. Bremen, Schlachthof

Kim Gordon Die Sonic-Youth-Bassistin/

Cat Power

-Sängerin auf ihrer ersten

Paul Weller

Bon Iver

Ob der Modfather hier

Singer-Songwriter Justin Vernon und seine Band führt es im April und dann wieder im November zu uns. schoneberg.de & buddetalentagency.com *

­bereits Songs seines für Juni

Headliner-Solo-Tournee.

angekündigten Albums,

mct-agentur.com/de

„On Sunset“, vorstellen wird? fkpscorpio.com

08.06. Berlin, Astra 09.06. Köln, Gloria

26.05. Hamburg, Docks

Caribou

27.05. Berlin, Huxleys

20.04. Berlin,

28.05. Köln, Live Music Hall

Mercedes-Benz Arena

30.05. Frankfurt, Batschkapp

07.11. Köln, Lanxess Arena *

Die Bühnenrückkehr des kanadischen Electro-­ Fachmanns, der bürgerlich

Cat Power

Bryan Ferry

Crowded House

auf den Namen Daniel

Der Sound des amerikanischen Südens – und damit Blues, Folk, Soul, Country und Gospel – bestimmt das Repertoire der Sängerin aus Atlanta. btalive.com

Der ewige Dandy und Roxy-

Nachdem Neil Finn bei

28.04. Köln, E-Werk

01.06. Hamburg, Docks

01.08. Schwetzingen,

23.06. Berlin, Tempodrom

15.08. Berlin, Zitadelle

02.06. Berlin, Tempodrom

Schlossgarten

24.06. Köln, Live Music Hall

­Victor Snaith hört. ­schoneberg.de 21.04. Hamburg, Große Freiheit 36 25.04. München, Muffathalle

Music-Gründer präsentiert live abermals eine packende

Fleetwood Mac als Gitarrist ausgeholfen hat, steht

Werkschau. wizpro.com

er wieder mit seiner

28.07. Köln, Roncalli Platz

­fkpscorpio.com

Band im Rampenlicht.

30.07. Salem, Schloss

106 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

10.11. München, Zenith *

FOTOS: FELIX STROSETZKI, FRANK HOENSCH/REDFERNS VIA GETTY IMAGES, PROMO

19.06. bis 21.06., Scheeßel und Neuhausen ob Eck

Dope Lemon

Tindersticks

Als Dope Lemon darf Angus

Die Begleittour zum elften

Nick Cave & The Bad Seeds

Stone – ohne Schwester

Album, „No Treasures

Julia – ungeniert den Blues-

But Hope“, führt die Kam-

Caves Alterssiegeszug ist

Slacker raushängen lassen.

mermusiker unter den

fkpscorpio.com

Gitarrenpop-Bands erneut an höchst exklusive

08.06. Frankfurt, Batschkapp 10.06. Berlin, Metropol 11.06. Düsseldorf, Zakk

Spielorte. schoneberg.de

Pearl Jam Die Single „Dance Of The Clair voyants“ des elften Pearl-JamAlbums, „Gigaton“, stellte musikalisches Experiment in Aussicht.

Live bleiben die Grunge-Überlebenden eine Bank. mct-agentur.com

unaufhaltsam, wie stetig größere Spielstätten belegen. fkpscorpio.com 17.05. Köln, Lanxess Arena 18.05. Hamburg,

18.04. Bochum,

Barclaycard Arena

Schauspielhaus

27.05. Berlin,

19.04. München,

Mercedes-Benz-Arena

Prinzregententheater

06.06. München,

20.04. Hamburg, Laeiszhalle

Olympiahalle

23.06. Frankfurt, Festhalle 25.06. Berlin, Waldbühne

Orange Blossom Special 24

Kevin Morby

„Das beste kleine Open-

Morby mit Rockband-

Auf dieser Tournee tritt

Air-Festival der Welt“ geht

Begleitung auf. puschen.net

Nach einem exklusiven

dabei: Thees Uhlmann,

30.06. Köln, Luxor

DeWolff, Husten u. a.

2018 beehrt uns Beck

06.07. Schorndorf,

orangeblossomspecial.de

Manufaktur

Hansen erneut live. kj.de

in seine 24. Runde Mit

Nadia Reid Die neuseeländische SingerSongwriterin veröffentlicht am 6. März ihr drittes Album, „Out Of My Province“.

Beck Hamburger Einzelkonzert

07.07. Nürnberg, Z-Bau

17.06. Stuttgart,

29.05. bis 31.05. Beverungen,

08.07. Berlin,

Liederhalle/Beethovensaal

Glitterhouse Garten

Columbia Theater

23.06. München, Zenith

puschen.net 20.04. Hamburg, Aalhaus 21.04. Berlin, Roter Salon/Volksbühne 22.04. Jena, Trafo

Nick Mason’s Saucerful Of Secrets Der Pink-Floyd-Schlagzeuger widmet sich hier vornehmlich dem Frühwerk der Band. prknet.de 20.05. Freiburg, Konzerthaus 24.05. Nürnberg, Meistersingerhalle 28.05. Frankfurt, Jahrhunderthalle 30.05. Münster, Halle Münsterland 02.06. Hamburg, Laeiszhalle 03.06. Berlin, Tempodrom

26.04. München, Glockenbachwerkstatt

Moka Efti Orchestra

Drive-By Truckers

Die tolle Musik von „Babylon Berlin“ als Bühnenerlebnis! fkpscorpio.com

Southern Rock muss inhaltlich keineswegs reaktionär sein. fkpscorpio.com

27.03. Berlin, Metropol 05.06. bis 06.06.

Hamburg, Elbjazz 17.07. Erlangen, Kulturinsel Wöhrmühle 18.07. Freiburg, ZMF 06.09. Altenkirchen, Spiegelzelt 03.12. Berlin, Huxleys

09.06. Köln, Kantine 11.06. Berlin, Kesselhaus

High South Satzgesang und WestcoastFlair zeichnen das

FOTOS: PROMO (2), KEVIN MAZUR/WIREIMAGE

US-Trio aus. soulshine.at 27.03. Freiburg, Jazzhaus 28.03. Isernhagen,

Destroyer

Joan As Police Woman

Blues Garage 02.04. Tübingen, Sudhaus 03.04. CH-Luzern, Schweizerhof 04.04. A-St. Gallenkirch, Bergstation 05.03. A-Jerzens,

