weiss. Dein Nachrichtenmagazin (2013)

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weiss “ DEIN NACHRICHTENMAGAZIN 07.2013 // Erstausgabe

D IE B R Ü C K E EIN BAUPROJEKT SPALTET EINE REGION


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“ Editorial

Gemeinsam stehen wir für jungen, frischen und unabhängigen Journalismus.

Impressum weiss. Dein Nachrichtenmagazin Abschlussmagazin der Lehrredaktion 2 Herausgeber Journalistisches Seminar Johannes Gutenberg-Universität Mainz Alte Universitätsstraße 17, 55116 Mainz T. 06131.3939300 www.journalistik.uni-mainz.de Chefredaktion Daniel Blum (V.i.S.d.P.) Redaktion Julius Braun, Pirmin Clossé, Michael Eiden, Laura Ettle, Kira Gantner, Cordelia Neumetzger, Niklas Schenk Layout Benjamin Huck, Robert Köhler Druck Zentraldruckerei der JGU Mainz Titelbild (Original) LBM Trier

Liebe Leserinnen, liebe Leser, das Warten hat ein Ende. Die weiss ist da! Doch was heißt das? Weiß steht erst einmal für gar nichts, denken viele. Falsch! Vielleicht Unschuld, Jungfräulichkeit? Nein! Wie wäre es mit Kapitulation? Niemals! Wir fangen doch jetzt erst an. Wir brechen mit den Konventionen. Wir wollen der langweiligen und monotonen Berichterstattung den Kampf ansagen. Wir? Das sind zehn junge, engagierte Journalistenschüler aus der schönen Domstadt Mainz. Gemeinsam stehen wir für jungen, frischen und unabhängigen Journalismus. Wir fragen da nach, wo es unangenehm ist. Wir wollen den Blick auf Themen werfen, die andere außer Acht lassen. Die Ernsthaftigkeit bei der Arbeit wird uns dabei keiner nehmen, den Spaß allerdings auch nicht. Für unsere Erstausgabe haben wir uns daher bis ins (noch) entlegene Moseltal gewagt und Deutschlands größte Brückenbaustelle besucht. Eine junge Ärztin berichtet von ihren Erlebnissen in einem jordanischen Flüchtlingscamp. Wir haben Bilder, die unverblümt zeigen, wie es wirklich ist. Frankreich sucht den Dopingstar: Die Tour de France ist voll im Gange. Deutschlands führender Doping-Experte Perikles Simon verliert den Glauben an den sauberen Leistungssport. Ein Mainzer Student hatte eine hervorragende Idee und alle so YEAH! Und wer danach immer noch nicht satt ist, dem helfen unsere Tipps zum perfekten Steak. weiss ist bei uns nur der Name. Ein unbeschriebenes Blatt sind wir schon längst nicht mehr! Viel Spaß beim Lesen, eure weiss-Redaktion

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Inhalt

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TITEL

Umstrittenes Großprojekt Eine Brücke soll verbinden. Die Hochmoselbrücke spaltet eine ganze Region. Verschwendung von Steuergeld oder überfälliges Bauprojekt? Während die Pfeiler in die Höhe wachsen, sind wichtige Fragen ungeklärt.

Foto: J. Braun

TV-Rechte: ARD will wieder Wimbledon übertragen Interview: Ohne Armee geht in Ägypten gar nichts

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Makakenplage in Taiwan Juncker stolpert über Geheimdienstaffäre

Schmerzvolle Realität Zwischen Entsetzen, Fassungslosigkeit und Hoffnung - so umschreibt die Ärztin Abir Mangels ihren ersten Einsatz bei syrischen Flüchtlingen in Jordanien. Fotos gegen das Vergessen.

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Foto: Humam Akbik


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Foto: dapd

Neue Helden braucht das Rad

Die Tour de France feiert ihr 100. Jubiläum. Doch wer siegt, wirkt automatisch verdächtig. Die neue Fahrergeneration kämpft um Glaubwürdigkeit und mit dem Erbe der gefallenen Idole.

Überflieger mit Bodenhaftung

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Der Mainzer Sportmediziner Perikles Simon kämpft mit Charisma, Leidenschaft und genügend Pragmatismus gegen Doping im Leistungssport.

22 Mainz verschenkt sich

Gesund und lecker grillen Grillen muss nicht ungesund sein: Passendes Gerät und die richtige Technik verhelfen zum perfekten Steak.

Soziale Netzwerke werden oft kritisiert. Die Gruppe Free your Stuff Mainz zeigt, was mit Facebook und Co. alles möglich ist.

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weiss//die welt

TV-RECHTE

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Wimbledon im Free-TV? napp 600.000 Deutsche sahen Sabine Lisicki bei ihrer Finalniederlage in Wimbledon – im Bezahlfernsehen. Jetzt interessiert sich die ARD wieder für das berühmteste Tennisturnier der Welt. Konkurrenz bekommt die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt dabei von der ProSiebenSat.1 Media AG. Noch während des Endspiels gegen die Französin Marion Bartoli am 6. Juli liefen bei Lisicki die Tränen. „Ich war einfach traurig, dass ich nicht so gespielt habe, wie ich es kann“, sagte die 23-Jährige im Interview mit Spiegel Online. Sein Bedauern drückte auch ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky aus. Allerdings ging es ihm dabei nicht um Lisickis Niederlage, sondern um die seines Senders. Das Erste hatte kurzfristig das Damenendspiel übertragen wollen, nachdem der Hype um Lisicki mit dem Finaleinzug seinen Höhepunkt erreichte. Bis zum Vortag des Spiels hatte sich die ARD nach eigenen Angaben bemüht, von dem Pay-TVSender Sky die Rechte zu erwerben. „Leider sind die Verhandlungen an den überzogenen Preisvorstellungen von Sky gescheitert. Wir bedauern dies sehr“, teilte Balkausky mit. Weder die ARD noch Sky haben bislang Angaben zu den Summen gemacht, um die es dabei ging. Nach unbestätigten Angaben der Rhei-

Sabine Lisicki: Tränen nur im Pay-TV

nischen Post soll Sky 1,5 Millionen Euro verlangt haben. Der Pay-TVSender hatte 2010 die Rechte für die Übertragung aus Wimbledon zum Spottpreis von 700.000 Euro erhalten, weil sich damals keine erfolgversprechende deutsche Beteiligung abgezeichnet hatte. Die Öffentlich-Rechtlichen waren 2000, ein Jahr nach dem letzten Triumph Steffi Grafs in Wimbledon, aus der Live-Übertragung ausgestiegen. Bei dem Privatsender DSF, heute Sport1, liefen die Spiele noch bis 2004. Ganz aus dem unverschlüsselten Fernsehen verschwand das Londoner Rasenspektakel dann 2008. Danach übertrug der Bezahlsender

Foto: dpa/Montage: D. Blum

Premiere und nun dessen Nachfolger Sky die Spiele. Doch mit Lisickis Durchmarsch bis ins Endspiel wurde Wimbledon auch für die Öffentlich-Rechtlichen wieder attraktiv. ARD und ZDF wollen sich nun um die Übertragung ab 2014 bemühen. Allerdings sind sie dabei nicht allein: Nach Angaben der Rheinischen Post steht mit der ProSiebenSat.1-Gruppe ein weiterer Interessent bereit. Lisicki lässt indes keinen Zweifel daran, wem sie die Rechte gönnt. „Ich fände es gut, wenn es in den Öffentlich-Rechtlichen laufen würde“, sagte sie. „Ich denke, so ein Spiel gehört da hin.“ Laura Ettle

TIERE

Primatenplage

Foto: Ho-Chi Chen/dpa

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Was für ein Früchtchen! Ein Makake vergreift sich an den Pomelos auf einer taiwanesischen Obstplantage. Im Osten des Landes sind die kleinen Primaten zur Plage geworden. Seit mehr als 20 Jahren stehen sie unter Naturschutz. Nun gibt es in einigen Regionen eine Überbevölkerung. Die betroffenen Landwirte würden die Plagegeister am liebsten abknallen; die taiwanesische Regierung hat indes eine andere Lösung. Die Bauern sollen einfach saurere Früchte anbauen. Die mögen die Affen nicht. Wer mag schon saure Früchte? Laura Ettle


weiss//die welt

ÄGYPTEN

„Ohne Armee geht gar nichts“ ten zur Debatte. Mit der Entmachtung Mursis wollte die Armee zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: die Ordnung im Land wieder herstellen und das Volk auf weiss: Hat Mursi das Mi- ihre Seite ziehen. litär unterschätzt? Irene Weipert-Fenner: Murweiss: Steht Ägypten si hielt sich für sicher, weil jetzt eine Militärdiktatur er der Armee ihre Privilegien bevor? ließ. Je nach Schätzung verIrene Weipert-Fenner: fügt das ägyptische Militär Ohne Armee wird in Ägypüber zehn bis 40 Prozent des ten auch weiterhin nichts Bruttoinlandsprodukts. Da- gehen. Sie drängt sich aber ran hat auch Mursi nicht ge- nicht in den Vordergrund. rüttelt. Damit hat sie sich schon 2011 die Finger verbrannt, weiss: Warum hat das als sich der Protest gegen Militär ihn dann abge- den Militärrat richtete. Mit setzt? Mansur als ÜbergangspräsiIrene Weipert-Fenner: Die denten hat das Militär eine ägyptische Armee ist auf öf- kluge Wahl getroffen, weil fentliche Ordnung aus. Im die Justiz in Ägypten als Zweifel steht sie für ihre Pri- neutral betrachtet wird. Wer vilegien ein. Auch die standen am Ende in Ägypten regiert, in den letzten Wochen bei ist aber völlig offen. den Protestierenden in ÄgypFragen: Laura Ettle Irene Weipert-Fenner, Ägypten-Expertin bei der Hessischen Stiftung für Friedens und Konfliktforschung in Frankfurt, über die Macht des Militärs.

Foto: hsfk

Wer am Ende in Ägypten regiert, ist völlig offen.

EUROPA

Mister Euro dankt ab

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Foto: dpa

is zuletzt hat Jean-Claude Juncker gekämpft. Nun tritt der 58-Jährige doch von seinem Amt als luxemburgischer Regierungschef zurück und macht den Weg frei für Neuwahlen. Der Agententhriller um Missstände des Luxemburger Geheimdiensts SREL hat den dienstältesten Regierungschef der EU den Kopf gekostet. Damit wird Juncker indirekt zum Opfer der Bombenleger-Affäre: In den 1980ern hatte eine Serie von Anschlägen das 500.000-Einwohner-Land erschüttert. Die Hintermänner wurden in der NATOGeheimorganisation stay behind vermutet. Die Anschläge hätten der luxemburgischen Polizei zu mehr Personal und Ausrüstung verhelfen sollen. Der SREL war in die stay behind-Aktion verwickelt gewesen. Der ehemalige Chef des luxemburgischen Geheimdienstes, Marco Mille, behauptete öffentlich, er habe Juncker bereits 2006 über die Verwicklung von stay behind an den Attentaten unterrichtet. Dieses Wis-

sen habe der Premierminister dem Parlament nicht weitergegeben. Nachdem immer mehr Details über die Machenschaften des SREL an die Öffentlichkeit gekommen waren, berief das Parlament im Dezember einen Untersuchungsausschuss ein. Dieser stellte am Mittwoch seinen Bericht vor. Demnach sei die Liste der Vergehen des SREL lang. Juncker trage in seiner Funktion als Regierungschef die Verantwortung für die Vergehen des Dienstes. Die vier Oppositionsparteien wollten dem ehemaligen Eurogruppenchef, auch Mister Euro genannt, das Vertrauen entziehen. Junckers Koalitionspartner, die Sozialistische Arbeiterpartei, wollte einen Misstrauensantrag stellen, damit er die Verantwortung für die Affäre übernimmt und es zur Neuwahl kommt. Dem kam Juncker mit seinem Rücktritt zuvor. Die Regierung bleibt noch bis zu den Neuwahlen im Amt. Möglicher Termin für die Wahl ist der 18. Oktober. Laura Ettle

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DEUTSCHLAND

Brücke ins Ungewisse Zu teuer, sinnlos, instabil und schädlich für die Weinberge – Deutschlands größter Brückenbau ist stark umstritten. Wie viel Nutzen die Hochmoselbrücke wirklich bringt, weiß niemand so genau. Gebaut wird trotzdem.

Von

Julius

Michael

Braun Eiden

Kira

Gantner

9Foto: J. Braun


H

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ans-Michael Bartnick muss derzeit immer häufiger auf die Baustelle bei Ürzig, 50 Kilometer nordöstlich von Trier. „In diesem Jahr explodiert die Zahl der Anfragen“, sagt der 48 Jahre alte stellvertretende Dienststellenleiter und Bauingenieur vom Landesbetrieb Mobilität (LBM) Trier. Der Grund: Allmählich wachsen die Betonpfeiler der Hochmoselbrücke aus dem Boden. Bürger und Fachpublikum wollen sich über die spektakuläre Baustelle informieren. „Ich bin froh, dass sich der Medienrummel etwas gelegt hat“, so Bartnick. In der öffentlichen Darstellung des umstrittenen Projekts fühlt sich die Verwaltung bislang ungerecht behandelt. Die Einseitigkeit sei schon frappierend, so Bartnick. Denn: „Im Grunde wird hier nichts Schlechtes gemacht. Straßen und Brücken verbinden.“ Die Hochmoselbrücke ist ein Teil des rund 25 Kilometer langen Hochmoselübergangs, einer neuen Bundesstraße, die Belgien und die Niederlande besser mit dem RheinMain-Gebiet verbinden soll. Mit 158 Meter Höhe und einer Länge von 1,7 Kilometer wird die fertige Brücke eine der größten der Bundesrepublik sein. Etwa 375 Millionen Euro kostet das Großprojekt nach aktuellen Berechnungen. „Deutschlands dümmste Autobahn“ nennen ein-

heimische Kritiker die Bundesstraße. Sie halten den Hochmoselübergang für reine Geldverschwendung ohne echten Mehrwert. Stattdessen bedrohe er einige der besten Weinberge Deutschlands und verschandele die Landschaft. Doch längst nicht alle Anwohner sind dagegen. Manche erhoffen sich durch den Straßenbau neuen Schwung für die strukturschwache Region. Politiker von CDU, FDP und SPD versprechen sich davon „Wachstum und Wohlstand.“ Nachdem selbst die Grünen 2011 in Koalitionsverhandlungen mit der SPD dem Hochmoselübergang zugestimmt hatten, hat sich der Widerstand im Moseltal etwas gelegt. „20 bis 30 Leute treten von den Protestlern noch in Erscheinung“, heißt es auf der Baustelle. Es ist still geworden um das Großprojekt. Dennoch bleiben viele Fragezeichen. Die Befürworter haben es nicht geschafft, Kritikern schlüssig zu beweisen, dass sich die hohen Investitionen lohnen. Noch immer wird untersucht, wie der Schieferboden die Brückenpfeiler tragen kann. Ob der Moselwein wirklich in Gefahr ist, das können die Winzer nicht belegen. Welche Auswirkungen der Hochmoselübergang hat, wissen die Betroffenen erst, wenn die Brücke die andere Moselseite

Foto: J. Braun Es geht aufwärts: Die Brückenpfeiler entstehen

// Der Protestler Georg Laska, Bürgerinitiative Pro-Mosel

Foto: J. Braun

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Die Politik belügt die Bürger – jedenfalls teilweise.

Etwa 40 Bauarbeiter schweißen und hämmern schon an der Hochmoselbrücke, doch aufgeben will Georg Laska nicht. Er kämpft weiter – für die Mosel und gegen die Brücke. „Die ist ein Witz“, meint der Vorsitzende der Bürgerinitiative Pro Mosel. Mit kritischem Blick steht der schmächtige Mann auf einem Bootsanleger am Ufer der Mosel in Bernkastel-Kues. Seit 1999 engagiert sich der 54-Jährige dafür, den Brückenbau zu verhindern. „Es braucht eine schwerwiegende Begründung, um so ein Monster zu bauen.“ Bessere Verkehrsanbindungen, mehr Touristen, das überzeugt den

Diplompsychologen nicht. 1993 zog Laska aus Köln an die Mosel. Heute arbeitet er an der Kasse eines Schwimmbads. „Es ist vor allem die Optik. Die Brücke wird schrecklich aussehen“, so Laska. Sein Blick wandert langsam über die Weinberge. „Die Mosel ist doch ein Naherholungsgebiet.“ Außerdem werde vieles von der Politik verschwiegen: „Eine tektonische Bruchkante bedroht die Statik“, warnt Laska. Etwa die Hälfte der Bevölkerung sei gegen die Brücke, wirklich sichtbar sei der Widerstand aber nicht. „Es gab zwar Plakate, aber es sind keine Protestler, die hier wohnen“, sagt Laska resigniert.