In Trio-Besetzung und ohne störendes Vorprogramm präsentiert die Sängerin Songs ihres aktuellen Albums „Cover Two“ – und darüber hinaus. listencollective.com 26.05. München, Technikum // 27.05. Hamburg, Elbphilharmonie 06.06. Berlin, Passionskirche

Hochzeiger

Die Indie-Band um Sänger Dan Bejar beehrt uns im Frühjahr wieder für vier Konzerte. puschen.net 21.04. Nürnberg, Z-Bau 24.04 Berlin, Bi Nuu 25.04. Leipzig, UT Connewitz 02.05. Schorndorf, Manufaktur

Rolling Stone | April 2020 | 107

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Film EIN EHRLICHES LEBEN Burhan Qurbanis modernisierter Franz Biberkopf scheitert auf hohem Niveau Von JENS BALZER

E

Welket Bunguê als Francis/Franz

ner Fassbinder 1980 in seiner epochalen Verfilmung des Buchs. Francis wird also bald in Franz umgetauft, nach Franz Biberkopf aus der Vorlage, und er bemüht sich in einer gattungsgerecht in fünf Akte unterteilten Tragödie, im Moloch der Großstadt sowie in der Unter- und Halbwelt der dar­in um ihr Überleben kämpfenden Bevölkerungsschicht ein ehrliches und anständiges Leben zu führen. Doch wie Döblin-Leser wissen – und wie es Franz’ spätere Geliebte Mieze dem Kinozuschauer gleich zu Beginn als Erzählerin aus dem Off erklärt –, wird all seinen Versuchen kein Glück und kein Erfolg ­beschieden sein.

Dabei gibt Franz sich Mühe. So widersteht er zunächst den Versuchen des Drogengroßhändlers Reinhold, ihn als Kleindealer für den Betrieb in der

Neuköllner Hasenheide zu engagieren, und arbeitet stattdessen als illegale ­Hilfskraft auf einer U-BahnBaustelle am Roten Rathaus. Doch weil er sich dort gegen die menschenver­ achtenden Arbeitsbedingungen zur Wehr setzt, steht er bald schon erneut auf der Straße.

Er heuert also doch bei Reinhold an und steigt schnell zu dessen begabtestem Mitarbeiter auf. Er gewinnt Kontakte ins Berliner Nachtleben und beginnt – nach dem nächsten Schicksalsschlag, im dritten Teil

Berlin Alexanderplatz Welket Bunguê, Jella Haase Regie: Burhan Qurbani Start: 16.4.

der Tragödie – eine Liebesgeschichte mit der Edelprostituierten Mieze. In märchenhaften Passagen des Aufstiegs kommt er zu Geld, Anerkennung und ­Status. Reinhold, der ihn, wie er selbst es formuliert, von der Straße aufgekratzt hat, versucht ihn zwischenzeitig zu töten, wird dann so etwas wie sein bester Freund und setzt schließlich wieder alles daran, Franz’ Liebes- und Lebensglück zu zerstören. Am Ende hat Franz alles ver­ loren – fast.

Burhan Qurbani will vom Elend des Flüchtlingsdaseins erzählen und vom Schicksal auch anderer Menschen, die unter dem Radar der bürgerlichen Öffentlichkeit existieren. Dass er dies nicht in sozialrealistischer Weise versucht, sondern in einer parabelhaften Überblendung der Gegenwart mit Döblins literari-

108 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

scher Vorlage, ist interessant und ambitioniert. Doch führt dieses Verfahren zu einer sonderbaren Verschwommenheit: Der Film schwankt in wenig kalkuliert wirkender Weise zwischen Realismus, Verfremdung und Überhöhung, und nur selten – wie in der Anfangssequenz – gelingt es ihm, die Bilder wirklich einmal scharfzustellen. Erschwerend kommen die schwachen Leistungen der Hauptdarsteller hinzu: Welket Bunguê als Franz und Jella Haase als Mieze bilden kein Liebespaar und bleiben auch jeweils für sich leider blass. Lediglich Albrecht Schuch spielt seinen Reinhold mit jener Ambivalenz aus Stilisierung und Psychologie, die Qurbanis künstlerischem Versuch entspricht, das Unscheinbare und Alltägliche durch Überhöhung zur Kenntlichkeit zu entstellen.

FOTO: 2019 SOMMERHAUS/EONE GERMANY

s gibt starke Bilder in diesem Film, sie kommen gleich zu Beginn, es sind albtraumhafte Sequenzen, deren Realismus sich tief in die Netzhaut und ins Gehör brennt.

Zu dem unirdisch schönen, verletzten, sehnenden, wund klingenden Song „Piel“ des venezolanischen Schmerzensgroßmanns Arca sieht man den aus ­Guinea-Bissau kommenden Flüchtling Francis beim Kampf mit den Wellen des Mittelmeers. Am Ende liegt er, knapp dem Tode ent­ ronnen, an einem euro­pä­ ischen Strand. Seine Ge­ liebte, die ihn begleitete, ist ertrunken, und für Francis beginnt ein neues Leben in einer fremden Welt und in einer Rolle, die ihm fremd bleiben muss, obwohl (oder gerade weil) sie ihm doch übergestreift wird, um sein Schicksal größer und allgemeinmenschlicher erscheinen zu lassen.

Francis landet in einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin, und er schlägt sich in Burhan Qurbanis Film „Berlin Alexanderplatz“ nun drei Stunden lang durch jene Geschichte, die Alfred Döblin 1929 in seinem gleichnamigen Roman ­erzählt hat und Rainer Wer-

FOTO: 019 PROKINO FILMVERLEIH GMBH, SCHRAMM FILM/ MARCO KRÜGER, WELTKINO, TOBIS/ECLAIRPLAY.COM, STUDIOCANAL GMBH/ LAURIE SPARHAM

Jean Seberg

Undine

Kristen Stewart, Anthony Mackie Regie: Benedict Andrews / Start: 26.3.

Paula Beer, Franz Rogowski Regie: Christian Petzold / Start: 26.3.

Als der Regisseur Otto Preminger im Jahr 1957 „Die heilige Johanna“ drehte, erfassten die Flammen in der Scheiterhaufen-Szene die Hauptdarstellerin Jean Seberg und verletzten sie schwer. Sebergs Schreie gellten panisch. Diese Sequenz eines authentischen Schmerzes steht nun am Beginn von Benedict Andrews’ Spielfilm „Jean Seberg – Against All Enemies“, und man kann nicht umhin, die mehrfache Spiegelung in diesem Anfang zu bemerken: Ein Star – nämlich Kristen Stewart – verkörpert hier eine Starschauspielerin – Jean Seberg –, die wiederum eine Heilige – Johanna von Orléans – verkörpert. In der Folge setzt der australische Theater- und Filmregisseur Andrews tatsächlich immer ­w ieder Spiegel ein, in denen das Bild Sebergs erscheint.

Die 1938 in Iowa geborene Jean Seberg wurde zwar durch ihre Rollen in Filmen wie „Außer Atem“ eine Ikone der Nouvelle Vague, doch im Gedächtnis der Nachwelt nimmt sie weniger Raum ein als die Hollywood­ diven ihrer Generation. Dabei sorgte sie ab Ende der Sechziger auch durch ihr Engagement für die Black Panthers für Schlagzeilen. Diese Parteinahme und deren Folgen stehen im Mittelpunkt des Films, der in seiner Darstellung leider plakativ verfährt.

Da wird Gut und Böse fein säuberlich auseinandergehalten, nachdem Seberg durch ihre großzügigen Geld-

Nach seinen jüngsten politisch-his­ torischen Arbeiten hat sich der Ber­ liner Regisseur Christian Petzold jetzt auf die Spuren der deutschen Romantik begeben. Mit seinem neuen Film „Undine“ taucht er tief in die Wellen der Liebe ein. Seine Titelfigur lebt als Stadthistorikerin in Berlin.

Frisch verlassen, trifft sie den Industrietaucher Christoph, und ihr ge­ brochenes Herz beginnt dank seiner neuen Liebe zu heilen. Anfangs scheint das Glück ihnen hold, doch ein dunkler Schwur aus Undines ­Vergangenheit holt sie wieder ein …

Im klassischen Sagenstoff bringt die Nymphe Undine dem untreuen Mann den Tod. Sehr viel mehr Handlung fügt auch Petzold seiner modernen Version nicht hinzu: Undine steht zwischen zwei Männern und versucht ihr Schicksal abzuwenden.

spenden an die Black Panthers und ihre Affäre mit dem BP-Aktivisten Hakim Jamal (Anthony Mackie) ins Visier des FBI gerät. Ihre Motivation bleibt zumal unklar: Dass sie die Black Panthers unterstützt, wirkt wie eine rein spontane Entscheidung, und dass sie diese Unterstützung ­ungeachtet des ungeheuren Drucks seitens des FBI aufrechterhält, erscheint dann wie schlichter Trotz.

Aber etwas mehr wird doch wohl dabei gewesen sein!

Kristen Stewart wird indes eine Bühne gebaut. Sie darf androgyn, tollkühn, zerbrechlich und glamourös sein. Nur widersprüchlich sein – das darf sie nicht.

ANKE WESTPHAL

Schlingensief

Christoph Schlingensief, Udo Kier Regie: Bettina Böhler / Start: 2.4.

Zu Beginn dieses aus unzähligen ­Ausschnitten von Filmen, Bühnenstücken, Aktionen und Fernsehauftritten montierten Memoirs malt Christoph Schlingensief seine Lebenslinie auf, und Bettina Böhler zeichnet diese in ihrer großartigen Dokumentation dann anhand seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit Deutschland nach. Hinter dem Künstler wird dabei der Mensch sichtbar, dessen Motiv nicht die Provokation war, sondern die Obsession, das Schweigen über die Abgründe seiner Zeit zu beenden. Zehn Jahre nach Schlingensiefs Tod feiert dieser Film sein Leben und zeigt, wie sehr ein solch kompromissloser Streiter für die Freiheit der Kunst heute fehlt.

Radioactivity

Rosamund Pike, Sam Riley Regie: Marjane Satrapi / Start: 9.4.

Marie Curie ist eine der bedeutendsten Forscherinnen aller Zeiten. Seltsamerweise spielt die Wissenschaft in Filmen über sie jedoch kaum eine Rolle. Zuletzt hatte die Französin Marie Noëlle sich an einem Biopic versucht und dabei mehr nackte Haut als wissenschaftlichen Forscherdrang gezeigt. Diesen Fehler wiederholt die Comic-Künstlerin und Filmemacherin Marjane Satrapi nicht.

Sie zeigt Curie als leidenschaftliche ­Wissenschaftlerin, die sich in ihrem Forscherdrang nicht aufhalten lassen wollte. Im Gegenteil, nicht selten hat sie selbst ihre größten Förderer brüsk vor den Kopf gestoßen.

Die Handlung orientiert sich an den biografischen Wegmarken der Marie Skłodowska Curie: die Begegnung mit Pierre Curie; ihre gemeinsame Arbeit, die in die Entdeckung der Radioaktivität mündet und mit dem Physiknobelpreis gewürdigt

THOMAS HUMMITZSCH

Aber Petzold versteht es, solche kleinen Geschichten kraftvoll und emotional dicht zu erzählen. Melancholie ist hier stets präsent, über der jungen Liebe liegt ein morbider Schleier des Verfalls. Zudem erlaubt sich der Film märchenhafte Züge: Das erste Kennenlernen von Undine und Christoph in der Flutwelle eines zerberstenden Aquariums hat Anwandlungen von romantischer Comedy, dem Märchen der Neuzeit.

Trotz der Orientierung an der romantischen Sagenwelt fügt sich der Film nahtlos in Petzolds Gesamtwerk ein, denn seine Figuren waren schon immer von flirrender Poesie getrieben und der Realität leicht entrückt.

Auch Paula Beer gleitet mit abwesend-verträumtem Blick durch das Geschehen, das Wissen um die Unausweichlichkeit ihres Schicksals vor sich hertragend und um Selbstbestimmung kämpfend. Für ihr intensives Spiel wurde sie auf der Berlinale als beste Darstellerin ausgezeichnet.

Zwar fehlt dem Film durch den bewusst märchenhaften Ansatz die überraschende Reibung von Poesie und Realität (wie man sie zuletzt zum Beispiel bei „Transit“ sah), aber dennoch nimmt Petzold den klassischen Stoff auf betörende Weise mit in den CORNELIS HÄHNEL Alltag.