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// Der Einheimische Rudolf Trossen, Aktivist und Winzer Ökowinzer Rudolf Trossen sitzt unter einer grünumwucherten Laube vor seinem Weingut. Keine 50 Meter davon entfernt fließt die Mosel. Darüber steile Weinhänge. „Das hier ist das Filetstück der deutschen Weinberge“, sagt Trossen. „So ein Unikat kann man nicht riskieren!“ Der 58-Jährige spricht ruhig und überlegt, dennoch ist seine Wut und Enttäuschung deutlich zu spüren. Er fürchtet, dass der Hochmoselübergang den deutschen Spitzenwein gefährden könnte. „Betongewordene Dummheit“ und „Mogelbrücke“ nennt er das Projekt, für das es seiner Meinung nach keine

rationalen Gründe gibt. Jahrelang kämpfte er dagegen an – ohne Erfolg. „Die werden das Ding bauen – auf Biegen oder Brechen.“ Mit dem Hochmoselübergang seien große politische Interessen verbunden, meint Trossen. „Da gibt es eine Clique von Leuten, die ihre Taschen füllen“, sagt der Winzer. Gleichzeitig plädiert er für einen rationalen Umgang mit Steuergeldern, die an anderer Stelle viel dringender gebraucht werden würden. Trossen ist in diesen Weinbergen aufgewachsen. Schon seine Großeltern hatten hier eine Weinwirtschaft. Das einzig sinnvolle für ihn: „Sofortiger Baustopp!“

Foto: J. Braun

Die Hochmoselbrücke ist betongewordene Dummheit

1,7 Kilometer lang, 158 Meter hoch: Die neue Brücke soll Eifel und Hunsrück verbinden

erreicht. Eins ist sicher: Teurer wird sie wohl in jedem Fall. Die Kostenproblematik ist nicht neu. Schon 1968, als die Idee zum Hochmoselübergang erstmals aufkam, scheiterte eine sofortige Umsetzung. Die Brücke – schlicht zu teuer. Und das, obwohl der Brückenplan während des Kalten Kriegs militärpolitisch bedeutend zur Überwindung der Moselbarriere war. Das Projekt verschwand zwar zunächst aus der Öffentlichkeit, aber ganz gaben die Ingenieure den Bau nie auf. Nach drei Jahrzehnten legten sie die Pläne Anfang 2000 erstmals der Bevölkerung vor. Der Kalte Krieg war längst Geschichte, die Brücke sollte nun als Lückenschluss vor allem die Region verkehrstechnisch besser anbinden. „Dass der Hochmoselübergang kommt, daran

gibt es keinen Zweifel“, sagte der damalige Ministerpräsident Kurt Beck. Doch Widerstand regte sich schon damals. Auf 2.400 Bürgereinwendungen folgten 15 Klageverfahren. Eine der hartnäckigsten Gegner war der Bund für Umwelt und

Die „grüne Seite“ legte immer wieder Steine in den Weg

Naturschutz Deutschland (BUND). Eine Klage des BUND verzögerte das Bauvorhaben gleich um mehrere Jahre. „Da Rheinland-Pfalz die Europäische Vogelschutzrichtlinie nicht umgesetzt hatte, musste der Plan geändert werden“, sagt Bau-

Montage: LBM Trier

ningenieur Bartnick, für den die „grüne Seite“ dem Projekt immer wieder Steine in den Weg legte. Nachdem das Land Rheinland-Pfalz zusätzliche Schutzgebiete ausgewiesen hatte, erteilte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 31. Juli 2008 das uneingeschränkte Baurecht. Neben rechtlichen Fragen war auch die Finanzierung lange unklar. Die Suche nach privaten Investoren scheiterte, da das geringe Verkehrsaufkommen kein lohnendes Mautgeschäft erwarten ließ. Mit der Finanzkrise kam 2008 der ersehnte Geldregen: Für ihre Konjunkturprogramme suchte die große Koalition baureife Projekte. Der Bund befand den Hochmoselplan für lohnend genug. Er übernahm die geschätzten Kosten von damals

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// Die Optimistin Susanne Illerhaus, Hotelchefin Susanne Illerhaus stemmt eine Hand in ihre Hüfte und lächelt der Kamera entgegen. Von ihrer Terrasse aus genießen die Gäste das Panorama des Moseltals. Über dem grünlich schimmernden Wasser türmen sich die Weinberge auf. Dass bald eine rund zwei Kilometer lange Brücke den Ausblick prägen wird, stört Illerhaus nicht. Selbstbewusst erzählt die Geschäftsführerin des Hotels Heil in Lösnich von „steigenden Tendenzen.“ „Die Brücke fördert Infrastruktur und Kaufkraft“, sagt die 43-Jährige. Nicht nur Gäste aus Belgien und Holland,

auch Geschäftsleute aus dem Gewerbepark in Wittlich kämen bald schneller in den Ort. „Sie könnten hier wohnen und wären in wenigen Minuten auf der Arbeit.“ Die Brücke, hofft Illerhaus, hält die Jugend in der Region und füllt die vielen leerstehenden Häuser. Dass die Brücke die Gäste abschreckt, glaubt sie nicht. „Die Besucher werden eher ‚wow‘ sagen.“ Sogar Brückentourismus sei möglich. Sie kenne die Argumente der Gegner, trotzdem stehe ihre Entscheidung fest: „Wir müssen uns öffnen für die Zukunft.“

Foto: B. Huck

Wir müssen uns öffnen für die Zukunft.

330 Millionen Euro fast komplett. Das Land Rheinland-Pfalz steuerte lediglich 20 Millionen Euro bei. In der Bevölkerung regte sich erneut Widerstand. Die Bürgerinitiative Pro-Mosel organisierte zahlreiche Demonstrationen. Selbst englische Weinexperten wie Stuart Pigott flogen ein, um für den Moselwein und gegen das „unmenschliche Monstrum“ zu protestieren. Beim symbolischen Spatenstich im April 2009

“ Foto: B. Huck Seit 2000 betreut Ingenieur Hans-Michael Bartnick die Brücke

1968: Planung des Hochmoselübergangs zur besseren Anbindung des Rhein-Main-Gebiets beginnt

// Chronik

des Bauprojekts

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rockt“, soll Grünenpolitikerin Evelin Lemke versprochen haben. Die Parteien vereinbarten während der Koalitionsverhandlungen einen Baustopp. Doch zu diesem Zeitpunkt waren bereits 70 Millionen Euro verbaut und weitere 180 Millionen Euro vertraglich gebunden. „Neue Aufträge wurden nicht erteilt, einen echten Baustopp hat es nie gegeben“, sagt Bartnick. Ein Indiz dafür, dass ein Abbruch des

Einen echten Baustopp hat es nie gegeben.

besetzten die Demonstranten den dafür vorgesehenen Bagger. Neue Hoffnung schöpften die Gegner des Projekts nach der Landtagswahl im März 2011. Die SPD verlor die absolute Mehrheit. Der potenzielle Koalitionspartner: die Grünen mit 15,4 Prozent der Stimmen. Sie hatten mit dem Aus der Hochmoselbrücke Wahlkampf gemacht. „Jetzt wird der Beck ge-

2000: Rheinland-Pfalz legt Planungsfeststellungsbeschlüsse vor – Erste Proteste

Projekts nie wirklich zur Debatte stand? Am Ende hieß es im Koalitionsvertrag: „Der Bau des Hochmoselübergangs wird abgeschlossen.“ Mittlerweile wachsen auf der Hunsrückseite der Mosel drei Betonpfeiler in die Höhe. Bauingenieur Bartnick führt Besuchergruppen mit weißen Helmen und orangenen Warnwesten über die Baustelle. „Nach jahrzehntelanger

2004: Erfolgreiche Klage des BUND vor Bundesverwaltungsgericht in Leipzig


weiss//titel Planung und Rechtskraft führt die Verwaltung keine Grundsatzdiskussionen mehr“, so Bartnick. Locker lassen wollen die Gegner dennoch nicht. Für sie sind die Auswirkungen des Baus nicht abschließend geklärt. Größter Kritikpunkt momentan: die Statik. „Der Pfeilerbau in den steilen Schieferhängen bringt enorme Gefahren mit sich“, sagte der Geologe Johannes Feuerbach gegenüber dem SWR. Bereits jetzt verlängern komplexe Berechnungen die Bauzeit. „Nicht vor 2017“ soll die Brücke nun freigegeben werden. Im Januar räumte ein Sprecher des Verkehrsministeriums ein, dass „die Prüfung der Ausführungsunterlagen und der Statik einen höheren Zeitaufwand benötigt hat.“ Die Bürgerinitiative Pro-Mosel klagt daher zurzeit vor dem Trierer Verwaltungsgericht auf Einsicht in die Unterlagen. Sie vermuten, dass auch die Kosten weiter in die Höhe schießen werden. Zum Spatenstich im April 2009 sollte das Projekt 330 Millionen Euro kosten, mittlerweile ist von 375 Millionen Euro die Rede – 130 Millionen Euro allein für die Brücke. „Stetige Kostensteigerungen über die verschiedenen Projektstadien sind normal“, sagt Bartnick. Schließlich stiegen zum Beispiel die Preise für Stahl und Arbeitskräfte. Gleichzeitig erhöhe sich aber auch der finanzielle Nutzen durch die Brücke. 130 Millionen Euro für eine Brücke, über die laut einem Verkehrsgutachten rund 25.000 Fahrzeuge täglich fahren. Zum Vergleich: Die Leverkusener Autobahnbrücke in Köln ist mit rund 115.000 Fahrzeugen pro Tag eine der am stärkesten frequentierten Autobahnbrücken Deutschlands. Doch der Bauingenieur betont: „Eine sinnvolle Raumordnung kann nicht zum Ziel haben, lediglich große Ballungsräume zu unterstützen.