Vergiftete Wahrheit

Mark Ruffalo, Anne Hathaway Regie: Todd Haynes / Start: 16.4.

Robert Bilott verteidigt als Firmen­ anwalt erfolgreich Großkonzerne ­gegen lästige Kläger – bis er eines Tages bei seinen Recherchen auf einen ­u n­fassbaren Umweltskandal stößt.

Demnach hat der US-amerikanische Konzern DuPont die Bevölkerung jahr­zehntelang wissentlich vergiftet.

Kann nicht sein? Doch, Nathaniel Rich hat in der „New York Times“ dar­

über geschrieben. Todd Haynes („Carol“, „I’m Not There“) hat nun einen wichtigen Film über den fast 20-jährigen Rechtsstreit gedreht. Er zeigt eindrucksvoll, wie ein ehrgei­ziger Wirtschaftsanwalt – großartig gespielt von Mark Ruffalo („Spotlight“) – zu einem glühenden Aktivisten wird, weil das System den Konzernen hilft und nicht den Menschen.

TH

wird; die Geburt ihrer beiden Töchter, der tragische Unfalltod von Pierre Curie, ihre Affäre mit Paul Lange­v in, die erneute Auszeichnung in Stockholm 15 Jahre nach dem ersten Nobelpreis und schließlich ihr Engagement für den Einsatz von Röntgenunter­ suchungen an den Verletzten des ­Ersten Weltkriegs. Klug ist, wie Satrapi die abstrakten Forschungen visu­ alisiert: Durch Spezial­effekte macht der Film den magischen Moment einer Neuentdeckung ebenso sichtbar, wie er das simple Handwerk der Vorarbeiten zeigt.

Zugleich begnügt sich Satrapi nicht mit Curies Wissenschafts- und Lebensgeschichte, sondern reflektiert auch die Konsequenzen ihrer Forschung. Hat die Entdeckung der Radioaktivität die Menschheit vorang­ ebracht oder ihr vor allem geschadet?

Immer dann, wenn Marie Curie eine verheißungsvolle Entdeckung macht, blickt der Film kurz in die Zukunft – zum Bombenabwurf über Hiroshima, zur ersten Strahlentherapie in Cleve­land oder zum atomaren SuperGAU in Tschernobyl. Denn dort führen die Geister, die die Menschheit nach Curie rief, ihren makabren Totentanz auf.

TH Rolling Stone | April 2020 | 109

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Heimkino Vater (Kyle MacLachlan) und Sohn (Josh Wiggins)

IM ZUSTAND DER SCHWEBE Ein zarter und kluger Film über sexuelle Selbstfindung in der Ära der Nichtidentität Von JENS BALZER

auf der Suche wie sie selbst.

Franky (Josh Wiggins) und Ballas (Darren Mann) sind beste Freunde und trainieren im selben Schwimmteam, zwei gut aussehende junge Männer mit schönen Freundinnen – die nach ­einer durchzechten Nacht nun aber miteinander im Bett landen, womit urplötzlich das Elend beginnt. Denn während Franky schon länger das Gefühl hatte, dass er sich nicht – oder jedenfalls nicht nur – zu Frauen hingezogen fühlt, reagiert Ballas auf die Episode mit Panik und Aggression: Er denunziert seinen Freund in der Schule als Schwuchtel.

Er sei verführt, wenn nicht gar vergewaltigt worden.

Franky ist fortan ein Paria.

Daraus könnte sich nun ein wiederum handels­ üblicher Coming-out- und Empowerment-­Film entwicklen. Aber nichts davon: Was Keith Behrman und

s­ eine herausragenden Darsteller aus dieser Konstel­ lation machen, ist überraschend und bemerkenswert.

Franky verkapselt sich erst und lehnt jede Hilfe ab – insbesondere auch die seines Vaters (Kyle MacLachlan),

Giant Little Ones Josh Wiggins, Maria Bello Regie: Keith Behrman EUROVIDEO

der die Familie einst nach seinem eigenen Coming-out verließ, um fortan mit einem Mann zusammenzuleben.

Gerade weil er ihn nun besser verstehen könnte, wehrt Franky sich zunächst gegen jedweden Kontakt. Stattdessen verbündet er sich mit Ballas’ Schwester Tash (Tayler Hickson), die gerade erst wieder zurück in die Schule gekommen ist, nachdem ­sie auf einer Party ­vergewaltigt wurde. Sie hat nicht nur trotz Therapie ein schweres Trauma zurückbehalten, sondern wird auch ­allenthalben als Schlampe verhöhnt. „Die Schwuchtel und die Schlampe – wir sind doch ein tolles Team!“, stellen sie fest, und im Folgenden entwickeln sie eine Beziehung, die ebenso zärtlich wie zurückhaltend ist, aber auch erotisch aufgeladen – ohne dass Franky durch die Hinwendung zu einem Mädchen

110 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

etwas von seiner sexuellen Selbstentdeckung zurücknähme. Auf sonderbare Weise fügt sich im Verlauf dieses sehr klugen und sehr berührenden Films alles zum Guten – aber ohne dass sich am Ende irgendjemand auf irgendetwas festlegen würde. „Giant Little Ones“ handelt vom Tumult der Gefühle und von den sozialen Repressionen, die man erleidet, wenn man sich nicht in vorgefertigte Rollenmuster fügt. Doch empfiehlt der Film als Gegenmittel nicht andere Rollenmuster, sondern eine möglichst weitgehende Befreiung aus allen Mustern. Wahre Freiheit findet sich hier im Zustand der Schwebe, und allein die sachte Präzision, mit der sich der junge Josh Wiggins in diesen ebenso utopischen wie komplizierten Zustand hineinspielt, lohnt das Anschauen dieses außergewöhnlichen Films.

FOTO: ENTERTAINMENT KOMBINAT

A

lle wollen Sex haben und denken an nichts anderes mehr. Manchen gelingt es, aber viele wissen auch noch gar nicht, wie das geht und mit wem es am besten gehen könnte, und was das im Detail eigentlich heißt: Sex. Und manche stellen bei der Suche nach einem passenden Partner für eine gelungene Kopulation plötzlich auch fest, dass sie erst einmal auf die Suche nach dem eigenen Selbst gehen sollten. So könnte man die Ausgangslage in „Giant Little Ones“ beschreiben: Keith Behrmans Film beginnt wie eine handelsübliche Teenager-Komödie, in der junge Menschen aus einem gut situierten Mittelschichtsmilieu durch dauernden Hormonüberschuss zu den aberwitzigsten Verhaltensweisen getrieben werden.

Sie knutschen auf Sofas und in Parks, sie brüsten sich mit echten oder ausgedachten Sex-Abenteuern. Und weil der Film in unserer aufgeklärten, aber zugleich romantisch komplizierten Gegenwart spielt, sind ihre frisch oder schon länger geschiedenen Eltern ebenso

SERIEN

VO N G U NTH ER REIN HARDT & ARN E WILL AN D ER

FOTO: AMAZON.COM INC.

9 Tage wach

Loveless

Jannik Schümann, Heike Makatsch Regie: Damian John Harper

Marjana Spiwak, Alexei Rosin Regie: Andrei Swjaginzew

Drogentrips gibt es in der Filmgeschichte viele, etwa in „Trainspotting“ oder „Requiem For A Dream“.

Die deutsche Produktion „9 ­ Tage wach“ beruht auf dem gleichnamigen autobiografischen Buch des Schauspielers Eric Stehfest, in dem dieser seine Crystal-Meth-Sucht und die anschließende Entzugstherapie schildert. Dem Buch wurde von der Kritik mitunter pädagogisches Potenzial zugesprochen. Bei dem vorliegenden Film lässt sich jedoch weder das noch ein nennenswerter ästhetischer Wert konstatieren.

Der 24-jährige Eric (Jannik Schümann) führt ein zielloses, mit Crystal Meth angereichertes Party-Leben, als die Zusage von einer Berliner Schauspielschule einen Ausweg aus der selbstzerstörerischen Existenz verspricht. Seine Mutter, Liane (Heike Makatsch), ermutigt ihn; der skep­ tische Stiefvater, Tilo (Benno Fürmann), meint, Eric solle sich doch besser bei der Bundeswehr verpflichten, um Disziplin zu lernen. In Berlin angekommen hat Eric Schwierig­ keiten, sich im Schauspielalltag einzubringen, und entfremdet sich zunehmend von seiner mitgereisten Freundin Anja (Peri Baumeister), die unterdessen anfängt, in einem Stripclub zu arbeiten.

Man kann hier keinerlei Versuche erkennen, über Klischees hinauszukommen. Stattdessen gibt es holzschnittartige Figuren und eine Dramaturgie, in der sich mit hoher Fre­quenz cholerische Wutausbrüche und Wahnvorstellungen mit sentimentalen Versöhnungsszenen abwechseln. Untermalt ist das Ganze mit einer stereotypen Soundkulisse aus dumpfen Beats und pathetischer Pianomusik. Auch beneidet man Schauspieler nicht, die Sätze sagen müssen wie: „Könnt ihr Eric nicht einfach lieben?“ (Liane zum Rest der Familie), oder: „Auf Crystal Meth fühle ich mich wie Jesus und Terminator gleichzeitig“ (Eric zu einem Arzt).

Einmal werden die Studenten gewarnt, dass während ihrer Ausbildung Leidensfähigkeit und Durchhaltevermögen getestet würden. Das gilt auch für das Schauen von „9 Tage wach“. (Universum) KEVIN NEUROTH

Ein Paar aus der gehobenen russischen Mittelschicht ist dabei, sich zu trennen. Beide sind etwa Ende dreißig und haben bereits neue Partner.

Die Großstadtwohnung in einer guten Gegend steht zum Verkauf. Doch da ist noch der gemeinsame Sohn: Der zwölfjährige Aljoscha weint schnell. Seine Mutter stellt das mit deutlicher Verachtung in der Stimme fest. Zwischen Zhenya (Marjana Spiwak) und ihrem Ex-Mann Boris (Alexei Rosin) fliegen die Fetzen. Das Kind passt weder in ihre noch in seine Zukunftspläne. Aljoscha (Matwei Nowikow) soll in ein Internat. Doch plötzlich ist das Kind verschwunden.

Der russische Regisseur Andrei Swjaginzew gibt in seinen Filmen („Leviathan“ u. a.) ebenso präzise wie beklemmende Zustandsbeschrei­ bungen der postsowjetischen Ge­ sellschaft. In „Loveless“ geht es um jene ethische Verwahrlosung, die virulent wird, wenn hemmungsloser Egoismus, Gleichgültigkeit und galoppierendes Selbstmitleid einen Bund im Materialismus eingehen, während die finanzielle Existenz komfortabel gesichert ist. Die Eltern, die einander mit Vorwürfen überhäufen, erscheinen nur als kleinste Zelle eines pathologischen Allgemeinbefunds. Der erstreckt sich auf Institutionen, Behörden und, wie­ der­ u m symptomatisch, die Menschen, die dort arbeiten. Die Suche nach dem Kind führt in dessen Schule, zur Polizei, zu ehrenamtlichen Suchorganisationen, in Krankenhäuser und zuletzt ins Leichenschauhaus (wo sich Aljoscha nicht findet).

Die Oberflächen sind glatt, modern und sogar schick in dieser eindrucksvollen Regiearbeit, die Farben klar und kühl (Kamera: Michail Kritsch­man). Dass die Schnee- und Eislandschaft zu Beginn des Films auch die innere Verfasstheit der erwachsenen Figuren meint, erkennt man bald, aber Andrei Swjaginzew, der hier Ingmar Bergman alle Ehre macht, begnügt sich nicht mit dieser Metapher einer Lieblosigkeit, die von Generation zu Generation weiter­ gegeben wird – er macht seinen gesamten Film zu einem stummen Schrei. (­Alpenrepublik) ANKE WESTPHAL

„Hunters“

Hunters – Staffel 1

Logan Lerman, Al Pacino, Jerrika Hinton Die Chemikerin Gretel Fischer, die erst für Hitler tödliches Gift erfand und dann der NASA half, auf dem Mond zu ­landen, liegt vergast in ihrer Luxusdusche in Cape Canaveral. Heinz Richter, der einst als KZ-Aufseher Juden zwang, sich bei bestialischen Schachspielen gegenseitig zu töten, wird erstochen in seinem Spielzeugladen in New York gefunden. Wer steckt dahinter? Der Mossad?