2008: Nach Überarbeitung des Plans: Uneingeschränktes Baurecht

25.000 Fahrzeuge pro Tag bedeuten für Rheinland-Pfalz ein hohes Verkehrsaufkommen.“ Seit Jahren loben Regierungsvertreter, dass die Brücke als Lückenschluss zwischen Eifel und Hunsrück dient, den Flughafen Hahn schneller erreichbar macht und die Abwanderung aus der Region verhindert. Verkehrsexperte Heiner Monheim, ehemaliger Professor für Raumentwicklung in Trier, widerspricht den Angaben der Behörden, dass der Hochmoselübergang die Fahrzeit verkürze: „Beschleunigung bringt die Brü-

Abneigung. Lokale Geschäftsleute wie Hotelchefin Susanne Illerhaus erhoffen sich davon die Belebung ihrer Unternehmen: „Wir rechnen mit mehr Wellness- und Tagungsgästen.“ Winzer, deren Hänge im Umfeld der Brücke liegen, fürchten dagegen um ihre Reben. Ihre Kritik: Die Bauarbeiten könnten den empfindlichen Wasserhaushalt an den Hängen stören. Das habe das Land nicht abschließend untersucht. Wenige Autos, schwierige Statik, gefährdete Reben – zu welchen Folgen die Brücke führt, bleibt unge-

NordrheinWestfalen

Koblenz BELGIEN

A48

Hessen

A61

A60

Mosel A60 B50

A1

LUXEMBURG

Trier

Mainz

RheinlandPfalz

Saarland

// Hochmoselübergang im Straßennetz Karte: R. Köhler

cke nur im regionalen Zusammenhang.“ Zudem kritisiert Monheim, dass das Geld in bereits bestehende Straßen investiert werden sollte. In Deutschland sind fast 20 Prozent der Autobahnen und 40 Prozent der Bundesstraßen sanierungsbedürftig. „Es gibt Investitionsstau, selbst wichtige Reparaturen werden unterlassen“, sagt Klaus-Peter Müller vom deutschen Verkehrsforum. Das Großprojekt polarisiert: Laut Kurt Beck gebe es in der Bevölkerung mehr Zustimmung als

2011: Beginn der Bauarbeiten an der Hochmoselbrücke

BadenWürttemberg

FRANKREICH

wiss. Die Hoffnung auf einen Stopp des Hochmoselübergangs haben die meisten jedenfalls aufgegeben. „Das Ding wird gebaut“, sagt auch einer der schärfsten Gegner, Ökowinzer Rudolf Trossen. Sollte der erhoffte Baustopp doch noch durchgesetzt werden, hat er schon einen Vorschlag, was mit den bereits fertig gestellten Bauwerken passieren soll: „Man könnte die Pfeiler bemalen und als Landartprojekt nutzen.“ Eine realistische Vision ist das nicht.

2016: Geplante Eröffnung des Hochmoselübergangs

Grafik: B. Huck

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weiss//reportage

Ein Tropfen auf den heißen Stein SYRISCHE FLÜCHTLINGE

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weiss//reportage

V

Von

Cordelia

Neumetzger Akbik 15

Fotos:

Humam

Sie konnten dem Bürgerkrieg in Syrien entkommen. In Jordanien sind die Flüchtlinge in Sicherheit – aber versehrt an Leib und Seele. Die Ärztin Abir Mangels berichtet exklusiv von ihrem Hilfseinsatz in den Flüchtlingslagern.

erschleierte Mütter mit weinenden Kleinkindern auf dem Arm, Verletzte mit notdürftig behandelten Wunden und Invalide ohne jegliche orthopädische Hilfsmittel drängen sich auf dem staubigen Flur. Syrische Flüchtlinge in Jordanien. Seit Stunden warten sie geduldig in der provisorischen Arztpraxis, um sich von der Ärztin Abir Mangels behandeln zu lassen. Im Juni ist Abir zwei Wochen mit der Syrian American Medical Society (SAMS) in Jordanien. Nach der Rückkehr aus Amman erzählt sie von ihrem Einsatz bei den syrischen Flüchtlingen. Im Raum steht nur ein Plastikstuhl. Statt mit Licht leuchtet Abir den Patienten mit ihrem Handy in den Hals. Sie ist froh, dass sie überhaupt einen Rachenspatel hat. Einmalgeräte verwendet sie mehrmals. „Viele Diagnosen musste ich rein auf Verdacht stellen, da uns notwendige Untersuchungsgeräte gefehlt haben“, sagt sie. Oft kann sie nur punktuell helfen. Viele Patienten, die Abir und ihre Kollegen behandeln, erliegen nach wenigen Tagen ihren Kriegsverletzungen oder monatelanger Mangelernährung. Bei anderen dagegen reicht eine Tablette, um Infektionen erfolgreich zu bekämpfen. „Deshalb ist es wichtig, dass wir helfen“, sagt Abir. „Auch wenn es wie ein Tropfen auf den heißen Stein ist.“ Abir ist 38 Jahre alt und selbst gebürtige Syrerin. Als Anästhesistin mit zwei Kindern ist sie stark eingespannt. Doch das Schicksal ihrer Landsleute lässt sie nicht los. Daher will sie in der wenigen freien Zeit, die ihr zur Verfügung steht, schnell und aktiv helfen. Mit der SAMS ist das möglich. Die private Organisation unterstützt syrische Flüchtlinge mit Spenden und medizinischer Hilfe. Regelmäßig reist ein Team aus Ärzten, Physiotherapeuten und Helfern nach Amman. Sie untersuchen die Syrer im Flüchtlingscamp Al Zataari und in den umliegenden Dörfern. Die jordanische Regierung stellt ihnen OP-Säle in den Krankenhäusern von Amman zur Verfügung. Dort operieren sie die Verletzten unentgeltlich. Nach Angaben der SAMS waren im Juni 2013 mehr als 650.000 syrische Flüchtlinge in Jordanien. 143.000 davon im Camp Al Zataari.


weiss//reportage „Ein Schicksal, das mich echt berührt hat, war das der 17 Jahre alten Nagam. Sie war im siebten Monat schwanger, als sie von einer Granate getroffen wurde. 3.320 Granatsplitter steckten in ihren Beinen. Sie hat nicht nur ihr linkes Bein, sondern auch das Kind und ihr Augenlicht verloren. Seit sie hier ist, schaut sie nur an die Decke. Sie hat noch kein Wort gesprochen, aber ihr Mann weicht nicht von ihrer Seite.“

„Viele kommen mit Hepatitis A und Mangelerscheinungen. Die meisten leiden unter Durchfall und Krätze. Oft müssen mehrere Familien in einem Zelt leben. Dann ziehen sich die Frauen aus Scham gar nicht mehr aus, tragen immer dieselbe Kleidung. Die Kinder spielen im Abwasserkanal. Infektionen sind da vorprogrammiert. Und wenn einer krank ist, stecken sich andere schnell an. Am schlimmsten sind die sinnlosen Erkrankungen wegen schlechter hygienischer Bedingungen! Die haben uns die Zahnbürsten aus der Hand gerissen. Bei vielen sind die Zähne schon bis zum Knochen abgefault.“

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weiss//reportage „Der medizinische Direktor der SAMS, Humam Akbik, und ich haben diesen kleinen Jungen versorgt. Er war zuvor falsch behandelt worden. Wir dachten, wir schaffen es, mit Infusionen, starken Anitbiotika. Aber es war zu spät. Er ist zwei Tage nach dem Foto an multiplem Organversagen verstorben. Wir haben festgestellt, dass er aber wohl schon hirntot war. Da hat er wenigstens nicht so viel mitbekommen. Seine Familie hat ihn nach seinem Tod nicht mal abgeholt.“

„Wir mussten ihm beide Beine abnehmen. Ich weiß nicht mehr, ob das ein Rebell war, der sich im Kampf verletzt hat oder ob er einfach jemandem zur Hilfe kommen wollte. Die meisten, die wir mit diesen Verletzungen hatten, sind bei dem Versuch, andere zu retten, beschossen worden. Das macht mich so wütend! Diese jungen Männer wissen, dass sie nach der Amputation niemals eine Familie werden ernähren können. Unsere Physiotherapeuten erklären ihnen zwar, wie sie sich überhaupt ohne Beine und Prothesen fortbewegen können und zeigen ihnen Übungen. Aber da sammelt sich so viel Frustration und Wut bei denen an. Viele werden depressiv, aber das behandelt ja keiner.“

„Wir haben so viel Arzneispenden wie möglich mitgebracht. Wir hatten echt alles dabei, Schmerzmittel, Vitamine für Frauen und Kinder, sogar Narkotika und Opiate. Aber das konnten wir am Flughafen natürlich nicht sagen. Einer der Hautärzte hatte ein Mittel gegen Krätze, da hat echt eine Tablette gereicht. Ein Traum! In Jordanien haben wir noch weitere Medikamente nachgekauft. Dort gibt es zum Glück alles. Trotzdem konnten wir den Leuten fast nichts mitgeben, im besten Fall mal eine Monatspackung für sie selbst. Aber nichts für die Angehörigen, egal wie sehr sie darum gebeten haben.“

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weiss//feature

„Eine Straße im Camp. Mittlerweile gibt es auch Elektrizität dort und die Menschen fangen an, kleine Geschäfte aufzubauen. Sie stellen selbst etwas her, das sie dann verkaufen wollen. Sie wollen unbedingt etwas tun. Auch versuchen sie, sich gegenseitig zu helfen. Das war, was mich dort glücklich gemacht hat. Aber täglich kommen Hunderte neuer Flüchtlinge aus Syrien. Bei mir herrscht da Entsetzen und Fassungslosigkeit über all das sinnlose Leid, das nicht aufhört.“ „Die anderthalb jährige Duaa hat bei einer Explosion ihr linkes Bein verloren, bevor sie überhaupt laufen lernen konnte. Aber sie hat Glück im Unglück. Zusammen mit der Oma kann sie in die USA fliegen, um dort Spezialprothesen zu bekommen. Private Spenden haben das ermöglicht. Allein ich habe über Facebook und Mundpropaganda fast 5.000 Euro sammeln können. Aber ohne Spenden läuft nichts. Denn Jordanien hilft nur denjenigen, die offiziell als Flüchtlinge anerkannt sind. Alle anderen gehen leer aus.“ „Die Kinder sind zum Teil schon lange in keiner Schule mehr gewesen und haben sich über jedes Buch gefreut, auch wenn es auf Englisch war und sie es nicht verstehen konnten. Und die Kollegen, die kein Arabisch können, haben den Kindern dann eben auf Englisch vorgelesen oder mit ihnen gebastelt. Mit weiteren Spendengeldern möchte die SAMS nun Schulen im Camp einrichten. Außerdem wird durch Spenden ein Haus finanziert, in dem speziell Mädchen und Frauen behandelt werden sollen. Mein Appell ist einfach, dass die Leute in Deutschland nicht wegschauen und vergessen – und weiter spenden!“

foto ende

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weiss//sport

RADSPORT

Schatten der Vergangenheit Ausgerechnet zum 100. Jubiläum der Tour de France steckt der Radsport in einer ausgewachsenen Identitätskrise. Fast alle, die den Sport in der jüngeren Vergangenheit geprägt haben, sind inzwischen als Betrüger enttarnt. Die junge Generation kämpft mit dem Vermächtnis der gefallenen Legenden. Von

Pirmin

Clossé

Niklas

Schenk

Foto: dpa

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as breite Grinsen ist seit der Zieldurchfahrt nicht mehr von Marcel Kittels Lippen gewichen. Auch jetzt, da der 25-Jährige vor den Kameras des französischen Fernsehens steht, strahlt er noch immer bis über beide Ohren. Etwa eine halbe Stunde zuvor hat Kittel die erste Etappe der diesjährigen Tour de France gewonnen. Und sich damit zugleich auch das Gelbe Trikot des Gesamtführenden gesichert. Wie „Gold auf den Schultern“ fühle sich das an, sagt Kittel und lacht. Er ist am vorläufigen Höhepunkt seiner noch jungen Karriere angelangt. Seinen Sieg will der Thüringer auch als Signal verstanden wissen: „Es ist möglich, sauber zu gewinnen“, verkündet er. Denn selbst in dieser Stunde des Triumphs ist der dunkle Schatten des Dopings stets präsent. Die Zeiten, in denen die Fans den Siegern bedenkenlos zugejubelt haben, sind längst vorbei.

Wer gewinnt, ist automatisch verdächtig. Fest steht: Retten kann den Radsport nur eine gänzlich neue Generation glaubwürdiger Fahrer. Ein radikaler Umbruch muss her, ein neuer Typus Radsportler. Die alten Helden nämlich sind inzwischen alle gestürzt.

Ein radikaler Umbruch muss her.

Bjarne Riis etwa war einer aus dieser Garde. Der Toursieger von 1996 ist heute Manager des Teams Saxo-Tinkoff. Bei der aktuellen Tour sorgte er gerade wieder für Schlagzeilen, indem er bereits nach wenigen Tagen abreiste. Offiziell sollen Sponsorengespräche der Grund gewesen sein, doch die Flucht des Dänen könnte auch andere Ursachen haben. In seiner Heimat ermittelt

zurzeit die dänische Anti-DopingAgentur gegen Riis. Als Teammanager soll er vollständige Kenntnisse von den Dopingpraktiken seiner Fahrer gehabt und diese sogar gefördert haben, behaupten ehemalige Fahrer des Rennstalls wie Jörg Jaksche und Michael Rasmussen. Riis hatte in der Vergangenheit ein Anti-Doping-System in seinem Team eingeführt und sich geläutert gegeben. 2007 hatte der Däne gestanden, während seines TourSieges 1996 gedopt zu haben. Der Titel wurde ihm nur deshalb nicht aberkannt, da ein Doping-Betrug nach acht Jahren verjährt. Auch Jan Ullrich, der ein Jahr nach Riis in Paris das Gelbe Trikot überstreifte, verurteilte der Internationale Sportgerichtshof (CAS) 2012 wegen Dopings. Der bislang einzige deutsche Toursieger gab vor wenigen Wochen erstmals zu, während seiner aktiven Zeit mit Eigen-

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weiss//sport blut gedopt zu haben. Überrascht hat dieses Geständnis natürlich niemanden mehr, es war aber dennoch ein weiterer Mosaikstein in der Chronik der Betrüger. Marco Pantani, Gesamtsieger 1998, bekannte ein Jahr nach seinem größten Triumph, die verbotene Substanz Erythropoetin (EPO) eingenommen zu haben. Der Italiener starb 2004 an einer Überdosis Kokain. Die größte Krise des Radsports erlebte Pantani nicht mehr. Sieben Jahre in Folge hatte der Amerikaner Lance Armstrong nach Pantanis Triumph die Tour de France gewonnen. Armstrong war nach einer Krebserkrankung wie durch ein Wunder auf das Rad zurückgekehrt und hatte die Rundfahrt bis 2005 nach Belieben dominiert. Es waren die Jahre, in denen die öffentlich-rechtlichen Sender Millionen von Zuschauern in Deutschland vor die Bildschirme lockten. 2003 erreichte die ARD mit der Rundfahrt einen durchschnittlichen Marktanteil von fast 30 Prozent bei den Gesamtzuschauern. Was die französische Sportzeitung „L‘Equipe“ schon 2005 vermutete, bestätigte sich sieben Jahre später: Armstrong hatte gedopt. Der Radsport-Weltverband (UCI) erkannte dem Amerikaner alle sieben Tourtitel ab. Es war der größt-

// Verdächtig in Paris: Nur drei Gesamtsieger seit 1996 wurden nicht überführt oder haben gestanden

Grafik: D. Blum

mögliche Fall eines schier übermächtig erscheinenden Athleten. Floyd Landis, Gesamtsieger 2006, verlor seinen Titel ebenso nachträglich wie der Spanier Alberto Contador 2010. Von allen Fahrern, die seit 1996 Paris im Gelben Trikot erreichten, bleiben damit nur drei übrig, die inzwischen nicht des Dopings überführt wurden oder es zumindest gestanden haben: Der Spanier Carlos Sastre (2008), der Australier Cadel Evans (2010) und

Foto: dpa Eine neue Generation: Marcel Kittel kämpft für einen sauberen Radsport

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nicht nur die öffentlich-rechtlichen Sender sehnen. Der Brite mit kenianischen Wurzeln ist spätestens seit seinem souveränen Erfolg auf der ersten schweren Bergetappe der Top-Favorit auf den Toursieg. Doch obwohl der 28-Jährige noch nie positiv getestet wurde, zweifeln viele seine Leistung an. „Seltsamer Fahrstil, verdächtige Resultate“, titelte beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung während der ersten Woche der Tour. Froome