Die Sowjets? Die CIA? „Nein, ich arbeite für mich selbst“, sagt Meyer Offerman (Al Pacino), „und für meine sechs Millionen Klienten.“ Die ­Serie „Hunters“ erzählt von Offermans schrillem Rächertrupp, der in den 70er-Jahren Jagd auf die Nazimonster macht, die in den USA ihr Viertes Reich aufbauen wollen. Klingt nach Trash? Ja, aber „Hunters“ ist groß­ artig erzählter und besetzter, wunderbar Kostümfundus und Requisitenkammer durchwühlender Pulp-Fiction-Trash. Und nebenher wird die sehr heutige Geschichte vom Erstarken der Rechten erzählt. Biff Simpson (Dylan Baker), der bei einem BBQ ein Massaker anrichtet, um als Nazi unerkannt zu bleiben, sagt: „Die Leute hier sind viel zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Leute für den Feind zu halten. Gib einem Schwarzen die Schuld und du kommst in Amerika mit allem davon.“ (Amazon Prime Video) GR

I Am Not Okay With This – Staffel 1 Sophia Lillis, Wyatt Oleff, Sofia Bryant

„I Am Not Okay With This“ riecht nach dem typischen Coming-of-Age-Stoff, schmeckt aber anders. Die 17-jährige Syd (Sophia Lillis aus „Sharp Objects“) sieht zwar ein bisschen aus wie Molly Ringwald und ist mit all ihrer Unbeholfenheit (und ihrer Wut) eine Verwandte von Lindsay aus „Freaks And Geeks“ oder von Kate aus „Everything Sucks!“, sie muss sich mit selbstverliebten Footballstars und altklugen kleinen Brüdern herumschlagen, und es gibt ein von knuffigen Popsongs aus den 80er-Jahren beschalltes Abschlussball-Finale.

Dennoch ist „I Am Not Okay With This“ sperriger, böser und gruseliger als das, was einem die Streamingdienste üblicherweise so als Coming-­ of-Age-Serien vorsetzen. Allerdings dann doch nicht ganz so finster, wie der Comic-Roman von Charles Forsman („The End Of The F***ing World“), auf dem die Serie basiert. (Netflix) GR

Bad Banks – Staffel 2

Paula Beer, Désirée Nosbusch, Barry Atsma Das Intrigenspiel verlagert sich aufs Lustigste in die Start-up-Finanzwelt: Geldanlegen ohne schlechtes Gewissen! Die Nachhaltigkeits-Entrepreneure und IT-Schluffis tragen ihre Pappkartons in den Thinktank, finanziert von den nervösen alten Bankiers. Der Schmierlapp Gabriel Fenger hat das Gefängnis verlassen und ist wieder Master of the Universe, Jana Liekam laviert asthmatisch zwischen den Parteien, die aasige Schlange Christelle Leblanc guckt böse. Jeder kämpft gegen jeden, alle lügen, und alle Smartphones simmern. Am Ende hat Tobias Moretti einen denkwürdig hysterischen Auftritt. In einer anderen Zeit hätte Dieter Wedel diese schamlose Kolportage inszeniert – ja, er hat sie sogar inszeniert. (Eye See/AV Visionen) AW

Rolling Stone | April 2020 | 111

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

UNITED STATES OF UNGETÜM Ein epischer Roman über den Mythos Amerika und das unheimliche Land dahinter Von JAKOB BAUMER

D

u hast auf Steilufern gestanden, bepflanzt mit versengten Setzlingen, der ­Boden narbig von Ausdünstungen, von Furchen, die weißen Schlammschaum rülpsten, als würde die Erde atmen.“ Es ist eine wütende und eine wunderschöne Welt, die Téa Obreht in ­ihrem lange erwarteten zweiten Roman auferstehen lässt. Wie ein gigantisches Wesen liegen da Prärie, Flüsse und Wüsten vor uns.

Die Landschaft in Obrehts Amerika lebt, schnappt zu, nur um kurz darauf doch wieder zum Lebenselixir und Retter zu werden. Wie hineingeworfen in den Schlund dieses Ungetüms scheinen die Figuren, die man ein ganzes Leben und am Ende doch nur einen Tag lang begleiten darf.

Da ist zum einen die ­Siedlerin Nora Lark. Sie lebt mit ihrer Familie gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der kleinen Stadt Amargo im Arizona-Territorium.

Von Jahr zu Jahr wird die Gegend von immer schlimmeren Dürreperioden heimgesucht. Ihr Mann und zwei ihrer Söhne sind verschwunden, und dann droht Amargo auch noch

den Status als County-Sitz verlieren, was die kleine Stadt den Rest an Bedeutung kosten würde. Auch soll ein Monster sein Unwesen in der Gegend treiben – Noras jüngster Sohn und ihre Ziehtochter Josie sind felsenfest davon überzeugt.

Zum anderen erzählt „Herzland“ die Geschichte von Lurie Mattie, der als Kind vom Balkan nach Amerika kam. Nach dem frühen Tod seines Vaters raubt ­Lurie Gräber aus, wird zum notorischen Dieb und ist schließlich sogar an einem Mord beteiligt. Frühe Sünden, die ihn sein ganzes Leben lang in Gestalt eines Gesetzeshüters und seiner toten Kumpane verfolgen werden – auch als er sich dem „Camel Corps“ anschließt, einer Einheit der US-Armee, die auf Kamelen quer durchs Land reist.

Neun Jahre sind inzwischen vergangen, seit Téa Obreht, Jahrgang 1985, mit ihrem Debütroman, „Die Tigerfrau“, einen der größten Überraschungserfolge des Jahres 2011 veröffentlichte. Obreht stammt aus Belgrad und war noch ein Kind, als sie nach Ausbruch der Jugoslawienkriege mit ihrer Familie über mehrere Stationen in die USA floh, wo sie bis heute lebt. Ihr erster Roman war ein Bestseller, und Obreht gewann den Orange Prize of Fiction, einen der renommiertesten internationalen Literaturpreise Großbritanniens, als jüngste Autorin überhaupt.