Je besser wir unseren Job machen, desto mehr glauben die Leute, dass wir dopen.

der Engländer Bradley Wiggins, der 2012 die Rundfahrt gewann (siehe Grafik). Die Verantwortlichen von ARD und ZDF zogen Konsequenzen aus der Betrugswelle. Seit zwei Jahren zeigen die öffentlich-rechtlichen Sender die Tour nur noch in Kurzform. Tagesetappen werden entweder gar nicht mehr gezeigt oder nur noch zusammengefasst – weil die Quoten nicht mehr stimmen, aber auch weil die Sender ein Zeichen setzen wollen für einen sauberen Sport. Christopher Froome könnte die Galionsfigur sein, nach der sich

frustrieren solche Schlagzeilen. „Je besser wir unseren Job machen, desto mehr glauben die Leute, dass wir dopen“, klagt er. Zu verdanken hat er das seinen Vorgängern im Gelben Trikot. Der deutsche Held der ersten Etappe, Marcel Kittel, pflichtet Froome bei: „Vorbilder im Radsport - die sind nach all den Skandalen gestorben. Ich will meinen eigenen Weg gehen“, sagt er. Es gebe auch „gute Typen im Radsport“, sagt Kittel fast schon verzweifelt. Das Gelbe Trikot hat er nach nur einem Tag wieder abgeben müssen. Und damit auch die Last des Hauptverdächtigen.


W Ein

sympathisches

SPORTMEDIZIN

Gen(ie) Perikles Simon entwickelte den ersten Nachweis für Gendoping. Seither ist er ein international anerkannter Experte im Anti-Doping-Kampf. Der Mainzer Sportmediziner ist ebenso charismatisch wie ehrgeizig. Vor allen Dingen jedoch ist er Wissenschaftler aus Leidenschaft.

weiss//wissenschaft enn Perikles Simon über sein Fach- ckelt – ein Katalysator für seine gebiet doziert, könnte man ihm Karriere. Denn die Entwicklung des wohl stundenlang zuhören. Der Tests verhalf ihm vor allem zu jeder großgewachsene, drahtige Profes- Menge medialer Aufmerksamkeit. sor ist ausgesprochen eloquent. Er „Das Phänomen Doping ist nun einspricht mit ruhiger, angenehmer mal sehr medienwirksam“, betont Stimme und vermag es, selbst dem Simon, der seither ein begehrter Laien ein Gefühl für die Feinheiten Interviewpartner zu diesem Thema seiner Arbeit zu vermitteln. „Eine geworden ist. „Doping ist Saisonübergewichtige 50-Jährige über- geschäft“, sagt er. Und jetzt, da die säuert schon, wenn sie im Büro zur Tour de France ihr 100. Jubiläum Kaffeemaschine läuft“, erklärt er feiert, ist wieder einmal Saison. dann beispielsweise. „Da brauche Doch obwohl Simon einräumt, dass ich abends gar nicht mehr zu fra- ihm die mediale Anerkennung für gen, wie sie sich fühlt.“ Die Begeis- seine Arbeit durchaus schmeichelt, terung mit der er dabei erzählt, ist bleibt die Anti-Doping-Forschung ansteckend. Denn der 40-Jährige doch eher Mittel zum Zweck. „Ich ist nicht nur ein echter Fachmann, bin Belastungsphysiologe“, erklärt sondern auch eine regelrecht ein- er. „Doping ist eher ein Nebenasnehmende Persönlichkeit: Sympa- pekt meiner Arbeit, der vor allem thisch, ehrgeizig und zielstrebig. einen finanziellen Anreiz besitzt.“ Und so findet sich kaum jemand, Über die so generierten Einnahder ein schlechtes Wort über Perik- men finanziert Simon stattdessen les Simon zu verlieren hätte. Vor al- andere Bereiche seiner Forschung. lem in seinem direkten beruflichen Diese Mischung aus Leidenschaft Umfeld schwärmen viele von seiner und Pragmatismus ist typisch für herzlichen und offenen Art. „Er hat Simon. Er weiß, was er will. Er weiß keinerlei Berührungsängste“, sagt aber auch, was er tun muss, um es zu etwa Sara Breitbach, selbst wissen- bekommen. schaftliche Mitarbeiterin und DokWas es außerdem noch braucht, torandin der Sportmedizin. Doch das unbestreitbare Doping ist Saisongeschäft. Charisma hilft Simon nicht nur im täglichen Umgang Und momentan ist Tour de France. mit Mitarbeitern. Profitiert hat davon auch schon seine Karriere. Ella Lachtermann, ist ein außergewöhnliches Talent Leiterin der Sportmedizinischen für die Wissenschaft. Und darüAmbulanz, saß 2007 in der Beru- ber, dass Perikles Simon diese Fäfungskommission für die Mainzer higkeiten besitzt, gibt es eigentlich Professur. „Er war eigentlich nicht keine zwei Meinungen. „Er hat viel der Favorit, weil er so jung war, aber Talent. Manche hier sagen sogar er hat alle beeindruckt“, erinnert sie er sei ein Genie“, sagt Ella Lachsich. „So jemand läuft einem nicht termann. Geschätzt wird er dafür nicht mehr nur in den Kreisen der alle Tage über den Weg.“ Die Antriebsfeder für Simon Wissenschaft. Auch die Politik hat scheint dabei ein schier unstillba- den Anti-Doping-Experten Simon rer Ehrgeiz und Wissensdurst. „Ich längst für sich entdeckt. Im verganhabe eine Menge Biss“, sagt er über genen Jahr war er in eine Sitzung sich selbst. „Den Dingen auf den des Sportausschusses in den BunGrund zu gehen“, das sei seine ver- destag geladen. Gerade als sich Perikles Simon mutlich größte Leidenschaft. Die Mitarbeiter am Institut berichten über den Umgang der Politiker mit davon, wie er morgens um acht ins dem Thema Doping beschwert, klinBüro kommt und dieses bis in die gelt sein Telefon. Er wirkt ehrlich Abendstunden kaum verlässt. Dazu überrascht. Und das obwohl er als kommen inzwischen zahllose Aus- gefragter Mann der Wissenschaft häufige Anrufe doch eigentlich gelandsaufenthalte. Verantwortlich für die vielen Rei- wohnt sein müsste. Doch irgendwie sen ist sein exzellenter Ruf als Anti- passt auch das ins Bild. Es verleiht Doping-Experte. Zwischen 2008 ihm eine Aura der Bodenständigund 2011 hatte Simon den weltweit keit. Ein Genie? Vielleicht. Zuminersten Test für Gendoping entwi- dest aber ein sympathisches.

Zielstrebig und doch bodenständig: Perikles Simon

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Von

Pirmin

Clossé

Foto: picture alliance/dpa


weiss//netz

SOCIAL SHARING

Kostenlose Kindheitsträume

H

einz Löhr reißt die Augen auf. Noch immer wird seine Stimme lauter und schneller, wenn er davon erzählt, wie sich sein Kindheitstraum an einem Sonntag vor zwei Monaten erfüllte. Schon als kleiner Junge hatte er von einer eigenen Gitarre geträumt. Doch als der 25-jährige Malerlehrling Vater wurde, war plötzlich kein Geld mehr da für den Kindheitstraum. Heinz hatte das Ziel schon fast aus den Augen verloren, da trat er der Facebook-Gruppe Free your Stuff Mainz bei. „NEED“ schrieb Heinz in großen Buchstaben vor seine Anzeige – jeder sollte wissen, dass er auf der Suche nach etwas ist. Wer etwas anbieten möchte, schreibt „GIVE“ an den Anfang eines Inserats. Schon nach wenigen Stunden meldete sich eine ältere Dame bei ihm. „Sie sagte, dass ihr Sohn kaum noch auf der Gitarre spielen würde und sie diese gerne verschenken würde“, erinnert sich Heinz. Die Gitarre sei zwar nicht mehr neu, aber noch sehr gut erhalten. „Dafür hätte ich sonst nie Geld gehabt, ich muss alles in meine beiden Kinder investieren.“ Simon Neumann hat stets ein breites Lächeln auf dem Gesicht, wenn er von solchen Geschichten erfährt. Es sind die Momente, in denen sich all die Arbeit für ihn gelohnt hat. „Deswegen habe ich das alles gemacht“, sagt der Student dann gerne. Im Dezember 2012 gründete der 23 Jahre

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In der Facebook-Gruppe Free your Stuff Mainz verschenken Mitglieder alles, was sie nicht mehr brauchen. Das Konzept ist einfach und beliebt. Selbst Flugtickets und Von Niklas Autos werden umsonst angeboten.