Schon in „Die Tigerfrau“ verwuchsen historische Ereignisse mit Übersinnlichkeit, Folklore mit ex­ trem bitterer Realität. Dieses Konzept funktioniert auch in Obrehts neuem Werk. Der Kontext des an sich schon mystisch konnotierten historischen Amerikas bietet der Autorin gera-

dezu ideale Bedingungen für spirituelle und metaphysische Handlungsstränge. Gegen die Angst vor dem Vergessenwerden setzt Obreht Figuren, die Tote sehen und mit ihnen sprechen können – manche ­werden sogar von ihnen

Téa Obreht Herzland ROWOHLT BERLIN, 24 EURO

verfolgt. Diese Verflechtungen, verbunden mit zahl­ reichen Zeitsprüngen und Perspektivwechseln, lassen den fast schon monströsen Roman mitunter aber auch etwas unübersichtlich wirken. Einige der über 500 Seiten muss man sich regelrecht erkämpfen. Auch weil Obreht konsequent auf Spannungs-Twists verzichtet: Schießereien und Tode werden gern mal in wenigen Sätzen abgehandelt.

Verwirrend zunächst auch, dass einige der Neben­ figuren regelmäßig unterschiedlich genannt werden – immer wieder musste sie ihre Namen ändern, amerikanisieren, anpassen.

Ein Hinweis auf den Iden­ titätsverlust, den viele ­Mi­g ranten wohl bis heute auf der ganzen Welt em­ pfinden.

Der Leser spürt unterdessen, wie man sich als Kamelreiter im Amerika des

112 | Rolling Stone | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

späten 19. Jahrhunderts gefühlt haben mag. Alles vor dem Hintergrund einer aufziehenden, bedrohlicheren Düsternis. Sie wird sich in einem Gewitter von Grausamkeiten entladen, wenn am Ende Lurie und Nora aufeinanderprallen.

Ein epischer Roman, der den Gründungsmythos der USA in mächtige Bilder übersetzt. Keiner ist in Obrehts mythischer Welt sicher, der Pfad führt immer weiter ins Verderben, und in jeder Sekunde ist klar: Kein Held wird zur Rettung herbeieilen. Diese Erkenntnis trifft den Leser spätestens, wenn er den Rücken des Armeekamels und die Einsamkeit des Sied­lerdorfs eigentlich hinter sich gelassen hat. So sind auch die letzten Worte des Ex-Gangsters Lurie Mattie kaum verwunderlich: „Ich fühle mich so verloren wie niemals zuvor.“

ILLUSTRATION: STUDIO PONG

Bücher

Till Lindemann 100 Gedichte

Benjamin Quaderer Für immer die Alpen

Martín Caparrós Väterland

Ulf Poschardt Mündig

F

Und die Erinnerungen von Werner Lindemann

Felix Krull 2.0: Ein lustvoll fabulierendes Debüt

Fußball und Faschismus im Buenos Aires der Dreißiger

„taz“-Reporter Unfried liest das ­Manifest des „Welt“-Chefs

Der elfjährige Sohn hatte ein Gedicht geschrieben: „Da steht ein alter Baum/ In ihm ein hohler Raum/ Dar­ innen wohnt ein Specht/ Mir ist’s recht.“ Der Vater notiert: „Welch eine liebenswerte Haltung eines Elfjährigen in vier Zeilen.“ Werner Lindemann schreibt das in seinen Erinnerungen an die Zeit mit seinem Sohn, der im Buch Timm heißt, zu Beginn der 80er-Jahre in Mecklenburg; Tills Mutter lebte in Rostock. Werner Lindemann war ein Kinderbuchautor, der auf dem Land wohnte, sein 19jähriger Sohn suchte bei ihm Zuflucht und arbeitete als Stellmacher in einem kleinen Provinzbetrieb. „Mike Oldfield im Schaukelstuhl“ ( ), 1988 in der DDR erschienen, sind tagebuchartige Notizen über die zwei Jahre der Annäherung: wie der 56-jährige Dichter aus seiner strengen Routine und Selbstzucht, der Naturbeobachtung und Hof­­be­ wirtschaftung, dem Sinnieren und Schreiben von dem ungebärdigen, schroffen und empfindsamen Sohn aufgeschreckt wird, staunend, manch­ ­­mal mahnend, klagend, stolz. Die Rockmusik, die Timm hört, bleibt ihm fremd, wie auch die Promiskuität des unbekümmerten Rabauken.

Timm baut einen riesigen Schaukelstuhl für seine Lotterdachkammer, das würdigt der Vater. Einmal gibt er dem Sohn eine Ohrfeige, der schubst ihn zurück, der Vater hadert mit sich.

In schlaglichtartigen Erinnerungen an seine Kindheit, die letzten Kriegsmonate und die 50er-Jahre legt er sich Rechenschaft ab. In einem Gespräch mit Helge Malchow im Anhang erinnert Till Lindemann sich (anders) an die gemeinsame Zeit.

In seinen genialischen epigrammatischen Gedichten umkreist er Kreatur und Sexualität, Tod und Ekstase mit illusionsloser Drastik und grimmigem Witz („Ich bin ein wahrer ­Flegel/ Halte mich an keine Regel“).

In den längeren Prosagedichten („Ich hatte Hunger“, „Toilette“) nähert Till Lindemann sich der sensualistischen, zartherben Beschreibungskunst seines Vaters. Eine genealo­ gische Doppeldichtung. (Kiepenheuer & Witsch, 18 Euro) ARNE WILLANDER

„Das Wichtigste von allem, das sage ich Ihnen im Vertrauen, ist die Geschichte, die man erzählt“, weiß Johann Kaiser zu berichten. Sein Er­ finder, der in Österreich geborene und in Liechtenstein aufgewachsene Benjamin Quaderer, kann genau das: eine Geschichte erzählen. Eine sehr gute sogar. „Für immer die Alpen“ ist das literarische Debüt des 1989 in Feldkirch geborenen Autors. Quaderer stürzt sich mit unendlicher, teilweise überbordender Fabulierlust in sein erstes Prosaabenteuer und erzählt eine atemberaubende Außenseitergeschichte.

Johann Kaiser hat es geschafft.