Schenk

alte Politikstudent die Gruppe. Eine Kommilitonin hatte ihn zu der Idee inspiriert: Nachdem sie in Luxemburg einen Umsonstladen besucht hatte, war sie so begeistert von der Spendenbereitschaft vieler Menschen, dass sie die erste Free your Stuff-Gruppe überhaupt in Trier gründete. Was dort funktionierte, setzte sich auch in Hamburg, Berlin oder Bonn durch. Die größte Gruppe in Deutschland ist mit 10.500 Mitgliedern jedoch die in Mainz, die Simon gründete, nachdem er für sein Politikstudium von Trier nach Mainz gezogen war. Als er das Angebot las, wusste Christopher Huber, dass er sich beeilen muss. Das Buch, das der Barkeeper gerade las, legte er zur Seite und tippte so schnell wie möglich

Wir sind gegen die Wegwerfgesellschaft.

eine Nachricht an die Person, die gerade ein Auto angeboten hatte. Auf die Rechtschreibung achtete der 36-Jährige nicht mehr – aber das war dem Empfänger scheinbar egal. Denn Christopher war der erste Interessent, der sich meldete. Wenige Tage später parkte Christopher einen zwar schon etwas in die Jahre gekommenen, aber noch voll funktionstüchtigen Ford Fiesta in seinem Hinterhof. „Nur an den Stoßstangen und am Auspuff musste ich was tun“, sagt der Barkeeper. Die vorherige Besitzerin, eine Sportstudentin, hätte den Wagen sonst wohl auf den Schrottplatz gebracht, um einer Reparatur zu entgehen, meint

Simon Neumann. „Wir haben mit der Gruppe schon Tonnen von Müll verhindert“, sagt er. „Wir wirken der Wegwerfgesellschaft entgegen.“ Wenn Simon am Wochenende in die Heimat nach Trier fährt, um seine Eltern oder die Freundin zu besuchen, gibt es ein festes Ritual. Bevor der Student anfängt, seinen Koffer zu packen, durchwühlt er zuerst den Kühlschrank. Oft findet er dort einen Liter Milch oder ein Dutzend Eier, das wenige Tage später ablaufen würde. „Bevor ich die Sachen dann wegschmeiße, biete ich sie lieber im Internet an“, sagt Simon. Neben Free your Stuff hat der Student noch weitere Gruppen gegründet, in denen Mitglieder Mitfahrgelegenheiten oder Nebenjobs anbieten können – und auch eben eine FoodsharingGruppe, in der Lebensmittel verschenkt werden. „Was mit Facebook möglich ist, wird jetzt erst entdeckt“, meint er. „Solche Gruppen zeigen, warum soziale Netzwerke sozial sind.“ Vor Kurzem wurden zwei Flugtickets nach Valencia in der Gruppe angeboten. Es hätte der erste Urlaub für Heinz Löhr seit vier Jahren werden können. Doch dieses Mal war der 25-Jährige zu spät gekommen. „Ein bisschen abschalten mit meiner Frau hätte gut getan“, sagt Heinz. „Ich habe aber auch schon genug Glück gehabt.“


Foto: flickr.com: Tássos Village Grill

weiss//service

RICHTIG GRILLEN

Das perfekte Steak

Von

Julius

Braun

Z

ufrieden beglotzen Manfred* und Dieter* die vier brutzelnden Rinderfilets auf dem Grillrost. „Das perfekte Steak“ hat Müller dem Nachbar auf seinem nagelneuen Kugelgrill versprochen. „Kipp doch noch ein bisschen Bier drüber“, meint Manfred. Dieter schüttelt fachmännisch den Kopf. „Da entstehen giftige Gase!“ „Wenn‘s dir um die Gesundheit geht, hättest du dir einen Elektrogrill kaufen müssen“, entgegnet der andere. Dieter rümpft die knollige Nase: „Ein echter Grill muss schon rauchen.“ Beide nippen nachdenklich am Bierglas. Klugscheißer und MöchtegernExperten, nirgendwo sind sie so verbreitet wie beim Grillen. Ein Stückchen halbgares Wissen hat fast jeder Hobby-Grillmeister parat, um es munter beim Fachsimpeln am zischenden Rost vorzutragen. Keine Frage: Gesund und lecker grillen ist eine Herausforderung. Mehr als 5.000 Euro kostet mancher ProfiGrill. Hinzu kommen unter anderem spezielle Kohle, Grillanzünder, Zangen und natürlich das Fleisch. Aber: Wer ein paar Regeln beachtet, kann mit der richtigen Zubereitung auch für kleines Geld herausragende Resultate erzielen – egal ob Kohle-, Gas- oder Elektrogrill. Ungesund wird das Grillen, wenn Fett in die glühenden Kohlen tropft und Fleischstücke stark verbrennen. Ein Weg, um das zu vermeiden, ist das indirekte Grillen. „Mit Gasgrills schmeckt es doch gar nicht.“ Vorurteilen wie diesen

Beim Grillen gibt es eine Menge zu beachten: Angefangen beim Gerät, über die Kohlen, bis hin zur Technik, der Temperatur und dem richtigen Würzen. Wer nicht aufpasst, riskiert seine Gesundheit.

begegnet Peter Süße häufig. Seit 32 Jahren betreibt er ein Geschäft für Gartenmöbel und Grills am Stadtrand von Mainz. Nebenher veranstaltet er Grillseminare, auf denen seine Teilnehmer das Grillen lernen. „Zwischen Gas-, Elektro- oder Kohlegrill kann man geschmacklich bei richtiger Zubereitung eigentlich keinen Unterschied feststellen“, sagt er. Trotzdem grillt er heute traditionell mit Kohle. Schon bei der Auswahl des Brennmaterials gebe es große Unterschiede. „Poröse Holzkohle hat nach 30 Minuten ihren Hitzehöhepunkt schon erreicht“, sagt Süße. Daher bevorzugt er Braunkohlebriketts, die bis zu dreieinhalb Stunden brennen. Zum Anheizen schüttet Süße die Briketts in einen Anzündkamin. „Das geht am schnellsten.“ 82 Prozent der Deutschen grillen mit Kohle. Doch Gas liegt im Trend: 16 Prozent nutzten 2011 hierzulande hauptsächlich einen Gasgrill - Tendenz steigend. Viele schwören auf die Geschmacksunterschiede zwischen den Grillgeräten. Doch selbst Sternekochs wie Johann La-

fer sagen: „In einer Blindverkostung habe ich Gästen Fleisch vom Holzkohlegrill und vom Gasgrill angeboten. Keiner der Gäste hat einen Unterschied schmecken können.“ Der große Vorteil von Holzkohlegrills ist ihr Preis. Ab fünf Euro lässt sich bei einschlägigen Händlern ein Billigmodell ergattern. Elektrogrills gibt es ab 30 Euro, Gasgrills ab 80 Euro. Die Vorzüge von Letzteren: Zügiges Anheizen, höhere Sauberkeit, und ohne Kohle verbrennt auch kein Fett in der Glut. „Ich grille mit der Hitze und nicht mit dem Feuer“, sagt Süße. Er ist ein Verfechter des indirekten Grillens. Dafür benötigt man einen Kugelgrill beziehungsweise einen Grill mit emailliertem Deckel, der die Hitze reflektiert. Die günstigsten Modelle gibt es ab 40 Euro. Die Kohle liegt bei dieser Methode lediglich an den äußeren Seiten des Grills - in der Mitte steht eine Tropfschale. Zunächst brät Süße das Fleisch kurz außen auf dem Grill an. „Damit sich die Poren schließen“, erklärt er. * Namen geändert

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weiss//service

grillkultur So grillt deutschlanD

82

% Elektro

Hauptsächlich genutzte Grillgeräte

%

% Würstchen

stimme zu

21%

21%

Im Sommer grillen wir mindestens 1x pro Woche

Fisch

Brot

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23%

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Steak

stimme voll und ganz zu

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72

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80 55 Bei uns steht meistens der Mann am Grill.

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37

58

stimme überhaupt nicht zu stimme weniger zu

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%

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Gas

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6 13

16

22

% Holzkohle

15

55

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%

zu Hause

bei Freunden

%

%

auf Grillplätzen

in der freien Natur

9 von 10 Deutschen

grillen gern. Quelle:

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Tomorrow Focus Media Ergebnisse einer Befragung von knapp 900 Personen rund um das Thema Grillen // Befragungszeitraum: Juni 2011

Grafik:

Robert

Köhler


weiss//service Anschließend legt er die Stücke in die Mitte des Grills, wo statt Kohle eine Aluschale unter dem Rost liegt und schließt den emaillierten Deckel. Durch die zurückstrahlende Hitze werde das Fleisch schön zart. „Die Kohle sollte nicht mehr rauchen, wenn man das Fleisch auflegt“, sagt Süße. Das indirekte Grillen verhindert, dass abtropfender Bratensaft und Fett in der heißen Kohle verbrennen. Beim direkten Grillen bilden sich dadurch krebserregende Stoffe wie Benzpyren. Diese würden sich durch den aufsteigenden Rauch am Grillgut ablagern, erklärt die Verbraucherzentrale. Für direkt gegrilltes Fleisch bedeutet das laut Wolfgang Jira vom Max Rubner-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel: „Geht man von einer Steakgröße von 250 Gramm aus, so würde man durch den Verzehr eines Steaks ungefähr so viel Benzpyren aufnehmen wie durch das Rauchen von zehn Zi-

// Rezept Bananen

mit Walnusskrokant

und Eis

Zutaten pro Person ½ Banane Amaretto Walnüsse geröstet Zucker und Zimt Sahne Vanille-Eis

Tipp: Niemals mit der Gabel ins Steak stechen

garetten.“ Trotzdem sei Rauchen grundsätzlich deutlich schädlicher als Grillen, da Zigaretten eine Vielzahl krebserregender Stoffe enthalte und Grillfleisch nicht jeden Tag konsumiert werde. Wer trotzdem direkt Grillen will, dem rät die Verbraucherzentrale Grillschalen zu benutzen, damit kein Fett in die Glut gelangt. Außerdem sollten Grillfreunde darauf verzichten, Grillgut zu sehr mit Marinade einzufetten oder Bier über das Fleisch zu kippen, da dies beim Verbrennen ebenfalls schädliche Dämpfe erzeuge. Es gilt: Je fetter das Fleisch, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass etwas herunter tropft. Experten empfehlen zusätzlich kein gepökeltes Fleisch zu grillen, verkohlte Stellen abzukratzen

Die Bananen der Länge nach aufschneiden und mit einer Gabel mehrmals durchstechen. Anschließend Amaretto über die Bananen gießen und einziehen lassen. Walnüsse in einer Pfanne anrösten und Zucker hinzugeben. Wenn der Zucker karamellisiert, ist der Krokant fertig. Den Krokant gemeinsam mit etwas Zimt und Zucker auf die Bananenhälften geben. Die Bananen kommen danach mit der Schale nach unten für einige Minuten auf den Grill. Die Banane ist gar, wenn das Fleisch beginnt sich von der Schale zu lösen. Bananen mit restlichem Krokant bestreuen. Mit Schlagsahne und Vanilleeis servieren.

Foto: b ilderu.de

und einen möglichst großen Abstand vom Rost zur Glut einzuhalten. „Dann ist Grillen auch absolut ungefährlich“, sagt Jira. Auf dem Grillseminar stehen heute neben Schweineschnitzeln auch selbstgegrillte Pizza und Bananen auf dem Speiseplan. „Alles, was ihr im Backofen machen könnt, funktioniert auch auf dem Grill“, verrät Süße seinen Teilnehmern und gibt Tipps für das perfekte Steak: „Nie mit der Gabel in das Fleisch stechen.“ „Rindersteaks erst nachher salzen“, da das Fleisch sonst seine Flüssigkeit verliere und nach dem Grillen „das Fleisch nicht in Alufolie wickeln“. Sonst beginne es zu schwitzen und trockne aus. „Am besten ist es, das Fleisch nach dem Grillen mit einem Küchentuch ab-

zudecken und fünf Minuten stehen zu lassen“, so Süße. Dieter beklopft seine Steaks kritisch mit der Grillgabel. „Jetzt sind sie fertig“, verkündet er stolz und trägt die Stücke zu seinem Nachbarn Manfred. Doch beim Probieren folgt die Ernüchterung. Das Fleisch ist zäh. „Es ist schwer ein gutes Steak zu machen“, weiß Peter Süße. Er gibt seinen Teilnehmern deshalb noch einen Tipp mit auf den Weg, dem ihm einst ein französischer Kunde verriet: „Steckt die Rindersteaks bei 50 Grad in den Ofen und heizt währenddessen den Grill an. Dann müsst ihr das Fleisch nur noch zwei Minuten von jeder Seite scharf anbraten. Fertig.“ Das Ergebnis? Süße lächelt. „Butterzart!“

// Vegetarisch grillen Vegetarier haben es auf Grillpartys meist schwer. Doch auch Fleischverweigerer können beim geselligen Grillen auf ihre Kosten kommen – abseits von aluverpackten Kartoffeln und Äpfeln, die in der Kohle verbrennen.

Neben gegrilltem Gemüse sind sogenannte Fleischersatzprodukte eine leckere Alternative. Rohwaren für das Pflanzenfleisch sind hauptsächlich Sojabohnen, Weizen oder Milch. Hinzu kommen verschiedene pflanzliche Öle, Gewürze,

Aromen oder Hefeextrakt. Aussehen und Konsistenz kommt echtem Fleisch oft erstaunlich nahe. Eine Untersuchung der Firma Ökotest im Jahr 2012 kam allerdings zu dem Ergebnis: Nicht alle der Produkte sind empfehlenswert. Einige

enthalten hohe Mengen an Geschmacksverstärkern, Salzen, Fettschadstoffen oder Gensoja. Der Tipp: Vorher genau über gekaufte Produkte informieren und Zutatenliste studieren. Oder: Tofu einfach selbst marinieren.

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weiss//am end

Mäuse bald Organspender? Foto: Deviant Art

Blum

Daniel

Von

W

er bei Labormäusen an niedliche weiße Nager denkt, der irrt. Die Stammzellen- und Transplantationsforschung hat in den letzten 20 Jahren ordentlich zugelegt und dabei eine Freakshow voller Chimäre vorgestellt. Vor mehr als 15 Jahren sorgte ein Bild aus der Wissenschaft für großes Aufsehen. Darauf zu sehen war eine kleine nackte Labormaus, die aus einer Petrischale hervorlugt. Der Aufreger: Aus ihrem Rücken wuchs etwas hervor, das einem menschlichen Ohr verdächtig ähnelte. Die Geschichte der Ohrmaus ging um die Welt. Von einem „Durchbruch auf dem Gebiet der Transplantationschirurgie“ berichtete damals beispielsweise Die Welt. Amerikanische Wissenschaftler hatten es geschafft, ein in einer Retorte gewachsenes Ohr auf den Rücken einer Maus zu transplantieren. Damit konnten sie beweisen, dass in vitro gezüchtete Organe tatsächlich überlebensfähig sind. Dass es sich bei dem Ohr keineswegs um ein menschliches oder um menschliche Zellen handelte, spiel-

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te für die Forscher unter der Leitung von Jay Vacanti keine Rolle. Das Ohr bestand aus Rinderknorpelzellen, die sich entlang eines dreidimensionalen Polymergerüsts vermehrt hatten. Dass ein solches Bild auf Protest stößt, ist fast schon selbstverständlich. Sowohl Wissenschaftler als auch Tierschützer fragten sich: Wer braucht Rinderzellen in Form von menschlichen Ohren auf Mäuserücken? Was soll das? Den amerikanischen Forschern ging es darum, Aufmerksamkeit für ihre Fortschritte in der Transplantationschirurgie zu erlangen. Wie weit diese mittlerweile vorangeschritten ist, zeigen nun jüngste Forschungsergebnisse aus Japan. In Yokohama gelang es Wissenschaftlern, Lebergewebe aus menschlichen Stammzellen zu züchten und dieses erfolgreich (wie soll es auch anders sein) in Mäuse zu transplantieren. Das Gewebe habe bereits Proteine produziert und Medikamente abgebaut und dadurch einige Funktionen der Leber übernommen, erklärt Takanori Takebe von

der Yokohama City University im Fachmagazin Nature. Eine Minileber habe eine Größe von gerade einmal fünf Millimeter und werde den Mäusen in die Köpfe gepflanzt. Auf diese Weise sei es einfacher, die Versuchsreihe zu überwachen. Bis ein solches Verfahren auch erfolgreich an Menschen getestet werden kann, ist es noch ein weiter Weg. Ziel solcher Versuchsreihen ist es, dem

Wer braucht schon Rinderzellen in Form von menschlichen Ohren auf Mäusen?

Spendeorganmangel entgegenzuwirken. Die Stammzellenforschung liefert jedoch bereits vielversprechende Ergebnisse. Spannend bleibt dabei vor allem, welches Organ als nächstes auf den kleinen weißen Mäusen landet. Die Filmrechte hat sich Til Schweiger jedenfalls jetzt schon gesichert. Unser Vorschlag: Dreiohrratte.


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