Finan­ziell voll abgesichert, aber sein Leben im Zeugenschutzprogramm fristend schreibt der Mittfünfziger seine Autobiografie nieder, die mit der Geburt im royalistischen Liechtenstein beginnt und mit ihm als Staatsfeind endet. Ein großes Abenteuer, das uns der Spross einer Spanierin und eines Liechtensteiners auftischt, der als Baby nur knapp einem Mordversuch seiner Zwillingsschwestern Luise und Lotte entgeht, später mit beiden in einem Heim aufwächst, nachdem die Mutter die Kinder ausgesetzt hat und verschwunden ist. Schnell entwickelt Kaiser sich zu einem Hochstapler, der an einer Eliteschule in Barcelona nicht davor zurückschreckt, sich als Nachkomme einer berühmten Unter­ nehmerfamilie auszugeben – ein Täuschungsmanöver, das ihn später viele Jahre lang verfolgen und in eine lebensbedrohliche Situation bringen wird. Als Bankangestellter entwendet er Daten von Steuerhinterziehern, erpresst damit den Fürsten von Liechtenstein und handelt einen Deal mit dem Bundesnachrichtendienst aus. Quaderer erfindet mit seinem Protagonisten einen durchaus moralisch handelnden Hoch­ sta­ pler, der aus einem nachvoll­ zieh­ baren Gerechtigkeitssinn sich selbst gegenüber zu einem Gesetzesbrecher heranreift. Ein köstliches, knapp 600-seitiges Gesellschaftspanorama, das an „Schwerenöter“ von Hanns-Josef Ortheil erinnert. (Luchterhand, 22 Euro) GÉRARD OTREMBA

Früher durften, ja sollten Fußballer dumm sein. Strunzdumm, wie der bärenstarke Torjäger von River Plate, tragische Figur dieser nostalgischen Großstadtballade des Romanautors und bedeutenden argentinischen Journalisten Martín Caparrós. Gleichwohl weigert sich dieser Provinz­ bengel aufzulaufen und verlangt mehr Geld. Allerdings schreiben wir das Jahr 1931, der Faschismus reckt auch in Buenos Aires sein hässliches Haupt, und die mafiösen Clubbosse tun alles, um den aufmüpfigen Star zur Räson zu bringen. Dass sie dazu einen liebeskranken Tangodichter als Enforcer losschicken, ist vielleicht nicht die klügste Entscheidung, macht aus „Väterland“ aber ein literarisch verspieltes Vergnügen. (­Wagenbach, 22 Euro) GUNTER BLANK

„F**** euch alle!“, lautet der erste Satz von Ulf Poschardts Manifest. Es folgt nicht die üblich betuliche Ansprache, um gepflegte Nachdenklichkeit über die schlimmen Entwicklungen im Weltbürgermilieu der geistig verbeamteten Linksliberalen zu bedienen. The man they love to hate arbeitet auch hart und freudig daran, deren Bedarf an Aufregung zu stillen. Meistens reicht aber schon, dass er gern schnell Auto fährt.

Das muss man alles vergessen können, nicht auf der Suche nach Sätzen lesen, die man moralisch ablehnen kann (klar, die gibt es). Sondern als Korrektiv zu den eigenen Irrtümern, Ausblendungen und Leerstellen. Mit dem ersten Satz sprengt der „Welt“Chef erstmal den So-und-so-ist-dasDenkraum des späten 20. Jahrhunderts frei. „Mündig“ zielt auf eine individuelle Emanzipationsbewegung jenseits des üblichen Zettelkastens derjenigen, die sich für Nonkonformisten halten, wenn sie auf Linie ihrer Peergroup sind. Während alle anderen sich f ***** und der Explo­ sionsrauch sich verzieht, steht das Ich frei von sozialen, kulturellen, gewohnheitsmäßigen Bezügen allein da und muss schauen, was es mit der Ungebundenheit anfängt – positiv anfängt. Diese Art liberaler Mündigkeit kommt weder von einem Wir, noch will sie auf ein Wir hinaus. Die so­zialliberale Gegenposition ist Mündigkeit als neues Verständnis des Ich, das seine Kraft und seinen Sinn aus der selbstbestimmten Bejahung der Abhängigkeit von anderen zieht.

Aber auch diesen Versuch von Handlungsfähigkeit kann man mithilfe von „Mündig“ entwickeln.

Poschardts Bildungs- und Referenzenkanon reicht von Kant, Heid­egger und Adorno bis zu Godard, HipHop und Luisa Neubauer. Damit ist er auf Höhe des 21. Jahrhunderts, und das versetzt ihn besser in die Lage, Zeitanalyse zu betreiben, als es ein toter Philosoph oder ein quasitoter PolitikLeitartikler von der Stange könnte. (­Klett-Cotta, 20 Euro) PETER UNFRIED

Liz Moore

Long Bright River

Ernüchterndes Sozialdrama aus Philadelphia

Direkt in die Drogenhölle von Phil­ adelphia führt uns Liz Moores vierter Roman und zugleich erster Krimi.

Die 37-jährige ehemalige Musikerin hat’s auf Anhieb drauf, kennt die Hood und beschreibt schnörkellos den Alltag einer Streifenpolizistin, die, während eine Reihe von Morden an jungen Prostituierten die Stadt erschüttert, zwischen Drogenwracks und Kinderprostituierten ihre crack­ süchtige Schwester sucht. Ohne aufgepfropfte feministische Weltsicht, sondern letztlich nur den Verhältnissen auf der Straße verpflichtet entsteht ein ernüchterndes Panorama der Stadt der brüderlichen Liebe, dem es gelingt, die Balance zwischen zolaschem Sozialdrama und wam­ baugh­schem Police Procedural zu halten. (C.H. Beck, 24 Euro) GB

PS. Unser Autor hat auch das Nachwort zu „Mündig“ geschrieben.

Rolling Stone | April 2020 | 113

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

The Look e i n e f o t okolu m n e von t hom a s k r e t s c h m a n n

Help me Bones made of glass/ I’m starving/ For someone to fill/ My blood my skin Low Roar: „Low Roar“, 2011

… das Foto ist Teil meiner „MUSE“-Serie, Los Angeles 2020 Jeden Monat schickt uns der Schauspieler Thomas Kretschmann ein Foto mit Songzeilen oder einer kleinen Geschichte. Dieses ist das neunzehnte.

Rolling Stone | 114 | April 2020

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

LIZENZ ZUM LESEN Der ultimative 007-Guide. Jetzt im Handel.

ODER ONLINE BESTELLEN

shop.playboy.de

© Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

Floris van Bommel 9th generation shoemaker since 1734

Brandstores: Düsseldorf - Mittelstraße 15, Hamburg - Neuer Wall 17, Köln - Ehrenstraße 39, Nürnberg - Ludwigsplatz 7, Stuttgart - Kirchstraße 6 Buy online: www.florisvanbommel.de © Alle Rechte vorbehalten - Die Rechte liegen beim jeweiligen Verlag. Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung