Respektive 02/2011

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02 / 2011 ~ Zeitbuch für Gegenblicke

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Respektive Gewalt,

CHF 19.– EUR 13.–

Angst

und Politik



ouverture

Ja,

wer sagt denn, dass ich auch wirklich schiessen muss, Weil ich heutzutag’ einen Revolver trag,

Ja, wo seht ihr denn da einen Zusammenhang, Weil ich »Hände hoch!« von euch verlang, Nein, ich liebe euch, und ich schiess nicht gleich,

Angst vor mir?

Warum habt denn ihr so schrecklich

Ich bin

Kein Zeichen von

Ja, wer sagt denn, dass ich auch jemand töten muss

Mensch und Christ und ein Revolver ist

Gewalt, wenn ich ihn halt.

Wenn ich überdies zufällig wirklich schiess, Sagt mir, wer von euch das für eine Wenn die

Drohung hält,

Kugel fliegt und jemand fällt.

Nein, ich liebe euch, und ich töt’ nicht gleich,

Warum habt ihr denn so schrecklich Angst vor mir?

Ich bin Mensch und Christ und ohne

Ein

Mord für mich sehr mies, auch wenn ich schiess.

Ja, wer sagt denn, dass ich nicht eure Weil ich ohne

Zweifel ist

Freiheit

Hass die Tür verrammeln lass,

will,

Wieso seht ihr das Haus als ein Gefängnis an, Weil nur ich nach draussen gehen kann.

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Arrest, ich halt niemand fest,

Das ist kein

Warum habt ihr denn so schrecklich

Ist die Tür versperrt, bleibt ihr unversehrt,

Ja, ihr alle seid in

Sicherheit.

Ja, wer sagt denn, dass ich nicht euer Wenn ich

Angst vor mir?

Bestes

will

Geld verprass und euch was lernen lass,

Habt ihr einmal die

Schule hinter euch gebracht,

Könnt ihr sehn, wie fröhlich

Arbeit macht.

Nein, ich liebe euch, und ich mach euch reich, Nicht charakterlich und nicht so reich wie mich, Aber reich genug, seid nicht superklug Und begnügt euch gleich, dann seid ihr reich.

Stein

So kommt

Dass ich dazu auch einen

Warum ich ohne

auf Stein, seht ihr endlich ein,

Revolver brauch?

Hass die Tür verrammeln lass,

Und, wenn nötig, dann auch schiessen kann. Und wenn ihr das erst einseht, seid ihr frei!

Dann wählt ihr auch die richtige Partei!

Dann lasst ihr meine

Sache nicht im Stich!

Und dann kriegt ihr Revolver, so wie ich! ›Kapitalistenlied‹ – Georg Kreisler

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Editorial

Who is number two?

N

icht erst seit gestern ist Gewalt omnipräsent und zeigt sich als giftgrüner Einheitsbrei: In einem Topf brodeln Amokläufe, Hooliganismus, politische Gewalt, Autoraser, die ›Verrohung der Sitten‹, sexuelle Gewalt, soziale Unruhen und Rangeleien auf dem Pausenhof. Blätter steigern mit marktschreierischen Berichten über Mord und Totschlag ihre Auflagen, Sender ihre Einschaltquoten. Politiker mit ausgefeilten Anti-Rezepten sind auf Stimmenfang, Meinungsforscher_innen liefern Statistiken am Laufmeter und mal mehr, mal weniger originelle Köpfe schreiben Bestseller über das Phänomen, seine Ursachen und das, was dagegen zu tun sei. Geprägt von Angst zeigt sich der herrschende Diskurs und auch von einer allgemeinen, man möchte sagen gleichgeschalteter Dämonisierung aller Gewalt. – Insbesondere jener, die sich wie auch immer der Ordnung des Bestehenden widersetzt. Als repressive oder präventive demgegenüber ist Gewalt legitimiert und

(moralisch) gerechtfertigt, bezieht ihre Berechtigung eben gerade daraus, die andere, die »bedrohliche« zu unterbinden. Ausser Kraft gesetzt ist da Pfarrers Mahnwort vom Zweck, der die Mittel eben gerade nicht heilige. Klar. Kommt Gewalt stets doch von Ex, dem diffusen Ausserhalb. Tentakel, die da greifen sind zahlreich: Ausländer rasen /, Killerspiele zerrütten die Seele der /, korrupte Beamte gefährden die bürgerliche /, der Islam erklärt der säkularen / den Krieg. Nach gesellschaftlichen Ursachen wird nicht gefragt, Gewalt vielmehr auf den moralischen Begriff des Bösen gebracht, das einbricht: in die Familie, in die Nation, in die gesellschaftliche Norm. Als Alien lackiert lässt »Gewalt« sich so befehden. Symptombekämpfung ist angesagt: Taliban jagen in Afghanistan, Kaugummikauen im Unterricht verbieten, Überwachungskameras installieren, Knüppel aushändigen. Placet? Die Moral von der Geschicht’: Eine Umkehrung dessen, was der liberale Rechtsstaat einmal

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als sein Credo erscheinen liess. Alles sei erlaubt, was nicht verboten ist, hiess es. Wie weit ist es gekommen. Alles soll nun verboten werden, was nicht explizit erlaubt sein soll? Den sichtbaren Spuren der Gewalt den Kampf zu erklären, darum geht es. Beinahe zum alleinigen Kriterium erhoben wird dabei irgendein ›subjektives Sicherheitsempfinden‹. Zunehmend prägt diese Haltung den herrschenden Diskurs und zieht eine Politik nach sich, die den öffentlichen Raum einer möglichst umfassenden Verwaltung unterwirft. Alle Formen des Dissenses dagegen scheinen diskreditiert. Jeder Konflikt, der nicht lediglich die Verwaltung des Status Quo variiert, stört den zum schützenswerten Gut verklärten Konsens. Gegen Unerwartetes, gegen grundsätzliche Auseinandersetzung und damit gegen Bestrebungen radikaler Veränderung dichtet sich das Bestehende so ab. Wo ein Konflikt explizite Formen annimmt, werden selbige sogleich zum Problem deklariert, bekämpft und zum Verschwinden gebracht. In der verwalteten Welt ist aller Widerspruch, der andere Regeln setzt, weil er mit den herrschenden nicht einverstanden ist, nichts anderes als ein Sicherheitsproblem. Die Gewalt, die dieser Ordnung selbst inhärent ist, sowie die Ursachen und die systemischen Zusammenhänge, die den verschiedenen Ausbrüchen von Gewalt zugrunde liegen, werden demgegenüber nicht thematisch und dadurch unsichtbar gemacht. Dies zeigt sich in der Abdichtung des Bestehenden und seiner Logik gegenüber dem Möglichen. Ein System, das die eigene Gewaltförmigkeit ausblendet, lässt jene, die unter seiner Herrschaft stehen, in Angst zurück. Angst aber, weil sie diffuses ist, sucht nach einer Symbolisierung dessen, was sie verursacht. In einem Klima dif-

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fuser Ängste lässt sich so Sündenbockpolitik betreiben. Und es verhindert zugleich, aus den Verhältnissen, die Angst hervorbringen, auszubrechen.

...und aber.... Diese Gesellschaft, die sich in ihrem Bewusstsein und ihren Äusserungen gegen alle grundsätzlich anderen Möglichkeiten abdichtet, ist die Gesellschaft unter bürgerlicher Hegemonie: eine Hegemonie, die sich in westlich»demokratischen« Gesellschaften eins ums andere Mal äussert als xenophober oder anderweitig Ausgeschlossene und Entrechtete definierender Konsens derer Stimmen, die bemächtigt sind, sich Gehör zu verschaffen. Die Durchsetzung dieses Konsenses ist gleichbedeutend mit Entsolidarisierung zwischen den einzelnen Menschen und zwischen verschiedenen Gruppen. In seiner Festigung und seinem Ausbau ist das Funktionieren der etablierten Demokratien – inkl. ihrer propagierten Ausgangspunkte, als da wären Freiheit, Menschrechte und Menschenwürde – ad absurdum geführt. Konkret zeigt sich das in Verordnungen, die Vergehen definieren, welche jene zu Schuldigen werden lassen, für die die kapitalistische Gesellschaft kein Leben in Würde und Freiheit vorgesehen oder zu bieten hat. Wir sind Sozialschmarotzer, Asoziale, X, Sans-Papiers; und Legalität ist der Fetisch, der die Hintertreibung einstmals vom aufstrebenden Bürgertum aufgestellter ideologisch-ethischer Massstäbe rechtfertigt. Ironie der Geschichte? Werden Gesetze dazu verwendet, Gruppen zu definieren, auszuschliessen und zu entrechten, verlieren sie den letzten Anschein von Legitimität.


Jedoch. Durch die schiere Existenz derer, die sie zu verwalten, beherrschen und neutralisieren trachtet, ist die bürgerliche Gesetzgebung in Frage gestellt. Sie bedarf des Repressionsund Zurichtungswerkzeugs: Polizei, Schule, Kulturindustrie. Der Betrieb darf nicht gestört werden, Tsunamis zum Trotz; ruhig soll es bleiben im Lande. Umso mehr die Bourgeoisie auch den Klassenkampf von oben führt, ist ihr daran gelegen, selbigen nicht sichtbar werden zu lassen. Viel lieber doch verbirgt sie sich hinter Verwaltungsapparaten und ihre Interessen hinter ökonomischen Notwendigkeiten. Die bürgerlich verfasste Demokratie erweist sich denn auch als gleichbedeutend mit der Abschaffung des Politischen zugunsten der Verwaltung des Bestehenden. Politik demgegenüber, um sie endlich hervorzukramen, ist nicht ruhig, kann nicht auf sich sitzen lassen. Politik unterbricht – den Courant Normale, die Debatte, das Fliessband, den Verkehr. In ihr verlangen die Anteilslosen ihren Anteil, sagt Jacques Rancière. Ernsthaft: Weil wir nicht auf uns sitzen lassen wollen, überhaupt, weil wir nicht wollen, nicht verwalten und verwaltet werden, darum wollen wir Politik, unsern Anteil eben. Ohne »Gewalt« geht da nix? Wie lässt sich die bürgerliche Hegemonie, die sich als blosse Verwaltung des Bestehenden und seiner »Notwendigkeiten« ausdrückt, durchbrechen? Differenziertere Hinsichten sind gefragt. Daher: Wie lässt Gewalt sich sichtbar machen, darstellen, ausdrücken und einsehen? Wie sich analysieren? Und schliesslich wie sich real durchbrechen und überwinden? Darum geht es in diesem Band, einigen Stoff bieten wir dazu: Wir werden repressive Gewalt einer Kritik unterziehen, strukturelle Gewalt sichtbar machen und schliesslich Ansätze zur Gewinnung eines

positiven Gewaltbegriffs aufzeigen, in dem die Normalrealität der verwalteten Welt durchbrochen werden kann. So Gott – oder war es der Mensch? sind es wir? – will.

Kritik repressiver Gewalt Repressive Gewalt, was ist das? In »Angst vor der Revolte: Kneubühl contra Hobbes« legt Gabriel Hürlimann ein Augenmerk auf die Historizität und Relativität des staatlichen Gewaltmonopols. Er stellt am Extrem, und darum plastisch schön, – eines Amoklaufs, stattgefunden in einer Schweizer Kleinstadt im Spätsommer 2010 – die Frage nach der Rolle, die Steps Beyond, will heissen Grenzüberschreitungen, für dessen Legitimierung spielen. Resultiert aus jeglichen Durchbrechungen des Gewaltmonopols zwangsläufig dessen Stärkung? Jein: Jede grundsätzliche Transformation unterbricht herrschende Ordnungen, schlägt Breschen. Dass offene Gewalt seitens staatstragender Kräfte jedoch immer wieder handfest in Erinnerung gerufen, der repressive Apparat, diffuse Ängste sich zu nutze machend mit dem Argument, den Braven vor den krankhaft Verwirrten zu schützen, ausgebaut und legitimiert wird, scheint Methode zu haben. Wie Shakespeare sagt. Mag durchaus mit Einverständnis der Vielen die Fahrt der Blindwütigen durch die Polizei unzimperlich gestoppt, Ordnung wieder hergestellt werden, kann ebendiese in schiefes Licht geraten. Repression gegen den braven Bürger, der lediglich seine demokratischen Rechte einfordert, stösst auf. Dietrich Heissenbüttel zeigt anhand der Ereignisse in Stuttgart in seinem

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Beitrag »Alle Gewalt geht vom Staate aus«, wie es an unerwarteten Orten des gesellschaftlichen Raums zu Brennpunkten kommen kann, in denen sich Auseinandersetzungen anbahnen und abspielen, die sich in Form (und weniger vielleicht sogar im Inhalt) den normalrealen Gegebenheiten des »demokratischen« Verwaltungsapparats entziehen und widersetzen. In seiner inhaltlichen Begrenztheit ist ein Protest wie der in Stuttgart leicht zu kritisieren, doch gerade solche begrenzten Proteste führen zu konkreten Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Gewalt, die zu Politisierungen führen können, in denen sich plötzlich grundsätzliche Fragen von selbst stellen. Andere Formen der Politik treten so als Möglichkeit auf. Gestalteter »Volkswille« manifestiert sich demgegenüber in der Einrichtung »Ausschaffungsgefängnis«. Hier legt sich eines der direktesten Gewaltverhältnisse in westlich »demokratischen« Gesellschaften dar. Bürgerliche Legitimationsdiskurse, in denen es um Menschenrechte, Freiheit, Demokratie geht, sind hier ad absurdum geführt. Es bleibt den Bewahrern des Bestehenden, einen solchen Unort entweder möglichst unsichtbar zu machen oder aber seine direkte Gewaltförmigkeit mit einem fetischisierenden Verweis auf seine Legalität zu rechtfertigen. Der Gesetzgeber, sprich: das »souveräne Volk« (also das mit dem richtigen Pass und so...), befehle eben, den Menschen, die da kommen, das Leben möglichst schwer zu machen, sie also so sehr zu quälen, dass sie wieder gehen. Hier wird die Unerträglichkeit der bestehenden Verhältnisse so offensichtlich, dass sie nicht mehr schön geredet oder geleugnet, sondern nur noch versteckt oder aber offen als eben terroristische legitimiert werden können. In der Interviewcollage »Der

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Ausländer hat sich gültige Reisepapiere zu verschaffen und die Schweiz umgehend zu verlassen« treten Ausländer, Betreuer und Institution auf. Humanitäre Tradition à la Mode Suisse. Mit Andy Warhol und Charles Moores beschäftigt sich Tobias Lander in »Triumph der Ohnmacht«. Am Beispiel Charles Moores Photos des Civil Rights Movements und Warhols Race Riot Serie stellt Lander die Frage, ob Bilder von Opfern repressiver Gewalt für politische Interventionen genutzt werden können. Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Ästhetik, die das Opfer ins Zentrum setzt, werden sichtbar und zur Diskussion gestellt. Wie lässt sich repressive Gewalt sichtbar machen? Der Künstler Marc Bauer und die Philosophin Christine Abbt geben mit ihrer Arbeit »Herr und Knecht« eine mögliche Antwort darauf. In der Auseinandersetzung mit dem G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 und den Brennpunkten an der EU Grenze ist eine Serie aus Texten und Zeichnungen entstanden, in der Repression in ihrer Hermetik sichtbar gemacht und in Frage gestellt wird. Eine Auswahl der Serie gibt’s bei uns zu schaun.

Strukturelle Gewalt sichtbar machen Während repressiver Gewaltverhältnisse gewahr zu werden man nicht umhin kommt, sind wir in subtileren verflochten, reproduzieren selbige. Sophisticated (engl.). Zweifelsohne liegt in Prints, Film, TV, Netz und Facebook beachtliches agitatorisches Potential – Walter Benjamin hat’s vermutet, die Ägypter_innen haben’s genutzt. Zugleich


übernehmen Massenmedien eine sehr wichtige Rolle bei der Durchsetzung hegemonialer Positionen und hegemonialen Bewussteins. In seinem Beitrag »Disziplinierende Mediendiskurse« zeigt dies Hans Asenbaum auf am Beispiel Österreich und der Sozialschmarotzerdebatte. Eine Gleichschaltung der so freien Presse der bürgerlichen Demokratien ist immer wieder zu beobachten. Wie eine solche genau zustande kommt, wäre eine wichtige Frage, die – unendlich die Geschichte – ein andermal gestellt werden soll. Strukturelle Gewalt und damit einhergehende Ein- und Ausschlussmechanismen sind Thema der Interviews, die Anke Hagemann geführt hat. In den Projekten »Beirut – Mapping Security« von Mona Fawaz und Ahmad Gharbieh und »Grenzgeografien« von Philipp Misselwitz und Tim Rieniets geht es – einmal für Beirut, einmal für Jerusalem – um Auswirkungen von Macht- und Gewaltverhältnissen auf den städtischen Raum und wie diese kartografisch erfasst und dargestellt werden können. So lassen sich im Städtebau und seiner Planung Ein- und Ausschluss konkret ablesen. Architektur zeigt sich als ein Mittel zur Repräsentation und vice versa als eines zur Durchsetzung bestimmter Machtverhältnisse. Das Bewusstsein darüber ist aber auch ein Bewusstsein für die Relativität der Bedingungen unserer Normalrealität, an das sich die politische Frage anschliesst, wie es denn ganz anders sein könnte. Um das Verhältnis von Literatur und Gewalt ist es Adrian Wettsteins »Kleiner Tour de Force« zu tun. Literarische Texte vermögen gerade strukturelle Gewalt sichtbar zu machen und sie so zu thematisieren, dass sie ins Bewusstsein rückt. – Diesmal als erster Schritt der Emanzipation...

Demgegenüber bestimmen (Un)Sichtbarkeiten Teresa Callejo Pajares’ Auseinandersetzung mit der Grenzregion zwischen Spanien und Afrika. In dem Beitrag »In/visible Borders« zeigt sie, wie die Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem nicht nur Diskurse bestimmt, sondern vielmehr noch die materielle Situation der Menschen. Ein- und Ausschlüsse, physische Grenzen.

Gewinnung eines positiven Gewaltbegriffs – Bruchstellen und Widerstand Die Normalrealität der verwalteten Welt durchbrechen. Darum geht es. Mit Worten und mit Taten. Was hindert uns daran, fragt Holger Heide in »Angst und Kapital«. Was hält uns davon ab, den Scheiss endlich wegzuhauen, bedrückende, repressive Verhältnisse umzuwälzen? Heides These ist: die Angst, die von einer Traumatisierung herrührt, die uns durch die ursprüngliche Einzwängung ins Kapitalverhältnis zugefügt worden war. Was heisst das genau? Und wie lässt sich daraus ausbrechen? Der Artikel stellt vielmehr Fragen, als dass er fertige Antworten liefern würde, umreisst jedoch ein Konzept der Solidarität, mit der man sich gemeinsam aus der Angst befreien könnte. Solidarität muss in linken Organisierungen mehr sein als etwas Funktionales und Praktisches: Sie ist Dreh- und Angelpunkt einer neuen kommunistischen Be-

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wegung. Die Klasse der Lohnabhängigen hat sich in ihrem Kampf gegen Entrechtung und Ausbeutung in klassischer Weise an ihren Interessen orientiert. Holger Heide zeigt, dass im Blick auf die eigenen Interessen die Lage als Ausgebeutete reproduziert wird und schlägt demgegenüber vor, die Klasse der Lohnabhängigen solle sich an ihren Bedürfnissen orientieren. Dieser Ansatz bietet eine neue Perspektive auf den Klassenkampf. Statt dass sich die Klasse der Lohnabhängigen in ihrem Selbstverständnis als Ausgebeutete bestätigen und somit als Opfer eines Systems reproduzieren, bietet die Orientierung an den Bedürfnissen die Chance einer aktiven Perspektive. Die Klasse der Lohnabhängigen macht einfach, was sie will. Walter Benjamin und Judith Butler sind zwei, die sich ausführlich mit Gewalt, was sie, wo sie denn und was dagegen zu tun sei, auseinandergesetzt haben. Lina Brion stellt in ihrem Beitrag die Ansätze der beiden einander gegenüber und führt aus, dass es nicht nur die Gewalt im Bestehenden aufzuzeigen und zu kritisieren gelte, sondern der Kritik immer der Wille zur Zerstörung eigen sei, sie also selbst gewaltförmig verfahren muss. Theorie ist wichtig. Aber: Geht’s auch etwas konkreter? Wir haben die Spezialist_innen gefragt und einen Text erhalten vom Revolutionären Aufbau Schweiz über ihr Verständnis des Verhältnisses von Gewalt und revolutionärer Politik. Verschiedentlich schon über Raum und Zeit hinweg wurde die Militanzdebatte innerhalb der Linken geführt. Folgt man den Ausführungen des Revolutionären Aufbaus tut eine ernsthafte indes gerade heute Not. Vor allem auch innerhalb einer sich revolutionär begreifenden Linken. Debatte und Strategien sind hier verknüpft.

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Um weitere Ansätze einer politischen Praxis bzw. der Auseinandersetzung mit solchen geht es denn auch in den Beiträgen von Lukas Germann und Raoul Gschrey. In seinen Reflexionen über das vor gut einem Jahr in deutscher Übersetzung erschienene Büchlein »Der kommende Aufstand« französischer Insurrektionist_ innen plädiert Lukas Germann dafür, Gewalt als politische Strategie weder zu fetischisieren noch zur Trennlinie zu erheben. What the fuck means that?! See for yourself. Demgegenüber geht Raoul Gschrey in kleinen Schritten vor. Mit seinem Versuch, Normen und ihre Gewaltverhältnisse durch künstlerische Interventionen zu subvertieren, illustriert und propagiert er alltagspraktische Handlungsmöglichkeiten. Bloss Ausdruck einer Ohnmacht oder Wege aus selbiger? Nous ne savons pas. Julia Lemmles und Judith Philipps AmokTheater geht gewissermassen den gegenteiligen Weg der meisten anderen Beiträge. Während diese meist versuchen, Kategorien aufzustellen und Grenzen zu ziehen zwischen struktureller und unmittelbar begegnender, zwischen legaler und illegaler, repressiver und revolutionärer Gewalt, werden hier vielmehr verschiedene Erscheinungen von Gewalt in einander verwoben und vermengt. Ist solch eine Collageform in ihrer Assoziativität ein geeigneter Ansatz einer Reflexion über Gewalt? Kann sie einen Schritt der Emanzipation bedeuten? Vielfalt ist garantiert, viel Gewalt auch. Es bleibt nur noch zu sagen, die Debatte möge beginnen. Meldet euch mit eigenen Beiträgen, Texten, Vorschlägen, Entgegnungen...!

Be seein’ you...


Impressum

Respektive

Zeitbuch für Gegenblicke

Herausgeberschaft

Medienverein Respektive

Zeitbuch 02 ~11

Gewalt, Angst und Politik

Titelbild: ›Eine Zwangsjacke von Vielen‹ Redaktionskollektiv Lukas Germann, Pablo Müller, Nicole Peter, Herr R., Frau T. Korrektorat

Anita Streule, Anja Suter, Anna Lanz, Angela Zimmermannn

Gestaltung

Sibylle Trinczek

Anschrift

Medienverein Respektive, Postfach 2713, CH-8021 Zürich

E-mail

post@respektive.org

Web

www.respektive.org

Erscheinungsweise

fortlaufend

Druck

Laserline Druckzentrum, Berlin

© 2011 Medienverein Respektive Zürich. Der Nachdruck unserer Artikel und Bilder – auch im Internet – ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Vereins gestattet. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeberschaft bzw. der Redaktion wieder. Für die Richtigkeit von Angaben, Daten, Behauptungen etc. in den Beiträgen können die Herausgeberschaft bzw. das Redaktionskollektiv keine Verantwortung übernehmen. Für unverlangt eingesandte Dossiers, Abbildungsmaterialien und Kataloge kann keine Haftung und keine Gewähr für Rücksendung übernommen werden.

Bestellung möglich über den Buchhandel, per E-mail: bestellung@respektive.org oder per Post: Medienverein Respektive, Postfach 2713, CH-8021 Zürich; Preis: CHF 19.- / EUR 13.– zzgl. Porto; Bankverbindung: Postkonto 85-335636-4, IBAN: CH82 0900 0000 8533 5636 4, BIC: POFICHBEXXX Auslieferung für Buchhändler (Deutschland, Österreich, Schweiz): SOVA, Tel. +49 (0)69 410 211, Fax +49 (0)69 410 280 ISBN: 978-3-033-02905-7 / ISSN: 1663-8417

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I n den Projekten »Beirut – Mapping Security« und »Grenzgeografien« geht es – einmal für Beirut, einmal für Jerusalem – um die Auswirkungen von Macht- und Gewaltverhältnissen auf den städtischen Raum und wie diese kartografisch erfasst und dargestellt werden können. Zwei Interviews berichten über die Projekte, ihre Intentionen, das Vorgehen und die Ergebnisse.

Wie Stephan Thome im Roman »Grenzgang« strukturelle Gewalt sichtbar macht und die Gefängnismauern des Alltags ins Bewusstsein rückt.

»Nur ein winziges Ziehen« ~ Adrian Wettstein

Karten von Gewalt und Alltag ~ Anke Hagemann

Think inside the Box! ~ Hans Asenbaum

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Alle Gewalt geht vom Staate aus. Das Projekt »Stuttgart 21« ~ Dietrich Heissenbüttel

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›Kapitalistenlied‹ ~ Georg Kreisler

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Politisierung der Gewaltfrage ~ Revolutionärer Aufbau Schweiz

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Editorial

3

Herr und Knecht ~ Marc Bauer, Christine Abbt

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Impressum

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Angst und Widerstand ~ Holger Heide

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Die Gewalt der Kritik ist die Kritik der Gewalt ~ Lina Brion

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Foto: ESA / NASA

Inhalt

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(Un)Sichtbarkeiten in der Grenzregion zwischen Spanien und Afrika. Teresa Callejo-Pajares untersucht in ihrem Beitrag die Bilderproduktion an der südlichen EU Grenze und wie diese Bilder nicht nur Diskurse bestimmen sondern auch die materielle Situation der Menschen. In / Visibility: Cartographing the Strait of Gibraltar ~ Teresa Callejo Pajares

Vision und Mission ~ Nicole Peter, Mariska Keller

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Die Angst vor der Revolte: Kneubühl kontra Hobbes ~ Gabriel Hürliman

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Der typische Deutsche oder 141 Automatisierte Erkennung erfordert individuelle Charakteristika ~ Raul Gschrey Im Park ~ Alex Riva

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Eine gr undsätzliche Veränderung der Gesellschaft ist ganz ohne Gewalt kaum vorstellbar. Das Büchlein »L’insurrection qui vient« will den Text liefern zu den Aufständen, die da kommen werden. Über die Verlockungen des Insurrektionismus, seine Grenzen und die Wichtigkeit eines politischen Gewaltverständnisses. Der Aufstand kommt – oder doch nicht? ~ Lukas Germann

Nichts wie Du ~ Alex Riva

158

»Triumph der Ohnmacht« ~ Tobias Lander

160

Ulf lief Amok oder how I learned to love military forces ~ Julia Lemmle, Judith Philipp

174

Autor_innen

192

Fin

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Angst und widerstand Text Holger Heide, Munkfors

Obwohl wir die Unerträglichkeit kapitalistischer Verhältnisse tagtäglich erleben, regt sich kaum Widerstand, der dieses System grundsätzlich in Frage stellen würde. Das hat mit der Angst zu tun, die das Leben im Kapitalismus prägt. Woher aber rührt sie und was wäre dagegen zu tun?

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Paralyse

D

er Umgang mit sogenannten Krisen aber tatsächlich eine Alternative gibt, wieso zeigt immer wieder, was die Konsens- sehen die Menschen sie nicht? Mit der Macht maschinerie in einer parlamentarischen der Medien und der Propaganda zu argumenDemokratie zustande bringen kann. Einen Dis- tieren erklärt gar nichts, ist tautologisch. Wosens scheint es nur noch darüber zu geben, wie her haben denn die Medien die Macht, wieso die Massnahmen für die Profitsicherung ausge- kann die Propaganda auf offenbar fruchtbaren staltet werden sollen. Die uns verbliebene Frei- Boden fallen? Ich will im Folgenden zeigen, dass es Angst heit beschränkt sich offenbar auf die Einsicht in die Notwendigkeit, unser Überleben vom ist, die uns an das Kapital bindet. Als strukturell Wohlergehen des Kapitals abhängig zu machen. gewordene, weil verdrängte Angst durchdringt Wie kann das sein? Die Menschen zu Opfern des Kapitals zu erklären, ist zu einfach. Das Kapital ›lebt‹ Dass das Kapital nur herrscht, wenn schliesslich nur dadurch, dass die gesellschaftlich handelnden Menschen ihm immer wieder die zu die Menschen mitmachen, ist klar. seiner Bewegung nötige Energie verleihen1. Darin genau liegt aber auch sein innerer WiderAber warum machen sie mit? Wieso spruch; denn die menschliche Lebendigkeit ist eben zugleich die potenzielle Quelle von Widermachen selbst die Untersten in der stand. Das gilt kategorial wie historisch. Dass das Kapital nur herrscht, wenn die Menschen Hierarchie noch immer mit? mitmachen, ist klar, könnte man einwenden. Aber warum machen sie mit? Wieso machen selbst die Untersten in der Hierarchie, die wirk- sie heute die gesamte Gesellschaft. Diese Angst ist nicht die Wachheit, die Aufmerksamkeit für lichen Verlierer noch immer irgendwie mit? Gefahr, die der Mensch zum Leben braucht, sondern eine destruktive Angst, die ihn am Wie erklärt sich angesichts all der Leben hindert. Gehorsam, Konkurrenz, Gewalt gesellschaftlichen Katastrophen das sind die Auswirkungen. Paradoxerweise ist die historische Scheitern aller bisheriUrsache für diese scheinbar unauflösliche Bingen Versuche zur Überwindung des dung die tödliche Logik des Kapitals selbst. Kapitals? Die Angst ist keine anthropologische KonGibt es in der Ära der Globalisierung nach dem stante. Sie ist historische Folge eines kollekEnde von Sozialismus und Fordismus tatsäch- tiven Traumas, das in Jahrhunderten der gelich nur noch eine einzige Gesellschaftsform, in walttätigen Durchsetzung des Kapitalismus der die Menschheit überleben kann? Falls es entstanden ist und schliesslich zu einer tiefen

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Identifikation der Menschen mit dem Kapital und seinem Paradigma der Arbeit geführt hat. Das kollektive Trauma ist dann von Generation zu Generation tradiert und zudem vom System ständig reproduziert und dabei immer weiter verstärkt worden. Die heutige Arbeitsgesellschaft ist in diesem Sinne eine posttraumatische Gesellschaft, uns selbst als Individuen und die sozialen Bewegungen eingeschlossen. Es kann daher kaum verwundern, dass sich selbst viele Formen des Widerstands noch als Aspekte der verdrängten Angst erweisen. Das reicht bis tief hinein in das Selbstverständnis der sozialen Bewegungen und in deren Diskurse. Um diesen Gedanken zu präzisieren und dabei die Begriffe Angst, Gewalt usw. möglichst ihres ahistorischen und moralisierenden Miss-

Konsequenzen für Inhalte und Organisationsformen heutiger sozialer Bewegungen zur Diskussion stellen. Dabei will ich an das in der Arbeiterbewegung entwickelte zentrale Prinzip der Solidarität anknüpfen – als ein Mittel gegen die Angst. Der traditionsreiche Begriff der Solidarität muss dazu allerdings grundlegend weiterentwickelt und im Lichte der hier vorgetragenen analytischen Überlegungen mit neuen Inhalten gefüllt werden.

Gewalt prägt die Geschichte der Arbeitsgesellschaft

Kapitalistische Gesellschaft hat sich nirgends durch blosse Gewöhnung herausgebildet. Das gilt besonders für die europäische Moderne. Was distanziert-wissenschaftlich mit »Trennung von den Produktionsmitteln« umschrieben wird, ist ein Prozess, in dem die Herrschaft des Kapitals durch äusseren Zwang und Terror Die Arbeitsgesellschaft ist eine gegen die Unterschichten durchgesetzt wurde. Die Bereitschaft zu disziplinierter Arbeit erwies posttraumatische Gesellschaft, sich als unverzichtbare Grundlage des Gebrauchswerts der Arbeitskraft, und die Schafuns selbst und die sozialen Bewegungen fung dieser verwertbaren Arbeitskraft wurde zum entscheidenden Charakteristikum der eingeschlossen. Selbst viele Formen Schaffung des Kapitalismus, d.h. der Arbeitsgesellschaft. des Widerstands erweisen sich Das, was die aufstrebende kapitalistische Bourgeoisie ›Freiheit‹ nannte, konnte für die noch als Aspekte verdrängter Angst. arbeitenden Unterklassen allenfalls ›Freiheit von Produktionsmitteln‹ bedeuten. Bauern, brauchs zu entreissen, will ich mit Blick auf die kleine Handwerker und Arbeiter versuchten, Gewalt in der Geschichte der Arbeitsgesell- weiter nach überlieferten Prinzipien zu leben schaft das Konzept des kollektiven Traumas und leisteten zähen passiven und aktiven und und seine Anwendbarkeit auf kollektive histo- dabei immer wieder auch gewaltsamen Widerrische Prozesse erörtern und auf Grund der stand gegen die Zerstörung ihrer lebendigen sich aufdrängenden Schlussfolgerungen einige sozialen Zusammenhänge.

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solidarischen gegenseitigen Unterstützung in Notfällen wesentlich um den Kampf gegen die Arbeitszeit. Immer wieder kam es auch zu Aufständen gegen Lebensmittelpreise, zur Zerschlagung der Maschinen, die als ›KriegsDer ersten Periode offenen Terrors und der mittel‹ gegen die Arbeiter entwickelt und ›Blutgesetzgebung‹, in der massenhaft Men- eingesetzt wurden, bis hin zu Entführungen schen geschlagen, ausgepeitscht, verstümmelt und auf grausamste Weise umgebracht wurden, folgten seit dem 17. und 18. Jahrhundert PeriAls Folge der Gewalt hatte sich oden eines bewussten Erziehungsprozesses mit pädagogischen Strafen, mit Arbeits- und Induseine disziplinierte Gesellschaft heraustrieschulen, Zuchthäusern und nicht zuletzt psychiatrischen Anstalten. Besonders in Enggebildet, die sich auf Lohnarbeit land spielten vor und während der Industriellen Revolution viele freireligiöse Vereinigungen, gründete und die deren Notwendigkeit besonders die Methodisten, eine wichtige Rolle mit ihrem Versuch, den Armen Pünktlichkeit nicht mehr hinterfragte. und Disziplin näher zu bringen. Das galt übrigens nicht nur für die Fabrikarbeit selbst, sondern darüber hinaus für die damals noch weit von Unternehmern. Die Kämpfe endeten trotz verbreitete Heimarbeit und das heisst auch für mancher vorübergehender Siege immer wieder das häusliche familiäre und das soziale Leben, in tiefen Niederlagen. E. P. Thompson bemerkt auch für den Feierabend und auch für den für die Periode der stärksten Radikalisierung in Sonntag. Sie erwarben sich damit das grösste England, dass ausgerechnet nach den tiefsten Wohlwollen von Unternehmern wie von Be- Niederlagen die Erweckungsbewegungen imhörden. Es ging um die Ausdehnung des Ar- mer einen grossen Zulauf aus der Arbeiterbeitstages, um die Überwindung jeglicher klasse hatten. Er spricht da von einem »ChiliasMusse, die den religiösen Fundamentalisten als mus der Verzweiflung«. Als Spätfolge und als Erfolg der Strategie der gotteslästerliche Faulheit erschien. Das Kapital brauchte einen neuen Menschen. Selbst syste- Gewalt hatte sich spätestens in der zweiten Hälfmatische Zwangsarbeit schon für kleine Kinder te des 19. Jahrhunderts in den meisten Ländern in Bergwerken und Fabriken wurde als erziehe- Westeuropas nicht nur eine disziplinierte Arbeirisch wertvoll propagiert, von der körperlichen terklasse herausgebildet, sondern weit darüber hinaus eine insgesamt disziplinierte Gesellschaft, Züchtigung ganz abgesehen. Der Klassenkrieg nahm auf Seiten der Arbei- die sich auf Lohnarbeit gründete und die deren ter die verschiedensten Formen an. Arbeiter or- Notwendigkeit nicht mehr hinterfragte. Späganisierten sich zunächst in Schutz- und testens da können wir von einer ArbeitsgesellKampfbünden; zu Anfang ging es neben der schaft2 sprechen. Die moderne Arbeiterklasse

Hier liegt der Kern des Klassenantagonismus: Mit dem Bürgertum und den arbeitenden Klassen prallten unvereinbare Welten aufeinander.

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hatte gelernt Widerstand zu leisten, sie war gut und dann wieder in Europa im 20. Jahrhundert organisiert und schliesslich genau so diszipli- und darüber hinaus. Wie es dazu gekommen ist, niert, wie ihr Gegner es vorgemacht hatte. Bei dass der kollektive unentrinnbare Prozess der aller teils bitteren Armut, bei aller Wut, mit der Gewalt zu einer Identifikation mit dem doch die Kämpfe auch weiterhin geführt wurden, offenbar tödlichen Paradigma des Kapitals und und bei aller Rhetorik – es waren Verteilungs- dessen jeweils passend gemachten sozialen, nakämpfe geworden. Die Kämpfe richteten sich tionalen oder religiösen Ausprägungen geführt nicht mehr gegen die Arbeitszeit als solche, hat, bleibt jedoch unerklärlich, wenn wir auf der bloss historischen Analyseebene bleiben. Bei dem Versuch, die tieferen psychischen Wirkungen der gewaltsamen historischen Prozesse Schwere traumatisierende auf die Menschen zu verstehen, können wir die in den letzten Jahrzehnten entwickelte KategoAggression lässt sich von den Betrofrie des Traumas zu Hilfe nehmen. Wir müssen sie dazu allerdings über ihre ursprünglich indifenen oft nur durch die identifikatorische vidualpsychologische Bedeutung hinaus auf kollektive Prozesse ausweiten. Annahme der überwältigenden Macht Als Ausgangspunkt lässt sich festhalten, dass schwere traumatisierende Aggression von den psychisch bewältigen. Betroffenen oft nur durch die identifikatorische Annahme der Unterwerfung unter die übersondern wurden um ihre Länge, um die Auftei- wältigende Macht psychisch bewältigt werden lung des Arbeitstages geführt. Sie wurden schon kann. Besonders tief wirken physische und psyauf dem Boden der modernen kapitalistischen chische Gewalt auf Kinder. Sie sind auf die ZuGesellschaft ausgetragen. Waren die ursprüng- wendung und Liebe von Bezugspersonen angelich unvereinbaren Welten zu einer Welt gewor- wiesen und sind als Opfer von Gewalt besonders schutzlos. Wegen der überwältigenden Macht den? Und wie konnte das geschehen? des Angreifers erleben sie die Situation als unmittelbar lebensbedrohlich und entwickeln Kollektives Trauma als Folge der pereine »Identifikation mit dem Aggressor« als manenten Gewalt Überlebensstrategie4. Wenn Erwachsene traumatisiert werden, Eindrucksvolle historische Studien3 machen das ungeheuere Ausmass von Gewalt deutlich, das kann man erst einmal davon ausgehen, dass mit der Durchsetzung der Arbeitsgesellschaft ihre individuelle Identität normalerweise durch verbunden war. Ebenso gewaltsam ist dann die ein eigenes entwickeltes Wertesystem und nicht weitere Geschichte der Ausbreitung des Kapi- mehr primär durch die vorbehaltlose Liebe von tals über die ganze Welt verlaufen, der Revolu- Seiten bestimmter Bezugspersonen gesichert tionen, der Weltkriege und der anschliessenden wird. Die erlittene und erlebte Gewalt und die scheinbar begrenzten Kriege in Asien, Afrika daraus folgende Erniedrigung können jedoch

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so überwältigend sein, dass auch der erwachsene Mensch oft nur noch mit einer ›Bewusstseinsveränderung‹ reagieren kann, die die Angst verdrängen hilft. Was in einer konkreten Einzelsituation oft das schiere Überleben sichern hilft, kann als Strategie gegen fortdauernde Aggression zu einem Verhaltensmuster werden, mit dem sich der betreffende Mensch zum lebenslangen Opfer macht. Die verdrängte Angst verhindert dann nachhaltig wirkliche Lebendigkeit, Alternativen werden systematisch ausgeblendet. Der Kern einer Traumatisierung ist immer Angst davor, dass das Unerträgliche (die Erniedrigung usw.) wieder ins Bewusstsein dringt. In modernen Kriegen oder anderen massenhaft wirkenden Ereignissen, aber eben auch bei der Gewalt und dem Elend des Industrialisierungsprozesses tritt an die Stelle des persönlichen und persönlich identifizierbaren Aggressors oder zusätzlich zu ihm eine anonyme überwältigende Macht, deren ›Logik‹ für die Betroffenen überhaupt nicht zu durchschauen ist. Aus Verzweiflung und Haltlosigkeit kann es zu einer Identifikation mit dem siegreichen System und der Verinnerlichung von dessen Normen kommen. Die ursprünglichen Werte und Normen, das eigene Fühlen, Denken und Handeln, die sich als wertlos erwiesen haben, werden verdrängt. Das Traumakonzept ist ursprünglich individualpsychologisch entwickelt worden. Trauma kann aber bei massenhafter Gewalteinwirkung in dem Masse zu einer gesellschaftlichen Pathologie führen, wie diese Gewalt als kollektive erlebt wird und wie durch den traumatisierenden Prozess geprägtes Fühlen, Denken und Handeln die gesellschaftlichen Prozesse wesentlich bestimmt5.

Das Trauma wird von Generation zu Generation tradiert Unmittelbar erklärlich ist auf die beschriebene Weise die tiefe Formung einer Gesellschaft nur für die jeweilige Generation, die unmittelbar von einer traumatischen Erfahrung betroffen war. Selbst wenn wir die Wahrscheinlichkeit einer lebenslangen Auswirkung der beschriebenen Identifikation annehmen, so würde damit letztlich nur ein zeitlich begrenzter Effekt erklärbar, der mit der ursprünglich betroffenen Generation langsam aussterben müsste.

Die verdrängte Angst verhindert Lebendigkeit, Alternativen werden ausgeblendet. Der Kern einer Traumatisierung ist Angst davor, dass das Unerträgliche wieder ins Bewusstsein dringt. Eine nachfolgende Generation, die in einer tief traumatisierten Gesellschaft aufwächst, bleibt davon jedoch nicht verschont. Wesentlich ist das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern, besonders in der frühkindlichen Entwicklungsphase. Oft lässt die Angst der Eltern, mit sorgsam verdrängten Gefühlen konfrontiert zu werden, nur noch Abwehr zu. Es ist dann gerade diese tief sitzende Angst, die weitergegeben wird, wenn die Kinder nicht die notwendige Geborgenheit erfahren und stattdessen mit

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Anforderungen überfrachtet oder gar physisch misshandelt werden6. Zudem sind es im weiteren Verlauf ihres Sozialisationsprozesses nicht nur die Eltern, die das Trauma weitergeben, sondern unzählige einzelne Menschen und Institutionen, die Teil der traumatisierten Gesell-

Durch das Mitmachen, das Arbeiten im weitesten Sinne, werden die Verhältnisse und damit das Fühlen, Denken und Handeln der Gesellschaft ständig reproduziert. schaft sind. In der Kindheit entstandene, verfestigte Angst kann zum bestimmenden Moment eines ganzen Lebens werden. Durch das Mitmachen, das Arbeiten im weitesten Sinne, werden die gesellschaftlichen Verhältnisse und damit das gesamte Fühlen, Denken und Handeln der Gesellschaft ständig reproduziert 7 – und damit wesentlich die Traumatisierungen. Zusammenfassend sind die Wirkungen, die von der psychischen Krankheit bzw. dem aus ihr folgenden Verhalten zum Einen auf die zeitgenössische soziale Umwelt (horizontale Wirkungen) und zum Anderen auf die Kinder- und Enkelgenerationen (vertikale Wirkungen)ausgehen, als »kollektive, posttraumatische« beschreibbar8.

Die Identifikation mit dem siegreichen System ist entscheidend für das Kapital und seine Dynamik.

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Die Trennung vom Selbst, von den eigenen Gefühlen, entspricht gesellschaftlich der Trennung (oder Entfremdung) von der eigenen Geschichte, es kommt zu einer kollektiven Verdrängung. Dieses ist nicht nur Folge der Herausbildung des Kapitalismus, sondern eine wesentliche Voraussetzung für sein Funktionieren9. Das Kapital wird im allgemeinen viel zu eng als politisch-ökonomische Kategorie aufgefasst. Sobald es auf die beschriebenen Weise verinnerlicht worden ist, ist es nämlich zu einem Ausdruck des resultierenden Fühlens, Denkens und Handelns der Individuen und der modernen Gesellschaft als Ganzes geworden. Der Begriff ›Kapital‹ umfasst dann nicht nur das Fühlen, Denken und Handeln der obersten Agenten des Systems, sondern eben auch das der grossen Mehrheit derer, die ›nur‹ mitmachen. Mit einer solchen Gesellschaft als Basis erklärt sich auch, wie es dem europäischen Kapital im Zeitalter des sogenannten Hochimperialismus gelingen konnte, seine Herrschaft über den grössten Teil der Welt auszudehnen. Es waren ja keineswegs bloss die psychopathischen Führer, die Kriegsminister, die Oberbefehlshaber, die Generäle und die Unternehmer und Bankiers mit ihren Stäben von Spezialisten, Geographen und Anthropologen und die Missionare, die die bis dahin nichtkapitalistische Welt unterwarfen. Tatsächlich waren Massen von einfachen Soldaten daran beteiligt. Durch ihre Angst hindurch und letztlich als Folge dieser Angst, teilten auch sie die Faszination oder richtiger die Illusion der Allmacht der unbesiegbaren Institution, sie teilten das Gefühl der ›Grandeur‹, der Überlegenheit, der Mission des Abendlands, auch sie sahen die Eingeborenen als Untermenschen. Und dann war da die Aussicht auf einen Anteil an der Beute.


Was als die ›Mission‹ der europäischen Zivilisation erscheinen mochte, war somit die Weiterführung der in Europa schon erfolgten Durchsetzung des Kapitalismus, die Verbreitung des Traumas mit der Folge langfristiger Identifikation. Auch an dem millionenfach organisierten Ausbruch der Gewalt im 20. Jahrhundert, durch den die Traumatisierung und die posttraumatische Angst immer wieder erneuert wurden, waren Millionen von Menschen – nicht nur als Opfer – beteiligt. Und selbst damit nicht genug. Zu all dem kommt, was man als ›Politik der Angst‹ bezeichnen kann. Sie setzt an der verdrängten Angst an. Durch reale und verbale Aufrüstung im ›Krieg gegen Drogen‹, ›Krieg gegen den Terror‹ und so weiter wird unmittelbar eine Ideologie der Bedrohung durch Drogen, durch Gewalt produziert. Dadurch werden Gehorsam und eine weitere Identifikation gefördert, die Macht des Bestehenden gefestigt und schon der blosse Gedanke an Alternativen ausgeblendet. Stattdessen entwickeln die Menschen Hass, weil er ein so starkes Gefühl ist, dass er das unerträgliche Gefühl der Angst überlagern kann. Der Hass richtet sich typischer weise gegen diejenigen, die vermeintlich für die Bedrohungen stehen, dazu gegen Minoritäten, gegen Schwächere, letztlich gegen diejenigen, die tatsächlich oder vermeintlich nicht von wirtschaftlichem Nutzen sind. Besonders Letzteres ist ein deutliches Indiz für den Grad der Identifikation mit dem kapitalistischen System. Die in diesem Zusammenhang gewachsene, verbreitete Bereitschaft zur Gewalt ist genau so eine Spätfolge von Jahrhunderten der Traumatisierung wie die scheinbare Normalität der Anpassung an die Fabrikarbeit und die anderen Zumutungen der Arbeitsgesellschaft.

Die alltägliche Gewalt der Leistungsgesellschaft mit ihrer bis in die Tiefe unserer Psyche reichenden Ideologie der Konkurrenz ist nicht nur Quelle immer neuer Angst, sondern gleichzeitig ihr Produkt. Dazu gehört auch die allgegenwärtige Beschleunigung als verzweifelter Versuch, die Produktivität zu steigern.

Revolutionen, Reformen, Alternativen Versuche, den schlimmsten Auswirkungen des Kapitalismus zu entkommen, hat es vielfach gegeben. Der aus der russischen Revolution hervorgegangene Sozialismus kann als Versuch gesehen werden, eine Alternative zum Kapitalismus zu verwirklichen, ohne die Arbeitsgesellschaft mit ihrem »vampyrmässigen« Grundprinzip aufzugeben. Die Geschichte des

Der Hass richtet sich gegen Minoritäten, gegen Schwächere, letztlich gegen diejenigen, die tatsächlich oder vermeintlich nicht von wirtschaftlichem Nutzen sind. 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass die Aufholjagd in der Konsequenz zu einer Fortsetzung der massenhaften Traumatisierung geführt und sich schliesslich als nachholende Modernisierung erwiesen hat. Ähnliches lässt sich über nachfolgende revolutionäre Bewegungen sagen, deren Siege zu Formen von Staatssozialismus

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geführt haben. In den kapitalistisch hochent- Und Wut lässt sich leicht erzeugen, wenn man wickelten Ländern, in denen sich in der ersten sich die ja ganz offensichtliche MenschenverHälfte des zwanzigsten Jahrhunderts der For- achtung dieser Gesellschaft in der bereit liegendismus als Prototyp entwickelte, wurden in der den moralischen Kategorie der ›Ungerechtigreformistischen Variante des Sozialismus die keit‹ vor Augen führt. Auf diese Weise kann Gewerkschaften zu blossen Interessenorganisa- man so weiterhin vermeiden, sich seine Angst tionen für ihre Mitglieder. Sie versuchen mitt- anzugucken. Genau dies ist der Kern der lerweile, angebliche ›Errungenschaften‹ zu ver- Schwäche der Bewegung. Dieses Verhältnis von Angst, Rationalität, teidigen. Sie spielen, wie alte und neue sozialdemokratische Parteien, auf diese Weise Organisation und Wut verbirgt sich oft auch eine wesentliche Rolle für das Funktionieren hinter der Debatte über zu viel oder zu wenig Militanz und über die Legitimität von Gewalt. des Systems. Die Erfahrung lehrt, dass Widerstand oft erst dann real wird, wenn und solange die Wut der Die Rolle von Angst, Ungerechtigkeit Beteiligten grösser ist als ihre Angst. Je grösser und Wut im Widerstand also die Angst, desto gewaltiger muss die Wut Im Zuge der Durchsetzung der Moderne sein, damit sie den Kampf aufnehmen. Was das haben die Menschen gelernt, ihre Angst vor für alle Zukunftsplanungen, für die Kämpfe sich selbst zu verstecken. Das gilt auch für die und für die immer neuen OrganisationsversuKritiker der Gesellschaft, die Aktiven in sozi- che bedeutet, ist unüberschätzbar. Die nicht alen Bewegungen. Sie verstecken ihre Angst reflektierte Angst hält die tiefsitzende Patholooft hinter einer Fassade von Rationalität und gie aufrecht und die Urteilskraft ist so beeinträchtigt, dass die Menschen keine wirklich System überwindende Praxis werden entwickeln können. Was als ›Siege‹ erscheint, kann Auch die Kritiker der Gesellschaft, dann dazu beitragen, das Trauma zu verewigen, und ›Niederlagen‹ werden die Menschen durch die Aktiven in sozialen BeweFrustration und Depression zu weiterer Anpassung führen. Auf diese Weise würde sich durch gungen verstecken ihre Angst oft ›Siege‹ wie durch ›Niederlagen‹ gleichermassen die Bindung ans Kapital festigen. hinter einer Fassade von Rationalität

und Organisation.

Die Rolle der Opferhaltung und der Moralisierung

Indem die Menschen lernen, ihre ›Interessen‹ Organisation. Wenn ihre Gefühle sie jedoch zu vertreten (als Arbeiter_innen, als Arbeitslose, dennoch zu überwältigen drohen, dann kön- als Rentenempfänger, als Alleinerziehende, nen sie ihre Angst auch hinter Wut verstecken. als Migrant_innen) nehmen sie eine Opferhal-

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tung ein. Das Mitwirken an einem System der Zerstörung ist bewusst nicht zu ertragen. Daher konstruieren sie die Täter-Opfer-Beziehung, projizieren die Täterrolle auf etwas ihnen Äusserliches. Ihnen bleibt dann die bequeme Opferrolle. Diese ist deshalb so bequem, weil die ›Opfer‹ auf diese Weise scheinbar nichts falsch machen können, da ja die Schuld (und es geht dann in der Tat um eine Frage von Schuld, eben nicht darum, Verantwortung zu übernehmen) für Alles von vornherein woanders verortet ist. Das ist der Schritt, durch den sie selbst zu potenziellen Tätern werden. Eine moralische Rechtfertigung für beliebige Taten ergibt sich durch schlichte Aufrechnung: Uns ist so viel und so Ungeheuerliches angetan worden, dass unser eigenes Tun dagegen gar nicht ins Gewicht fallen kann10. Nicht zufällig entspricht diese Aufrechnung dem Äquivalenzprinzip der kapitalistischen Marktideologie und deren Begriff von Gerechtigkeit. Das ist eine entscheidende Erkenntnis bei der Frage nach dem Ausweg: Nicht nur der Weg immer neuer Gewalt ist nicht gangbar, selbst die Frage einer Lösung nach dem Gerechtigkeitsprinzip ist schon falsch. Solidarität stellt sich als etwas ganz Anderes heraus als Gerechtigkeit.

Gegenseitigkeit und gleichzeitig Abgrenzung gegen ›aussen‹ charakterisiert war, so wurde sie in der Moderne erweitert: Im christlichen und philanthropischen Sinn konnte Solidarität fast zum Synonym für Barmherzigkeit (bzw. Selbstlosigkeit) werden. Die Arbeiterbewegung machte den Begriff zu einem Klassenbegriff und weitete ihn schliesslich auf die umfassende Zusammengehörigkeit aller Erniedrigten aus. Das frühere ›Aussen‹ bezog sich dann eigentlich

Im Gegensatz zu einzelnen Interessen drückt das von Marx formulierte Ziel einer Aufhebung der Klassen ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen aus – aller Menschen.

nur auf die Unterdrücker, konnte allerdings bei Bedarf auch auf alle diejenigen ausgeweitet werden, die auf Grund ihrer jeweiligen Klassenzugehörigkeit als ›konservativ‹ und ›fortschrittsfeindlich‹ eingeschätzt wurden. Letzteres bedeutet bereits eine Kopplung an einen Solidarität ist die konstruktive Ausstrukturalistisch aufgefassten Interessenbegriff, einandersetzung mit der kollektiven wie er zu den Interessen vertretenden bürokraAngst tischen Grossorganisationen im Fordismus Im historischen Prozess hat sich der Begriff der (und im Realsozialismus) passt. Klasse ist ein Begriff ganz innerhalb der kapiSolidarität, der noch aus den alten korporatistischen Zusammenhängen stammte, grundle- talistischen Gesellschaft. An diesen Begriff gend gewandelt. Hatte die alte Bedeutung gekoppelt ist der Begriff des Interesses. Das noch schlicht »Stärke durch innere Einigkeit« Interesse weist nicht über die kapitalistische Ge(lat. solidus, fest, stark) ausgedrückt, die durch sellschaft hinaus. Es gibt kein Interesse an der eine streng auf die Mitglieder beschränkte Aufhebung der Klassen. Aufhebung der Klassen,

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men ausdrücken, in den internen und öffentlichen Debatten, in der Ausformung der Organisation selbst und eben konstitutiv im Umgang miteinander. Systemtranszendenz bemisst sich nicht mehr an der ›richtigen Linie‹ einer Organisation, sondern an der Offenheit ihres lebendigen sozialen Prozesses. Bedürfnisse, Gefühle können grundsätzlich nicht ›diskutiert‹ werden, und sie können nicht Gegenstand von Mehrheitsentscheidungen sein. Stattdessen könnte sich die Form des ›Dialogs‹12 eignen, um sich ihnen anzunähern. Um Solidarität wachsen zu lassen, müssen im Dialog gegenseitige Beschuldigungen, Unterstellungen, Angriffe, Unterbrechungen, und auch blosse Wahrheitsbehauptungen, Rechthaberei usw. untereinander vermieden werden. Diese sind meist Ausdruck von Schuld- oder Opfergefühlen, basieren noch auf der verdrängten Angst und provozieren ihrerseits Abwehrreaktionen. Diese Form der Solidarität macht es möglich, die Mechanismen aufzudecken, die immer wieder Angst schüren, indem sie spalten. Durch ihre Offenheit und den Respekt allen Beteiligten gegenüber, wirkt sie gegen AusDie neuen sozialen Bewegungen, die grenzung und hilft den Beteiligten, weniger die posttraumatische Arbeitsgesellanfällig zu werden für die allgemeinen Zumuschaft überwinden wollen, müssen tungen und Erpressungen des funktionierenihre eigene ›Genesung‹ zu einem den Systems der Arbeitsgesellschaft und damit integralen Bestandteil ihrer Aktivifreier zu werden im eigenen Handeln. Eine täten machen. solche solidarische Bewegung könnte dazu beiWas für eine solidarische Gesellschaft gefordert tragen, das Denken in Kategorien von Macht, wird, muss in den sozialen Bewegungen selbst Kampfkraft, Errungenschaften usw. abzulegen vorgelebt werden11. Dazu braucht es eine neue und schliesslich Arbeit als Mittel zur TransforArt von nichthierarchischer, nichtbürokrati- mation menschlicher Lebendigkeit in totes scher, kooperativer Organisation, die Offenheit Kapital zu überwinden. ermöglicht und die zugleich selbst ständig sich erneuerndes Produkt dieser Offenheit ist. Die Offenheit müsste sich dann in den Programdas von Marx formulierte Ziel, bedeutet die Anerkennung des Menschen als individuelles und gleichermassen gesellschaftliches Wesen. Im Gegensatz zu einem Interesse drückt dieses Ziel ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen aus – aller Menschen. Der Begriff Klassensolidarität bleibt notwendig noch innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Heute muss der Begriff der Solidarität daher einen entscheidenden Schritt weiter entwickelt werden. Solange sich die Menschen auf die Wahrnehmung ihres Interesses glaubten beschränken zu können, haben sie auf den Kontakt zu ihren Gefühlen verzichtet, konnten sie ihre wirklichen Bedürfnisse nicht spüren. Dies lässt sich nicht fortsetzen. Der Kontakt zu den Gefühlen und damit zu den Bedürfnissen ist lebensnotwendig. Um die eigenen Bedürfnisse kennen zu lernen, ist eine Offenheit erforderlich, die erlaubt, sich mit der tief verdrängten Angst auseinanderzusetzen. Dies ist ein Lernprozess, in dessen Verlauf sich die realen Gründe für Angst real verringern.

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1 »Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmässig belebt durch die Einsaugung lebendiger Arbeit und die umso mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.« Das ist Marx’ Charakterisierung im ersten Band des Kapital von 1867 (Marx 1987:247). 2 Schon im Jahre 1848 war in der europäischen Arbeiterbewegung erstmals der Slogan vom »Recht auf Arbeit« aufgetaucht. 3 Ich stütze mich bei meiner Skizze vor allem auf Thompson (für England) und Dressen (für Deutschland). 4 Zu diesem Thema hat ursprünglich Sándor Ferenczi bahnbrechende Forschungsergebnisse vorgelegt (Ferenczi 1933). 5 Eine geschlossene Theorie des »kollektiven Traumas« gibt es bisher nicht, nur unterschiedliche Annäherungen. Für eine ausführliche konstruktive Auseinandersetzung siehe die Studie von Angela Kühner (Kühner 2002). 6 Wie prägend die tiefe Traumatisierung einer Generation für das Leben der nachfolgenden Generationen sein kann, hat Dina Wardi eindrucksvoll aus der Aufarbeitung der persönlichen Geschichten von Überlebenden des Holocaust und deren Nachkommen gezeigt (Wardi 1997:63). 7 »Herrschaft erbt sich fort durch die Beherrschten hindurch« (Adorno 2003:208). 8 Wie aus der Beschreibung des gesellschaftlichen historischen Prozesses hervorgeht, bedeutet der Begriff »posttraumatisch« nicht etwa, dass es sich um etwas in der Vergangenheit Abgeschlossenes handelt. 9 Ist der Glaube an eine Alternative grundlegend zerstört, so entwickeln die Individuen nach Marx ein Interesse an der Beteiligung an der kapitalistischen Gesellschaft in dem Masse, wie ihnen das Sich-Einlassen auf die Konkurrenz als Voraussetzung ihres Überlebens erscheint. D. h., sie entwickeln ein »Privatinteresse«, das »nur innerhalb der von der Gesellschaft gesetzten Bedingungen und den von ihr gegebenen Mitteln erreicht werden kann; also an die Reproduktion dieser Bedingungen und Mittel gebunden ist« (Marx 1939:74). 10 An diese Stelle passt ein Hinweis zum Terrorismus: Als Verzweiflungsreaktion auf die schreienden Ungerechtigkeiten des Weltsystems macht er sich an sozialen, nationalistischen, ethnischen und religiösen Ideologien fest. Die Ideologien stellen jedoch nur eine Form der Rationalisierung für einen tiefen Rachedurst dar. Auch dieser zum Scheitern verurteilte Versuch, den Folgen des Traumas zu entkommen, bewirkt nur immer ein neues Trauma. Bei der Kritik des Terrorismus sollten wir uns nicht auf die moralische Seite beschränken; terroristische Gewalt muss vielmehr als Teil der destruktiven Dynamik des funktionierenden Systems, der »Selbstreproduktion« des Kapitals kritisiert werden. 11 Wenn wir die Ausgangslage unter dem Blickwinkel des kollektiven Traumas als gesellschaftliche Pathologie verstehen, dann kann der Prozess der Vergangenheitsbewältigung als »Genesungsprozess« begriffen werden.

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. (2003[1951]): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Stw. Frankfurt am Main. Dressen, Wolfgang (1982): Die pädagogische Maschine. Zur Geschichte des industrialisierten Bewusstseins in Preussen/Deutschland. Frankfurt am Main usw. Ferenczi, Sándor (1998[1933]): Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft. In: Derselbe: Schriften zur Psychoanalyse. Bd II. Frankfurt am Main Heide, Holger (2007a): Angst und Kapital. Warum Widerstand im Postfordismus so schwierig ist. In: Bologna, Sergio et alt (Hrsg.): Selbstorganisation. Transformationsprozesse von Arbeit und sozialem Widerstand im neoliberalen Kapitalismus. Berlin. http://www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/debatte/selbstorga_hh.pdf Heide, Holger (2007b): Selbsthilfe als Widerstand. Gedanken über einen neuen Umgang mit geschichtlichen Erfahrungen. In: Bologna, Sergio et alt (Hrsg.): Selbstorganisation. Transformationsprozesse von Arbeit und sozialem Widerstand im neoliberalen Kapitalismus. Berlin. Heide, Holger (2003): Arbeitsgesellschaft und Arbeitssucht. Die Abschaffung der Musse und ihre Wiederaneignung. In: Derselbe (Hsg.): Massenphänomen Arbeitssucht. Historische Hintergründe und aktuelle Entwicklung einer neuen Volkskrankheit. Bremen. http://www.wiwi.uni-bremen.de/seari/Holger%20Heide%20Arbeitsgesellschaft%20und%20Arbeitssucht.pdf Kühner, Angela (2002): Kollektive Traumata. Eine Bestandsaufnahme. Annahmen, Argumente, Konzepte nach dem 11. September. Berghof Report. Nr. 9. Berlin. Marx, Karl (1939[1858]): Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Rohentwurf. Frankfurt am Main und Wien. Marx, Karl (1973[1867]): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 1. Berlin. Schmidbauer, Wolfgang (1998): ‚Ich wusste nie, was mit Vater ist‘. Das Trauma des Krieges. Reinbek. SOLIKOR (2000): Dialog aus Solidarität – Solidarität durch Dialog. Berlin. Siehe auch: http://www.labournet.de/branchen/dienstleistung/werft-d.html Thompson, Edward P. (1980): Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus. Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main. Thompson, Edward P. (1987): Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. Frankfurt am Main. Wardi, Dina (1997): Siegel der Erinnerung. Das Trauma des Holocaust. Psychotherapie mit Kindern von Überlebenden. Stuttgart.

12 Im Jahre 2000 fand in Kiel ein von einer Solidaritätsgruppe arrangiertes Treffen zwischen einigen organisierten Werftarbeitern aus Südkorea und aus Deutschland statt, bei dem der damals zugespitzte Konflikt zwischen der koreanischen und der europäischen Werftindustrie solidarisch im »Dialog« behandelt wurde. Die offiziellen Gewerkschaftsorganisationen hatten sich wie üblich hinter ihr jeweiliges nationales Kapital und die Regierungen gestellt. Näheres zu diesem praktischen Versuch in SOLIKOR (2000) und Heide (2007b).

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K arten von Gewalt und Alltag Interview Anke Hagemann, Berlin

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ie Projekte »Grenzgeografien« und »Beirut – Mapping Security« unternehmen unabhängig voneinander den Versuch, die Auswirkungen von Machtund Gewaltverhältnissen auf den städtischen Raum sichtbar zu machen. Gleichzeitig geht es darum, zu zeigen, wie der Raum selbst zu einem Medium der Macht wird und wie Architektur und Planung als Instrumente der Kontrolle und Gewaltausübung dienen. Mit Jerusalem und Beirut untersuchen beide Projekte Städte vor dem Hintergrund latenter oder offener gewaltsamer Konflikte. Aber trotz der Extremsituationen um die es hier geht, finden sich auch Parallelen zu globalen Trends in der Stadtentwicklung – wie die Verbreitung von Gated Communities oder die zunehmende Überwachung öffentlicher Räume.

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Beide Projekte wählen das Medium der kartografischen Darstellung, um ihre räumlichen Analysen sichtbar zu machen und zu kommunizieren. Die Kartografie, die seit Beginn der Neuzeit als Machtinstrument entwickelt wurde, um z.B. imperialistische Besitzansprüche zu artikulieren oder die Kriegsführung zu perfektionieren, wird hier zu einem kritischen Werkzeug, das die Wirkungsweisen der Macht offenlegt oder alternative Sichtweisen auf den Raum möglich macht. Wichtig ist ihnen dabei jeweils, nicht nur die konkreten Mechanismen der Machtausübung darzustellen, sondern auch die Auswirkungen auf den individuellen städtischen Alltag zu erfassen. Die vermeintlich objektive Vogelperspektive der Karte wird durch die subjektiven Wahrnehmungen der Akteurinnen und Akteure ergänzt.


Beirut / Jerusalem

Anke Hagemann sprach mit Mona Fawaz und Ahmad Gharbieh als Vertreter des Projekts »Beirut – Mapping Security« und mit Philipp Misselwitz und Tim Rieniets, die das Projekt »Grenzgeografien« initiierten. Beide Projekte sind Teil einer Sammlung kritischer Kartografien, die im Rahmen der Ausstellung »Friedensschauplätze« entstand.1

Beirut – Mapping Security

in Beirut zu einer weiteren Ebene von Sicherheitsmassnahmen, diesmal mit dem Ziel, die Reichen zu beschützen. Als Konsequenz dieser Entwicklungen werden alle Stadtbürger als potenzielle Bedrohung angesehen und soziale Hierarchien werden neu organisiert. Ziel unseres Projekts war es, eine öffentliche Diskussion über die Normalisierung von Sicherheit als Bestandteil der Stadtpolitik zu initiieren und zu thematisieren, wie das damit verbundene Narrativ von Bedrohungen und Ängsten die Alltagspraxis grundlegend verändert. Dabei hielten wir das Kartieren der tatsächlichen Sicherheitselemente für die überzeugendste Strategie – eine Art Touristenkarte von Beirut, die jede_r Auswärtige tatsächlich braucht, um sich in der Stadt zu bewegen. Diese Karte ergänzten wir um verschiedene persönliche Berichte und Praktiken vor Ort, womit wir die Breite individueller Erfahrungen und Wahrnehmungen aufzeigen wollten.

Anke Hagemann: Was sind die Hintergründe eures Projekts Beirut – Mapping Security ? Mona Fawaz und Ahmad Gharbieh: Der bewaffnete Konflikt lässt die sichtbare Anwesenheit sogenannter Sicherheitsmassnahmen in Form von Barrikaden, Strassensperren und Militärpersonal im städtischen Alltag normal erscheinen. Das ist wahrscheinlich auf die verschiedenen Kriege zurückzuführen, die die jüngste Geschichte Libanons geprägt haben: Auf welche Arten wird politische oder ökoder Bürgerkrieg (1975–1990), die israelische nomische Macht und strukturelle Gewalt im Besatzung von Teilen Süd-Libanons (seit 1978) städtischen Raum durchgesetzt? Wie greifen und der anhaltende arabisch-israelische Kon- die Sicherheitsmassnahmen in das tägliche flikt. Die Sicherheitsmassnahmen in Beirut, die Leben unterschiedlicher Personen ein? Welmit diesen Konflikten in Zusammenhang ge- che Rolle spielt dabei die Angst? Bei den Erkenntnissen, die wir in unserem bracht werden – ob es um den Schutz politischer Schlüsselfiguren oder um die Verhinde- Projekt gewonnen haben, standen die räumrung von Gewalt zwischen verschiedenen lichen Manifestationen politischer oder ökonoBevölkerungsgruppen geht – sind längst ein all- mischer Macht- und Gewaltausübung in der gegenwärtiger Aspekt der städtischen Umwelt Stadt im Mittelpunkt: Ihr Ausmass wird durch und bestimmen die alltäglichen Praktiken und die Kartierung und Analyse der SicherheitsBewegungen der Menschen. In den letzten Jah- mechanismen und -einrichtungen auf den ren führte das Aufkommen zahlreicher luxuri- Strassen von Beirut sichtbar gemacht. Ausseröser Einkaufs- und Unterhaltungseinrichtungen dem wird deutlich, wie das System soziale

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Hierarchien verändert und aus politischer, reli- den. Während die zunehmende Aufrüstung des giöser oder ethnischer Zugehörigkeit, Klasse, öffentlichen Raums, die wir in unseren Karten Geschlecht oder anderen Identitätsmerkmalen dargestellt haben, vor allem auf temporären Bedrohungen konstruiert. In diesem Prozess Massnahmen basiert, wurde die Architektur im sind die städtischen Bewohnerinnen und Be- privaten Bereich bereits ganz ungeniert den wohner den Sicherheitsmassnahmen aber nicht Sicherheitsanforderungen angepasst. So wenpassiv ausgeliefert; durch ihre täglichen Prak- det sich der von vielen gefeierte Entwurf der tiken und durch den eigenen Aufbau von französischen Botschaft in Beirut mit einer drei Sicherheitsnetzwerken werden diese Massnah- Meter hohen Befestigung von der Stadt ab. Die men immer wieder neu ausgehandelt. Unsere Logik des Einmauerns dominiert auch die Gestaltung von Apartmenthäusern für Besserverdienende, die dem städtischen Raum immer häufiger mit Betonzäunen und SicherheitsZiel unseres Projekts war es, toren begegnen. Auf nationalem Massstab hat Hiba Bou Akar eine öffentliche Diskussion über die gezeigt, wie Masterpläne zur Stadtentwicklung und Flächennutzung zum Werkzeug verNormalisierung von Sicherheit schiedener gesellschaftlich-religiöser Gruppen geworden sind, um andere Gruppierungen als Bestandteil der Stadtpolitik zu fernzuhalten. Grünzonen und Industriegebiete werden strategisch als Abstandsflächen angeinitiieren und zu thematisieren. legt, um die Ausbreitung von Wohngebieten bestimmter Bevölkerungsgruppen zu begrenForschung zeigt ganz klar, dass Vorstellungen zen, die als unerwünscht erachtet werden. von Angst und Sicherheit sich nicht gegenseitig Diese Masterpläne überformen städtische Terausschliessen, und es auf jeden einzelnen und ritorien mit der Logik der Kriegsführung und seine_ihre besondere Rolle ankommt, ob die führen letztlich zu einer zunehmend konfessiinstitutionalisierten Kontrollmassnahmen als onell segregierten Geografie. Diese Segregabeängstigend oder beruhigend (oder als irgend- tion existiert aber nicht nur in der planerischen Realität, sondern noch viel mehr in den Voretwas dazwischen) wahrgenommen werden. stellungen der Menschen: In der idealen Stadt Die Sicherheits- und Kontrollmassnahmen wird religiöse Homogenität allgemein für erin eurer Karte sind vor allem temporär in- strebenswert gehalten. stallierte technische Geräte, Barrieren oder Fahrzeuge. Inwieweit hat der Sicherheitsim- Welche Rolle spielt das Kartieren als Mittel perativ bereits die konkrete Architektur und der Sichtbarmachung in eurem Projekt? Das Kartieren war unser Ausgangspunkt; es Stadtplanung beeinflusst? Der Sicherheitsimperativ muss auf verschie- hat zu vielen weiteren analytischen Fragesteldenen Ebenen und Massstäben betrachtet wer- lungen geführt. Vor der Arbeit an der Karte

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führten vor allem unsere persönlichen täglichen Erfahrungen der Stadt zur Sorge über die ständige Zunahme an Kontrollmechanismen in Beirut. Eine umfassende Methode der Datensynthese war nötig, um von diesen vereinzelten Beobachtungen zu einem allgemeinen Verständnis der komplexen raum-disziplinierenden Vorgänge zu kommen. Die Karte zeigt die konkret sichtbaren Sicherheitsaspekte, indem sie 1) die vielen Arten der Zugangsbeschränkung und ihre jeweiligen räumlichen Ausformungen im Strassenraum verzeichnet und 2) die physischen Elemente, die zum Einsatz kommen, mit einem figurativen Zeichensystem darstellt. Damit bleibt die Darstellung näher an der gelebten Erfahrung, die wir eigentlich hervorheben wollten. Die Geschichte der Kartografie ist eng verknüpft mit der Geschichte der Kriegsführung, mit Herrschaftsansprüchen, Eroberungskriegen und Imperialismus. Wie können Karten dennoch als kritisches Mittel eingesetzt werden? Karten sind machtvoll, da sie hinter einer scheinbar unparteiischen Maske operieren. Ihre geordneten Klassifizierungssysteme verbergen die soziale Dimension von Karten durch einen Prozess der Legitimierung und die Vortäuschung von Unvoreingenommenheit. Sie verschmelzen Politik und Territorium und produzieren Bilder, die perfekt als intellektuelle Machtapparate funktionieren. Aber die historische Rolle von Karten im Kontext von Imperialismus und Nationalstaaten wurde vor einiger Zeit von John Brian Harley und David Woodward neu aufgerollt, indem sie die behauptete Wissenschaftlichkeit der Kartografie in Frage stellten und den heute gängigen

strukturalistischen Ansatz in die Kartografiegeschichte einführten. Dieselben Konventionen der Kartografie werden heute von einer Reihe von Kartenproduzentinnen und -produzenten bewusst angewandt, um kritische Anliegen zu vertreten und den vorherrschenden Bildern der Welt alternative Sichtweisen entgegen zu setzen. Die zahlreichen Beispiele alternativer oder aktivistischer kartografischer Praxis stehen für das befreiende Potenzial von Karten. Was habt ihr aus dem Zusammentragen und Kartieren all dieser Informationen gelernt? Welche neuen Einsichten habt ihr aus der Sichtbarmachung der räumlichen Zusammenhänge gewonnen? Das Kartieren der zusammengetragenen Informationen führte zu einer ganzen Reihe von zuvor nicht nachweisbaren Erkenntnissen. Die wichtigste Erkenntnis war die Unterscheidung zwischen Sicherheitsmechanismen, die bestimmte Orte vor Kriminalität schützen sollen, und solchen, die der Aufstandsbekämpfung dienen. Letztere bringen verborgene Demarkationslinien zwischen politisch verfeindeten Gruppen an die Oberfläche und werden zu Indikatoren von Orten erhöhter Spannungen in potenziellen Konfliktgebieten. Der konkrete Objektschutz scheint hingegen im Dienst zweier unterschiedlicher Personengruppen zu stehen: wichtige Politiker_innen sowie die Nutzer_innen kommerzieller Einrichtungen und luxuriöser Wohnanlagen. Der gleichzeitige Einsatz von privatem und öffentlichem Sicherheitspersonal ist eine andere Beobachtung, die die starke Koalition von Staat und Kapital sichtbar werden lässt und den offiziellen Gestus der kontrollierten Stadt in Frage

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VISIBLE SECURITY MECHANISMS MUNICIPAL BEIRUT

Survey conducted between February and July 2009

Secured landmark

Secured street Checkpoint Parking prohibited Traffic flow moderated Checkpoint for closed area Street access denied Street access narrowed Road lane occupied

More than 3 More than 7

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Police booth Army booth Private security booth Tank Military vehicle Lift arm Fortifying wall Sand bags Heavy blocks Movable elements Barbed wire Road spikes Metal detector Surveillance camera


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Projekt war auf Forschung ausgerichtet. Wir versuchten zu verstehen, wie sich Menschen an eine extrem segregierte städtische Umwelt anpassen und wie sie ihr alltägliches Überleben organisieren. Jerusalem war der ideale Untersuchungsort, um die Auswirkungen von Konflikten auf die Produktion und den Gebrauch städtischer Räume zu erforschen. Die Stadt Jerusalem befindet sich im Zustand der permanenten Zerstörung und Neuerfindung, sie ist eine Geisel politisch motivierter Planung, kollektiver Angst sowie physischer und mentaler Mauern, aber auch Ort des Widerstands, des individuellen Austauschs und der Grenzüberschreitungen. Die komplexe Matrix aus Grenzen, Teilungen, Pufferzonen und Barrieren – physischen, mentalen, politischen, sozialen und kulturellen – ist nur im Ganzen lesbar, wenn Vertreterinnen und Vertreter der unterschiedlichen Konfliktparteien 1 NGBK Berlin, Mai / Juni 2010, www.friedensschauplaetze.org ihre Fähigkeiten und Einsichten verfügbar machen, sowohl aus dem professionellen BeBeirut – Mapping Security ist eine laufende reich, als auch aus der Innensicht ihrer AlltagsForschungsarbeit und zugleich der Titel einer realitäten. Deshalb haben wir für unser Projekt Zeitungspublikation, die von Mona Fawaz, einen trilateralen Rahmen geschaffen und israeAhmad Gharbieh und Mona Harb herausgege- lische, palästinensische und internationale ben wurde; sie wurde innerhalb des internatio- Akademiker, Praktiker und Studierende zusamnalen Netzwerks DIWAN entwickelt und war mengebracht. Teil eines Beitrags zur Rotterdam Architektur Biennale. Karte: Mona Fawaz, Ahmad Ghar- Wie stellt ihr den Bezug zwischen bewaffnetem Konflikt und konkreten räumlichen bieh, Mona Harb and Nadine Beckdache. Strukturen her? Wird der physische Raum durch den Krieg geformt, ist er selbst Ursache des Konflikts oder sogar ein Bestandteil Grenzgeografien der Kriegsführung? Solange Jerusalem existiert, war die Stadt imAnke Hagemann: Könnt ihr kurz euer Pro- mer Ursache und Brutstätte, Ziel und Schauplatz von Auseinandersetzungen und Kriegen. jekt Grenzgeografien beschreiben? Philipp Misselwitz und Tim Rieniets: Unser Sie ist von enormer religiöser und kultureller stellt. Ausserdem offenbart die Kartierung eine ganze Reihe von Sicherheits-Hotspots in Beirut – in diesen Gebieten sind verschiedene Sicherheitsmechanismen miteinander verzahnt, die klar orchestrierte Abläufe festschreiben. Dies führt zu einer Lesart der Stadt, in der kaum ein Ort der exzessiven Überwachung und Kontrolle entkommt. Was die Karte allerdings nicht darstellen kann, sind Gebiete in Beirut mit ähnlich beunruhigenden (wenn nicht noch schlimmeren) Sicherheitsszenarien, die aber nicht auf den sichtbaren Elementen beruhen, wie sie die Karte verzeichnet, sondern auf den Netzwerken sozialer Kontrolle. Diese halbautonomen Gebiete mussten wir textlich oder mit anderen visuellen Beiträgen darstellen. Letztendlich brauchen Karten immer auch textliche Beschreibungen.

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Bedeutung und umkämpft von drei Weltreligionen. Während der letzten 80 Jahre hat sich besonders der Konflikt zwischen Juden_ Jüdinnen und palästinensischen Araber_innen, die beide seit Jahrhunderten eine emotionale und kulturelle Bindung zu der Stadt entwickelt haben, allmählich verschärft. Deswegen können die Stadtstrukturen von Jerusalem nur vor dem Hintergrund des Konflikts entziffert werden. Nicht nur die grossmassstäbliche Stadtplanung wird von strategischen Motiven geleitet, auch bei individuellen raumrelevanten Handlungen – z.B. bei einer Wohnsitzentscheidung oder beim Bau eines Hauses – spielen Angst, Sicherheit und Kontrolle eine Rolle. Aber es ist schwierig, Architektur oder Städtebau nur als Ursache oder Folge von Konflikten zu interpretieren. Scheinbar banale zivile Gebäude und Infrastrukturen vereinen häufig beide Aspekte: Vorgeblich dienen sie dem Gemeinwohl, aber gleichzeitig verfolgen sie die Interessen einer bestimmten Zielgruppe, wie z.B. der israelisch-jüdischen Bewohner_innen der Stadt, und wirken diskriminierend und ausschliessend gegenüber anderen. Eine Strasse kann eine Verbindung und gleichzeitig eine Grenze sein. Eine Mauer kann einerseits gefühlten Schutz bieten und gleichzeitig sozioökonomische Netzwerke zerstören. Ein Park kann als öffentlicher Raum zum allgemeinen Vergnügen genutzt werden, oder auch als Abstandszone – und so weiter. Diese doppelte Funktion des »städtischen Raums« lässt die Stadt verdächtig und unsicher erscheinen – man begegnet ihr mit Misstrauen und Voreingenommenheit. Wenn Architektur und Städtebau Gefahr laufen, zum Instrument eines Konflikts zu werden, dann kann man der eigenen Stadt nicht mehr trauen.

Könnt ihr beschreiben, wie Architektur und Städtebau zu einem Mittel der Machtausübung innerhalb des Konflikts geworden sind? Was sind die Folgen für das alltägliche Leben? In Jerusalem sind Architektur und Städtebau nicht an eine Planungsagenda gebunden, die der gesamten Bevölkerung, das heisst israelischen und palästinensischen Einwohnerinnen

Jerusalem war der ideale Ort, um die Auswirkungen von Konflikten auf die Produktion und den Gebrauch städtischer Räume zu erforschen. Die Stadt befindet sich im Zustand permanenter Zerstörung und Neuerfindung. und Einwohnern zugute kommt. In Abwesenheit dieser gemeinsamen Agenda versuchen beide Seiten, die gebaute Umwelt zu kontrollieren, um ihre eigenen Bedürfnisse gegenüber den anderen zu verteidigen. Stadtentwicklung ist hier kein langfristiger und demokratisch legitimierter Verhandlungsprozess sondern eine Abfolge von Aktion und Reaktion, die strategischen Interessen folgen. Man muss dabei das Ungleichgewicht der Machtverhältnisse zwischen Israeli_innen und Palästinenser_innen berücksichtigen, welches zu einer Art asymmetrischer Kriegsführung

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Nazareth Israeli main roads

Israeli settlements

Hadera Israeli cities

Oslo Area C (full Israeli control) Israel

0

10

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30 kilometers

Tel Aviv

Jerusalem Ashqeton Dead Sea

Beersheba Kontinuität und Fragmentierung. Mobilität in der Westbank basiert auf zwei fast vollständig voneinander getrennten Strassensystemen. Israelische Siedler benutzen ein Netz moderner Umgehungsstrassen, welches die wichtigsten Siedlungen mit grenznahen israelischen Städten verbindet. Auf diese Weise können Siedlungen und Städte in das Alltagsleben der Siedler integriert werden, ohne dass sie dafür palästinensische Gebiete durchqueren müssen. Nach der zweiten

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Palestinian main roads

Israeli main roads

Checkpoints

Palestinian cities Oslo area A (full control of the Palestinian Authority)

Tulkram

Oslo Area B (Palestinian civil control, Israeli military control) 0

10

20

Nablus 30 kilometers

Ramallah Jericho

Jerusalem Bethlehem Hebron

Gaza Strip

Intifada wurden grosse Teile dieser Umgehungsstrassen für Palästinenser_innen gesperrt und die Ausfahrten zu palästinensischen Wohngebieten blockiert. Die palästinensische Bevölkerung muss darum auf ein veraltetes und ineffizientes Strassennetz zurückgreifen. Die israelischen Umgehungsstrassen wirken für sie wie Barrieren, die ihre Mobilität in der Westbank zusätzlich einschränken.

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Israeli roads

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Offenes und geschlossenes Strassensystem. An der Morphologie israelischer und palästinensischer Strassennetze lassen sich sowohl kulturelle Differenzen ablesen als auch die unterschiedliche Verfügbarkeit über öffentliche Mittel. Für die israelische Siedlung Har Homa (Karte links) wurde ein in sich geschlossenes und leicht kontrollierbares Strassennetz gebaut, gemäss moderner planerischer und technischer Standards. Das Strassennetz des benachbarten palästinen-

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Palestinian roads

Israeli checkpoints

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400

600 meters

sischen Dorfes Sur Bahir (Karte rechts) hat sich im Gegensatz dazu schrittweise und ohne zentrale Planungsinstanzen entwickelt, je nach den Bedürfnissen und den Investitionsmöglichkeiten der Bewohner_innen. Es ist ein offenes System, das sich jederzeit und in alle Richtungen weiterentwickeln lässt. Der schlechte Zustand und der Mangel öffentlicher Einrichtungen – wie Verkehrsschilder, Gehwege oder Parkplätze – ist das Resultat fehlender öffentlicher Investitionen.

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geführt hat, die teilweise mit den Mitteln der Architektur ausgetragen wird. Die Israeli_innen haben die alleinige Kontrolle über formelle Planungsinstrumente, die sie ganz unverblümt für politische und militärische Zwecke einsetzen, mit dem Ziel, ihre langfristige Dominanz über das urbane Territorium zu sichern und die Stadt unteilbar zu machen. So wird die palästinensische Bevölkerung der Stadt mittels Wohnungsbau, Infrastrukturplanung oder Sicherheitsmassnahmen diskriminiert. Konkret reicht das Spektrum der diskriminierenden Planungsmassnahmen von einfachen Strassenblockaden, die die täglichen Wege der palästinensischen Bevölkerung einschränken, bis hin zum Siedlungsbau, der die palästinensischen Territorien langfristig und im grossen Massstab auseinanderreisst. Auch für die Palästinenserinnen und Palästinenser, deren wichtigste und effektivste Waffe der zivile Widerstand ist, war das Bauen immer entscheidend. Allein das natürliche Wachstum der palästinensischen Bevölkerung führt zu einem grossen Flächenbedarf. Aber das Bauen in besonders sensiblen Gebieten ist gleichzeitig als Akt des Widerstands zu verstehen, als eine Aneignung von Raum, bevor es die anderen tun. Der schiere Umfang des palästinensischen Wohnungsbaus dominiert sichtlich die Metropolregion zwischen Ramallah und Bethlehem trotz aller israelischen Einschränkungsversuche.

Architektur und Stadtplanung in Jerusalem als Mittel der Gewaltausübung verstehen, da sie Teilen der palästinensischen Bevölkerung den Zugang zu ihren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Grundlagen nehmen. Sie sind eine Form struktureller Gewalt, die – wie im Falle der Mauer – als Schutzmassnahme gegen die physische Gewalt palästinensischer Extremist_ innen begründet wird. Der Unterschied zu anderen Formen struktureller Gewalt ist, dass Architektur und Stadtplanung nicht nur Lebensrythmus und Alltag bestimmen, sondern auch eine symbolische Form besitzen: Die physische Präsenz israelischer Siedlungen auf Hügelkuppen beispielsweise macht die Architektur zu einer allgegenwärtigen Machtdemonstration der Herrschaft und technologischen Überlegenheit. Aber auch die informellen palästinensischen Siedlungen haben eine symbolische Wirkung und werden als Räume latenter Gefahr kolportiert. Ihre Unüberschaubarkeit gilt als Grundlage für palästinensischen Widerstand und Konspiration. Diese symbolische Wirkung der palästinensischen Siedlungsräume dient dem israelischen Militär als Rechtfertigung, um Gebäude und Infrastrukturen gezielt zu zerstören.

Kann ein Friedensprozess auf die räumlichen Strukturen einwirken, oder müssen sich zuerst die räumlichen Strukturen verändern, um eine friedlichere und gerechtere Gibt es eurer Meinung nach eine direkte Entwicklung zu ermöglichen? Es ist klar, dass sich die politischen RahmenVerknüpfung von Architektur bzw. Planung bedingungen in Jerusalem, die die herrschende und Gewalt? Gewalt ist eine besondere Form der Machtaus- Planungspolitik und die räumlichen Strukübung, die zur Durchsetzung ihrer Ziele die turen hervorbringen, radikal ändern müssen. Schädigung oder Verletzung anderer in Kauf Die Teilung der Souveränität über die Stadt ist nimmt. In diesem Sinne könnte man auch unvermeidlich – zumindest für eine bestimmte

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Zeit – bis sich beide ethnisch-nationalen Gruppen wieder auf annähernd gleichem Niveau begegnen können. In den meisten Fällen hätte die formelle Wiederaufteilung der Stadt gar nicht so heftige Konsequenzen, da die Realität ohnehin seit langem eine fast vollständige Trennung geschaffen hat. Komplizierter ist die Frage der Neuverteilung der Kontrolle über die urbanen Territorien, um beide Hälften bewohnbar zu machen. Das ist keine leichte Aufgabe, da sich in den vergangenen Jahrzehnten Ungleichheit und Exklusion fast unwiderruflich in den städtischen Raum eingeschrieben haben. Es gibt dennoch Wege, mit der extremen Segregation zu leben und sie sogar zu überwinden. Durch die Untersuchung sowohl der machtvollen Kräfte, die die Segregation herstellen, als auch der gleichzeitigen Widerstands-, Anpassungsund Überlebensstrategien der Bewohnerinnen und Bewohner hat das Projekt Grenzgeografien folgendes sichtbar gemacht: Trotz der städtischen Segregationspolitik sind die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort viel komplexer. Wir haben analysiert, wie der kulturelle, soziale und ökonomische Austausch, der trotz aller Widrigkeiten immer noch stattfindet, in die Architektur der palästinensischen Dörfer und israelischen Siedlungen eingeschrieben ist. Die Strukturen des Austauschs haben sich seit unseren Untersuchungen weiter ausgehöhlt, werden aber nie ganz verschwinden und bergen immer das Potenzial zu neuem Wachstum, sofern sich die politischen Rahmenbedingungen radikal ändern.

aussergewöhnlich oder auch auf andere Kontexte übertragbar? Der historische Hintergrund und die ethnisch-nationalen und religiösen Bedingungen in Jerusalem sind in vieler Hinsicht unvergleichbar und einzigartig; trotzdem entstehen in anderen städtischen Kontexten häufig ähnliche Architekturen und Raumtypologien. Gegensätze und potenzielle Konflikte sind in jede Stadt eingeschrieben; sie liegen in der Natur des städtischen Miteinanders. Städte sind Ort und Gegenstand aller möglicher gesellschaftlicher Konflikte und politischer Kontroversen. Aber diese Konflikte sind nicht unbedingt gefährlich oder zerstörerisch. Stattdessen können sie als treibende Kraft begriffen werden,

In den meisten Fällen hätte die formelle Wiederaufteilung der Stadt gar nicht so heftige Konsequenzen, da die Realität ohnehin seit langem eine fast vollständige Trennung geschaffen hat.

die ein Arsenal an Kulturtechniken der Konfliktvermeidung hervorgebracht hat – so z.B. Architektur und Stadtplanung. Städte haben das Potenzial, Konflikte zivilgesellschaftlich umzuwerten, wie Saskia Sassen es ausdrückt. Ist die Beziehung zwischen dem Konflikt Wenn aber eine städtische Gesellschaft – wie in und den räumlichen Strukturen, die man Jerusalem – nicht in der Lage ist, gesellschaftam Beispiel Jerusalems studieren kann, liche und politische Konflikte in zivilgesell-

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Diese wechselseitigen Prozesse findet man schaftliche Strukturen zu überführen, dann können städtische Räume auch nicht mehr auf allen Massstabebenen: in Siedlungsmustern integrieren, sondern dienen stattdessen der und Architekturtypologien, in Strassennetzen und Grenzverläufen. Aber wir haben nicht nur Durchsetzung von Einzelinteressen. Das Beispiel Jerusalem führt also nicht nur die »harten Fakten« des Konflikt-Urbanismus zu einem genaueren Verständnis des spezi- kartiert, sondern auch versucht, seine »weichen« fischen lokalen Kontexts. Die Untersuchung Erscheinungsformen wie zum Beispiel Geder Extrembedingungen in Jerusalem kann räusche oder Licht zu erfassen. Die sinnlichen Eigenschaften des Raums, die Geografen und Kartografen normalerweise ignorieren, werden damit sichtbar und erscheinen plötzlich als Karten dienten immer dazu, räumliche Gegebenheiten des Konflikts. Gleichzeitig haben wir die Kartenproduktion Macht zu gewinnen und auszuüben. als Instrument der Vermittlung zwischen Israeli_nnen und Palästinenser_innen benutzt. Bis heute sind die modernen Normalerweise sind Karten »scharfe Waffen« im israelisch-palästinensischen Kampf um Techniken der Landvermessung und räumliche Hegemonie. Deswegen produzieren alle beteiligten Parteien – Israelis, Palästinenser Kartografie Gegenstand nationaler und NGOs – eifrig Karten, um die Deutungshoheit über den Raum zu gewinnen. und militärischer Sicherheit. In unserem Projekt forderten wir israelische und palästinensische Studierende jedoch dazu auch dazu beitragen, städtische Entwick- auf, gemeinsam Karten von Ost-Jerusalem zu lungen an anderen Orten besser zu verstehen, produzieren. Trotz ihrer unterschiedlichen wo das dynamische Verhältnis zwischen Kon- Standpunkte mussten sie einen Konsens über flikt und Raumproduktion weniger offen- die kartografische Darstellungsform des umkämpften städtischen Raums finden. sichtlich ist. Wie habt ihr die Produktion von Karten in Wie ist es möglich, dass Karten, die meist Ausdruck einer machtvollen Sichtweise auf eurem Projekt eingesetzt? In erster Linie haben wir Karten genutzt, um ein Territorium sind, zu einem kritischen die räumliche Logik des israelisch-palästinen- Werkzeug werden? Karten dienten immer dazu, Macht zu gewinsischen Konflikts zu analysieren. Wir waren besonders daran interessiert, die räumliche nen und auszuüben. Bis heute sind die moderGleichzeitigkeit und Wechselseitigkeit des nen Techniken der Landvermessung und KarKonflikt-Urbanismus darzustellen: Aktion und tografie Gegenstand nationaler und militärischer Reaktion, Angriff und Verteidigung, Inklusion Sicherheit. Darum macht man sich besonders in Konfliktgebieten wie Israel / Palästina verund Exklusion.

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dächtig, wenn man urbane Räume beobachtet und kartiert. Selbst in einer westeuropäischen Stadt wie London – wo Selbsmordanschläge am 7. Juli 2005 die Stadt erschütterten – warnt die Polizei vor Verdächtigen, die den städtischen Raum erkunden. Kartografie kann nur zu einem kritischen oder friedlichen Werkzeug werden, wenn sie als Teil demokratischer und partizipativer Prozesse begriffen und praktiziert wird. Vielleicht ist die wachsende Beliebtheit von interaktiven webbasierten Geo-Tools wie Wikimapia und Openstreetmap, oder der zunehmende private Gebrauch von GPS-Applikationen ein Schritt in diese Richtung. Solche Technologien haben bereits jetzt die Nutzung kartografischer Informationen revolutioniert. Sie ermöglichen einer wachsenden Zahl von Menschen, räumliches Wissen selbst zu generieren und anderen zur Verfügung zu stellen. Einige nutzen diese neuen Möglichkeiten auch zur kritischen Untersuchung des Raumes: Online-Gemeinschaften, Aktivisten und NGOs nutzen diese Technologien, um ökologische Probleme, Abrisse von Slums oder andere geopolitische Inhalte sichtbar zu machen. Natürlich sind auch diese Beispiele immer noch in der hierarchischen Struktur des Kartierens gefangen, die zwischen Experten und Laien oder zwischen Produzenten und Benutzern unterscheidet. Aber neue Technologien wie das Air Tagging (so wird eine Technologie genannt, die es erlaubt, digitale Botschaften an bestimmten Orten zu hinterlegen, die dort von anderen Nutzern wieder abgerufen werden können) können diese Hierarchien weiter auflösen und neue Formen des Kartierens hervorbringen, die völlig dezentral und partizipativ angelegt sind. Wenn diese Technologien von vielen Menschen genutzt

würden, könnte das alte Machtmonopol der Kartografie vielleicht aufgebrochen werden. Grenzgeografien ist eine Plattform für interkulturelle Forschung, Publikationen und öffentliche Diskussion, die 2003 von Philipp Misselwitz und Tim Rieniets gegründet wurde. Bis 2006 fanden Studien in Jerusalem und Berlin statt, die internationale Institutionen, Wissenschaftler_innen, Architekt_innen, Künstler_innen und Studierende zusammenbrachten. Die Ergebnisse bildeten die Grundlage für die Publikation City of Collision: Jerusalem and the Principles of Conflict Urbanism (Birkhäuser, 2006).

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Think inside the Box! Text Hans Asenbaum, Wien

Ăœber die Kolonisierung des Denkens neoliberaler Subjekte durch disziplinierende Mediendiskurse.

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Insider

»Gegen die Krise kann keiner was! Unverrückbar über uns Stehen die Gesetze der Wirtschaft, unbekannte. Wiederkehren in furchtbaren Zyklen Katastrophen der Natur!« Bertold Brecht, Die heilige Johanna der Schlachthöfe, 1929/30 1

A

ngesichts kapitalistischer Krisenhaftigkeit, die mehr und mehr in eine Art Permanentzustand überzugehen scheint, in der Prekarität der Arbeits- und Lebenswelten von der Ausnahme zur Norm wird, in der sich glücklich schätzen kann, wer vierzig Stunden in zwei verschiedenen Jobs arbeiten darf und nur durch unbezahlte

Überstunden seinen Arbeitsplatz sichern kann, in der steigende Armutsgefährdung und die Zunahme der Zahl arbeitender Armer begleitet wird von einer kontinuierlichen Reduktion staatlicher Sicherungssysteme, in einer Zeit der Erosion der sozialen Errungenschaften vergangener Jahrzehnte, stellt sich die Frage nach dem Ausbleiben gesellschaftlichen Protests. In den liberalen Demokratien des globalen Nordens, die sich, der Theorie zufolge, an den Werten der Freiheit und Gleichheit orientieren,

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und den Bürger_innen weitgehende Möglichkeiten einräumen, sich zu organisieren und ihre Interessen öffentlich zu artikulieren, herrscht eine erstaunliche Ruhe. Sozialen Verschlechterungen wird mit beispielloser Passivität begegnet. Auf die Frage nach den Gründen eines unterlassenen gesellschaftlichen Aufbegehrens finden wissenschaftliche Ansätze innerhalb der Postdemokratieforschung, die aktuelle Prozesse sozialer Machtverschiebungen als Entdemokratisierung begreift, aufschlussreiche Antworten. Die verschlechterten Lebensumstände, auf die keine kollektive Reaktion folgt, sind demnach selbst ursächlich für das Ausbleiben eben dieser zu erwartenden Reaktion. Neoliberale Politik gibt den Menschen nicht nur Grund zur Unzufriedenheit, sondern entzieht ihnen gleichzeitig die notwendigen Ressourcen um ihre Unzufriedenheit zu artikulieren. Die Freiheit zum Protest bleibt formal bestehen, aber die dafür nötige Zeit, Bildung und emotionale Stärke sind nicht mehr verfügbar. Der Neo-Gramscianer Stephen Gill schreibt in diesem Zusammenhang vom Disziplinierenden Neoliberalismus, dessen Prekarisierungspolitik auf konformes, also nicht subversives Verhalten der Bevölkerung abzielt. 2 Gabriele Michalitsch erklärt diese Prozesse als neoliberale Domestizierung des Subjekts, dessen individuelle Bedürfnisse dem Interesse von Wirtschaftseliten unterworfen werden.3 Frank Deppe versteht dies als politische Strategie den Menschen zu einem flexiblen, anpassungsfähigen, devoten, autoritätsgläubigen aber gleichzeitig hochmotivierten, risikofreudigen und eigeninitiativen Arbeitskraftunternehmer zu machen.4 Der kritische Psychologe Thomas Gerlach schliesslich untersucht die Diskursformationen, die es ermöglichen, auf physische

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Gewalt oder deren Androhung zu verzichten und stattdessen die Gedankenwelten der Subjekte kolonisieren. Denjenigen, denen bereits durch die Politik des Disziplinierenden Neoliberalismus die entscheidenden Lebensressourcen entzogen wurden und die ihre Existenz daher physisch gefährdet sehen, wird ausserdem über elitäre Disziplinierungsdiskurse erklärt, dass ihre missliche Lage selbst verschuldet wäre und von ihrer eigenen Unfähigkeit, Motivationslosigkeit und Unzulänglichkeit herrühre.5 Auf diese Überlegungen aufbauend, soll hier nun veranschaulicht werden, in welcher Form sich solche Herrschaftsdiskurse als spezifische subtile Gewaltform manifestieren, welche Ausprägungen sie aufweisen und worin ihre Überzeugungskraft besteht. Dem Foucaultschen Verständnis folgend,6 dass Diskurse als hegemoniale Deutungsmuster, deren sinnstiftende Funktion von Eliten als Herrschaftsinstrument eingesetzt werden, stützt sich dieser Artikel auf eine politikwissenschaftliche Studie mit dem Ziel, latente Disziplinierungsmechanismen zu identifizieren. Der in der Studie untersuchte Diskurs ist auf das Thema Sozialstaatlichkeit und auf die österreichischen Qualitätsprintmedien Die Presse und Der Standard (Tageszeitungen) sowie das Wochenmagazin Profil beschränkt.

Die Formierung des neoliberalen Subjektes durch reflexive Gewalt Das Ziel elitären Machterhalts hat im Neoliberalismus andere Formen angenommen als in früheren kapitalistischen Entwicklungsphasen. Die Androhung und Anwendung physischer Gewalt ist in den Hintergrund getreten. Poli-


Nicht nur die Handlungen sollen korrigiert, die gesamte Einstellung soll neu ausgerichtet werden. Dies soll von innen heraus geschehen. Die Eigeninitiative des Subjekt soll die grundlegende Veränderung desselben hervorrufen und einen ständigen Prozess der Selbstgeisselung vorantreiben. Hierin liegt die Grundidee neoliberaler Disziplinierung. Durch die Aktivierung autoaggressiver Mechanismen werden durch das kapitalistische System produzierte Ängste in destruktive Kräfte gewandelt, die schliesslich von ihren eigentlichen Adressat_ innen weg auf die eigene Person gerichtet werden. Es entsteht ein Kreislauf reflexiver Gewalt. Das Subjekt übernimmt die Rolle des Opfers und Täters gleichermassen. Eine weitere Profit lukrierende Massnahme wurde von »Im Grunde braucht es strukturelle Mass- den Kapitaleigentümer_innen auf die Wertpronahmen, manchmal auch Einstellungsände- duzierenden übertragen. Reflexive Gewalt ist rungen.7 Ja natürlich ist die Erfahrung, nicht zudem ein systemsichernder und -erhaltender dringend gebraucht zu werden, für Junge ein Mechanismus kapitalistischen Wirtschaftens. Schock. Es ist aber nicht immer nur der Job, der fehlt, sondern manchmal auch die Bereitschaft, vorhandene Arbeit anzunehmen, Von faulen und böswilligen die unter dem erwarteten Niveau liegt. Es »Sozialschmarotzern« braucht ein ganztägiges Schulsystem, das Bei der Untersuchung der Vorwürfe, die gegen Dinge lehrt, die Junge brauchen können. Und manche soziale Gruppen oder einzelne Perflexible Arbeitsplätze für Eltern (statt Geze- sonen erhoben werden, dominiert auch in ter über Teilzeitarbeit), damit Jugendliche fit dieser Studie der Begriff des »Sozialschmarotfürs spätere Leben werden.« zers«. Hiermit sollen jene Leute diskreditiert werden, die eigentlich im Stande wären ErSalomon, Martina; Die Presse, 24.12.2005 werbsarbeit zu verrichten, sich aber aufgrund Der Grundgedanke des Disziplinierenden der zur Verfügung stehenden Sozialleistungen Neoliberalismus kommt hier deutlich zum Aus- gegen diese Option entscheiden. Es stellt sich die Frage, welche konkreten druck. Dieser Aufruf zur Konformität geht hier weit über eine Aufforderung zur Änderung Vorwürfe mit dem Begriff des »Sozialschmades Verhaltens in einer bestimmten Situation rotzers« artikuliert werden. In einigen Fällen ist hinaus. Vielmehr wird von der Autorin die ho- als Ursache für das »Ausnützen des Sozialsyslistische Erneuerung des Subjektes gefordert. tems« menschlich nachvollziehbare Faulheit

tische Gewalt als Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit wirkt latent, tritt diffus in Erscheinung und versucht zu überzeugen. Statt der offenen Repression sich auflehnender Menschenmassen wird Rebellionen und damit auch physischen Unterdrückungen vorgebeugt. Dies äussert sich in der Aufforderung an das Subjekt, davon abzulassen, die Anpassung politischer Regelungen an die eigenen Wünsche zu fordern, sondern stattdessen umgekehrt seine Wünsche den politischen Regelungen anzupassen. Von der Umwelt kann keine Flexibilität verlangt werden, da diese als natürliche Gegebenheit begriffen wird. Nur das Subjekt kann Flexibilität aufbringen, um von der Umwelt akzeptiert zu werden.

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identifizierbar. In anderen Fällen fehlt selbst ständnis aufzubringen fehlt im zweiten Erkläeine solche Erklärung und es wird eine unhin- rungsansatz, der böse Absicht unterstellt, vollterfragte böse Absicht attestiert. kommen. Es folgen drei Beispiele, die den Vorwurf der Faulheit exemplarisch illustrieren. »Die Menschen sind halt nicht alle Engel. Leider gibt es auch eine Minderheit, die »Jeder in Österreich ebenso wie in Deutsch- sozialen Beistand ausnützt, die Hilfe als land kennt Fälle, dass Arbeitslose sich bei Einladung für die soziale Hängematte misseiner Firma vorstellen (damit sie den Stempel versteht. Eine Minderheit, gottlob, aber ohne für die Jobvermittlung bekommen), aber Zweifel zu viele, als dass man angesichts deutlich machen, dass sie nicht arbeiten solcher Unmoral zur Tagesordnung überwollen. Offenbar hat die Sozialhilfe zur Folge, gehen kann.« dass eine Reihe von Menschen zwar arbeits- Kleinert, Detlef; Gastkommentar, Die Presse, 2.3.2010 fähig, aber nicht arbeitswillig ist – auf Kosten der Allgemeinheit.« Wie dieses Beispiel illustriert, wird vom Autor ein Versuch, die Motive der beschriebenen Kleinert, Detlef; Gastkommentar, Die Presse, 2.3.2010 Personen zu begreifen, völlig unterlassen. Die »Wenn Erwerbsarbeit nicht gefördert, Anstrengung, die Vorgänge zu verstehen wird sondern bestraft und faules Nichtstun durch ein simples Werturteil ersetzt. Dass es belohnt wird, leidet freilich die Leistungs- eine »unmoralische Minderheit« in der Gesellschaft gibt, ist ein gegebenes Faktum, das bereitschaft.« keiner weiteren Erklärung bedarf. Diesem Bauer, Gernot et al.; Profil, 23.10.2009, S.21 Weltbild entsprechend, scheint die Bösartigkeit »Aber es gibt auch andere, die partout keine ein Teil des Menschen zu sein, der nun einmal, Arbeit annehmen, weil die staatliche Hänge- ohne weitere Begründung, existiert. Gegenüber der Faulheit kommt beim Vormatte eben verlockender ist.« wurf der bösen Absicht vor allem die UnterstelEttinger, Karl; Die Presse, 14.4.2008 lung des Vorsatzes hinzu. Durch den TatbeHier werden eigentlich zwei Vorwürfe stand des Vorsatzes, der auf unergründeter formuliert. Einerseits wird die Faulheit der Böswilligkeit beruht, mutiert der Vorwurf des »Arbeitsverweigerer« angeprangert, anderer- »Sozialschmarotzens« zum Delikt des »Sozialseits werden staatliche Regelungen kritisiert, betrugs«. Während das Schmarotzen eher als die dieses Verhalten ermöglichen. Der zweite halblegales Vergehen gesehen wird, kommt der Vorwurf schwächt den ersten ab, da damit der Betrug einem vorsätzlichen, überlegten und Faulheit als menschlicher Schwäche ein ge- geplanten Verbrechen gleich. wisses Verständnis entgegengebracht wird. Nur die wenigsten werden behaupten, dass ihnen »Wenn es hier ebenfalls zum verbreiteten die Freuden und Verlockungen des Müssig- Sozialbetrug kommt, dann ist der Teufel los.« gangs völlig fremd wären. Der Versuch Ver- Khol, Andreas; Die Presse, 30.11.2009

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Auffällig sind in diesen beiden Zitaten die Bezüge zur christlichen Mythologie. Hier ist von »Gott«, dem »Teufel« und »Engeln« die Rede. Die Wortwahl scheint nicht zufällig. Es werden religiöse Assoziationen hergestellt, die ein bipolares Weltbild zeichnen, in dem »das Gute« »dem Bösen« gegenübersteht. Damit wird die Wesenhaftigkeit der bösen Absicht illustriert. Sowohl das Gute als auch das Böse scheint ausserhalb und innerhalb des Menschen existent; eine Existenz, die jeder Erklärung entbehrt und daher keiner Begründung bedarf. Im Gegensatz zu diesen negativen Äusserungen, konnten auch positiv formulierte Versuche der Formierung identifiziert werden. Hier wird nicht unerwünschtes Verhalten angeprangert, sondern erwünschtes Verhalten affirmativ beschrieben. Was auf den ersten Blick schwer als Gewaltform zu erkennen ist, erweist sich jedoch lediglich als indirekte Strategie, die auf dasselbe Resultat abzielt. Ein Beispiel:

Akt gezogen wird, ist der mangelnde Mut, den eigenen Verstand zu benützen. Sozialhilfeempfänger_innen wird also assoziativ auch selbstverschuldete Feigheit und Dummheit vorgeworfen. Nur unter Berücksichtigung positiv formulierter oder indirekter Disziplinierung kann der gesamte Diskurs erkannt werden.

Eigenverantwortung und kollektive Isolation

Der Wert, der im Zusammenhang mit indirekten Disziplinierungsstrategien am prominentesten propagiert wird, ist jener der Eigenverantwortung und Eigeninitiative, wie bereits aus dem eben besprochenen Zitat hervorgeht. Dies entspricht auch den Überlegungen Frank Deppes, der auf die Aussage einer Galionsfigur der neoliberalen Wende der 1980er verweist: »Ich kenne keine Gesellschaft, ich kenne nur Individuen.«8 Dies stellt einen deutlichen ideologischen Bruch mit den vergangenen Jahrzehnten dar, die von »Wohlfahrtsstaatspolitik erzeugt Unmündig- Werten wie Solidarität und gesellschaftlichem keit, also jenen Geisteszustand, gegen den Zusammenhalt im Zuge der sozialen Bewejede Aufklärung kämpft. Und so, wie es des gungen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts geMutes bedarf, um sich des eigenen Ver- prägt waren und im fordistischen Zeitalter einen standes zu bedienen, so bedarf es des Stolzes, hohen Grad an Institutionalisierung erfuhren. um das eigene Leben selbstständig zu leben.« Die kapitalistischen und neoliberalen Ideologien setzen Chancengleichheit voraus und glauBolz, Norbert; Die Presse, 14.11.2009 ben diese vor allem durch die Untätigkeit des Wenn es also des Stolzes bedarf, das eigene Staates gewährleistet, der als aussenstehende Leben selbstständig zu leben, so folgt im Um- und freiheitsgefährdende Instanz wahrgenomkehrschluss, dass diejenigen, die auf staatliche men wird. Die Grundidee des Individualismus Unterstützung zurückgreifen, nicht stolz sein formuliert Deppe prägnant: »Jede/r ist für sein dürfen, sondern sich schämen müssen. Obwohl Leben und dessen Erfolg oder Misserfolg als die Aussage ostentativ positiv formuliert ist, Individuum selbst verantwortlich – sie haben artikuliert sie schwerwiegende Vorwürfe. Der immer die freie Wahl.«9 Das Ideologem der Bezug von Sozialleistungen wird diskreditiert. Eigenverantwortung wurde im untersuchten Die Parallele, die zu diesem verachtenswerten Diskurs häufig und deutlich formuliert.

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»Doch diese Zugehörigkeit zur Rechtsgemeinschaft verlangt auch, dass grundsätzlich jeder Mensch in Freiheit seine eigenen Anliegen selbst regelt, sein Leben selbst in die Hand nimmt und durch die Kraft seiner Arbeit sich und seine Familie ernährt. Sozial sind die Kindererziehung durch Eltern, das Training im Sportverein, die nachbarliche Hilfe. Sozial ist die Rückkehr zur Idee der individuellen Freiheit, die den betroffenen Unternehmer auch in der Krise auf seine Kraft verweist, sich selbst zu helfen und dadurch dazu beizutragen, die Gesamtwirtschaft aus der Krise zu führen. Die Rückbesinnung auf die Freiheit macht die Krise zur Chance.«

Einzelne und die kleinere Gemeinschaft aus eigenen Kräften vollbringen können, darf ihnen nicht vom Staat abgenommen werden.« Beide versuchen den Begriff des Sozialen, der gemeinhin mit Solidarität, Gemeinschaft, gesellschaftlicher Zusammenhalt assoziiert wird, neu zu interpretieren und ihn mit ihrer eigenen Leitidee der Eigenverantwortung, des Unternehmertums und des individuellen Risikos zu verknüpfen, ihn also in sein Gegenteil zu verkehren. Auffällig ist im zweiten Zitat ausserdem, dass neben Individuen auch »kleine gesellschaftliche Gebilde« oder das Vereinswesen angesprochen wird. Diese Argumente schliessen an kommunitaristische Diskurse an. Ausgehend von der Idee von liberaler Demokratie und individueller FreiKirchhof, Paul; Gastkommentar, Die Presse, 29.4.2010 heit wird hier geschlossen, dass der Staat, der »Soziale Gerechtigkeit, das ist in Wirklichkeit diesen Zielen im Wege stehen würde, zurückdas Subsidiaritätsprinzip, das heisst: Was gedrängt werden müsse. Dem Staat werden, der Einzelne und die kleinere Gemeinschaft wie es Nikolas Rose in »Tod des Sozialen«10 aus eigenen Kräften vollbringen können, beschreibt, möglichst viele Aufgaben abgenomdarf ihnen nicht vom Staat abgenommen men und in die private Sphäre überführt. So werden. So viel Hilfe wie notwendig, so viel bilden sich kleine Kommunen oder Gemeinden Eigenleistung und Selbstverantwortung wie entlang ethnischer, sexueller, religiöser, polimöglich! Der Staat hat dafür zu sorgen, tisch-ideologischer, körperlicher, konsumoriendass sich Einzelpersonen und kleinere tierter und geographischer Cleavages. gesellschaftliche Gebilde in Freiheit und Kommunitaristische Ideen sind vor allem in Eigenverantwortung entfalten können. Min- den USA verwirklicht. Doch sie werden auch destsicherung und Bürgergeld sind davon in Österreich populärer. Hier werden sie unter genau das Gegenteil.« anderem von konservativen Ideologen über die Medien verbreitet. So zum Beispiel von Kleinert, Detlef; Die Presse, 23.11.2006 Andreas Khol (ÖVP), der die Entstaatlichung Aus diskursanalytischer Perspektive sind die sozialpolitischer Bereiche vorantreibt: beiden expliziten semantischen Umdeutungsversuche besonders augenfällig. Im ersten Zitat »Die Freiwilligenarbeit ist an die vier Milliarheisst es: »Sozial ist die Rückkehr zur Idee der den Euro jährlich wert. Ohne sie wäre die individuellen Freiheit [...]«. Im zweiten: Lebensqualität in unserem Lande nicht welt»Soziale Gerechtigkeit, das ist in Wirklichkeit weit im Spitzenfeld. In Feuerwehr, Rettung, das Subsidiaritätsprinzip, das heisst: Was der Alpenverein, Umweltschutz, Jugendarbeit,

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Pfarreien, im Breitensport, in der sozialen Fürsorge für Mitmenschen: Überall tun die Freiwilligen mehr als andere, mehr als ihre Pflicht.« Khol, Andreas; Die Presse, 7.11.2009

Die entsolidarisierende Strategie neoliberaler Disziplinierungsdiskurse wird neben den Aufrufen zu Eigenverantwortung und Entstaatlichung komplettiert durch die Anregung sogenannter »Neiddebatten«11 zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Die Gesellschaft wird so durch destruktive Kräfte in kleine Gruppierungen zersplittert, deren ständig geförderter Argwohn als politisches Kontrollmittel fungiert. Die durch die zunehmende Ressourcenkonzentration hervorgerufene Knappheit, die schliesslich in Spar- und Sozialrückbaudebatten resultiert, legt die Frage nahe, wem es noch gut genug gehe, dass bei ihm oder ihr noch eingespart werden könne.

Durch diese von Disziplinierungsdiskursen unterstützten Tendenzen des Schwindens gesellschaftlichen Zusammenhalts ist die Basis eines kollektiven Aufbegehrens einem kontinuierlichen Erosionsprozess ausgesetzt. Kollektive Isolation ist als Ziel solcher Politiken zu erkennen.

Realität als Unikat – von der Objektivität neoliberaler Ideologie

Ein zentrales Element disziplinierender Diskurse stellt die Schaffung einer einzig gültigen Wahrnehmung der Welt, einer Realität dar. Dass Ideologien bestimmte Paradigmen erzeugen, ist ihnen immanent. Eine andere Frage ist, ob sie prinzipiell neben den eigenen Interpretationen auch alternative Deutungsweisen dulden, oder ob sie diese negieren und ihnen ihre Existenzberechtigung absprechen. Genau dies scheint für die Ideologie des neoliberalen »[Eine Supermarkt-]Kassiererin braucht Kapitalismus zu gelten. Das konstruierte und weniger Unterstützung, wenn sie in einem immer wieder reproduzierte Deutungsmuster abgezahlten Haus lebt, als wenn sie zur wird als das einzig gültige, das einzig existente Miete wohnt.« dargestellt. Das Schlüsselelement dieser Strategie stellt Rainer, Christian; Profil, 23.10.2009, S.13 die Behauptung dar, dass es so etwas wie »Mittlerweile geht das Gros der rund 750 »Ideologie«- oder »Wertfreiheit« gäbe. Um Millionen Euro, die jährlich an Pendler- diese Logik zu etablieren, wird ein Dualismus pauschale ausgeschüttet werden, an Per- aufgebaut. Auf der einen Seite steht demnach sonen mit einem überdurchschnittlichen Ideologie, auf der anderen die Realität. Oft wird davon gesprochen, die Dinge »politisch« oder Einkommen…« eben »nicht politisch« zu betrachten. Da das, Linsinger, Eva; Profil, 22.3.2010, S.32 was im neoliberalen Alltagsverstand als »Politik« »Pensionsempfänger haben derzeit beste wahrgenommen wird, äusserst unpopulär Chancen zwischen 1,5 und 1,9 Prozent Pen- geworden ist, wird im Mainstream häufig der Versuch unternommen, diesen Begriff zu sionserhöhung einzusacken.« marginalisieren. Politik wird als schmutziges Ringler, Marie; Der Standard, 15.10.2009

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Geschäft verstanden, bei dem es um Macht und persönliche Bereicherung geht. Die Politik verspricht, was sie nicht halten kann. Dieser alltägliche Politikbegriff ist eng gefasst. Übrig bleibt sehr viel Platz für das »Unpolitische«, das sich der negativen Konnotation des Politikbegriffs damit entzieht. Es gibt also einerseits negativ behaftete, ideologische Politik andererseits neutrale, unpolitische Realität. Versucht man eine gesellschaftliche Problematik zu begreifen, wird häufig der Anspruch erhoben, dieses Problem aus »neutraler« und »rationaler« Perspektive zu betrachten. Dies entspricht der unpolitischen Realität. Nur manche, vor allem Politiker_innen, gehen an solche Problemstellungen »ideologisch«, »emotional« und damit »irrational« heran. Dieser Dualismus kommt im untersuchten Diskurs deutlich zum Ausdruck. »Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht kann das Problem nüchtern anhand von Zweckmässigkeit und Wirksamkeit diskutiert werden: Funktionierende Umverteilung verhindert Armut, sichert so den sozialen Frieden, schafft damit einen Standortvorteil und kann sogar kostendämpfend wirken.«

unpolitisch herangegangen werden. Im angeführten Beispiel wird vorgeschlagen, eine Problematik, bei der es um Menschenleben geht, nüchtern, also frei von künstlich erzeugten, die Wirklichkeit verzerrenden Rauschmitteln, zu betrachten. Während alternative Sichtweisen auf subjektiver und normativer Wahrnehmung beruhen und, wie das Wort «nüchtern» ausdrückt, nur unter Beeinflussung von Rauschgift zu Stande kommen können, wird das präferierte Deutungsmuster als wertfrei und allgemeingültig dargestellt. »‚Working tax credit’ (Anm.: Eine Geldleistung der britischen Regierung für Niedrigverdiener_innen) ist weder ‚neoliberal’ noch ‚sozialistisch’, sondern einfach erfolgreich.« Marin, Bernd; Der Standard, 18.12.2006

Hier zeigt sich ein weiterer Versuch, Politik von Ideologie zu lösen. Es findet eine völlige Vermischung von Begriffen statt. Zwei ideologiebeladene Begriffe sollen durch einen Dritten vermeintlich ideologiefreien ersetzt werden. Es wird versucht, eine neue, rationale Logik als die einzig gültige zu etablieren. Dabei wird aber übersehen, dass diese vermeintlich neutrale Bauer, Gernot et al.; Profil, 23.10.2009, S.19 Ebene immer noch und um kein bisschen Diesem Verständnis nach erforscht die ratio- weniger ideologisch ist. In beiden Zitaten wird nale Wissenschaft die objektive Wahrheit und das Ziel der Armutsbekämpfung respektive der liefert Erkenntnisse über die Realität. An den Umverteilung, um weitere ProduktionszuErgebnissen wissenschaftlicher Forschung kann wächse beziehungsweise eine Profitsteigerung kein Zweifel bestehen – sie beschreiben die zu ermöglichen, festgelegt. Diese normativen Wahrheit. Anhand dieser Ergebnisse können Vorstellungen entsprechen der neoliberalen dann gesellschaftliche Probleme rational und Logik, in das »Humankapital« zu investieren, unemotional betrachtet werden. Das Ergebnis um Profitmaximierung zu gewährleisten. Das dieser Betrachtung liefert dann wieder eine ultimative Ziel, dem auch die Sozialpolitik unneutrale Aussage über die objektive Wahrheit. tergeordnet wird, bleibt hierbei immer der ökoSomit kann paradoxerweise auch an Politik nomische Gewinn der Wirtschaftselite.

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Think inside the Box! Alternativlosigkeit als zentrales Diskurselement Die Diskreditierung alternativer Sichtweisen als irrational und emotionsgeleitet und die Etablierung einer einzig gültigen Realität als rational und wissenschaftlich belegbar, dient als Fundament einer zentralen Idee des Disziplinierenden Neoliberalismus. »There is no alternative«, meinte Margarete Thatcher in den 1980ern und rief damit die Parole aus, die die Politik der nächsten 30 Jahre dominieren sollte.12 Mit dieser autoritären Formulierung wird meist auf den sogenannten »Standortwettbewerb« verwiesen. Es wird argumentiert, dass das immer flexiblere internationale Kapital seinen Standort und damit seine Investitionen und Arbeitsplätze bei ungünstigen politischen Bedingungen in ein anderes Land verlagern würde. Aus dieser Zwangslogik heraus bestünden keine Alternativen zu Steuerreduktionen für Unternehmen.13 Durch die daraus resultierende Abnahme des staatlichen Budgets bestünde keine Alternative zur Kürzung von Sozialleistungen. Auch die Privatisierung staatlicher Unternehmen ist damit alternativlos, da das Sozialsystem immer schwerer zu finanzieren sei und daher neue Finanzquellen erschlossen werden müssten, ausserdem böte sich dadurch eine neue Investitionsgelegenheit transnationaler Konzerne, was einen Standortvorteil brächte. Ebenso gäbe es im Sinne des Standortwettbewerbs keine Alternative zu Deregulierungen im Arbeitsrecht, da internationale Investor_innen von zu hohen Mindestlöhnen und zu strikten Arbeitsschutzbestimmungen abgeschreckt würden. Durch den internationalen Wettbewerb sei die Schaffung flexibler und leistungsfähiger Arbeitskräfte unumgänglich. Deshalb...

»... führt kein Weg daran vorbei, dass der Staat die Bereitschaft zum Arbeiten stärker fördern muss – und sei es durch finanzielle Daumenschrauben.« Kleinert, Detlef; Gastkommentar, Die Presse, 2.3.2010

Die Thematik der Alternativlosigkeit wird besonders im Zusammenhang mit der aktuellen Wirtschaftskrise (seit 2008) strapaziert. Die»Spardebatte« in den Medien bietet ideale Möglichkeiten, die Leistbarkeit sozialstaatlicher Ausgaben zu diskutieren. Ob die Finanzierung im Bereich des Möglichen ist, ob sie nicht die Grenzen dieser Realität überschreiten, wird in Frage gestellt. So zum Beispiel von Andreas Khol in Bezug auf die neue Mindestsicherung: »Reicht nicht die Sozialhilfe, können wir uns das überhaupt leisten?« Khol, Andreas; Die Presse, 30.11.2009

Und Detlef Kleinert verkündet die Antwort: »Wir können uns die Sozialsysteme im bisherigen Umfang nicht mehr leisten…« Kleinert, Detlef; Gastkommentar, Die Presse, 2.3.2010

Über die Unvermeidbarkeit und die Schmerzlichkeit des bevorstehenden Sparkurses sind sich Journalist_innen in allen drei untersuchten Medien einig. So schreibt Eva Linsinger im Profil unter dem Titel »Sparen in der Not – Harte Einschnitte und Steuererhöhungen sind unausweichlich«. »Um den Haushalt einigermassen in den Griff zu bekommen, müssen jährlich über zwei Milliarden Euro eingespart werden. Der Sanierungskurs ist alternativlos... Selbst bei

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straffen Ausgabenkürzungen ist eine Sanie- veranlassen nun das Subjekt selbst die verinnerlichte Unausweichlichkeit auf die eigene Lerung ohne Steuererhöhungen unmöglich.« benssituation und schliesslich auf sich selbst zu Linsinger, Eva; Profil, 8.3.2010, S.24 replizieren. Es besteht demnach die unumgängliche Notwendigkeit sich den natürlich gewachSchluss: senen Zwängen wirtschaftlicher Gegebenheiten Multiple Eindimensionalität anzupassen. Konformität ist die einzige Mögund Selbstdisziplinierung lichkeit, in einer Welt der beschränkten DenkDie Zwangslogik der Alternativlosigkeit wird und Handelsmöglichkeiten zu überleben. Diese Anpassung und Unterordnung der auf multiplen Ebenen reproduziert und ergibt damit ein vielschichtiges System eindimen- originären Eigeninteressen an vermeintliche sionaler Realität, die, als ob man einen Spiegel Gegebenheiten, hinter denen aber tatsächlich einem zweiten Spiegel gegenüberstellt, immer die eigennützigen Interessen wirtschaftlicher wieder und wieder nach gleichem Muster re- Eliten stehen, ist das entscheidende Moment flektiert wird. Die erste Ebene stellt hierbei das des Disziplinierenden Neoliberalismus. Der ökonomische System des neoliberalen Kapita- Verzicht, eigene Bedürfnisse zu befriedigen, lismus dar, das durch seine Profitmaximierungs- erfordert Disziplin – Disziplin, die nicht nur und Kapitalakkumulationsprämisse Einschrän- von aussen aufoktroyiert werden kann, sondern kungen von Denk- und Handlungsweisen die, der Effizienzlogik des Kapitalismus entschafft. Wird den Spielregeln nicht Folge geleis- sprechend, von den Subjekten verinnerlicht tet, gehen Unternehmen und ganze Staaten wird, damit sie, mittels reflexiver Gewalt, die bankrott. Aus dieser Beschränkung von Hand- Funktion ihres eigenen Peinigers selbst überlungsmöglichkeiten resultieren die Zwänge auf nehmen. Disziplinierender Neoliberalismus ist der zweiten Ebene, auf der kollektives Bewusst- im Wesentlichen die destruktive Beziehung des sein – die kapitalistische Ideologie – geschaffen Subjektes zu sich selbst und stellt damit einen wird. Tüchtigkeit und Leistung werden zu zentralen Kontrollmechanismus kapitalistischer zentralen Werten. Dies impliziert ein hohes Gesellschaftsordnung dar. Effektiv sind solche Kontrollmechanismen Mass an Intoleranz gegenüber nicht systemaber nur, solange sie nicht ins öffentliche Bekonformen Ideen. Alternative Denkansätze werden diffamiert wusstsein treten. Ihre Reflexion entschärft sie. und marginalisiert. Die konstruierte Ideologie Hoffnung gibt das folgende Zitat aus einem Lewird zur einzig gültigen Realität. Die Regeln serbrief, der in der Kronen Zeitung – der meist des Wirtschaftssystems auf der ersten Ebene gelesenen Tageszeitung Österreichs mit einer stützen die Ideologie der zweiten und umge- Reichweite von über 40 Prozent(!) – veröffentkehrt. Die dritte Ebene ergibt sich aus dem licht wurde. Schritt von der ökonomisch-systemischen zur kollektiv-ideologischen in die psychisch-indivi- »Doch der neoliberalen kapitalistischen duelle Sphäre. Hier werden die Zwangslogiken Ideologie und Propaganda sind [sic!] es der ersten beiden Ebenen erneut reflektiert und gelungen, den politischen Sachverstand so

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zu verblinden und zu vernebeln, dass das Verhältnis des Staates zum Staatsvolk – wie in einer Plutokratie – nur noch aus der Sicht des Kapitals und der Kapitalbesitzer gesehen wird.« Schäfer, Erich; Kronen Zeitung, 3.10.2010, S.33

1

Gesprochen von den »Packherren« in: Brecht, Bertold (1962): Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Berlin, Suhrkamp, S. 52.

2

Gill, Stephen (2008): Power and Resistance in the New World Order, 2nd Edition, Basingstoke, Palgrave Macmillan.

3

Michalitsch, Gabriele (2006): Die neoliberale Domestizierung des Subjekts – Von den Leidenschaften zum Kalkül, Frankfurt / Main, Campus.

4

Deppe, Frank (2008): Krise der Demokratie – auf dem Weg zu einem autoritären Kapitalismus?, in: Deppe, Frank et al. (Hg.): Notstand der Demokratie – Auf dem Weg in einen autoritären Kapitalismus?, Hamburg, VSA.

5

Gerlach, Thomas (2000): Die Herstellung des allseits verfügbaren Menschen. Zur psychologischen Formierung der Subjekte im neoliberalen Kapitalismus, in: UTOPIE kreativ, Heft 121/122 (November / Dezember 2000), S. 1052–1065.

6

Neben jenen Michel Foucaults spiegeln sich auch Ansätze Antonio Gramscis in dieser Arbeit wider. Der Gedanke der hegemonialen Erzeugung von Konsens, der neben der physisch repressiven Seite der Macht auch die psychisch-intellektuelle betont, stellt den Ausgangspunkt der Studie dar. Der Begriff der organischen Intellektuellen erleichtert das Verständnis diffuser Hegemonie, das nicht von einem kleinen verschwörerischen Zirkel ausgeht, sondern über Diskurse weit in die Gesellschaft hineinwirkt und überzeugt. So schreibt z.B. Mario Candeias in seinem Text »Gramscianische Konstellationen«: »In unzähligen Diskursen von Lehrern, Richterinnen, Journalistinnen, Wissenschaftlern, etc. wird ein spezifisches Wissen produziert, welches definiert und normiert, welche Diskurse als anerkannt geführt werden dürfen und welche nicht. In diesen Diskursen, welche gleichzeitig spezifische Öffentlichkeit konstituieren, welche in den Massenmedien ein weiteres mal durch einen normalisierenden 'Trichter' müssen, wird gesellschaftliche Konformität erzeugt.« Candeias, Mario (2007): Gramscianische Konstellationen – Hegemonie und die Durchsetzung neuer Produktions- und Lebensweisen, in: Merkens, Andreas (Hg.): Mit Gramsci arbeiten – Texte zur politisch-praktischen Aneignung Antonio Gramscis, Argument-Verlag, Hamburg, S. 23.

7

Diese und alle Unterstreichungen in den folgenden Zitaten wurden von mir hinzugefügt. Alle Zitate der beiden Tageszeitungen sind auf den jeweiligen Websites mittels Suchfunktion nachvollziehbar.

8

Deppe, Frank (2008): Krise der Demokratie – auf dem Weg zu einem autoritären Kapitalismus?, in: Deppe, Frank et al. (Hg.): Notstand der Demokratie – Auf dem Weg in einen autoritären Kapitalismus?, Hamburg, VSA, S. 25.

9

Ebd., S. 26.

10 Rose, Nikolas (2000): Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens, in: Bröckling , Ulrich / Krasmann, Susanne / Lemke, Thomas (Hg.), Gouvernmentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/Main, S. 72-109. 11 Von Interesse ist auch der Bedeutungswandel oder die flexible Gebrauchsweise des Begriffs »Sozialneid«. Ursprünglich diente er dem wohlhabenderen Teil der Bevölkerung um die ungleiche Vermögensverteilung zu legitimieren. Heute ist er zum Kampfbegriff der SPÖ geworden, die damit den Besitz der unteren und mittleren Gesellschaftsschichten verteidigen will. Dies zeigt auch den Verlauf entsprechender Diskurse über die letzen Jahrzehnte auf. Während sich in den 1970er Jahren noch die Oberschicht gegen eine Umverteilung von oben nach unten sträubte, müssen heute Geringverdienende gegen eine Umverteilung in die umgekehrte Richtung in Schutz genommen werden. 12 Die Konstruktion der Alternativlosigkeit ist aber keine Erfindung des Neoliberalismus, sondern ein dem Kapitalismus immanenter Grundgedanke. Auch die Kritik an der Alternativlosligkeit ist älter. An dieser Stelle sei noch einmal auf das Zitat von Bertold Brecht am Anfang des Artikels hingewiesen. 13 Ausführlich widmet sich beispielsweise Mark Fischer (2009) dem Thema Alternativlosigkeit in seinem Buch: Capitalist Realism – Is there no Alternative?, Hampshire, Zero Books.

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Stuttgart 21

Alle Gewalt geht vom Staate aus. Das Projekt »Stuttgart 21« Text + Fotos Dietrich Heissenbüttel, Stuttgart

Wie breit sich der Widerstand gegen »Stuttgart 21« formierte, hätten sich die Stadtbehörden nicht träumen lassen. So wurden selbst brave Bürger_innen zu Zeug_innen einer Stadt im Ausnahmezustand.

S

chritt für Schritt beisst sich der Bagger Nicht alle halten den Stuttgarter Hauptbahnvor, Stein um Stein reisst er aus der hof für ein schönes Gebäude. Manche empfindenkmalgeschützten Fassade. Die Bür- den ihn als düster, fühlen sich durch seine Moger_innen unten auf dem Platz können es nicht numentalität, die rohen Kalksteinbossen an fassen. »Aufhören, aufhören«, rufen sie. Man- Bauten der Nazis erinnert, wozu vielleicht auch che brechen in Tränen aus. In die Wut mischt der finstere Krieger des Bildhauers Jakob Brüllsich Trauer, aber auch die Entschlossenheit, mann beiträgt, der am Aufgang der grossen jetzt nicht klein beizugeben. Schalterhalle auf die Bahnreisenden herabblickt.

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Auch ist wohl nicht allen die architekturge- nehmen. 2 »Der Hauptbahnhof«, schreibt schichtliche Stellung des von Paul Bonatz 1911 Burkhard Brunn – ganz allgemein, nicht zu bis 1914 entworfenen und erst 1928 fertig- Stuttgart –, ist »in der diffusen Stadtlandschaft gestellten Gebäudes bewusst.1 Der zuletzt er- ein klar umrissener Ort«.3 Er ist »Stadttor«, richtete und nun schon wieder abgerissene empfängt die Reisenden mit offenen Armen. Nordflügel mit dem »Posttrakt« dürfte bisher Dieser schwergewichtige Dreh- und Angelam wenigsten Aufsehen erregt haben. punkt aller Wege an der engsten Stelle des TalNein, der Bahnhof gilt, zusammen mit dem kessels, aus dem Umland wie aus den innerFernsehturm, als Wahrzeichen der Stadt. Er ist städtischen Quartieren, dieser Mittelpunkt der noch immer das weithin sichtbare, mächtige Stadtplanung soll zu einer U-Bahn-Station Gebäude im Talkessel, der Ort, an dem Gene- werden. Warum? rationen von Menschen die Stadt zuerst betraten, wo sie zu Reisen aufbrechen, wo täglich tausende Pendler_innen ein-, aus- und umstei1994 erschien das gen auf dem Weg zur Arbeit oder zum EinkauProjekt »Stuttgart fen. Er ist ein Stück Gewohnheit, bietet Orien21« auf den Titeltierung, die Visitenkarte der Stadt. Seitenflügel seiten der Tageszeitungen. Damals noch unter dem Stichwort »Machbarkeitsstudie«, auch wenn die Bildsprache suggerierte: Das ziehen wir durch. In einem Hubschrauberflug über Nun entsteht immer noch das Bahngelände soll der damalige Bahnchef Heinz Dürr dem Bundesverkehrsminister isoliert im Brachland die »Bibliothek Matthias Wissmann die frei werdenden Gleisflächen gezeigt haben. Damals hiess es, der des 21. Jahrhunderts«: Zwei Umbau würde sich allein durch den Verkauf der Schienengrundstücke finanzieren. Inzwischen attraktivere Standorte im Zentrum rechnet die Bahn offiziell mit Kosten von 4,1 Milliarden Euro, der Bundesrechnungshof hatte die Stadt abgelehnt. war schon 2008 bei 5,3 Milliarden, das Münchner Büro Vieregg und Rössler gar bei und Treppenaufgänge zu entfernen, um einen 6,7 bis 8,7 Milliarden Euro angelangt.4 funktionslosen Torso stehen zu lassen, den viel Für gewöhnlich sagen die Politiker_innen, gerühmten Schlossgarten an seiner Südflanke »Stuttgart 21« sei ein Projekt der Bahn. Aber gerade dort, wo sich die meisten Menschen im die Bahn hat das Projekt nicht von sich aus Sommer auf die Wiese legen, Frisbee spielen vorangetrieben. »Frankfurt 21« und »München oder zum Biergarten pilgern, umzupflügen 21« gab sie bald wieder auf, und auch in Stuttund einen acht Meter hohen Wall zu errichten, gart zeigte sie wenig Interesse, bis die Stadt würde den Menschen, der Stadt ihren Halt 2001 das Gleisvorfeld zum Preis von 459 Milli-

Immobilien

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onen Euro erwarb: und zwar ohne dass die Bahn dieses Geschenk aus Steuermitteln von den Zuschüssen des Bundes abziehen musste, wie der Bundesrechnungshof moniert.5 Dabei hatte sich für das »Teilgebiet A1«, also das 16 Hektar grosse ehemalige Güterbahnhofsgelände, auf dem seit 1994 die Zentrale der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) – damals noch Südwest LB – steht, sieben Jahre lang kein einziger Interessent gefunden. Erst 2003 baute die LBBW-Tochter Südleasing. Nun entsteht immer noch isoliert im Brachland die »Bibliothek des 21. Jahrhunderts«: Zwei attraktivere Standorte im Zentrum hatte die Stadt abgelehnt.6 Stuttgart steht auf der Wunschliste der Investoren in Deutschland an zweiter Stelle.7 Angefangen mit dem Zeppelin Carré, gleich gegenüber dem Bahnhof, sind in der Innenstadt seit 1995 zunehmend ganze Häuserblöcke »revitalisiert«, abgerissen und neu gebaut worden. Sie nennen sich Kronen Carré, City Plaza, S’Zentrum, Kronprinzenbau oder Phoenixbau und kosteten die Investor_innen dreistellige Millionenbeträge. Den Kuchen teilen sich lokale Investoren wie Rudi Häussler, Projektmanager wie Drees und Sommer, Neulinge wie Phoenix Real Estate, Immobilienfonds der Deka und (Deutsche Gesellschaft für Immobilienfonds) DEGI, aber auch Credit Suisse oder Goldman Sachs. Hines aus Texas, mit einem Volumen von 22,9 Milliarden US-Dollar eines der grössten Immobilienunternehmen der Welt, lässt derzeit die ehemalige Postdirektion für rund 100 Millionen Euro komplett ausbeinen.8 Das lokale Nobelkaufhaus Breuninger plant mitten im Zentrum der Stadt das 4,8 Hektar grosse Da Vinci Areal. Da der Platz in der Innenstadt begrenzt ist, greift der Bauboom aus in die Randgebiete.

An der Tübinger Strasse klafft bereits ein Loch, wo vor kurzem noch die Württembergische Gemeindeversicherung in einem Sechseckbau von 1976 residierte. Die Versicherung ist in den komplett neu gestalteten, angrenzenden Riegel weitergezogen. Gleich gegenüber plant die Württembergische Lebensversicherung ein riesiges Einkaufszentrum namens Quartier S. Auch im Gebiet A1 hat sich nun ein Investor gefunden: Die ECE, nach eigenen Angaben »europäischer Marktführer auf dem Gebiet innerstädtischer Shopping-Center«,9 unterhält auch eine Stiftung mit dem unverdächtigen Namen »Lebendige Stadt«. Da finden sich alle wieder: Der vormalige Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee, der Architekt des Untergrundbahnhofs Christoph Ingenhoven, Friederike Bayer, die Lebensgefährtin des letzten Ministerpräsidenten Günther Oettinger, bis vor kurzem auch Tanja Gönner, Verkehrs- und Umweltministerin des Landes, sowie Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster. Der erhielt 2009 vom Urban Land Institute (ULI) einen »Leadership Award«, da er »wesentlich dazu beigetragen [habe], den Dialog zwischen Politik, Verwaltung und Immobilienwirtschaft kontinuierlich zu verbessern«.10

Alle Gewalt geht vom Staate aus

Der Alarm kommt morgens um elf. »Die Polizei ist mit einer absurden Stärke unterwegs Richtung Park (Stand 10:50 Uhr), es ist Polizei aus Baden-Württemberg, Bayern und sogar Bundespolizei dabei. Auch Wasserwerfer (!) wurden schon auf den Strassen gesehen«.

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später zieht er seinen Darth-Vader-Helm auf und gibt Kommandos. Eine gut angezogene Dame sagt, sie sei zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration. Es ist laut. Polizei in geschlossenen Reihen, schwarzblau und grün. Als die Wasserwerfer vorrücken, verstehe ich nur: »Räumen Sie die Strasse« und »Diese Aktion ist rechtmässig. Welche Strasse? Dies ist ein öffentlicher Park«. Der Biergarten ist ein Lazarett. Dutzende von Schüler_innen versuchen sich die rot umränderten Augen auszuwaschen. Sanitäter_innen seien nicht durchgelassen worden, sagen sie. Ältere Männer und Frauen werden von Polizist_innen in Kampfmontur weggeschleift. Abwechselnd richtet sich der Wasserwerfer in hohem Bogen über die grosse im Park verEine gut angezogene Dame sagt, sammelte Menge, dann wieder aus nächster Nähe gezielt auf die am Boden sitzenden sie sei zum ersten Mal in ihrem Leben Demonstrant_innen. »Schämt euch, schämt euch«, skandiert die Menge, und: »Ihr werdet auf einer Demonstration. Es ist laut. missbraucht«. Einige Polizist_innen blicken betreten zu Boden. Bevor ich nach zehn Stunden Polizei in geschlossenen Reihen, nicht mehr kann, höre ich noch, ein Mann habe ein Auge verloren.12 Es hält sich das Gerücht, schwarzblau und grün. eine Frau sei auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Am nächsten Tag erfahre ich, 25 Wasserwerfer? Das verheisst nichts Gutes. Seit Bäume wurden in der Nacht gefällt. Der Park ist November 2009 demonstrieren jeden Montag eine Matschwüste, den Weg vom Bahnhof zum Tausende, neuerdings auch freitags oder sams- Biergarten unterbricht ein hoher Zaun, daran tags. Es hat allenfalls kleine Rangeleien gegeben, ein Zettel: »Achtung Zonengrenze / Sie verlasdie Organisator_innen arbeiten eng mit der sen den demokratischen Sektor von Stuttgart!« Gleich mittags spricht Landesinnenminister Polizei zusammen. Manche Beamte stehen, wenn sie frei haben, selbst auf der anderen Seite. Heribert Rech von Steinewerfern, muss aber Schüler_innen seien mit Schlagstöcken traktiert die Behauptung alsbald zurücknehmen. Tage worden, höre ich schon an der S-Bahn. Ein später will die Polizei wieder einen erwischt älterer Mann kommt uns entgegen: »Ein Poli- haben, hat aber keine Beweise gesichert. Sie zeistaat ist das, keine Demokratie!« Ein gross führt ein Video vor, auf dem ein Vermummter gewachsener Polizist spricht noch mit uns, Pfefferspray auf Polizisten sprüht. Videos von Drei, vier Mal, bei der Errichtung des Bauzauns, beim Abriss des Nordflügels hatten die Parkschützer_innen bereits Alarm geschlagen. Aber ab 1. Oktober dürfen Bäume gefällt werden. 30’000 haben sich auf der ParkschützerSeite eingetragen, mehr als 2’500 auf Stufe »Rot«.11 Sie »kündigen damit ihre Bereitschaft an, sich im Ernstfall auch den Baufahrzeugen in den Weg zu stellen oder sich an Bäume zu ketten«. Sie haben Trainings in Sitzblockaden und gewaltfreiem Widerstand absolviert und sind bereit, sich notfalls wegtragen zu lassen und Bussgelder zu entrichten. Der Alert endet mit den Worten: »Wichtig: Bleibt friedlich!«

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waren es 440 Millionen Euro.16 An offenen Immobilienfonds kann sich jede und jeder beteiligen. Da diese ihr Anlagevermögen streuen müssen, galten sie lange Zeit als sicher. Seit 2008 aber sind die Fonds der DEGI geschlossen: Anleger_innen können ihr Geld nicht zurückziehen. Da aber ein Fonds laut Gesetz nicht länger als zwei Jahre geschlossen sein darf, wird nun zunächst DEGI Europa abgewickelt.17 Wenn aber die Zahlen des »Immobilienbriefs« stimmen, war bereits das Zeppelin Carré für die DEGI ein Verlustgeschäft. Sie soll 1991 für das Areal 261 Millionen Euro gezahlt, In den letzten Jahr- es 2007 aber für nur 150 Millionen wiederverzehnten hat die welt- kauft haben.18 weite Immobilien-Spekulation schwindelerregende Ausmasse anDie Stadtväter wollten die genommen. Seit den 1970er Jahren lässt sich Bürger_innen »an« dem Projekt das akkumulierte Kapital im produzierenden Sektor nicht mehr gewinnbringend anlegen, beteiligen, diese stellten den Sinn weil die Kaufkraft und damit der Absatzmarkt fehlt. Nach den Krisen der Finanzspekulation, Zweck grundsätzlich in Frage. insbesondere des »neuen Markts« um 2000, investieren Anleger_innen bevorzugt in vermeintlich sichere Immobilien. Allein die grenzMit knapp sieben Prozent fällt der Leerstand überschreitende Immobilienspekulation hat an Büroimmobilien in Stuttgart noch niedrig sich global zwischen 2003 und 2007 auf aus. Dennoch sind 460’000 Quadratmeter 357 Milliarden US-Dollar mehr als verdrei- (Stand 2008) »praktisch nicht mehr zu vermiefacht.14 Die letzte Finanzkrise 2008 war be- ten«.19 Auch die wohlhabenden Stuttgarter_ kanntlich eine Immobilienkrise. Amerikanische innen können jeden Euro nur einmal ausgeben. Institute hatten Hypotheken zu günstigen Wenn das ECE-Einkaufszentrum und das Konditionen gewährt und die Risiken in einem »Quartier S« einmal eröffnet haben, werden sie ausgetüftelten System an die internationalen Kaufkraft aus der Innenstadt abziehen. Dem Märkte weitergegeben.15 Stilwerk hinter dem Königsbau, eingeweiht In den ersten neun Monaten 2010 tätigten 2006, drohten bereits Anfang 2009 die Immobilienfonds fast die Hälfte aller Immo- Mieter_innen davonzulaufen.20 Eine Modellbilientransaktionen in Stuttgart – insgesamt eisenbahn soll es richten.21 Andererseits drängt Demonstrationsteilnehmer_innen zeigen: Der Mann verschwand hinter den Reihen der Polizei. Im Hamburger Abendblatt spricht ein Beamter anonym von Agents provocateurs.13 Wer bis drei zählen kann, erkennt die Logik. Demonstrant_innen sollten zu Gewalttaten angestachelt werden, um einen harten Einsatz zu rechtfertigen. Der Polizeipräsident nimmt alle Verantwortung auf sich. Wer ein wenig nachdenkt, kommt zu einem anderen Ergebnis. Der Befehl kam von weiter oben.

Globale Finanzströme

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und


70’000 Euro hat Herrenknecht, nach eigenen Angaben »Technologie- und Marktführer im maschinellen Tunnelvortrieb«, der CDU zuletzt im Juli 2009 gespendet.26 Aufsichtsratsvorsitzender ist Lothar Späth, ehemaliger Ministerpräsident des Landes. In und um StuttDie fantastischen neuen gart nimmt die Länge der jährlich gegrabenen Quartiere, Wohnungen, Tunnelstrecken seit Jahrzehnten kontinuierlich Parkerweiterungen, der zu. Erst nach einigem Hin und Her hat Finanzdurch den Umbau des bürgermeister Michael Föll seinen Posten als Bahnhofs angeblich be- Berater des Bauunternehmens Wolff und wirkte Schub für das Müller niedergelegt, das zur selben Zeit den Wachstum der Stadt: all Bahnhofs-Nordflügel abriss, »um jedweden das bleibt auch nach 16 Jahren so nebulös wie Anschein zu vermeiden, dass ich in meinem eh und je. Das Gebiet hinter der abweisenden, Amt als Bürgermeister in irgendeiner Weise in nach Geschäftsschluss verwaisten Landesbank einen Interessenkonflikt geraten könnte«.27 ist noch immer eine Brache. Durch die quer verlaufenden Schienen und den Wall mitten im Schlossgarten wäre das neue »Zentrum« von Der Protest gegen der Innenstadt abgeriegelt. Die »Entwicklung den Tiefbahnhof hat neuer Stadtquartiere im Herzen der City«23 nicht erst im letzten Jahr begonnen. Seit bleibt auch weiterhin eine offene Wette auf die 1995 gibt es die Zukunft. Initiative »Leben in Das erinnert an den »grössten Bankenskandal Stuttgar t«. 28 Bei in der deutschen Nachkriegsgeschichte«24 2001 in Berlin. Damals hatte eine Clique von Politi- einer »offenen Bürgerbeteiligung« 1997 lief der ker_innen und Spekulant_innen gezielt die Er- Ratssaal schier über, es gab aber ein kleines wartung geschürt, Berlin müsse nach dem »Missverständnis«: Die Stadtväter wollten die Hauptstadtumzug aus allen Nähten platzen. Bürger_innen »an« dem Projekt beteiligen, Eine Bank bot Anlagen zu surrealen Konditi- diese stellten den Sinn und Zweck grundsätzonen. Der Senat übernahm die Bürgschaft. Die lich in Frage.29 Seit 1998 gibt es einen detailSüddeutsche Zeitung sprach damals von »orga- lierten, seither mehrfach überarbeiteten Entnisierter Undeutlichkeit«. Bis heute sitzt Berlin wurf zur Modernisierung des bestehenden auf den überteuert angekauften »Schrottimmo- Kopfbahnhofs.30 Doch die Politiker_innen bebilien«: annähernd 20’000 Wohnungen, die harren auf dem Standpunkt, zu »Stuttgart 21« keine_r haben will.25 gäbe es keine Alternative.31 Nachdem der LandWie damals in Berlin, so bestehen auch tag 2006 schliesslich die Realisierung beschloss, in Stuttgart enge Verflechtungen zwischen unterschrieben 67’000 ein Bürgerbegehren – dreimal so viel wie nötig. Am Tag vor Abgabe Regierungsparteien und Profiteur_innen.

weiterhin freies Anlagekapital auf den Markt. Die Investorennachfrage ist 2010 im ersten Dreivierteljahr europaweit um fast fünfzig Prozent gestiegen.22

Lokale Verbindungen

Chancen des Widerstands

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unterschrieb Oberbürgermeister Wolfgang Schuster noch rasch eine Finanzierungsvereinbarung, woraufhin der Gemeinderat, mit Unterstützung des Verwaltungsgerichts, einen Bürgerentscheid formaljuristisch für unzulässig erklärte. Nach monatelangen Demonstrationen entdeckten die Medien beim Abriss des Nordflügels im Juli 2010 bundesweit und darüber hinaus die Vehemenz und Kreativität des anhaltenden friedlichen Protests. Von Stuttgart waren sie so etwas nicht gewohnt, daher suchten sie nach psychologischen Ursachen im Naturell der Schwaben: ihre Sparsamkeit, ihr Konservatismus. Doch sobald »Stuttgart 21« einmal »Thema war«, versuchten sie sich gegenseitig zu überbieten, und es kamen Dinge ans Licht, die bis dato nirgends zu lesen waren. Die beiden Lokalzeitungen hatten das Projekt, wie oft kritisiert wird, geradezu herbei geschrieben: »Achten Sie einmal darauf, was in den beiden Zeitungen in den nächsten Wochen stehen wird«, hatte Gangolf Stocker, der Gründer der Initiative »Leben in Stuttgart«, Anfang September 2006 in seinem Newsletter angekündigt: Der Ministerpräsident des Landes habe die Chefredakteur_innen gebeten, vor der Entscheidung im Oktober noch einmal kräftig die Werbetrommel zu rühren. Das Ergebnis liess nicht auf sich warten. Noch am 25. September 2010 titelt die Stuttgarter Zeitung wie ein offizielles Regierungsorgan: »Gespräche ja – Baustopp nein«. Dann aber der Polizeieinsatz: Bilder von Wasserwerfern, geprügelten Schüler_innen, blutunterlaufenen Augen, Rentner_innen im Schwitzkasten. Die SPD, vor der Zerreissprobe, lässt sich von ihrer Basis zu einem Untersuchungsausschuss bewegen, nachdem sie sich

zuvor in breitem Spagat zugleich für den Tiefbahnhof, aber auch für einen Volksentscheid ausgesprochen hat. Heiner Geissler, zum Schlichter berufen, erklärt, während der Gespräche müssten die Bauarbeiten ruhen. Ganztägig lassen sich auf den Fernsehbildschirmen die Argumente der »Befürworter_innen« und »Gegner_innen« verfolgen. Aber während sich die Kritiker_innen des Projekts auf die Rationalität ihrer Argumente verlassen, die sie endlich einmal vorbringen können, setzt die Gegenseite auf Medienpräsenz – immer schön

Der Protest gegen »Stuttgart 21« bezieht seine Energie aus einer jahrelang angestauten Unzufriedenheit selbst gut bürgerlicher Kreise mit einer Politik der Hinterzimmer ohne Alternativen. lächeln, ein wenig Polemik, vor allem aber die Diskussion dominieren. Ergebnis: Der Schlichter stellt ein paar unerfüllbare Nachforderungen,32 und schon findet eine Mehrheit der Zuschauer_innen das Projekt angeblich gut.33 Eine schwere Niederlage, meint Winfried Wolf, Sprecher der Initiative »Bürgerbahn statt Börsenbahn«.34 Derweil sammeln sich die Bataillone. In der Architektenkammer herrscht Redeverbot. Dem Leiter eines Theaters wird nahgelegt, gleich für alle Mitarbeiter_innen zu unterschreiben, dass sie nicht mehr an den Montagsdemonstrationen teilnehmen. Während sich der Minister-

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präsident, bisher eher als Hardliner bekannt, im Süssholzraspeln übt, macht seine Partei auf allen Ebenen Druck: CDU-Ortsvereine stellen Reisebusse, um Gegendemonstrant_innen bequem in die Innenstadt zu fahren. Die rufen »Wir sind Stuttgart«, auch wenn sie aus Leonberg kommen, und antworten damit nur auf den Slogan »Wir sind das Volk«. »Oben ohne« steht auf einem Anstecker – als Replik auf »Oben bleiben«. Für Frauen gibt es die Variante mit Herz. »Steck ihn unten rein«, hat ein anderer geschrieben – nicht wie zunächst kolportiert ein Gegner. »Befürworter_innen« markieren Parkbäume, die bei der Kopfbahnhof-Variante angeblich fallen müssten. Männer nötigen ihre Ehefrauen, Vereinsfunktionäre ihre Mitglieder, sich die rotweissen »Pro«Buttons anzustecken. Um die Machtverhältnisse besorgt, melden sich die Industriekapitäne zu Wort, mit altbekannten Phrasen von der Zukunftsfähigkeit des Landes – wenn auch Leserbriefe am Erfolg zweifeln lassen. Um ein vorläufiges Fazit zu ziehen: Der Protest gegen »Stuttgart 21« bezieht seine Energie aus einer jahrelang angestauten Unzufriedenheit selbst gut bürgerlicher Kreise mit einer Politik der Hinterzimmer ohne Alternativen. Montagsdemos, Websites und Mailinglisten wurden zu Foren der Information und Vernetzung. Ohne die Entschlossenheit von mittlerweile 2800 Parkschützer_innen, sich an Bäume zu ketten und Baufahrzeugen in den Weg zu stellen, wäre die Polizei am 30. September nicht mit vier Wasserwerfern und Kampftruppen aus mehreren Bundesländern angerückt. Dabei ist festzuhalten: Die Versuche, die Demonstrant_innen zur Gewaltanwendung zu provozieren, sind gescheitert. Die Gewalt ging von der Polizei aus. Doch der Untersuchungs-

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ausschuss, dominiert von den Regierungsparteien, verlässt sich ganz auf die Aussagen der Polizei, die immer wieder ihre unbewiesenen Behauptungen aus der Mottenkiste hervorholt, nach dem Motto: Was man oft genug wiederholt, wird schon irgendwann in den Köpfen hängenbleiben. Die Schlichtung hat sich als medialer Coup für die »Befürworter_innenseite« erwiesen. Nun steht die Landtagswahl an: Nur ein Machtwechsel kann den von der SPD ausgerufenen, landesweiten Volksentscheid herbeiführen. Aber während die Menschen vor Ort sich vom rauhen Charme des Schlichters nicht blenden lassen, ist eine Mehrheit in den weiter entfernten Provinzen weniger gut informiert. Damit hängt der Ausgang nur umso mehr an den Berichten, Meinungen und Darstellungen der Medien. Die aber jubeln lokal schon wieder über den angeblichen Meinungsumschwung und verlieren überregional an Interesse, wenn statt 100’000 nur noch 50’000 zum Demonstrieren kommen. Übrig bleibt die anhaltende Wut einer Mehrheit der Stuttgarter Bürger_innen und die Bereitschaft einiger, sich mit ihrem blossen Körper gegen die geballte Macht der politischen und wirtschaftlichen Interessen zu stemmen. Damit – mit Gewaltfreiheit, Kreativität und Humor –, haben sie immerhin schon einmal einen beachtlichen Teilerfolg errungen. Anmerkung der Redaktion: Durch den überwältigenden Sieg der Grünen bei den Landtagswahlen haben SPD und Grüne nun zusammen die Mehrheit in Baden-Württemberg inne. Was dies für das Projekt »Stuttgart 21« und die Widerstandsbewegung dagegen bedeutet, wird die Zukunft zeigen.


1

Roser, Matthias (2010): Der Stuttgarter Hauptbahnhof: vom Kulturdenkmal zum Mahnmal? Stuttgart. Schmetterling Verlag; Münzenmayer, Hans-Peter et al. (1997): Stuttgart Hauptbahnhof. Stuttgart. Verein zur Förderung und Erhaltung historischer Bauten; http://www.hauptbahnhof-stuttgart.eu.

2

Ostertag, Roland (2008): Die entzauberte Stadt. Plädoyer gegen die Selbstzerstörung. Stuttgart. Grohmann,

3

Brunn, Burkhard und Praeckel, Diedrich (1992): Der Hauptbahnhof wird Stadttor. Zum Ende des Automobilzeitalters. Giessen. Anabas. S. 26.

4

http://www.kopfbahnhof-21.de/index.php?id=317.

5

http://stuttgart21.wikiwam.de/index.php/Bundesrechnungshof_2008.

6

Im Stilwerk-Bau hinter dem Königsbau mit Blick auf den Schlossplatz und im ebenfalls neu errichteten Kronprinzenbau (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen, 1963 abgerissenen Altbau).

7

http://www.immobilienverlag-stuttgart.de/resources/Immobrief_66_2010.pdf, S. 2.

8

http://www.hines.com/about; Stuttgarter Nachrichten, 17.7.2010, http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.alte-postdirektionstatt-briefen-werden-steine-sortiert.7e2f605f-e095-42a1-a16b14bb9e6e0703.html.

9

http://www.ece.de/de/wirueberuns.

10 http://www.stuttgart.de/item/show/273273/1/9/382875? 11 http://www.parkschuetzer.de. 12 In Realität haben vier Personen bleibende Augenschäden. 13 http://www.abendblatt.de/hamburg/article1665966/Wir-werdenvon-der-Politik-verheizt-Polizisten-erzaehlen.html; http://wdr. de/tv/monitor/extra/interviews/mohr_101021.php5. 14 Parnreiter, Christoph (2009): »Globalisierung, Transnationalisierung, Entnationalisierung. Entwicklungstendenzen seit den 1980er Jahren, in: Feldbauer, Peter et al.: Rhythmen der Globalisierung. Expansion und Kontraktion zwischen dem 13. und 20. Jahrhundert. Wien, Mandelbaum Verlag. S. 124-151, hier:144. Parnreiter spricht auch von »Homogenisierungstendenzen« des architektonischen Erscheinungsbildes, »die im Zusammenhang mit der sich global durchsetzenden Wettbewerbsrhetorik stehen«, ebd., S. 146. 15 Vgl. Tomasz Konicz: Von der Immobilienspekulation zum Zusammenbruch der globalen Defizitkonjunktur, http://www.heise.de/ tp/r4/artikel/29/29356/1.html. 16 http://www.immobilienverlag-stuttgart.de/resources/Immobrief_67_2010.pdf, S. 9. 17 Was mit DEGI International und DEGI Global Business passiert, bleibt einstweilen noch offen; seit 2008 gehört die DEGI zum Aberdeen Asset Management; abgewickelt werden auch die Fonds KanAm US-grundinvest und Morgan Stanley P2 Value. 18 http://www.immobilienverlag-stuttgart.de/resources/Immobrief_02_2008.pdf, S.4. 19 Nach Auskunft des Bankhauses Ellwanger und Geiger, http:// www.stuttgarter-zeitung.de/pdf/sonderthemen/immostandort_ stuttgart.pdf.

20 http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/1949133_0_5974_ -koenigsbau-passagen-dem-stilwerk-drohen-die-mieter-davonzulaufen.html. 21 http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2208175_0_9223_ -einzelhandel-geht-neue-wege-modellbahnen-am-schlossplatz. html. 22 Kogge, Armin (Ellwanger & Geiger): »Immobilien als Kapitalanlage«, in: Stuttgarter Zeitung, 11.11.2010, Sonderbeilage Wealth Management, S. 3. 23 Website der Projektbetreiber http://www.bahnprojekt-stuttgartulm.de/architektur/default.aspx. 24 So der Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses in seinem Abschlussbericht 2006, http://www.ngo-online. de/2006/06/2/bankgesellschaft-ag. 25 Der Tagesspiegel, 20.8.2010, http://www.tagesspiegel.de/berlin/ landespolitik/berliner-senat-will-20-000-wohnungen-loswerden/ 1907100.html und http://www.tagesspiegel.de/meinung/ berlins-senat-als-schrotthaendler/1907030.html. 26 http://www.herrenknecht.de ; http://community.zeit.de/user/ rosalix/beitrag/2010/01/20/die-macht-der-liste-parteispendenvollst%C3%A4ndige-liste-2009; http://stuttgart-21-kartell.org. 27 Zit. nach Stuttgarter Nachrichten, 9.8. 2010, http://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.wolff-mueller-foell-gibt-beraterjob-auf.df2ca7e9-e749-4a76-80e2-b8f657f5f71a.html. 28 www.leben-in-stuttgart.de. 29 http://www.youtube.com/watch?v=yFgWYL3jH80 30 http://www.kopfbahnhof-21.de. 31 Zielcke, Andreas: »Der unheilbare Mangel«, in: Süddeutsche Zeitung, 19.10.2010, http://www.sueddeutsche.de/politik/ umstrittenes-bahnprojekt-stuttgart-und-der-unheilbare-mangel- 1.1013415. 32 200 Jahre alte Bäume sollen versetzt werden, was sprichwörtlich nicht geht; die Bahn soll in einer Simulation – einem »Stresstest« – nachweisen, dass der Tiefbahnhof in Stosszeiten dreissig Prozent mehr leiste als der jetzige – was er selbst über den Tag verteilt schon in der Schlichtungsrunde nicht fertig gebracht hat; andernfalls sollen zwei weitere Gleise geplant werden: die standen bereits in der ursprünglichen Ausschreibung, wurden aber von allen Bewerbern gestrichen, weil dafür der Platz nicht vorhanden ist; wer die Einhaltung dieser Bedingungen überwachen soll, bleibt ebenso unausgesprochen wie schon die Frage, welches Ziel die Schlichtung und welche Verbindlichkeit der Schlichterspruch haben sollte; schon am Tag der Verkündung kommentierte Ministerin Tanja Gönner, zusätzliche Gleise seien unnötig, die Bahn kündigte an, weiterbauen zu wollen, ohne die Entscheidung abzuwarten und will gar den Stresstest selber durchführen; dies alles macht nur zu deutlich, dass die Schlichtung als reines Medienspektakel ohne jegliche Verbindlichkeit gedacht war. 33 Über die Jahre hinweg haben beide Stuttgarter Zeitungen die Ergebnisse ihrer Leser_innenumfragen nur dann veröffentlicht, wenn sich wie jetzt ausnahmsweise eine knappe Mehrheit der Befragten für das Projekt aussprach. 34 http://www.bei-abriss-aufstand.de/2010/12/01/winfried-wolfschwere-niederlage-der-s21-gegner.

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»Nur ein winziges Ziehen« – Wie Stephan Thome im Roman »Grenzgang« strukturelle Gewalt greifbar macht Text Adrian Wettstein, Basel

W

er direkt von Gewalt betroffen ist, soziale Welt. Erst aus der Distanz lässt sich dem/der vergeht oft Hören und wieder Fassung gewinnen, lässt sich auch Sehen, wie schon das Sprichwort versuchen, das jählings Geschehene zu versagt. Wenn jemand dem eigenen Körper zu stehen.1 Wissenschaftliche Untersuchungen nah kommt und ihn verletzt, ist das eine über Gewalttaten – etwa in der Soziologie Grenzüberschreitung, die ihre Opfer oft und Ethnologie – abstrahieren vom Einzelsprachlos zurücklässt. Gewalt kann gravie- fall und versuchen, Gewalt aus einer unperrende Auswirkungen haben, bis hin zu einer sönlichen Sicht zu verstehen. Erschütterung des Grundvertrauens in die

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Grenzgang

Gewalt erscheint aus diesem Blickwinkel nicht primär als unfassbarer Schock, sondern vielmehr als eine symbolische Handlung.2 Durch die distanzierte Brille der Wissenschaft kann man Gewalt als bedeutungsvollen nonverbalen Ausdruck interpretieren, dem eine soziale Funktion zukommt. Wird dabei aber nicht ausser Acht gelassen, dass Gewalt aus der subjektiven Perspektive der Betroffenen auf ganz eigentümliche Weise erfahren wird? Kann vielleicht das Medium Literatur das Thema Gewalt angemessener reflektieren? Es geht dabei aber nicht um Gewalt in ihrer ganzen Bandbreite, sondern nur um eine Form davon, nämlich um strukturelle Gewalt. Das Phänomen kann folgendermassen umrissen werden: Strukturelle Gewalt liegt vor, wenn das Wohlergehen einer Gruppe von Menschen durch gesellschaftliche Strukturen systematisch behindert oder gar verunmöglicht wird. Strukturelle Gewalt ist also relational: die Benachteiligungen wirken nur auf bestimmte Menschen, auf andere nicht. Ungerecht ist sie aber noch stärker in einer absoluten Hinsicht: sie behindert ein gutes Leben, das jedem Menschen bedingungslos zusteht. Während physische Gewalt meist eine Bedrohung von Leib und Leben ist, hat strukturelle Gewalt eine grössere Bandbreite von Angriffspunkten – sie kann alle Bereiche betreffen, die essentiell zum menschlichen Wohlergehen gehören. Dazu gehören etwa die Fähigkeit, andere Personen zu lieben, Gelegenheit zu sexueller Befriedigung zu haben, sich auf verschiedene Formen familiärer und gesellschaftlicher Interaktion einlassen und dabei Anerkennung und Respekt erfahren zu können, die Möglichkeit zu haben, das eigene Leben zu reflektieren, Lebenspläne zu entwerfen, ein selbstbestimmtes Leben zu leben. Eine

relativ konkret ausbuchstabierte Liste davon, was ein gutes Leben ausmacht, findet man z.B. bei Martha Nussbaum.3 Während physische Gewalt durch mechanische Kraftanwendung ausgeübt wird, wirkt strukturelle Gewalt durch verschiedenartige gesellschaftliche Normen. Diese können in Form von Gesetzen explizit vom Staat verordnet und mit entsprechender Sanktionsmacht verbunden sein. Sie können aber auch weniger explizit in sozialen Konventionen, Regeln und Codes Ausdruck finden. Physische Gewalt ist augenfällig, stukturelle Gewalt kann hingegen oft nur mit Mühe aufgedeckt werden. Wenn das eigene Leben in den oben genannten Bereichen verletzt wird, ist das oft auch für die Betroffenen selbst nicht sofort erkennbar. Strukturelle Gewalt kann z.B. in Normen stecken, mit denen man vom Kindesalter an sozialisiert wird und die man deshalb für selbstverständlich hält. So kann bereits die Sprache unhinterfragte Gewaltstrukturen weitergeben und aufrecht halten. Oder neue Gewaltformen können sich schleichend durch kaum beachtete kleine Veränderungen einstellen. Ein wichtiger erster Schritt zur Gegenwehr besteht deshalb darin, strukturelle Gewalt in alltäglichen Situationen überhaupt als solche zu erkennen.

Die Darstellung struktureller Gewalt im Roman Ein zeitgenössischer Roman, der sich intensiv mit den Phänomenen der strukturellen Gewalt auseinander setzt, ist »Grenzgang« von Stephan Thome.4 In der fiktiven mittelhessischen Ortschaft Bergenstadt bewegt sich nur alle sieben Jahre etwas, wenn Grenzgang ist. In den Jahren dazwischen geht das Leben seinen behäbigen

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Lauf. Die Tradition des Grenzgangs ist keine Fiktion, sie wird in zahlreichen Gemeinden Westfalens und Hessens (Schnadegang) sowie in der Nordwestschweiz (Banntag) gepflegt. Bei diesem – meist den Männern vorbehaltenen Anlass – werden die Grenzen der Gemeinde abgelaufen und kontrolliert. Dabei tragen die Männer in manchen Ortschaften auch heute noch Waffen.

Der Grenzgang ist ein Ritual, das die Zugehörigkeit und den Zusammenhalt einer Gemeinschaft durch eine Abgrenzung gegen Aussen festigen soll. Der Grenzgang ist ein Ritual, das die Zugehörigkeit und den Zusammenhalt einer Gemeinschaft durch eine Abgrenzung gegen Aussen festigen soll. In der modernen Zeit hat sich der Grenzgang zu einem Volksfest mit Autoscootern, Festzelt und Humpa Humpa Musik gewandelt. Gleichwohl kommt im Roman von Stephan Thome dem Grenzgang immer noch eine derartig grosse gesellschaftliche Bedeutung zu, dass sich diesem Ereignis kein_e Bergenstädter_in entziehen kann. Der Zyklus des Grenzgangs gliedert den Lebensfluss der Stadtbewohner_innen und prägt Muster – ähnlich wie die Ringe eines Baumes, die bei einem Querschnitt sichtbar werden. Anschaulich wird das etwa bei den gesammelten Fotos, welche die Bäckersfrau Anni Schuhmann in ihrem

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Treppenhaus aufgehängt hat. Ein paar Geburten und Hochzeiten sind abgelichtet, den weitaus grössten Raum nehmen aber Fotos vom Grenzgang ein. Wer die Treppe hinaufsteigt, kann auf dieser Fotostrecke ein Leben in Siebenjahresschritten nachvollziehen. Die Grenzgänge sind Marksteine für die Erinnerung, gelegentlich auch Katalysatoren für neue Lebensprojekte. Der Autor Stephan Thome fokussiert seine Erzählung auf die Zeitabschnitte rund um den Grenzgang, allerdings nicht streng chronologisch, sondern mit Siebenjahresstiefeln vor- und zurückspringend. Der Grenzgang struktruriert nicht nur die formale Konstruktion des Romans, sondern stellt auch ein inhaltlich bedeutsames Symbol dar. Auf den ersten Blick scheint der Grenzgang ein harmloses Volksfest zu sein. Aber nicht nur seine historischen Wurzeln weisen eine gewalttätige Dimension auf; der Grenzgang ist bis heute ein Ritual, das die Grenzen der Gemeinschaft festlegt und normativ bestärkt. Wer dazu gehören will, muss an dem Ritual teilnehmen und sich seinen expliziten und ungeschriebenen Regeln unterwerfen. Der Grenzgang ist nicht nur eine an die umliegenden Gemeinden gerichtete Gewaltdemonstration, sondern vor allem auch eine unausgesprochene Drohung nach Innen: wer nicht mitläuft, kann aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Das kann sogar dazu führen, dass die Gemeinschaft Ansprüche stellt, die den eigenen Lebensplänen entgegenstehen. Eine Figur im Roman zieht daraus den fatalistischen Schluss: »Sie hatte keine Wahl, sie konnte nur mitmachen« (348). Dieses Spannungsverhältnis steht exemplarisch auch für das Phänomen struktureller Gewalt und durchzieht den ganzen Roman.


mert. Immerhin kann sie ihre Mutter offiziell als »erheblich oder schwer pflegebedürftig« (249) deklarieren lassen, woraufhin sie denn Gemeinsam ist den beiden Hauptfiguren des vom Staat ein kleines Entgelt für ihre PflegeRomans, dass sie nie vorhatten, in einer Provinz- tätigkeit erhält. Immer wieder hat Kerstin stadt wie Bergenstadt zu leben. Während Werner ihre eigenen Lebenspläne zurück geThomas Weidmann hier aufgewachsen ist und steckt und sich statt dessen auf weit reichende diesem Nest entfliehen wollte, hat es Kerstin Verpflichtungen eingelassen, die ihre UmgeWerner wegen eines Mannes hierher verschlagen. bung von ihr erwartete. Finanziell kommt sie Auch wenn das schon sehr viele Jahre her ist, ist zwar geradeso über die Runden, ist aber absie immer noch eine »Zugezogene«. Beide hängig von ihrem Ex-Mann und dem PflegeentProtagonist_innen sind mit Mitte vierzig »zu gelt – und steht dabei stets unter Verdacht, nur jung, um alt zu sein, aber zu alt, um sich jung auf der faulen Haut zu liegen, statt zu arbeiten. zu fühlen« (233). Kerstin Werner hat Sport stu- Viele Erwartungen und Verantwortlichkeiten, diert mit dem Schwerpunkt Tanz. Ihr Traum die ihr von Aussen auferlegt werden, hat sie inwar es, ein eigenes Tanzstudio zu leiten. Diese ternalisiert und in kreisenden Gedankengängen Ambitionen sind in weite Ferne gerückt, nachdem sie den Anwalt Jürgen Bamberger geheiratet, mit ihm ein Haus in Bergenstadt gebaut Kerstin Werner hat Sport studiert. und einen Sohn gross gezogen hat. Sie gab dafür ihren Freundeskreis und ihre Arbeitspläne auf. Ihr Traum war es, ein eigenes Schon während der Ehe wurde es ihr manchmal schwindlig, wenn sie sich den Grad ihrer AbhänTanzstudio zu leiten. Thomas Weidmann gigkeit von Jürgen vor Augen führte. Nachdem ihr Mann sie wegen einer jüngeren hat in Berlin promoviert und wollte Frau sitzen liess, hat sich diese Abhängigkeit noch vergrössert. Kerstin lebt von seinen AliHistoriker werden. menten. Wenn der Gesetzgeber beschliesst, die »Zumutbarkeitsgrenzen« für Alimenten-Bezüger_innen zu verschieben, indem er die »nach- oft zu Selbstanklagen gesteigert. Da sie für ihre eheliche Eigenverantwortung stärkt« (142), selbstaufopfernden Arbeiten nie irgendwelche und damit eine »Gerechtigkeitslücke« (95) zu- Anerkennung erhalten hat, beginnt mit der Zeit gunsten von »Zweitfamilien« (51) schliesst, ist ihr eigener Respekt vor sich selbst brüchig zu sie machtlos. Dabei kann Kerstin gar nicht werden. Selbst über ihre Mutterrolle beginnen arbeiten gehen, weil sie praktisch rund um die Zweifel an ihr zu nagen. Obwohl sie sich zehn Uhr ihre demenzkranke Mutter betreuen muss. Jahre lang mit liebevoller Hingabe um ihren Ihr Bruder Hans hat als Arzt für so etwas keine Sohn Daniel gekümmert hat, ist er zu einem Zeit. Es scheint also nahe zu liegen, dass sie als Teenager geworden, der kaum mit ihr spricht Frau ohne Beruf sich um diese Aufgabe küm- und höchstens von Zeit zu Zeit »als eine Art

Eine Art Selbstbestimmung gegen den eigenen Willen

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Praktikant am Familienleben teilnimmt« (245). Was hat sie Daniel mit ihrer gescheiterten Ehe aufgebürdet, wie sehr beeinträchtigt dieses »Dasein als Verschiebemasse« (99) sein zukünftiges Leben? Das Bewusstsein der grossen Verantwortung führt zu Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und schliesslich zu Scham (371). Auch als Kerstin nach langen Jahren wieder einmal eine Gelegenheit zu einem Rendezvous wahrnimmt – ihre Mutter ist für eine medizinische Abklärung einige Tage im Krankenhaus – nagen bald darauf schon die Selbstzweifel an ihr. War es richtig, ihrer sehnsüchtigen Neugierde für diesen Mann nachzugeben, während sich die Verfassung ihrer Mutter im Krankenhaus jederzeit verschlechtern könnte?

Ein Leben im Provisorium

Auch Thomas Weidmann erreicht lange Zeit nicht den Grad an Selbstbestimmung, der ihm ein glückliches Leben ermöglichen würde. Er analysiert sein eigenes Leben einmal folgendermassen: »Ihnen stösst etwas zu, und statt sich dagegen zu stemmen, geben Sie der Veränderung nach, folgen ihr noch ein Stück weiter, als Sie gezwungen worden sind. Letztlich ein Versuch, die Hoheit über das Geschehen zurückzugewinnen, weil Sie am Ende an einem Punkt landen, zu dem Sie aus freien Stücken gelangt sind« (188). Weidmann hat in Berlin promoviert und wollte Historiker werden. Mit seiner Habilitation ist er allerdings gescheitert, weil er sich zu weit von den Vorstellungen seines Professors entfernt hatte, woraufhin dieser seine Macht ausspielte und die Arbeit als qualitativ Ihnen stösst etwas zu, schlecht darstellte. Weidmann wurde aus dem distinguierten Kreis der Akademiker ausgeund statt sich dagegen zu stemmen, schlossen. Die Antwort seiner damaligen Freundin geben Sie der Veränderung nach, Konstanze: »Sei ein Mann!« (39) war nicht besonders erbaulich. Konstanze konnte nicht folgen ihr noch ein Stück weiter, als Sie begreifen, wie schwerwiegend es für ihn war, dass sein Lebensentwurf unwiderruflich auseigezwungen worden sind. nander gebrochen war. Sie dachte pragmatisch, ganz im Sinne gängiger ökonomischer MaxiKerstin fällt schliesslich ein Grundmuster auf, men: »Du kannst ebenso gut was anderes manach dem sich ihr Leben schon so lange voll- chen« (78). Das stimmte nicht. Zwar musste er zieht: »Eine Art Selbstbestimmung gegen den schliesslich gezwungenermassen etwas anderes eigenen Willen, im Kleinen wie im Grossen. Sie machen – er kehrte zurück nach Bergenstadt hätte was Helleres anziehen können, zum Bei- und wurde Lehrer im Gymnasium – es war für spiel, hat sich aber nicht getraut. Hätte sich Thomas aber nicht ebenso gut. Schliesslich benicht so einengen lassen sollen von den Beden- trachtete er die Arbeit bisher als einen grundken und Ansprüchen anderer, sondern mehr legenden Teil seiner Identität. 5 In Bergenstadt ihren eigenen Bedürfnissen folgen. Hat sie aber fühlt er sich zwar nicht ganz unwohl. Aber auch nicht« (438). nach Jahren hat er noch Mühe damit, sich

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selbst als Lehrer in seiner provinziellen Heimatstadt zu begreifen. Gleichzeitig ist er aber auch desillusioniert und hat keine Kraft, noch einmal einen ehrgeizigen identitässtiftenden Versuch zu starten, der scheitern könnte. Seinen Vater hatten die Traditionen des Kleinstadtlebens mit Sinn und Glücksgefühlen erfüllt. Er ging in dieser Gemeinschaft auf, das war seine Welt. Für Thomas ist das anders, er verfolgt das gesellschaftliche Treiben mit einem Anflug von Zynismus vom Rande her. Eigentlich möchte Thomas vor der Einsamkeit flüchten, weiss aber nicht so recht wohin. Seit der Trennung von Konstanze sieht er in den Blicken der Bergenstädter_innen immer wieder die deutliche Frage auftauchen: »Wie kann es nur sein, dass ein solcher Mann...?« (88) Thomas würde gerne eine Liebesbeziehung eingehen, was sich allerdings in Bergenstadt als schwierig herausstellt. In der Kleinstadt kennt jeder jeden, weiss über das intime Privatleben anderer Bescheid. Und Thomas steht als Lehrer unter besonderer Beobachtung. Eine Annäherung an eine Frau ist ohne öffentliches Aufsehen zu erregen eigentlich nur am Grenzgang möglich. So kommt er zu dem Schluss, dass Bergenstadt »einem alleinstehenden Mann über vierzig leider keine Möglichkeit bereithält, ein Sexualleben zu führen, das den Namen verdient.« (231) Aus diesem Grund lässt sich Thomas ohne grosse Lust auf Internetbekanntschaften ein, auf zeittypisch oberflächliche »secondhand-Affären« (369). Auch wenn bei einem solchen Unternehmen stets das schamvolle Bewusstsein da ist, dass ganz Bergenstadt mit dem Finger auf ihn zeigen und über ihn sprechen würde, falls die zum Teil etwas abenteuerlichen One Night Stands auffliegen würden. Er rechnete nie ernsthaft damit, auf diesem

Weg die Liebe des Lebens zu finden. Thomas hat »über Jahre hinweg die Fähigkeit perfektioniert, sich nicht zu verlieren, sondern neugierig zu sein. Aufmerksam, sprungbereit und unsentimental.« (322) »Meistens schlägt die Erwartung in Ernüchterung um wie ein aus dem Wind gedrehtes Segel. Alles in allem ist es ein Spiel für Verlierer.« (163) So dass er schliess-

Sie kommen über die Runden, sowohl finanziell wie auch im Hinblick auf ihre Seelenlage. Und doch sind da erhebliche Defizite, die für Kerstin und Thomas selbst nicht immer leicht auszumachen sind. lich in Frage stellt, ob er sich an dem Liebesspiel überhaupt noch beteiligen soll. Von Aussen betrachtet geht es Thomas zwar ganz gut. Ihm wurde angeboten, stellvertretender Schulleiter des Städtischen Gymnasiums zu werden. Er fürchtet allerdings, hier »einzugehen«. Er lebt ein »Leben im Provisorium« – ohne zu wissen, auf was er eigentlich wartet. »Er fühlt sich nicht müde, nur leer. Was man gemeinhin ›finanzielle Vorteile‹ nennt, hat für ihn keine Bedeutung. Was einmal Bedeutung gehabt hat, ist aus seinem Leben verschwunden, und dann ist es in Sackgassen auch nicht sonderlich wichtig, wie schnell man vorankommt. Soll lieber einer den Posten übernehmen, dessen Kinder studieren. Jemand mit Perspektiven, wie man so sagt,

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und einem noch nicht angekränkelten Begriff Herspringen zwischen verschiedenen Lebensvon Zukunft. Nicht er.« (354) Aus dieser Per- abschnitten werden diese angeregt, sich darüspektivlosigkeit folgt ein Unwohlsein, das sich ber Gedanken zu machen, weshalb das Leben gar nicht so leicht zu erkennen gibt: »Es ist der Protagonist_innen stagniert und sie an irritierend, unter etwas zu leiden, das keinen jedem Grenzgang den Eindruck bekommen, Schmerz verursacht. Nur ein winziges Ziehen, »als hätte ihr Leben in der Zwischenzeit keine ein sanfter Druck, der sich kaum lokalisieren grundlegende Wandlung durchgemacht« (347). lässt und den jede Aktivität umgehend zum Zu einem grossen Teil sind dafür verschiedenVerschwinden bringt. Aber in den Pausen ist artige externe Ansprüche verantwortlich, die sie daran hindern, ihr Leben selbst in die Hand er da. Immer« (160). zu nehmen und sich in ihren eigenen Projekten zu verwirklichen. Zum Teil verstärken sich die Das Gewaltsame darstellen verschiedenen Verletzungen gegenseitig – so ist und erfahrbar machen Kerstin Werner struktureller Gewalt als Frau, Wer diese kurze Nacherzählung liest, denkt als Geschiedene, als Zugezogene und als Arsich vielleicht, dass das Geschehen des Romans beitslose ausgesetzt, was sie in eine Haltung ziemlich alltäglich ist, dass Kerstin Werner und konstanter Defensive drängt. Den beiden FiguThomas Weidmann keine aussergewöhnlichen ren Kerstin und Thomas geht es zwar nicht Lebensverläufe haben, keine Härtefälle sind extrem schlecht. Sie kommen über die Runden, und eventuell auch kein grosses Mitleid verdie- sowohl finanziell wie auch im Hinblick auf nen. Ruft man sich die Charakteristika struktu- ihre Seelenlage. Und doch sind da erhebliche reller Gewalt in Erinnerung, ist diese Reaktion Defizite, die für Kerstin und Thomas selbst nicht verwunderlich. Viele Formen strukturel- nicht immer leicht auszumachen sind. Es fehlt ler Gewalt sind uns aus dem Alltag vertraut und ihnen an Wohlbehagen, Befriedigung, Lebenserregen kein besonderes Aufsehen. Der Roman lust – statt dessen herrscht Leere, Antriebsrückt solche Phänomene durch pointierte For- losigkeit, Stagnation. Zusammen mit den Promulierungen und ausführliche Schilderungen tagonist_innen werden die Leser_innen gewahr, wie drückend diese Aussicht auf ein verfehltes, ins Bewusstsein. Anhand lebendiger Situationsbeschreibungen sinnloses Leben ist. Der Roman »Grenzgang« von Stephan veranschaulicht er den Leser_innen das Geschehen aus der Perspektive der Figuren an- Thome ist ein gelungenes Beispiel für die einschaulich. Strukturelle Gewalt ist dabei inhalt- dringliche Darstellung struktureller Gewalt in lich sehr präsent. Zudem verstärkt die formale literarischen Texten. Es liessen sich in der zeitAnlage der Erzählung das Gewicht des Themas. genössischen Literatur mit Leichtigkeit weitere Literarische Texte verfügen über eine Vielfalt Texte finden, die sich intensiv mit diesem Proästhetischer Gestaltungsmittel, durch die be- blemfeld beschäftigen. Ein Vorteil der Literatur stimmte Phänomene besonders hervorgehoben ist, dass sie die Leser_innen anregt, das Gescheund den Leser_innen ins Bewusstsein gebracht hen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachwerden können. Durch das ständige Hin- und ten. Sie lädt sie einerseits ein, sich die Ereignisse

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aus verschiedenen subjektiven Perspektiven zu vergegenwärtigen, bietet andererseits aber auch die Möglichkeit, sich über die fiktive Geschichte in kritischer Distanz damit auseinanderzusetzen. Der Roman »Grenzgang« zeigt auf, dass eine solche Vermittlung gerade bei dem Phänomen der strukturellen Gewalt bedeutsam ist. Schaut man von Aussen auf das Leben von Thomas Weidmann und Kerstin Werner, gerät man leicht in Versuchung, die Probleme, mit denen sie konfrontiert sind, zu verharmlosen. Schlüpft man jedoch beim Lesen in ihre Haut, erlebt man mit, wie gravierend die Konsequenzen der strukturellen Gewalt für das Leben der beiden Protagonist_innen sind. Und man kriegt zu spüren, wie schwierig es für sie als Betroffene ist, Verletzungen von Aussen und eigenes Verschulden auseinander zu halten. Natürlich gelingt es nicht allen Texten gleich gut, eine ausgeglichene und kritische Sichtweise auf bestimmte Themen zu vermitteln. Packend geschriebene Romane insbesondere der Populärliteratur stellen Gewaltakte oftmals als etwas Schillerndes und Faszinierendes dar, ohne die Leser_innen zwischendurch wieder zu distanzieren und auch die Perspektive von Betroffenen adäquat zu vergegenwärtigen. Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass die altbekannte Diskussion, ob das imaginative Durchspielen von Gewaltszenen in der Literatur eher positive oder negative Auswirkungen nach sich ziehe, immer wieder neu geführt wird.6 Stephan Thomes Roman »Grenzgang« schafft es aber tatsächlich, die Leser_innen für die komplexe Problematik der Gewalt zu sensibilisieren und zur Reflexion anzuregen. Da strukturelle Gewalt nicht direkt kausal wirkt wie physische Gewalt und in unterschiedlich starken Normen festgeschrieben ist, beste-

hen ihr gegenüber eventuell mehr Spielräume zum aktiven Widerstand. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass eine solche Gegenwehr einfacher wäre. Im Roman wird an verschiedenen Stellen angedeutet, dass Thomas und Kerstin tatsächlich Möglichkeiten haben, den Phänomenen, die ihr Leben einschränken, etwas entgegen zu setzen. Es ist aber nicht das Hauptanliegen des Textes, konkrete Wege der Selbstbefreiung aufzuzeigen. Vielmehr geht es darum, die Probleme zunächst einmal anschaulich darzustellen und greifbar zu machen. Und das ist gerade beim Problem der strukturellen Gewalt eine wichtige Leistung. 1

Liebsch, Burkhard & Mensink, Dagmar (Hrsg.) (2003): Gewalt Verstehen. Berlin. Akademie Verlag. S. 7–20.

2

Blok, Anton (2000): The Enigma of Senseless Violence. In: Aijmer, Göran & Abbink, Jon (Hrsg.): Meanings of Violence. Oxford. Berg Verlag. S. 23–38.

3

Nussbaum, Martha (1998): Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. In: Steinfath, Holmer: Was ist ein gutes Leben? Frankfurt a.M. Suhrkamp Verlag. S. 196–234.

4

Thome, Stephan (2009): Grenzgang. Frankfurt a.M. Suhrkamp Verlag. Zitate aus diesem Roman werden jeweils im Fliesstext in Klammern ausgewiesen.

5

Zum Zusammenhang von Gewalt und Identität: Chambers, Helen (Hrsg.) (2006): Violence, culture and identity. Oxford. Peter Lang Verlag.

6

Pethes, Nicolas (2009): Sublimierung, Zensur, Simulation. In: Bergengrün, Maximilian (Hrsg.): Bann der Gewalt. Göttingen. Wallstein Verlag. S. 321–360.

Der Roman »Grenzgang« von Stephan Thome ist 2009 im Suhrkamp Verlag erschienen.

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Politisierung der Gewaltfrage Text Revolution채rer Aufbau Schweiz

Der Revolution채re Aufbau Schweiz ist eine Organisation, die eine kommunistische Perspektive vertritt. Im folgenden Beitrag bezieht die Organisation Stellung zum b체rgerlichen Gewaltdiskurs und legt den Fokus auf Strategien revolution채ren Handelns.

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Organisation

D

er Tag, an dem wir keine Nachrichten übrig bleibt, ist Gewalt als unmittelbar phyüber Gewalt lesen, wird wohl der Tag sische, meist von einzelnen, nicht staatlich sein, an dem keine Nachrichten ver- legitimierten Akteuren oder – je nach Interpreöffentlicht werden. Man könnte meinen, die tationsweise – von ›Schurkenstaaten‹ verübt. Gemeinsam ist allen Akteuren ›illegitimer Ächtung der Gewalt müsse unterdessen zum Kulturgut der Menschheit geworden sein; täg- Gewalt‹, dass sie als innere oder äussere Bedrolich wird Gewalt thematisiert und verdammt, hung der bürgerlichen Demokratie dargestellt und dennoch: Der Tag, an welchem wir keine werden und mit ihnen die etablierten HerrNachrichten über Gewalt lesen, wird der Tag schaftsverhältnisse und die Aufrüstung des staatlichen Gewaltmonopols zu ihrer Verteidisein, an dem wir nicht lesen. Kaum eine Debatte wird derart verlogen gung legitimiert werden. Solange sich die Disgeführt wie jene über die Frage der Gewalt, kussion um die Gewalt innerhalb des Rahmens die gleich einer Naturkatastrophe, gleich einer Strafe Gottes die Menschen geisselt, und zugleich Teufels Werk sein muss. Ob der SchilKaum eine Debatte wird so verlogen derungen ihrer mannigfaltigen Formen verliert sich der Überblick; während man darum geführt wie jene über die Frage kämpft, den Wald vor lauter Bäumen doch zu erkennen, verliert man den Durchblick, die der Gewalt, die gleich einer NaturUnterscheidung der verschiedenen Formen der Gewalt. Ist die Gewalt also ein Wahrnehmungskatastrophe, gleich einer Strafe Gottes problem? Nein, sie ist ein politisches. In den letzten Jahren konnte sich ein Begriff die Menschen geisselt. von Gewalt durchsetzen, der den hegemonialen Ansprüchen der Bourgeoisie beinahe vollständig entspricht. Obschon wir in umfas- der Aufrechterhaltung des Status quo bewegt, senden Gewaltverhältnissen leben, diese solange dient sie der Verwaltung der Probleme tagtäglich erleben, bleibt die Debatte um bürgerlicher Ordnung. Die Politik beginnt erst ›Gewalt‹ beinahe ausschliesslich auf unmittel- dort, wo die bestehenden Verhältnisse in Frage bare, physische Gewalt gerichtet. Strukturelle gestellt werden. Der Kapitalismus scheint an seine struktuGewalt wird, wenn überhaupt, nur in einem klar begrenzten Rahmen thematisiert, und die rellen Grenzen gelangt und befindet sich in Gewaltförmigkeit der kapitalistischen Produk- einer Krise, die sich nicht ausschliesslich durch tionsverhältnisse wie auch die Mittel ihrer Aus- gesteigerte Ausbeutung überwinden lässt. Wo weitung und Aufrechterhaltung werden gar es unmöglich geworden ist, Kapital gewinnnicht erst unter diesem Begriff gefasst. Was bringend zu investieren ohne der Konkurrenz

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und der sie vertretenden Staaten Teile des Kuchens zu entreissen, zeigt sich die Aggressivität des historisch überholten Wirtschaftssystems. Krieg steht längst auf der Tagesordnung, verschärfte Ausbeutung der Arbeiter_innen und Angestellten und elende Arbeits- und Lebensbedingungen prägen den Alltag des Gros der Weltbevölkerung.

Unter Ausblendung von Politik und gesellschaftlichem Kontext zielt der bürgerliche Gewaltdiskurs an den Kernfragen vorbei. Der Staat und das von ihm beanspruchte Gewaltmonopol sind wichtige Pfeiler bürgerlicher Herrschaft. Der bürgerliche Staat ist kein unabhängiger Vermittler zwischen den Klassen, er ist Akteur im Klassenkampf und bedient sich dabei verschiedenster Formen von Gewalt, von subtiler und nur angedrohter bis zu handfester und tödlicher. Auch wenn die kapitalistischen Produktionsverhältnisse genau so historisch überholt sind wie ihre Vorgänger, stellt sich ihr Ende nicht automatisch ein. Die Kapitalist_innenklasse klammert sich genauso an ihre Macht und ihren Profit wie ihre Vorgänger, die unterdessen gestürzten und enthaupteten Könige, die erschlagenen Sklavenhalter. Wir meinen: Der Kapitalismus hat seinen Zenith längst überschritten und so stellt sich nicht die Frage nach der Erhaltung dieser Gesellschaft, sondern nach dem Weg ihrer Ablösung und der sich daraus ergebenden Perspek-

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tive. Als kommunistische Organisation entwickeln wir aus der Analyse der bestehenden Verhältnisse Strategien und Methoden zu ihrer Überwindung, in welchen der Aufbau von proletarischer Gegenmacht und das Stellen der Machtfrage von zentraler Bedeutung sind. Dabei geht es auch um die Frage der Gewalt. Auch wenn die Machtfrage keinesfalls gleichbedeutend ist mit Gewalt, kommt der Positionierung zu ihr doch eine wichtige Bedeutung zu. Dabei gehen wir nicht von der ›Gewaltfrage‹ an sich aus, vielmehr begreifen wir selbige als eine, die sich ergibt aus der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse und der politischen Positionierung in der gesellschaftlichen Praxis. Ob man ›Gewalt an sich‹ verurteilt oder ob man hierbei differenziert, vermag als Lackmustest zu dienen, anhand dessen sich zwischen Verwaltung des Bestehenden und Politik, oder zwischen reformistisch und revolutionär unterscheiden lässt.

Der Gewaltdiskurs als Teil des ideologischen Kampfes der Bourgeoisie Wo Gewalt (kein) Thema ist: Es gibt also nicht die ›Gewalt an sich‹. Deshalb gilt es, genau sich anzuschauen, wie in der hegemonialen bürgerlichen Gesellschaft Gewalt definiert und unter welchen Bedingungen sie geächtet wird. Unter Ausblendung von Politik und gesellschaftlichem Kontext zielt der bürgerliche Gewaltdiskurs an den Kernfragen vorbei. Die gesellschaftlichen Lebensbedingungen sind gesetzt, die Fragen, wie gewaltförmig der Alltag im Kapitalismus ist und in wessen Interesse die gesellschaftlichen Verhältnisse so sind, wie sie eben sind, werden nicht gestellt. Es interessiert nicht, wie viel die Angestellten am Arbeitsplatz über


sich ergehen lassen müssen aus Angst vor einer Entlassung und wie entwürdigend Fragen und Untersuchungen sind, welche man über sich ergehen lassen muss, um Geld von der Invalidenversicherung zu erhalten oder als Asylant_in das Zugeständnis auf Aufenthalt in diesem Land. Die Gewalt, mit welcher die Kapitalinteressen durchgesetzt werden, erfährt man täglich am eigenen Leib, oft ohne sie sprachlich ausdrücken zu können. Die tägliche Machtlosigkeit gegenüber Ausbeutung, Willkür und Rassismus, gegenüber Hunger und Elend vor der eigenen Haustüre und in der Welt ist eine Form der herrschenden Gewalt, die kaum gefasst werden kann und nicht ins Konzept des vorherrschenden Gewaltdiskurses passt. Die dort gebräuchliche Definition der Gewalt macht sich an jenem fest, das, in welcher Weise auch immer, aus den Normen herausbricht. So geführt, hat die Diskussion um ›Gewalt im Allgemeinen‹ einen normativen und konservativen Charakter – und vertritt die Interessen der Bourgeoisie. Dabei werden die unterschiedlichen Charakteren der Normverletzungen zu einem einzigen Begriff verschmolzen, zur grundsätzlich abzulehnenden ›Gewalt‹ eben. Wo Gewalt legitimiert wird: Wo sich die Interessen des Bürgertums nicht mehr ohne sichtbare, physische Gewalt durchsetzen lassen, reicht die Ächtung der offenen Gewalt nicht aus: Es geht nun darum, zwischen legitimer und illegitimer Gewalt zu unterscheiden. Das staatliche Gewaltmonopol wird dabei als demokratische Errungenschaft verkauft und der Staat selber als Vermittler zwischen ›gesellschaftlichen Interessengruppen‹ angepriesen. Der Klassencharakter des bürgerlichen Staates wird geflissentlich unterschlagen, der Schein, er sei für alle gleichermassen da, wird vermittelt;

seine Legitimation, Gewalt anzuwenden, folgt daraus. Auf nationaler Ebene kommt dem bürgerlichen Gesetz hierbei eine wichtige Rolle zu, da es über den Status der Legalität von Gewaltanwendung befindet, mit der die Bourgeoisie ihre Macht durchsetzen kann, ohne im Chaos der Willkür zu versinken. Die Diskussionen über Legitimität und Legalität gehören dabei zum Standard-Aushandlungsprozess neuer Normen innerhalb der unterschiedlichen Interessenlagen der Bourgeoisie und sind eine der Hauptbeschäftigungen der Parlametarier_innen. In der Diskussion um die angeblich zuneh-

Die Diskussionen über Legitimität und Legalität gehören dabei zum Aushandlungsprozess neuer Normen innerhalb der Bourgeoisie und sind eine Hauptbeschäftigung der Parlamentarier_innen. mende Gewalt treffen sich alle parlamentarischen Parteien beim massiven Ausbau staatlicher Sanktionierungsmöglichkeiten,1 um die ›Ordnung‹ aufrecht zu erhalten. Auf internationaler Ebene verläuft der Kampf zwischen den verschiedenen Kapitalfraktionen meist weit weniger normiert und bricht entsprechend gewalttätig ins abendliche Fernsehnachrichtenbewusstsein ein, muss also zusätzlich legitimiert werden. Krieg und Vernichtung als äusserste Form der Gewaltanwendung

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der

bedürfen einer gewissen Hegemonie im InneWo Gewalt nicht legitimiert ist, ist Gewalt ren der kriegführenden Staaten, einer Legiti- gleich Gewalt: Wo Gewalt Normen durchbricht mierung, die von rassistischer Hetze bis zum und nicht den Interessen der Bourgeoisie dient, Jargon der humanitären Intervention reichen ist Gewalt im herrschenden Diskurs gleich kann. Der ›Kampf gegen den Terror‹, der ab- Gewalt: Der Vergewaltiger, 4 der Pausenwechslungsweise mit der ›Entwicklungshilfe in hofschläger, die streikende Angestellte oder die Sachen Demokratie‹ als Rechtfertigung für die vermummte Demonstrantin – sie alle sind zugewaltsame Durchsetzung der eigenen Kapital- sammengefasst im Begriff des Gewalttäters. interessen dient, bedient sich dabei einem brei- Wo eine Handlung den Interessen der Bourten Repertoire an Gewaltmitteln. Dass Folter geoisie zuwiderläuft, wird sie als Gewalt betidabei kein Zufall, sondern eine gebräuchliche telt. In diesem Diskurs scheint es keine qualitaMethode ist, zeigt sich weniger bei den ›Vor- tiven oder politischen Unterschiede mehr zu fällen‹ von Abu Ghraib, als in der Debatte um geben. Eine allgemeine, nivellierende Dämoni›alternative Verhörmethoden‹, die in der zeit- sierung von Gewalt wird wirksam. weisen offiziellen Implementierung von Folter Der herrschende Diskurs lässt sich wie folgt als Standard gegen bestimmte Zielgruppen zusammenfassen: Dort wo sie nicht greifbar mündete.2 Wie schnell sich die Zustimmung ist, ist sie keine Gewalt. Dort wo sie greifbar ist und den Interessen der Herrschenden dient, ist sie die Ausnahmeerscheinung, eine legitime Gewalt (und natürlich verhältnismässig). ÜberWo eine Handlung den Interessen all sonst ist sie wirkliche, gewalttätige und deshalb zu ächtende Gewalt. Bourgeoisie zuwiderläuft, wird sie

als Gewalt betitelt. In diesem Diskurs scheint es keine Qualitativen oder

Bewusste Vermischung verschiedenster Kategorien

Die strukturelle Gewaltförmigkeit der kapitalistischen Gesellschaft produziert soziale Unpolitischen Unterschiede mehr zu geben. sicherheiten und Ängste. Das gesellschaftliche Bedürfnis nach Sicherheit ist vor allem ein Bezur Folter selbst innerhalb des ›bürgerlichen dürfnis nach sozialer Sicherheit und physischer Rechtsstaats‹ ausbreiten kann, demonstrierte wie psychischer Integrität. In dieser latenten 2003 der Fall des Frankfurter Polizei-Vizepräsi- bzw. manifesten Stimmung allgemeiner Angst denten Wolfgang Daschner, der dem mutmass- und Unsicherheit trifft der herrschende Gelichen Entführer eines Bankierssohnes Gewalt waltdiskurs ins Schwarze. Dabei werden vorandrohen liess, um von ihm Aussagen zu er- handene soziale Ängste geschürt und auf eine pressen. Damit wurde, was indiskutabel sein Angst vor Veränderung fokussiert. Indem sollte, nämlich die Rechtfertigung der Folter Gewalt unabhängig von ihren Kategorien, also unabhängig davon, mit welchem Zweck sie sich ›in besonderen Situationen‹, zur Option.3

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gegen wen oder was richtet, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung und ihrer Qualität zu einer einzigen, nicht unterscheidbaren Bedrohung verschmolzen wird, zeigt sich der Gewaltdiskurs als Mittel zur Verteidigung des Status Quo. Denn Gewalt im Sinne des oben beschriebenen herrschenden Diskurses hat immer etwas Aufbrechendes, Änderndes und steht so dem unmittelbaren Bedürfnis nach Sicherheit entgegen. Dass diese Politik der Angst ihre Wirkung entfaltet, zeigt sich auch daran, wie weit verbreitet die allgemeine, entpolitisierte Ächtung der Gewalt ist. Dagegen gilt es, die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse und die sich daraus ergebenden, verschiedensten Formen der Gewalt in ihrer Differenziertheit zu betrachten und dazu ebenso differenzierte Positionen zu formulieren. Mit einer pauschalisierten Ablehnung jeglicher Gewalt mag sich eine moralische Erhabenheit einstellen. Angesichts antagonistischer Klassenverhältnisse kann dies aber nur zur völligen politischen Lähmung führen. Die indifferente, pauschale Gutheissung jeglicher Gewalt sowie ihre Verklärung als ›Revolte‹ wiederum, verkennen die realen Ängste und Bedürfnisse auch der proletarischen Bevölkerung. Mit klaren, differenzierten Positionsbezügen tun sich selbst weite Teile der ausserparlamentarischen Linken angesichts des Drucks, sich der allgemeinen Distanzierung von jeglicher Gewalt anzuschliessen, äusserst schwer. Doch genau das tut Not, der Kampf um die Köpfe wird verbreitet über den Gewaltdiskurs geführt. Während wir als Linke eine revolutionäre Praxis zu entwickeln suchen, bringt die Gegenseite ihre begrifflichen Waffen in Stellung. Aus politischen Demonstrationen werden unpoli-

tische Krawalle gemacht, aus erwachsenen Revolutionär_innen jugendliche Chaoten. Über Jahrzehnte hinweg aktive Genoss_innen werden als charakterliche Wirrköpfe etikettiert und manchmal auch pathologisiert und Jugendliche als naive Mitläufer_innen dargestellt. Inhalte werden in den bürgerlichen Medien (und im Gewaltdiskurs) grundsätzlich nicht wiedergegeben. Erklärungen zu Demonstrationen oder

In der bürgerlichen Propaganda hat sich als Kriterium ernstzunehmender Politik nicht ihr Inhalt, sondern die Frage der ›Gewaltlosigkeit‹ durchgesetzt. Propagandaaktionen werden systematisch verschwiegen; dort wo revolutionäre Gewalt auftritt, wird sie als sinnentleert dargestellt. In der bürgerlichen Propaganda hat sich als Kriterium ernstzunehmender Politik nicht ihr Inhalt, sondern die Frage der ›Gewaltlosigkeit‹ durchgesetzt. Dabei werden griffige Bilder wie das des ›Schwarzen Block‹ mythologisiert und zum Ausdruck von Gewalt schlechthin empor stilisiert. Die Ausschlachtung dieses Gewaltbegriffs kulminiert in der These, nach der sich ›linke‹ und ›rechte‹, sprich sogenannt ›extreme‹ Positionen berühren. 5 ›Gewalt‹ eint somit alle: Taliban, Nazis, Kommunist_innen, Terroristen_innen.6 Die Antwort auf eine solche Gleichschaltung darf nicht im beschämten Rückzug einer revolutionären Linken liegen.

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Eine

Im Gegenteil müssen über die politische Ana- und repressiven Offensive ist nicht in erster lyse der bestehenden kapitalistischen Gewalt- Linie die revolutionäre Linke gemeint, sondern verhältnisse Positionen formuliert werden, jegliche Form von Widerstand und Perspektive, welche zwingend eine offensive Praxis zur welche sich auf die eine oder andere Art gegen Überwindung der kapitalistischen Produktions- die sich verschärfenden Ausbeutungsverhältnisse zur Wehr setzt. Auch reformistischen weise beinhalten. Parteien und Gewerkschaften wird so der Tarif durchgegeben. Dabei ist der Kampf um den öffentlichen Raum von strategischer Bedeutung. revolutionäre Organisation muss

den bürgerlichen Gewaltdiskurs zurückweisen. Es geht um die Entwick-

Politischer Widerstand und Machfrage

Eine revolutionäre Organisation muss den bürgerlichen Gewaltdiskurs zurückweisen. Es geht um die Entwicklung einer eigenständigen Praxis zur Überwindung der herrschenden Überwindung der Klassenverhältnisse. Klassenverhältnisse und um die spätere Verteidigung eines sozialistischen Übergangs zur kommunistischen Gesellschaft. Die Gewalt hat Präventive Konterrevolution per se keine Funktion, ausser die, für welche sie Es wäre eine Selbstüberschätzung zu denken, Mittel zum Zweck ist. Die politische Frage, weldie revolutionäre Linke, die Demonstrationen che zu stellen ist, ist die nach den Machtverhältund Propagandaaktionen stellten zurzeit für nissen und einer Strategie ihrer Überwindung. Wer die Herrschaft des Kapitals auf die Auseinen bürgerlichen Staat in Europa oder Nordamerika eine ernsthafte Bedrohung dar, welche übung des Gewaltmonopols reduziert und die massive polizeiliche (und teilweise auch seine Strategie auf den Angriff auf dasselbe ausmilitärische) Aufrüstung rechtfertigen würde. richtet, greift zu kurz. Grundlegend für einen Dennoch scheint die Bourgeoisie in dem solchen reduzierten Ansatz ist die GleichsetBestreben, ihre Hegemonie durchzusetzen, mit zung von bürgerlichem Gewalt- und Machtmoimmer härteren Bandagen zu kämpfen. Neben nopol. Bürgerliche Gewalt unterscheidet sich der entpolitisierenden Wirkung des Gewaltdis- von bürgerlicher Macht durch ihren instrumenkurses hat dies den Ausbau der Überwachung tellen Charakter. Sie ist das zentrale Werkzeug des öffentlichen Raumes sowie die ständige des Staatsapparates, um die Herrschaft der KaAusweitung des Gewaltmonopols des Staates, pitalisten zu garantieren, sie widerspiegelt zwar zum Beispiel durch eine ins Absurde7 gehende reale Macht, ist aber mit derselben nicht gleichVerschärfung des Waffengesetzes 8 und die zusetzen. Bürgerliche Macht ist mehr als konKriminalisierung politischer Organisierung und krete Handlungen Einzelner; sie ist die hisPropaganda zur Folge. Mit der ideologischen torisch gewachsene Herrschaft der Bourgeoisie.

lung einer eigenständigen Praxis zur

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Das Wesen der bürgerlichen Macht besteht eben darin, dass sie nur kraft eines gemeinsamen Willens einer Klasse mächtig ist. Im Unterschied zur ›Gewalt‹, die nur Feind und Gegner kennt, kommt politische Macht nur durch einen kollektiven Prozess zustande. Sie ist nicht auf einzelne Gegner ausgerichtet, sondern hat die Konstruktion der Herrschaft als Ganzes im Sinn: also die Durchsetzung eigener Vorstellungen, die Entwicklung und Verbreitung einer eigenen Ideologie, Wissenschaft und Ästhetik, die Propagierung ethischer (religiöser) Kategorien und schliesslich im Kapitalismus an oberster Stelle die Maximierung der Profite. Sie leitet ihre Legitimation von in Recht (Gesetze, Verfassung) gegossenen Klasseninteressen ab. In Bezug auf den Staat und sein Gewaltmonopol gilt zwar, dass in der bürgerlichen Demokratie die Staatsmacht der Gestaltung und Verwirklichung dieses Rechts bzw. den bourgeoisen Klasseninteressen dient. Die Auffassung, nach der die politische Macht der Bourgeoisie nur noch durch blosse Gewalt aufrecht erhalten werden kann, entspricht aber nicht der gesellschaftlichen Realität. Sie blendet aus, dass einzelne Elemente bürgerlicher Macht von einem nicht unwesentlichen Teil des Proletariats noch als positiv begriffen werden. Der Kern der revolutionären Dialektik eines revolutionären Aufbaus ist daher die gleichzeitige Infragestellung von bürgerlichem Gewalt- und Machtmonopol.

Machtfrage Der zentrale Punkt revolutionärer Gegenmacht besteht darin, dass sie nur kraft gemeinsamer Klasseninteressen des Proletariats mächtig ist. Revolutionäre Macht kommt nur durch einen

kollektiven Prozess zustande. Sie ist nicht auf einzelne Klassenfeinde ausgerichtet, sondern hat die Konstruktion des revolutionären Prozesses bzw. einer kommunistischen Gesellschaft als Ganzes im Sinne: also die Entwicklung und Durchsetzung kommunistischer politischer Vorstellungen, den Aufbau einer proletarischen Kultur, die kollektive Aneignung der Naturwissenschaften und die Entwicklung einer kommunistischen Ethik. Revolutionäre Gewalt kann zwar reale Gegenmacht widerspiegeln, sie ist aber mit derselben nicht gleichzusetzen.

Die Auffassung, nach der die politische Macht der Bourgeoisie nur noch durch blosse Gewalt aufrecht erhalten werden kann, entspricht aber nicht der gesellschaftlichen Realität. Weil auf der Gegenseite die bürgerliche Macht mehr ist als die Ausübung des Gewaltmonopols – nämlich Organisationsmacht, Bildungsmacht, Informationsmacht, ideologische Macht und natürlich ökonomische Macht – ist die Machtfrage letztlich das zentrale Thema des revolutionären Kampfes. Ohne Macht bleiben alle emanzipatorischen Ansprüche illusorisch. Die Machtfrage darf jedoch auf keinen Fall mit dem unmittelbaren Akt der Revolution, der Machtübernahme, gleichgesetzt werden, sondern sie muss sich auf dem Weg dahin Schritt

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für Schritt realisieren. Im Kleinen konkretisierte proletarische Gegenmacht ist das Kettenglied zwischen dem täglichen Handeln und der revolutionären Perspektive, zwischen der aktuellen Klassenposition und der Frage, für welche politischen und sozialen Inhalte wir letztlich kämpfen. Die Machtfrage als Dreh- und Angelpunkt des revolutionären Prozesses soll unmittelbar als sichtbare Perspektive vergegenständlicht im Zentrum der täglichen Praxis stehen, nicht symbolisch, sondern real. Sie muss sich im ›Tun und Denken‹ der Militanten insofern bewusst widerspiegeln, als dass diese Frage nicht in eine unbestimmte Zukunft vertagt wird. Die Beliebigkeit muss in revolutionärer Politik durch

Einen konkreten Weg zur revolutionären Veränderung dieser Gesellschaft mitzugestalten, setzt die Kräfte frei, die es braucht, um Resignation, Vereinzelung, Hoffnungsund Machtlosigkeit zu überwinden. einen konkreten Weg Richtung Machteroberung durchbrochen werden. Denn genau diese Möglichkeit, einen konkreten Weg zur revolutionären Veränderung dieser Gesellschaft mitzugestalten, setzt die Kräfte frei, die es braucht, um Resignation, Vereinzelung, Hoffnungsund Machtlosigkeit zu überwinden. Jede noch so kleine Initiative sollte diese Zielsetzung beinhalten, aufbauendes Element im politischen

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Kollektiv mit gleichzeitiger Wirkung in die revolutionäre Bewegung zu sein.

Eine Frage der Praxis (und der Theorie) Das Wesen der revolutionären Strategie liegt genau darin, den revolutionären Prozess konkret zu machen, also die Lücke zwischen der unmittelbaren täglichen politischen Praxis und dem allgemeinen Fernziel zu füllen, in dem sie konkrete Zwischenziele und Schritte formuliert. Der revolutionäre Aufbauprozess verläuft so über die Formulierung dieser Schritte bzw. ihre Bündelung zu einem zusammenhängenden Weg. In der täglichen politischen Arbeit soll eine umfassende revolutionäre Alternative sichtbar werden. Die hier zum Ausdruck gebrachte dialektische Gesetzmässigkeit, ist für das Handeln einer revolutionären Organisation fundamental, weil sie die zentralen politischen Kategorien des revolutionären Prozesses, nämlich das Einzelne, das Besondere und das Allgemeine, das heisst die Taktik, die Strategie und das Ziel ordnet und miteinander verknüpft. Das Einzelne, das heisst die Taktik, besteht darin, die tägliche Arbeit zu ordnen und zu organisieren. Das Allgemeine, also das prinzipielle Ziel einer kommunistische Gesellschaft, ist für den gesamten revolutionären Prozess sinn- und identitätsstiftend. Der Strategie kommt im revolutionären Prozess schliesslich die konstitutive Funktion zu, aus der Tagespolitik einen Weg zum Ziel aufzuzeigen. Der Begriff des Besonderen für den einzuschlagenden Weg drückt aus, dass eine revolutionäre Strategie immer besonders ist, dass sie entsprechend den spezifischen ›äusseren‹ Verhältnissen eigenständig entwickelt werden muss.


Die Erkenntnis, dass es keine allgemeine Strategie gibt, ermöglicht es einer revolutionären Organisation Ansätze eines eigenen, eben konkreten Weges zu finden. Strategie enthält die keimhaften Möglichkeiten zur Verwirklichung der allgemeinen Zielsetzung. Sie ist der Brennpunkt des revolutionären Prozesses, weil ja das Ziel im Zusammenhang mit dem Weg steht und dessen konkreter Gehalt über eine Reihe von Teilzielen sich bestimmt. Ein solches Beharren auf der zentralen Rolle der Strategie ist wichtig, denn diese Position ist im Endeffekt der Gegenpol zu einer evolutionistischen Vorstellung, bei welcher – bewusst wie bei den Reformisten_innen und Revisionist_innen, unbewusst bei all den Kräften, die keinen Weg aufzeigen können oder wollen – das Besondere als Brennpunkt ausgeschaltet ist. Die Frage der Strategie verschwindet dabei einfach zwischen der einzelnen Tätigkeit und einem ausserordentlich abstrakt formulierten Endziel. Diese Auslassung hat zur Folge, dass die gesellschaftlichen Zielsetzungen sich konturlos und unklar darstellen, sofern sie überhaupt zur Debatte stehen. Dem steht die Strategie des Aufbaus proletarischer Gegenmacht gegenüber. Jeder taktische Kampfabschnitt soll sich in irgendeiner Form der revolutionären Gegenmacht vergegenständlichen. So ist die Strategie darauf ausgerichtet, in jeder einzelnen Handlung sowohl das Fernziel aufscheinen zu lassen, als auch konkret zu zeigen, wie dieses Ziel durch kollektives Handeln erreicht werden kann.

sich nicht auf Denkarbeit; vielmehr entwickelt es sich in einem lebendigen, vielfältigen Austausch mit der realen Umwelt, der kognitiv und emotional stattfindet. Um sich ausdrücken zu können, indes braucht jeder Inhalt eine Form. Dies gilt auch für die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft. Nur durch die Form, in einem Flugblatt oder einer Aktion, wird er sichtbar. Es hängt vom Kern des jeweiligen

Die Entstehung bzw. Entwicklung von revolutionärem politischen Bewusstsein beschränkt sich nicht auf Denkarbeit.

Inhaltes ab, welches die wirkungsvollste Form ist, also die, die seinem Inhalt am besten entspricht. Revolutionärer Theorie bzw. revolutionärem Inhalt entspricht am besten eine Form, in welcher sich die Eigenheit einer revolutionären Veränderung und einer kommunistischen Gesellschaft widerspiegelt, die also beispielsweise auf bürgerliche ›Legalität‹ keine Rücksicht nimmt. Wesen und Form der revolutionären Intervention brechen dann auseinander, wenn die Formen tote Abstraktionen, wenn in ihnen keine Inhalte sichtbar sind. Durch ihre Form soll ein reales, physisches Verhältnis zu den Inhalten ausgebildet und entwickelt werden. Revolutionäre Inhalte – Das Wesen des revolutionären Prozesses revolutionäre Formen soll konkret fassbar gemacht werden: seinen Die Entstehung bzw. Entwicklung von revolu- revolutionären, emanzipatorischen Charakter, tionärem politischem Bewusstsein beschränkt den Bruch mit dem kapitalistischen System,

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die Infragestellung des bürgerlichen Macht­und Gewaltmonopols. Allerdings ist es ein Charakteristikum revolutionärer Formen in den aktuellen Verhältnissen, dass sie keinen unmittelbaren, greifbaren Wandel der derzeitigen Zustände herbeiführen können.9 Sie wirken im Bewusstsein. Gegenmacht bleibt punktuell. Präsenz auf der Strasse hat zum Ziel, ein politisches Klima zu schaffen, innerhalb dessen revolutionäre Gegenpositionen zu gesellschaftlichen Konflikten und somit Klassenbewusstsein entstehen kann. Der politische Inhalt der Agitation und Propaganda, der nie eine in sich

Von öffentlich sichtbaren Handlungen geht eine Wirkung aus, die über alle verbalen Äusserungen gegen den Kapitalismus hinausreicht. geschlossene Theorie ist, bekommt seine konkreten Formen immer erst im Prozess der Analyse der gesellschaftlichen Widersprüche und der sich daraus ergebenden politischen Aufgaben der Klasse. Eine feste Grundlage ist hingegen die Notwendigkeit der Differenzierung der Agitation und Propaganda. Sie ergibt sich zwangsläufig aus der differenzierten Zusammensetzung der Arbeiter_innenklasse. Es sollen diejenigen Agitations- und Propagandaformen eingesetzt werden, die den spezifischen Denkweisen und dem Stand jeweiligen Klassenbewusstseins entsprechen, um die jeweils vorhandenen Keime revolutionären Denkens weiterzuentwickeln. Aus diesem

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Grund gibt es nicht nur ein einziges Medium oder eine einzige Form der revolutionären Agitprop, auch wenn in jeder auf die eine oder andere Art nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg revolutionärer Veränderungen fassbar werden soll. Demonstrationen und andere öffentliche Mobilisierungen sind diejenigen Mittel der Agitprop, die ihr am besten ermöglichen, in die Breite zu wirken. Sie machen Fragen der Organisation und Gegenmacht in einem kollektiven Prozess sicht- und fühlbar. Sie ermöglichen – neben dem praktischen Aufbau von Gegenmacht durch den Aufbau der entsprechenden Fähigkeiten und Strukturen – eine revolutionäre Präsenz an gesellschaftlichen Brennpunkten. In einer Zeit des verschärften Klassenkampfes, in der aber zugleich proletarische, soziale und politische Bewegungen kaum sichtbar sind und die von einer desorganisierten Arbeiterschaft geprägt ist, soll die revolutionäre Präsenz in erster Linie Orientierung bieten. Sie soll in den täglichen Klassenkämpfen sicht- und fassbare revolutionäre und kommunistische Positionen markieren. In einer Epoche, in der fast alle revolutionären Traditionen zerrissen sind und eine politisch fundamentale Veränderung kaum vorzustellen ist, ist der Kampf auf der und um die Strasse mit seiner Unmittelbarkeit ausserordentlich wichtig. An öffentlichen Mobilisierungen können sich alle beteiligen, kollektive Erfahrungen machen und sich mit den dort vertretenen Positionen auseinandersetzen. Eine solche Unmittelbarkeit lässt sich durch keine anderen Medien erreichen. Die Ausnutzung nicht nur der legalen Möglichkeiten, sondern auch die Entfaltung von Kämpfen, die den Rahmen bürgerlicher Legalität sprengen, erlauben es, revolutionäre Möglichkeiten aufzuzeigen.


Von öffentlich sichtbaren Handlungen geht eine Wirkung aus, die über alle verbalen Äusserungen gegen den Kapitalismus hinausreicht. Aus diesem Grund kommt dem öffentlichen Raum und seiner auch militanten Aneignung im Klassenkampf eine besondere Bedeutung zu.

1

Seien es die »Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht«, die lebenslängliche Verwahrung »extrem gefährlicher Gewalttäter« ohne Nachprüfung, oder die Wegweisung störender Personen

2

Siehe z.B. die Wunschliste der 4ten Infantry Division vom August 2003 betreffend »Alternative Interrogation Techniques« (http:// www.aclu.org/torturefoia/released/041905/6570_6668.pdf), Seite 59, die Untersuchung des U.S.Senats (Senate Armed Services Committee Inquiry Into The Treatment Of Detainees In U.S. Custody; http://levin.senate.gov/newsroom/supporting/2008/Detainees.121108.pdf) oder McCoy, Alfred: Foltern und Foltern lassen. 2. Aufl. (2006), Frankfurt a. M. Zweitausendeins.

3

Siehe dazu die Artikelzusammenstellung unter: http://badkleinen. sooderso.net/texte/folter.htm

4

Ein Indiz, dass Vergewaltigung den Interessen der Herrschenden zuwiderläuft, ist die Tatsache, dass die Vergewaltigung innerhalb der Ehe erst seit ein paar Jahren zum Straftatbestand geworden ist. Der sich darin widerspiegelnde Wertewandel lässt eine veränderte Wichtigkeit der traditionellen Familie (und ihrer Rollenverteilung) in den heutigen Produktionsbedingungen vermuten.

5

Dass dies nicht zufällig geschieht, zeigt sich am Engagement z.B. des deutschen Verfassungsschutzes bei der Etablierung des Extremismus-Diskurses, siehe dazu auch: Mohr, Markus / Rübner, Hartmut (2010): Gegnerbestimmung, Sozialwissenschaft im Dienst der »inneren Sicherheit«. Münster. Unrast Verlag.

In der Schweiz wurde dieser Schritt durch die Einführung des Begriffs »gewalttätiger Extremismus« im regelmässigen »Bericht zur Lage der inneren Sicherheit« in den 1990er Jahren und seine weitgehende Übernahme in den parlamentarischen und medialen Debatten vollzogen.

6

Eine Analyse zur Konstruktion und flächendeckenden Verwendung des Begriffs »Terrorismus« gegen revolutionäre Bewegungen und Organisationen sprengt den Rahmen dieses Textes. Dass die Verwendung des Begriffs »Terrorismus« konterrevolutionäre Propaganda ist, wird aber nicht erst dann nachvollziehbar, wenn man sich mit den diversen Strategien und Taktiken sowohl der revolutionären als auch der reaktionären Kräfte auseinandersetzt.

7

Das schweizerische Waffengesetz hat sich in weiten Teilen dem europäischen angepasst. So werden Gegenstände und Werkzeuge, wie z.B. Hämmer, welche dazu geeignet sein können, Menschen zu verletzen, als gefährliche Gegenstände eingestuft, und können eingezogen werden. Das Mitführen und Transportieren dieser Gegenstände ist verboten, wenn nicht glaubhaft gemacht werden kann, dass dies für ihre bestimmungsgemässe Verwendung geschieht, die Beweispflicht liegt bei dem/der Handwerker_ in. Siehe: Bundesgesetz über Waffen, Waffenzubehör und Munition (Waffengesetz, WG) Art. 4-6 und Art. 28.

8

Historisch lässt sich immer wieder die Entwaffnung der proletarischen Teile der Bevölkerung (selbstverständlich ausgenommen der loyalen staatlichen und parastaatlichen Funktionsträger) attestieren, sobald eine äussere Bedrohung wegfällt und die bewaffneten Proletarier_innen ihre Funktion im Krieg verloren haben und hingegen eine innere Bedrohung sich verstärkt, sei es als allgemeine Krise des Kapitalismus, sei es als Erstarken der subjektiven Kräfte der Revolution.

9

Was vor allem auf die aktuelle Situation in Europa und den USA zutrifft. In befreiten Gebieten, z.B. in Indien oder Nepal, stellen sich natürlich andere Fragen.

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H e r r

u n d

K n e c h t

I

A r c h i t e k t u r der Sicherheit

Um „die Proteste friedlich zu halten“ werden am G8Gipfel in Genua 2001 strenge Massnahmen ergriffen. In Kühlhäusern werden 200 Leichensäcke bereitgestellt. Für die Zeit des Gipfels setzt Italien das Schengener Abkommen ausser Kraft. Sämtliche Grenzen werden lückenlos überwacht. In Genua werden 20’000 Polizisten zusammengezogen. Zur Gewährleistung der Sicherheit wird die Stadt in zwei Zonen geteilt. Eine rote Zone wird mit meterhohen Zäunen abgeriegelt. Sie umfasst den Stadtkern und das gesamte Hafengebiet und ist für die Dauer des Gipfels unter keinen Umständen betretbar. Eine gelbe Zone kann nur mit eigens von der Stadtver waltung ausgegebenen Ausweisen (beispielsweise für Anwohner) betreten werden.

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Strassen und Autobahnen werden mit Hilfe von Strassensperren (Checkpoints) kontrolliert; Hafen und Bahnhöfe werden geschlossen, ebenso der Flughafen, auf dessen Gelände Flugabwehrraketen gegen mögliche terroristische Anschläge aufgestellt worden sind, vor denen der italienische Geheimdienst mehrfach gewarnt hat. Des Weiteren sind Geräte zur Störung (Jamming) des Mobiltelefonverkehrs in Bereitschaft und sämtliche Zugänge zur Kanalisation in der Umgebung der roten Zone versiegelt.

Zur Sicherung des G8-Gipfels in Heiligendamm 2007 unter anderem ein 12 Kilometer langer und 2,5 Meter hoher Zaun mit Stacheldraht, Kameraüber wachung und Bewegungsmeldern rund um den Tagungsort installiert. Von der Bundeswehr werden im Bereich der Bahnstrecke des Molli weitere Absperrungen errichtet. Die gesamte Anlage umschliesst die so genannte Verbotszone I, in die nur Anwohner und Lieferanten Zutritt haben. In einem Korridor von 200 Metern Breite um den Sperrzaun herum gilt vom 30. Mai bis zum 8. Juni 2007 ein Versammlungsverbot. Für den Schutz dieses Bereiches ist die Polizei MecklenburgVorpommern zuständig. Zusätzlich wird die Verbotszone I mit einem zweiten Sicherungsbereich, der so genannten Verbotszone II,


Herr & Knecht

gesichert. Diese umfasst einen der Verbotszone I um mehrere Kilometer vorgelagerten Bereich. Für die Absicherung der Ostsee um Heiligendamm wird das umliegende Seegebiet komplett gesperrt. Zur Durchsetzung der Sperrzone und die Überwachung der See wird neben der Polizei auch die deutsche Marine eingesetzt. Auch der Luftraum ist teilweise gesperrt: Im so genannten Flugbeschränkungsgebiet Heiligendamm ist die zivile Luftfahrt bis FL100 (3 km Höhe) im Umkreis von 30 nautischen Meilen (55 km) untersagt. Daneben wird im Umkreis des Flughafens Parchim ein weiteres Sperrgebiet eingerichtet.

Der Flughafen RostockLaage ist während des Gipfels für den kommerziellen Flugbetrieb gesperrt. Die Flüge werden zum Flughafen Neubrandenburg umgeleitet. Auch im Umkreis des Rostocker Flughafens gilt vom 2. bis am 8. Juni 2007 ein Versammlungsverbot. Das Deerhurst Resort ist das Gipfelhotel des G-8 in Kanada 2010. Es ist liegt abgeschieden und ist leicht zu kontrollieren. Zum Resort führt nur eine Strasse, während des Gipfels wird sie gesperrt. Zudem spannt sich ein kilometerlanger Sicherheitszaun um das Areal. Tausend Urlauber können in dem Hotel sonst untergebracht werden. In den Tagen vor dem Gipfeltreffen kommt nichts und niemand mehr raus oder rein. Zur Sicherheit ist alles frische Obst und Gemüse bereits geliefert.

Den Salat hat sich das Hotel samt Erde anliefern lassen, damit er hält, bis die Politiker anreisen. 50 Millionen Dollar sind von der Regierung bereitgestellt, um die Region rund um das Deerhurst Resort aufzuhübschen. Neue Leitplanken sind montiert, Telefonleitungen gelegt, Stadtgärten begrünt, und der nahe Flughafen in North Bay ausgebaut. In Toronto, wo im Anschluss an den G-8-Gipfel das Treffen der G-20-Staaten stattfindet, ist ein künstlicher See angelegt worden, der dem Peninsula Lake ähneln soll. Beide Gipfel kosten mehr als eine Milliarde Dollar.

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A b s o l u t i s m u s d e s K a p i t a l s

„Eine weitere Liberalisierung des Welthandels ist eine wichtige Massnahme gegen Armut.“ Auf diese Formulierung einigen sich die G-8 Teilnehmer, namentlich Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Russland, Vereinigtes Königreich und die Vereinigte Staaten. Genua 2001 The global financial crisis was not just an economic crisis, but also a crisis of values. This calls in to question the degree to which our current systems and institutions embody those values that we hold most dear. There is clearly a gap between our values and our systems and institutions. World Economic Forum Davos 2010

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Die frühere republikanische US-Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin hat für eine Rede an der finanziell angeschlagenen California State University 75’000 Dollar erhalten. Wegen der knappen Staatskasse hat die California State University zur selben Zeit diverse Kurse für Studierende kürzen und Stipendien streichen müssen. Fresno 2010 Obwalden entscheidet die Einführung des degressiven Steuersystems, bei dem die Steuerbelastung mit zunehmendem Einkommen sinkt. Obwalden 2005


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Le premier qui, ayant enclos un terrain, s’avisa de dire: Ceci est à moi, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile. Que de crimes, de guerres, de meurtres, que de misères et d’horreurs n’eût point épargnés au genre humain celui qui, arrachant les pieux ou comblant le fossé, eût crié à ses semblables: Gardez-vous d’écouter cet imposteur; vous êtes perdus, si vous oubliez que les fruits sont à tous, et que la terre n’est à personne. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, 1754

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Ra h m e n b e d i n g u n g e n d e r Arbeitsverhältnisse

1.

Instrumentalisierung: Das Objekt wird von der verdinglichenden Instanz als Werkzeug behandelt, das ihren Zwecken dienen soll.

2.

Leugnung der Autonomie: Das Objekt wird von der verdinglichenden Instanz so behandelt, als fehle ihm jegliche Selbstbestimmung

3.

Trägheit: Das Objekt wird von der verdinglichenden Instanz so behandelt, als fehle es ihm an Handlungsfähigkeit und Aktivität

4.

Austauschbarkeit: Das Objekt wird von der verdinglichenden Instanz so behandelt, als sei es austauschbar.

5.

Verletzbarkeit: Das Objekt wird von der verdinglichenden Instanz so behandelt, als brauchten seine Grenzen nicht respektiert zu werden, so als handle es sich um etwas, das man zerbrechen, zerschlagen oder zerstören darf.

6.

Besitzverhältnisse: Das Objekt wird von der verdinglichenden Instanz als etwas behandelt, das einem anderen gehört, das gekauft oder verkauft werden kann.

7.

Leugnung der Subjektivität: Das Objekt wird von der verdinglichenden Instanz als etwas behandelt, dessen Erleben und Fühlen nicht berücksichtigt zu werden braucht. Martha Nussbaum: Verdinglichung, 1999

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After a time, Tom saw the trader returning, with an alert step, in company with colored woman, bearing in her arms a young child. She was dressed quite respectably, and a colored man followed her, bringing along a small trunk. The woman came cheerfully onward, talking, as she came, with the man who bore her trunk, and so passed up the plank into the boat. The bell rung, the steamer whizzed, the engine groaned and coughed, and away swept the boat down the river. The woman walked forward among the boxes and bales of the lower deck, and, sitting down, busied herself with chirruping to her baby. Haley made a turn or two about the boat, and then, coming up, seated himself near her, and began saying something to her in an indifferent undertone. Tom soon noticed a heavy cloud passing over the woman’s brow; and that she answered rapidly, and with great vehemence. „I don’t believe it, -- I won’t believe it!“ he heard her say. „You’re jist a foolin with me.“ „If you won’t believe it, look here!“ said the man, drawing out a paper; „this yer’s the bill of sale, and there’s your master’s name to it; and I paid down good solid cash

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for it, too, I can tell you, -- so, now!“ „I don’t believe Mas’r would cheat me so; it can’t be true!“ said the woman, with increasing agitation. „You can ask any of these men here, that can read writing. Here!“ he said, to a man that was passing by, „jist read this yer, won’t you! This yer gal won’t believe me, when I tell her what ‚t is.“ „Why, it’s a bill of sale, signed by John Fosdick,“ said the man, „making over to you the girl Lucy and her child. It’s all straight enough, for aught I see.“ The woman’s passionate exclamations collected a crowd around her, and the trader briefly explained to them the cause of the agitation. „He told me that I was going down to Louisville, to hire out as cook to the same tavern where my husband works, -- that’s what Mas’r told me, his own self; and I can’t believe he’d lie to me,“ said the woman. „But he has sold you, my poor woman, there’s no doubt about it,“ said a goodnatured looking man, who had been examining the papers; „he has done it, and no mistake.“ „Then it’s no account talking,“ said the woman, suddenly growing quite calm;

and, clasping her child tighter in her arms, she sat down on her box, turned her back round, and gazed listlessly into the river. „Going to take it easy, after all!“ said the trader. „Gal’s got grit, I see.“ The woman looked calm, as the boat went on; and a beautiful soft summer breeze passed like a compassionate spirit over her head -- but her heart lay as if a great stone had fallen on it. Her baby raised himself up against her, and stroked her cheeks with his little hands; and, springing up and down, crowing and chatting, seemed determined to arouse her. She strained him suddenly and tightly in her arms, and slowly one tear after another fell on his wondering, unconscious face; and gradually she seemed, and little by little, to grow calmer, and busied herself with tending and nursing him. (...) „Taking her down south?“ said an other man. Haley nodded, and smoked on. „Plantation hand?“ said the man. „Wal,“ said Haley, „I’m fillin’ out an order for a plantation, and I think I shall put her in. They telled me she was a good cook; and they can use her for that, or set her at the cotton-



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picking. She’s got the right fingers for that; I looked at ‚em. Sell well, either way;“ and Haley resumed his cigar. „They won’t want the young ‚un on the plantation,“ said the man. „I shall sell him, first chance I find,“ said Haley, lighting another cigar. „S’pose you’d be selling him tol’able cheap,“ said the stranger, mounting the pile of boxes, and sitting down comfortably. „Don’t know ‚bout that,“ said Haley; „he’s a pretty smart young ‚un, straight, fat, strong; flesh as hard as a brick!“ „Very true, but then there’s the bother and expense of raisin’.“ „Nonsense!“ said Haley; „they is raised as easy as any kind of critter there is going; they an’t a bit more trouble than pups. This yer chap will be running all around, in a month.“ „I’ve got a good place for raisin’, and I thought of takin’ in a little more stock,“ said the man. „One cook lost a young ‚un last week, -- got drownded in a washtub, while she was a hangin’ out the clothes, -- and I reckon it would be well enough to set her to raisin’ this yer.“ Haley and the stranger smoked a while in silence, neither

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seeming willing to broach the test question of the interview. At last the man resumed: „You wouldn’t think of wantin’ more than ten dollars for that ar chap, seeing you must get him off yer hand, any how?“ Haley shook his head, and spit impressively. „That won’t do, no ways,“ he said, and began his smoking again. „Well, stranger, what will you take?“ „Well, now,“ said Haley, „I could raise that ar chap myself, or get him raised; he’s oncommon likely and healthy, and he’d fetch a hundred dollars, six months hence; and, in a year or two, he’d bring two hundred, if I had him in the right spot; I shan’t take a cent less nor fifty for him now.“ „O, stranger! that’s rediculous, altogether,“ said the man. „Fact!“ said Haley, with a decisive nod of his head. „I’ll give thirty for him,“ said the stranger, „but not a cent more.“ „Now, I’ll tell ye what I will do,“ said Haley, spitting again, with renewed decision. „I’ll split the difference, and say forty-five; and that’s the most I will do.“ „Well, agreed!“ said the man, after an interval. „Done!“ said Haley. „Where do you land?“

„At Louisville,“ said the man. „Louisville,“ said Haley. „Very fair, we get there about dusk. Chap will be asleep, -all fair, -- get him off quietly, and no screaming, -- happens beautiful, -- I like to do everything quietly, -- I hates all kind of agitation and fluster.“ And so, after a transfer of certain bills had passed from the man’s pocket-book to the trader’s, he resumed his cigar. It was a bright, tranquil evening when the boat stopped at the wharf at Louisville. The woman had been sitting with her baby in her arms, now wrapped in a heavy sleep. When she heard the name of the place called out, she hastily laid the child down in a little cradle formed by the hollow among the boxes, first carefully spreading under it her cloak; and then she sprung to the side of the boat, in hopes that, among the various hotel-waiters who thronged the wharf, she might see her husband. „Now’s your time,“ said Haley, taking the sleeping child up, and handing him to the stranger. „Don’t wake him up, and set him to crying, now; it would make a devil of a fuss with the gal.“ The man took the bundle carefully, and was soon lost in the crowd that went up the wharf.


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When the boat, creaking, and groaning, and puffing, had loosed from the wharf, and was beginning slowly to strain herself along, the woman returned to her old seat. The trader was sitting there, -the child was gone! „Why, why, -- where?“ she began, in bewildered surprise. „Lucy,“ said the trader, „your child’s gone; you may as well know it first as last. You see, I know’d you couldn’t take him down south; and I got a chance to sell him to a first-rate family, that’ll raise him better than you can.“ (...) The woman did not scream. The shot had passed too straight and direct through the heart, for cry or tear. Dizzily she sat down. Her slack hands fell lifeless by her side. Her eyes looked straight forward, but she saw nothing. All the noise and hum of the boat, the groaning of the machinery, mingled dreamily to her bewildered ear; and the poor, dumb-stricken heart had neither cry not tear to show for its utter misery. She was quite calm. The trader, who, considering his advantages, was almost as humane as some of our politicians, seemed to feel called on to administer such consolation as the case admitted of. „I know this yer comes kin-

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der hard, at first, Lucy,“ said he; „but such a smart, sensible gal as you are, won’t give way to it. You see it’s necessary, and can’t be helped!“ „O! don’t, Mas’r, don’t!“ said the woman, with a voice like one that is smothering. „You’re a smart wench, Lucy,“ he persisted; „I mean to do well by ye, and get ye a nice place down river; and you’ll soon get another husband, -- such a likely gal as you -- „ „O! Mas’r, if you only won’t talk to me now,“ said the woman, in a voice of such quick and living anguish that the trader felt that there was something at present in the case beyond his style of operation. He got up, and the woman turned away, and buried her head in her cloak. The trader walked up and down for a time, and occasionally stopped and looked at her. „Takes it hard, rather,“ he soliloquized, „but quiet, tho’; -- let her sweat a while; she’ll come right, by and by!“ Tom had watched the whole transaction from first to last, and had a perfect understanding of its results. To him, it looked like something unutterably horrible and cruel, because, poor, ignorant black soul! He had not learned to generalize, and to take enlarged views. (...)

Night came on, -- night calm, unmoved, and glorious, shining down with her innumerable and solemn angel eyes, twinkling, beautiful, but silent. There was no speech nor language, no pitying voice or helping hand, from that distant sky. One after another, the voices of business or pleasure died away; all on the boat were sleeping, and the ripples at the prow were plainly heard. Tom stretched himself out on a box, and there, as he lay, he heard, ever and anon, a smothered sob or cry from the prostrate creature, -- „O! what shall I do? O Lord! O good Lord, do help me!“ and so, ever and anon, until the murmur died away in silence. At midnight, Tom waked, with a sudden start. Something black passed quickly by him to the side of the boat, and he heard a splash in the water. No one else saw or heard anything. He raised his head, -- the woman’s place was vacant! He got up, and sought about him in vain. The poor bleeding heart was still, at last, and the river rippled and dimpled just as brightly as if it had not closed above it.

Harriet Beecher Stowe: Uncle Tom’s Cabin, 1852

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Fundament der Gerec htigkeit

Illegale Einwanderung sowie illegaler Aufenthalt auf dem italienischen Territorium werden in den Rang einer Straftat befördert. 5’000 bis 10’000 Euro müssen die aufgegriffenen Ausländer bezahlen, um dann umgehend ausgewiesen zu werden. TAZ 2009.

Der Präsident der Republik stellt Immigration und Kriminalität auf eine Ebene. Le Nouvel Observateur 2010

Amnesty International weist im Bericht 2005 auf Razzien und Ausweisungen in Marokko hin. Die strafverfolgenden Behörden wenden nicht nur Gewalt an, sondern praktizieren in der Haft auch Folter.

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In bestimmten Stadtteilen von Rabat und Oujda unternimmt die Polizei immer häufiger Razzien gegen Flüchtlinge und Migrant_innen.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl berichtet 2010 von griechischen Küstenwachen, die afghanische Flüchtlinge auf unbemannte ÄgäisInseln absetzt oder diese auf ihren Schiffen zurückhält bis sie verdursten.

Die Tea-Party fordert die Würde der Nation. Washington 2010


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S a c h z w a n g

Heute wird Frankreich eine erste Gruppe von Roma nach Bukarest abschieben. Diese haben, als 40 illegale Lager vor den Toren von Paris und Lyon geräumt worden sind, keine gültigen Dokumente auf sich getragen. 700 Fahrende insgesamt sollen bis Ende Monat nach Rumänien und Bulgarien zurückgeschafft werden. Binnen dreier Monate, so verheisst Frankreichs Innenminister Brice Hortefeux, werde die Hälfte aller illegalen und prekären Wohnstätten der Roma, also etwa 300, mit resoluter Polizeigewalt aufgelöst und platt gewalzt sein. Paris 2010 Am Freitagabend ist es in der süditalienischen Kleinstadt Rosarno zu Vergeltungsaktionen gekommen. Zwei afrikanische Einwanderer wurden mit Schrotflinten angeschossen. Zwei weitere Migranten wurden durch

Schläge mit Eisenstangen schwer verletzt. Nach Angaben italienischer Medien fuhren weitere Einwohner der Stadt fünf Afrikaner absichtlich mit ihren Autos an. Danach versammelten sich rund hundert Einwohner mit Knüppeln und Eisenstangen bewaffnet in der Nähe eines Lokals, in dem sich viele Migranten aufhielten, und bauten Barrikaden auf. Einige Einwohner hatten Kanister mit Benzin dabei, andere besetzten das Rathaus. „Wir werden nicht weggehen, bis alle Migranten Rosarno verlassen haben.“ Rosarno 2010 Die Jagd ist ein Teil der Kriegskunst. Sie kommt teils gegen die Tiere, teils gegen solche Menschen zur Anwendung, die von Natur zu dienen bestimmt sind, aber nicht freiwillig dienen wollen. Aristoteles, Athen ca. 330 v. Chr.

F ronte x o rg a n i s i e r t Massenabschiebungen von Wien aus. Ein für eine halbe Million gecharterter Airbus bringt 70 Migranten und Migrantinnen in verschiedene westafrikanische Hauptstädte. 140 Polizisten bewachen sie. Wien 2009 Da die polizeiliche Zusammenarbeit im östlichen Mittelmeer weiter ausgebaut wird, verschwindet das Phänomen der grossen Flüchtlingsschiffe zunehmend. Eine Verdrängung findet offensichtlich in Richtung Holzund Schlauchboote statt. Vor allem gegen sie richten sich die neuen Techniken des Aufspürens und der Meeresüberwachung. Bericht des UNHCR, Genf 2008

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Im Jahre 1284 liess sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte ein Obergewand aus vielfarbigem Tuch an und gab sich für einen Rattenfänger aus. Er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien. Hameln litt zu dieser Zeit unter einer grossen Rattenplage, der die Stadt selbst nicht Herr wurde, weshalb sie das Angebot des Fremden begrüsste. Die Bürger sagten ihm seinen Lohn zu, und der Rattenfänger zog seine Flöte heraus und pfiff eine Melodie. Da kamen die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervor gekrochen und sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wäre keine zurückgeblieben, ging er aus der Stadt hinaus in die Weser; der ganze Haufen folgte ihm nach, stürzte ins

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Wasser und ertrank. Als aber die Bürger sich von ihrer Plage befreit sahen, reute sie der versprochene Lohn, und sie verweigerten ihn dem Mann, so dass er zornig und erbittert wegging. Am 26. Juni kehrte er jedoch zurück in Gestalt eines Jägers, mit schrecklichem Angesicht, einem roten, wunderlichen Hut und liess, während alle Welt in der Kirche versammelt war, seine Flöte abermals in den Gassen ertönen. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein vom vierten Jahre an in grosser Anzahl gelaufen. Diese führte er, immer spielend, zum Ostertore hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. Brüder Grimm: Märchen und Sagen, 1815




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JACQUES: Un Jacques! Un Jacques, Monsieur, est un homme comme un autre.

JACQUES: Après avoir souffert toutes mes impertinences ...

LE MAÎTRE: Jacques, tu te trompes, un Jacques n’est point un homme comme un autre.

LE MAÎTRE: Je n’en veux plus souffrir.

JACQUES: C’est quelquefois mieux qu’un autre. LE MAÎTRE: Jacques, vous vous oubliez. Reprenez l’histoire de vos amours, et souvenezvous que vous n’êtes et que vous ne serez jamais qu’un Jacques. JACQUES: Si, dans la chaumière où nous trouvâmes les coquins, Jacques n’avait pas valu un peu mieux que son maître...

JACQUES: Après m’avoir fait asseoir à table à côté de vous, m’avoir appelé votre ami ... LE MAÎTRE: Vous ne savez pas ce que c’est que le nom d’ami donné par un supérieur à son subalterne. (...) JACQUES: Monsieur, commandez-moi tout autre chose, si vous voulez que je vous obéisse.“ Ici, le maître de Jacques se leva, le prit à la boutonnière et lui dit gravement: „Descendez.“

LE MAÎTRE: Jacques, vous êtes un insolent: vous abusez de ma bonté. Si j’ai fait la sottise de vous tirer de votre place, je saurai bien vous y remettre. Jacques, prenez votre bouteille et votre coquemar, et descendez là-bas. JACQUES: Cela vous plaît à dire, Monsieur; je me trouve bien ici, et je ne descendrai pas là-bas. LE MAÎTRE: Je te dis que tu descendras. JACQUES: Je suis sûr que vous ne dites pas vrai. Comment, Monsieur, après m’avoir accoutumé pendant dix ans à vivre de pair à compagnon... LE MAÎTRE: Il me plaît que cela cesse.

Jacques lui répondit froidement: „Je ne descends pas.“ Le maître le secoua fortement, lui dit: „Descendez, maroufle! obéissez-moi.“ Jacques lui répliqua froidement encore: „Maroufle, tant qu’il vous plaira; mais le maroufle ne descendra pas. Tenez, monsieur, ce que j’ai à la tête, comme on dit, je ne l’ai pas au talon. Vous vous échauffez inutilement, Jacques restera où il est, et ne descendra pas.“

Denis Diderot: Jacques Le Fataliste, 1778

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Die Serie Herr und Knecht ist eine Kombination aus Bildern und Texten. Die Zeichnungen von Marc Bauer ergänzt mit einer Auswahl von literarischen und philosophischen Texten, zusammengestellt von der in Zürich lebenden Philosophin Christine Abbt, ergeben ein komplexes Verweissystem. Das Verhältnis von Herr und Knecht wird hierbei nicht nur als eine Beziehung zwischen Oben und Unten sondern als gesellschaftlich wirksames Wechselverhältnis beschrieben. Im Herbst 2010 war die Serie Herr und Knecht anlässlich einer Einzelausstellung von Marc Bauer im Kunstmuseum St. Gallen zu sehen und nun erstmals in gedruckter Form in der aktuellen Ausgabe von Respektive.

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Titel der Zeichnungen

Lampedusa I, 2010 Bleistift auf Papier, 71 x 142 cm Grand Hotel I (Heiligendamm), 2010 Bleistift auf Papier, 71 x 142 cm Heligendamm, 2010 Bleistift auf Papier, 71 x 142 cm Grand Hotel II (Heiligendamm), 2010 Bleistift auf Papier, 71 x 142 cm Gibraltar, 2010 Bleistift auf Papier, 71 x 142 cm Lampedusa II, 2010 Bleistift auf Papier, 71 x 142 cm Cave, 2010 Bleistift, Farbstift und schwarze Lithografiekreide auf Papier, 32 x 45 cm

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Die Gewalt der Kritik ist die Kritik der Gewalt Text Lina Brion, Berlin

Emanzipation oder Repression: Das Verh채ltnis von Gewalt zu Subjektivierung, Recht und Ordnung. Ein Essay zur Gewaltkritik bei Walter Benjamin und Judith Butler.

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Butler / Benjamin

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n der »Einbahnstrasse« schrieb Walter Benjamin: »Nur wer vernichten kann, kann kritisieren«. Kritik als Kampf: Sie muss radikal aufs Ganze zielen, auf den Umsturz des Gegebenen, auf die Ent-Setzung des Gesetzten – die Gewalt der Kritik ist innig an die Kritik von Gewalt geknüpft. Diese besondere Konstellation von Kritik mit zwei einander entgegen gesetzten Typen von Gewalt illustriert Benjamin deutlich in seinem Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt« von 1921. Darin plädiert er für den revolutionären Umsturz mit dem Begriff einer »reinen, göttlichen Gewalt«, die sich als Vollzug einer Kritik herausstellt, welche wiederum auf die Gewalt des Bestehenden gerichtet ist. Diese Gewalt ist Repression und Zwang, jene ist emanzipatorische Gegen-Gewalt. Benjamins Kritik beabsichtigt eine Analyse des Verhältnisses von Gewalt zu Recht und Gerechtigkeit, um eine praktische Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Rechtsordnung zu demonstrieren und sich schliesslich für eine Ausserkraftsetzung dieser Rechtsordnung einzusetzen. Benjamins Gewaltkritik ist eine Kritik des Rechts. Judith Butler hat sich unter dem Titel »Kritik, Zwang und das heilige Leben in Walter Benjamins ‚Zur Kritik der Gewalt’« mit dessen Aufsatz auseinandergesetzt. Sie liest die von Benjamin kritisierte Staats- und Rechtsgewalt als eine »legale Gewalt«, die in der Aufrechterhaltung ihrer eigenen Legitimität und Durchsetzbarkeit sowie in der Verpflichtung auf gesetzeskonformes Verhalten und rechtliche Verantwortlichkeit wirksam ist. Butler problematisiert die subjektivierende Wirkung der staatlichen Rechtsordnung: Diese erzeugt

Rechtssubjekte, die über einen bindenden Rechtsstatus definiert werden und deren Anerkennung also an ihre rechtliche Verantwortlichkeit gebunden ist. In ihrer 2002 gehaltenen Adorno-Vorlesung an der Universität Frankfurt, die in dem Band »Kritik der ethischen Gewalt« zusammengefasst ist, erörtert Butler die Probleme der Anerkennung und der Verantwortlichkeit als Probleme normativer und ethischer Gewalt. Butlers Gewaltkritik ist eine Kritik des Subjekts.

Es geht der Kritik nicht um eine Definition von Gewalt, sondern vielmehr um eine Präzision und Verschärfung der Problemstellung, die sich ergibt, wenn von Gewalt die Rede ist. Unabhängig von ihren unterschiedlichen historischen Entstehungskontexten zeigen Benjamins und Butlers Arbeiten eine besondere Konstellation der theoretischen Reflexion mit ihrem reflektierten Gegenstand an: Gewalt in der Kritik. Es geht der Kritik nicht um eine Definition als Antwort auf die Frage, was Gewalt ist, sondern vielmehr um eine Präzision und Verschärfung der Problemstellung, die sich ergibt, wenn von Gewalt die Rede ist. – Wie fragt man nach Gewalt? Wie nähert man sich einem Gegenstand, der sich dem nach Einsicht strebenden Zugriff entzieht, weil er mit dem

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Zugreifen selbst schon auf merkwürdige Weise verknüpft scheint? Wie lässt sich das Bedürfnis verstehen, das solch eine Frage überhaupt stellt? In welcher Weise stellt sich diesem Bedürfnis der Gegenstand als ein Problem dar und was drückt die Art der Problematisierung über das Bedürfnis selbst aus? – Eine Kritik der Gewalt verweist sowohl auf eine bestimmte Vorstellung von Gewalt als auch auf eine bestimmte Vorstellung von der eigenen Vorgehensweise als einer kritischen.

Beiden geht es darum, das Problem der Gewalt zu betrachten als immer schon eingebettet in ein soziales und normatives Gefüge, als ein Problem von Repression und Emanzipation. Zeitdiagnose und Begriffsanalyse gehen in der Kritik Hand in Hand, da sie die kritisierten Phänomene auf die Wissensformen und Ordnungssysteme zurückverfolgen, deren Ausdruck sie sind. Butlers und Benjamins Gewaltkritiken arbeiten beide an einem ähnlichen Anliegen: Das Problem der Gewalt zu präzisieren und differenziert zu betrachten als immer schon eingebettet in ein soziales und normatives Gefüge, ein Gefüge von Macht, Herrschaft und Recht, als ein Problem von Repression und Emanzipation. Wie Walter Benjamin in den einleitenden Sätzen seines Aufsatzes noch recht vage formuliert, handelt es sich dann um Gewalt, wenn »eine

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wie immer wirksame Ursache in sittliche Verhältnisse eingreift«. Weiter führt er an, dass die Sphäre der sittlichen Verhältnisse eben durch das Recht, als dasjenige, was diese regelt und ordnet, und durch die Gerechtigkeit, als dasjenige, woran das Recht sich seinem eigenen Selbstverständnis nach orientiert, bestimmt wird. Axel Honneth kehrt in seiner Rezeption das Spezifische der von Benjamin kritisierten Gewalt heraus: Demnach handelt es sich um eine Gewalt, die deshalb sittliche Veränderungen in einer Gesellschaft zu erzwingen vermag, weil sie selbst gesellschaftlich mit hinreichend sittlicher Geltungskraft ausgestattet ist. Eine solche zwingende Macht findet Benjamin in der positiven Rechtsordnung als dem gegenwärtigen europäischen Rechtssystem vor. Der Rechtspositivismus zeichnet sich laut Benjamin dadurch aus, dass er unabhängig von Einzelfällen ihrer Anwendung zwischen sanktionierter rechtmässiger und nichtsanktionierter unrechtmässiger Gewalt unterscheidet, also über die Frage nach der historisch gewordenen Anerkanntheit von Gewalt entscheidet. Benjamin fragt sich nun, welches Licht das auf den Wert der Rechtssphäre wirft, die diesen Massstab für die Unterscheidung der Rechtmässigkeit anwendet. Denn die rechtliche Unterscheidung zwischen sanktionierter und nicht-sanktionierter Gewalt wird zur Entscheidung darüber, was gesellschaftlich überhaupt als Gewalt gilt und was nicht. Denjenigen Gewaltmechanismen, die eine Sanktionierung erfahren, wird Gesetzeskraft erteilt und damit wird ihr gewaltsamer Charakter unkenntlich gemacht. Nur nichtsanktionierte Gewalt entspricht dem, was im öffentlichen Bewusstsein mit dem Gewalt begriff belegt wird und sich als der Rechts-


sphäre entgegengesetzt etabliert. Der eigene Gewaltcharakter und -ursprung des Rechts entschwindet dabei der Aufmerksamkeit, obwohl eben jene Unterscheidungsgewalt schon eine Anwendungsform solch sanktionierter Gewalt darstellt. Jede Handlungsinstanz, die verändernd »in sittliche Verhältnisse eingreift« – in Benjamins Beispielen sind das die Kriegsgewalt, das Militär, die Polizei, aber auch der Arbeitsstreik –, bezieht sich implizit auf bestehende normative Setzungen, auf Gesetze. Tut sie das nicht, führt sie neues Recht ein. In diesem Sinne ist, so Benjamin, jede Gewalt prinzipiell entweder rechtsetzend oder rechtserhaltend. Die Rechtserhaltung ist dabei im Grunde die permanente Bestätigung und Reproduktion der Rechtsetzung. Auch die Modifikation, die Reform eines Rechtes bestätigt die Rechtsordnung insgesamt als Grundlage der Modifikation und erhält sie darüber aufrecht. Da auch jede Gewalthandlung, die von der Rechtsordnung nicht erfasst ist, das Potential der Rechtsetzung innehat, bedarf das Recht zu seiner Institutionalisierung und Reproduktion einer Monopolisierung gegenüber anderen gesellschaftlichen Akteuren. Keine andere Instanz als das Recht selbst darf auch Recht setzen, um nicht die Wirksamkeit des Rechts einzubüssen. Um die Selbstlegitimation zu wahren, schränkt das Recht also die Handlungsfreiheit der Rechtssubjekte ein: Es erhält sich selbst unter Androhung von strafender Gewalt durch die Unterordnung der Subjekte als Rechtssubjekte unter das Gesetz. Das Recht nimmt also die Monopolstellung ein, nicht nur im Sinne der Machtinstanz, die über Rechtszwecke und Sanktioniertheit von Gewalt zu entscheiden vermag, sondern auch

durch die Möglichkeit, in einem von ihm selbst festgelegten Notfall – dem »Ausnahmezustand« – auch entgegen der eigenen Prinzipien jedwede Form von Gewalt anwenden zu können, um seine eigene Machtordnung aufrechtzuerhalten. Das positive Recht hat mit der Tradition des Naturrechts die Überzeugung gemeinsam, dass gerechte Zwecke durch rechtmässige Mittel erreicht, rechtmässige Mittel an gerechte Zwecke verwendet werden können. Benjamin zufolge liegen aber rechtmässige Mittel und gerechte Zwecke miteinander in »unversöhnlichem Widerstreit«. Das Gesetz ist rechtmässig, eine Handlung mag rechtmässig sein, aber auch ihr Ergebnis kann nicht anders als nach seiner Rechtmässigkeit beurteilt werden. Die ZweckMittel-Rationalität des Rechtmässigkeitsprinzips sowie der setzende, monopolisierende und verallgemeinernde Charakter der Rechtsordnung selbst sind die Faktoren, die nach Benjamin verwirklichter Gerechtigkeit zuwiderlaufen. Gerechte Zwecke erheben Anspruch auf Allgemeingültigkeit, ja, aber Verallgemeinerung ist nicht gerecht. Jacques Derrida, der die Auseinandersetzung mit Benjamins Gewaltkritik zum Anlass nimmt, den Gerechtigkeitsanspruch des Dekonstruktivismus zu erörtern, drückt es in »Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität’« folgendermassen aus: »Das Recht ist das Element der Berechnung; es ist nur (ge)recht, dass es ein Recht gibt, die Gerechtigkeit indes ist unberechenbar: sie erfordert, dass man mit dem Unberechenbaren rechnet.« Auch Benjamin möchte verdeutlichen, dass Recht und Gerechtigkeit etwas fundamental von einander Verschiedenes sind und die gängige Verknüpfung, wonach das Recht stets im Dienste der Gerechtigkeit steht, ein Trug-

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schluss ist. Ebenso geht auch die Annahme fehl, dass die Rechtsordnung mittels Einhegung dessen, was sie als Gewalt kennzeichnet, die Verringerung gewaltsamer Verhältnisse ermöglicht und garantiert. Der Ordnung des Staatsrechts geht es laut Benjamin letztlich um die Setzung und Aufrechterhaltung ihrer Macht und damit um einen Zweck, der innig an Gewalt gebunden eingesetzt wird. Axel Honneth liest Benjamins Gewaltkritik als eine Kritik der Zweck-Mittel-Rationalität, die letztlich nur den egoistischen Individualinteressen dienlich ist. Folglich ist es innerhalb der Rechtsordnung bestenfalls bloss möglich, eine Ökonomie der Ausgleichsgerechtigkeit einzurichten. In einer

Die Bestimmung der biologischen Funktionen reicht nicht aus zum Menschsein. Mensch ist erst, wer auch als Mensch anerkannt, als Mensch angesprochen und verteidigt wird. solchen aber wird das grundlegende Gewaltverhältnis der bestehenden Ordnung laufend reproduziert. Judith Butler setzt mit einer anderen Perspektive ein. Sie charakterisiert das Subjekt als ein von jeher dem gewaltsamen gesellschaftlichen Zusammenhang Unterworfenes. Dieses ist durch sein Handeln innerhalb gesellschaftlicher normativer Rahmenvorgaben immer wieder dazu genötigt, sich selbst und anderen Gewalt zuzufügen.

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Wie ist das zu verstehen? – Subjektivierung ist durch eine Dialektik von Konstitution und Destruktion, Ermöglichung und Begrenzung, Handlungsfähigkeit und Zwang bestimmt. Die Weisen, in denen wir uns selbst als Mensch oder als ein Ich verstehen, uns anderen gegenüber verständlich machen und also auch andere als Gegenüber anerkennen, sind durch bestimmte Formen der Rationalität bestimmt. Mit Rekurs auf Michel Foucault versteht Butler diese herrschende Rationalität als ein »Wahrheitsregime«, eine »geschichtlich instituierte Ordnung der Ontologie«, welche die Mittel organisiert, die Anerkennung und somit die Entstehungsbedingungen des Ichs, d.h. die Bedingungen des Subjektwerdens, überhaupt erst ermöglichen. »Wer gilt als Mensch? Wessen Leben gilt als Leben?«, so lauten die zentralen Fragen in Butlers Aufsatzsammlung »Gefährdetes Leben«. Die Bestimmung der biologischen Funktionen reicht nicht aus zum Menschsein; Mensch ist erst, wer auch als Mensch anerkannt, als Mensch angesprochen und verteidigt wird. Laut Butler führt dies zu einer prekären Lage des Subjekts, zu einem kollektiven einander Ausgesetztsein in unserem Bedürfnis nach Anerkennung, zu einer fundamentalen sozialen Verwundbarkeit. Damit verweist sie auch darauf, dass die Frage der Anerkennung immer auch eine Frage von Macht ist, die das Wie und Was der Anerkennung bestimmt. Wir anerkennen den Anderen in einer gewissen Bestimmtheit, denn die Bewegung der Anerkennung setzt immer eine Unterwerfung unter eine Anerkennungsnorm voraus. Diese Normen sind uns eingeschrieben, wir setzen sie permanent neu ein. So steckt der gewaltsame Charakter der normativen Setzung strukturell schon in jedem sprachlichen Ausdruck, in jedem Akt


der Ansprache oder der Narration. Es handelt sich also um eine entpersonalisierte, diskursive Gewalt, die man selbst jedes Mal einsetzt, wenn man in seinem Sprechen den »Logos teilt, durch den man lebt.« Dabei bleibt offen, welche anderen Wege ausserhalb der gegebenen Rationalität möglich gewesen wären oder noch möglich sind. Diese normative Gewalt erweist sich laut Butler auch als ein Problem von Verantwortlichkeit und Rechenschaftsvermögen des Subjekts, als ein Problem ethischer Gewalt. Denn: Die Forderung nach beständiger Demonstration der Selbstidentität und der vollständigen Kohärenz der Selbstaussage – als Grundlage von Souveränität und Verantwortungsfähigkeit – wirkt eben genau dann als ethische Gewalt, wenn sie die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen des Subjekts und ihre eigene Gewaltsamkeit in Form der normativen Zurichtung nicht reflektiert. Es handelt sich um ein höchst ambivalentes Verhältnis: Erst in einem Rahmen sozialer Normativität erscheint der andere als ein Anderer, zu dem man sich in irgendein Verhältnis setzen muss. Andererseits ist diese Bezüglichkeit zum Anderen in einem immer schon gegebenen normativen Rahmen der Grund dafür, dass wir uns stets selbst undurchschaubar bleiben. Wir sind uns selbst enteignet und gleichzeitig sind wir nicht ohne den Anderen. Das Ich kann seine Geschichte nur nach erkennbaren Normen der Lebenserzählung, die über das gesellschaftliche Umfeld organisiert sind, erzählen, und aus diesem Grund, so Butler, seine eigene Identität niemals vollständig einholen. Auf die Spitze getrieben kommt so das eigene Verlangen nach einer narrativen Darstellung, nach einem regelrechten Bekenntnis, dem Zwang

gleich, sich selbst Gewalt anzutun: In dem gewaltsamen Versuch, die eigene Souveränität und Einheit zu erlangen. Butler schliesst daraus, dass das Scheitern der Selbstidentität wesentlich ist für das, was wir sind, und deshalb zur eigentlichen Grundlage für Anerkennung realisiert werden sollte. Erst ewiger Aufschub der Identifikation ermöglicht eine gewaltfreie Ethik.

Da Kritik sich einerseits gegen das Bestehende richtet und andererseits ihre Ressourcen aus der Rationalität des Bestehenden schöpft, muss sie auch ihre normativen Grundlagen reflektieren. Kritik heisst immer auch Gradwanderung: Da sie sich einerseits gegen das Bestehende oder zumindest gegen die Unumstösslichkeit des Bestehenden richtet und andererseits darauf angewiesen ist, ihre eigenen Ressourcen aus der Rationalität des Bestehenden zu schöpfen, muss die Kritik immer wieder auch ihre eigenen normativen Grundlagen reflektieren. Hier zeichnet sich ein grundlegender Unterschied zwischen Benjamins und Butlers Positionen als Kritiker ab: Bei Butler sind die Anerkennungsnormen und das Regime der herrschenden Rationalitäten zwar wandelbar, als Ganzes aber für uns als soziale Subjekte und damit für unsere soziale Wirklichkeit unhintergehbar konstitutiv. Somit besteht für ihre Konzeption die Gefahr, in der Gleichsetzung von Konstitutionsmecha-

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nismen des Selbst und der Herrschaft eine Ontologisierung der Unterwerfung festzuschreiben. Damit verfiele sie allerdings einem Essentialismus, der ihrer Intention zuwiderlaufen und ihrer Kritik die Motivation entwenden würde. Butler scheint in diesem Paradox gefangen zu bleiben: Einerseits insistiert sie auf der Geschichtlichkeit der Ordnungsweisen unserer Wirklichkeit und plädiert deshalb für einen »Aufstand auf der Ebene der Ontologie«. Andererseits beschränken diese Ontologie gewordenen Ordnungsweisen das Verständnis dessen, was möglich ist, und begrenzen auf diese Weise nicht nur die Möglichkeiten zur Einsicht in deren Zwänge sondern auch die Möglichkeit des Aufstandes. Gegen die eigenen Begrenzungen anzurennen heisst bei Butler, diese Grenzen beständig zu verschieben, mit der Frage nach ihren Konstitutionsbedingungen ihre Transformationsfähigkeit auszureizen – aber nicht ihre radikale Ausserkraftsetzung. In Butlers Konzeption gibt es keine Möglichkeit der revolutionären Gegen-Gewalt. Benjamin wiederum macht gegenüber der Wirklichkeit den Bezugspunkt einer (noch) gestaltlosen Wahrheit geltend, die im Bestehenden verstellt, betrogen, korrumpiert ist. Zum Ende seines Aufsatzes stellt er fest: »Die Kritik der Gewalt ist die Philosophie ihrer Geschichte«. Das heisst: Benjamins Kritik beschreibt eine Geschichtlichkeit der Gewalt des Rechts, die unter die Idee des Ausgangs ihrer Geschichte gestellt wird. Das Recht steht für den Bewusstseinszustand ein, durch den das gegenwärtige Zeitalter geprägt ist. Revolutionäre Gewalt hat deshalb jenseits dessen stattzufinden, was alle Rechtstheorie ins Auge fasst. Jegliche Kritik, die nicht auf die Transzendierbarkeit des Ganzen zielt, auf die Ausserkraftsetzung der

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Machtinstanzen, sprich auf die Ent-Setzung des Gesetzten, setzt die Geschichte der Gewalt und damit auch die eigene Ohnmacht fort. Ebendies ist das transgressive Moment der Kritik: Den Wahrheitsgehalt aus dem analysierten Gegenstand als sein Ideal zu entwickeln und ihm zugleich als kritisches Potential für das noch zu Verwirklichende entgegen zu halten. Oder, wie Benjamin schon 1915 in seinem Essay »Das Leben der Studenten« formulierte: »Das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend zu befreien. Dem allein dient die Kritik.« Trotz diesen unterschiedlichen Perspektiven Benjamins und Butlers ergibt sich in ihrer Konstellation ein fruchtbarer Ansatz für die Fortführung von Gewaltkritik: Liest man Butler mit Benjamin und Benjamin mit Butler, so wird sowohl begreiflich, wie das staatliche Recht sozial wirksam ist als normative und ethische Gewalt, als auch, wie eng Subjektkonstitution, Anerkennung und Handlungsmöglichkeiten in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung mit Gesetz, Recht und Staat verstrickt sind. Hinter beiden kritischen Auseinandersetzungen mit Gewalt steckt eine grundsätzliche gemeinsame Überzeugung: Ohne die Frage nach dem Menschen, nach dem Menschlichen und nach Gerechtigkeit bleibt die theoretische Thematisierung von Gewalt bedeutungslos. Und ohne eine Reflexion darauf, auf welche Weise sich solch eine Frage überhaupt stellen lässt, läuft die Frage nach dem Menschen immer Gefahr, selbst repressiv gewaltsam zu verfahren. Ausgehend von der Annahme ihrer Veränderbarkeit lenken Butler und Benjamin den Blick auf diejenigen Strukturen der sozialen Wirklichkeit, die das Unmenschliche oder Unge-


rechte einsetzen und perpetuieren. Ihre Kritik widmet sich der Gewalt nicht einfach als Problem, sondern fragt nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür, dass und wie Gewalt problematisiert wird – beispielsweise in der Auffassung eines vermeintlichen Dualismus von gewaltsamen Verhältnissen auf der einen und geordneten Regel- und Rechtssystemen auf der anderen Seite – und entdeckt dabei, dass eben diese Voraussetzungen selbst schon gewaltsamen Charakters sind, indem sie eine Ordnung der Wahrheit und der Verpflichtungen aufstellen, deren Kontingenz sie negieren. Sowohl Butler als auch Benjamin verstehen die Gewaltkritik als emanzipatorisch motivierten Angriff auf vermeintliche Selbstverständlichkeiten bzw. auf Mechanismen, die den Eindruck von der Unhintergehbarkeit bestimmter sozialer Verhältnisse wie Selbstverhältnisse erwecken. Die Kritik entlarvt die selbstverständlich gewordenen Ordnungssysteme als Systeme von Herrschaft. Insofern entziffern beide – Butler in Bezug auf das Subjekt, Benjamin hinsichtlich des Rechts – ihre kritisierten Gegenstände als Ideologien: Sie zeigen den ideologischen Charakter der Ideale vom Subjekt als souveränes Individuum und Identitätskategorie einerseits und von dem staatlichen Recht als friedliche Institution für den Erhalt von Ordnung und Gerechtigkeit andererseits auf. Butler enthüllt eine gewaltförmige Sozialität, die das handlungsfähige Subjekt um den Preis seiner Unterwerfung unter die Technologien der Macht einsetzt und bildet; Benjamin demaskiert eine inzwischen in jeden Winkel des gesellschaftlichen Lebens eingedrungene Rechtsgewalt, die letztlich nur dem Erhalt der etablierten Herrschaftsordnung dient.

Beide Ausführungen zeigen: Nur im Vollzug der Kritik lässt sich Gewalt angemessen theoretisch reflektieren. Und: Wenn Kritik stets auf die Frage nach dem Verhältnis von Wissen, Macht und Lebensbedingungen gerichtet ist, wenn sie nach den Begrenzungen und Ausschlussmechanismen der Bewertungssysteme und Ordnungsweisen der gesellschaftlichen Praktiken und Institutionen fragt, die sich so darstellen, als gäbe es zu ihnen keine möglichen Alternativen – dann heisst das, dass

Revolutionäre Gewalt hat jenseits dessen stattzufinden, was alle Rechtstheorie ins Auge fasst. Jegliche Kritik, die nicht auf die Transzendierbarkeit des Ganzen zielt, setzt die Geschichte der Gewalt und damit die eigene Ohnmacht fort.

Kritik im Grunde immer schon auf Gewalt gerichtet ist. Darüber hinaus muss sich die Kritik in der konsequenten Infragestellung vermeintlicher Selbstverständnisse ein gewisses Mass an Zerstörungskraft zutrauen: Die Gewalt der Kritik ist die Kritik der Gewalt. Letztlich demonstriert die Kritik ihre eigene Dringlichkeit und Aktualität: als eine (nicht nur) theoretische Praxis der Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit, die eben nicht so ist, wie sie ist, und nicht so sein muss und soll, wie sie erscheint.

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Vision / Mission

Vision und Mission – Der Ausländer

hat sich gültige Reisepapiere zu verschaffen und die Schweiz umgehend zu verlassen Interview Nicole Peter, Zürich ~ Zeichnungen Mariska Keller, Zürich

Ausschaffungsgefängnis Kloten. Juni bis November 2010. G. F.: 43 Jahre alt. 14 Monate Ausschaffungshaft. Kämpferisch. Afghanistan. Männlich. Entlassen. Zivildienstler: 26 Jahre alt. 6 Monate Schweiz. Erstaunt. U.K.: 22 Jahre alt. 22 Monate Ausschaffungshaft. Verzweifelt. Liberia. Männlich. Entlassen nach Suizidversuch.

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genden Probleme unserer Gesellschaft ballen. Hier übergebe man ein grosses Problem nicht qualifizierten Leuten, so dass sich alles dort sammle. Das sei ein Drecksjob, den jemand für eine Gesellschaft erledige. Für ihn sei es daher auch auf der Beziehungsebene spannend mit unterschiedlichen Leuten, zusammengewürfelt aus allen möglichen Milieus, zusammenzuarbeiten. Beziehungen entstünden da, auch Gewaltbeziehungen. Vierzehn Monate lebte ich insgesamt in Ausschaffungshaft, zehn davon in Zürich Kloten. Ich war dort Nummer 411, 406, 312, 304 und 207, das waren die Zellen, in denen ich untergebracht war. Es gab dort sehr unterschiedliche Leute, afrikanische, arabische. Menschen aus verschiedenen Ländern. Du lebst dort eng zusammen, du musst miteinander reden, essen. Es gibt keine andere Möglichkeit, und du brauchst auch jemanden, mit dem du reden Wir glauben, dass der Mensch auf den kannst. So hatte jeder dort seine Menschen angewiesen ist – gerade Kontakte. im Gefängnis. Diese Überzeugung wollen wir Im Ausschaf fungsgefängnis untereinander und gegenüber den uns anverZürich Kloten waren die Zellentrauten im Flughafengefängnis leben.1 türen jeweils von morgens 8.00 Uhr bis 16. 30 Uhr abends offen. In jeder Zelle gab es einen Plan, geschrieben in Englisch und nicht vor. Nicht mal was Verdrängtes sei es. Deutsch, wo drauf stand, wann man duschen Mit solch einem Ort wolle man schlicht nichts darf, wann frühstücken, mittagessen, abendeszu tun haben, man delegiere das – so halb mit sen, alles. Besuch im Kraftraum, Hofgang, Teschlechtem Gewissen. Leute fänden sich in lefonnummern, Besuchstage. Und Ausnahmen: unserer Gesellschaft, die das dann erledigen kein Besuchstag war mittwochs und sonntags. Am Vorabend wurde ich jeweils informiert, würden. Auf Seiten der Aufseher zeige sich da dann auch die soziale Frage: das Ausschaf- wer am folgenden Tag zu Besuch kommt, mit fungsgefängnis sei so etwas wie ein Abflussrohr Name und ob am Vormittag oder am Nachmitder Gesellschaft. Es würden sich die drän- tag. Sobald die Zellentüren am Morgen geöffIch schrieb viel, über mein Leben, über Beamte, darüber, was dort geschah. Weil ich dort genug Zeit hatte, so alleine in der Zelle, achtzehn, neunzehn lange Stunden, ohne dass jemand gekommen wäre. Mit Schreiben konnte ich mich beschäftigen, monatelang. Ein Ort im Abseits. Ein Gefängnis an sich mache, wenn man hinschaue, verschämte, verschwiegene Sachen sichtbar. Aussergewöhnlich sei demgegenüber das Ausschaffungsgefängnis, extrem unsichtbar sei es, draussen wisse man kaum etwas über diesen Ort, es sei ein Ort, um den wir uns nicht kümmern würden. Ebenso unsichtbar seien auch die Geschichten, die Leute, die dorthin verbracht werden. Die kämen so

Unsere Vision

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Mittwochs waren die Zellentüren den ganzen net wurden, gingen wir raus, sofort raus in den Korridor. Es gab dort so ein Spielzimmer, wo Tag geschlossen. Das heisst, von Dienstag wir gespielt haben, Tischfussball, Tischtennis 16.30 Uhr bis Donnerstag 8.00 Uhr blieben und miteinander geredet, bis zum Mittagessen. wir eingesperrt in unsere Zellen. Den ganzen Jeden Tag pünktlich um 11.00 Uhr kam dann das Mittagessen. Gegessen haben wir alle in unsern Zellen, alleine oder zu zweit. Danach wieder geredet, gespielt, bis wir um 16.30 Uhr wieder eingesperrt wurden in unsere Zellen. Um 17.00 Uhr wurden Abendessen Wir sind nicht gleichgültig – wir sind und Frühstück für den folgenden Morengagiert, in unserer Zusammenarbeit, gen verteilt. in unserer Haltung und in unserem Als Zivildienstler habe er im Betrieb Stil. Wir sind ein Team. eine Zwischenposition inne. Eine gewisse Unabhängigkeit, weil er nicht eigentlich angestellt, trotzdem aber Teil der Institution sei. Zivildienstler hiessen dort drinnen Betreuer. Früher habe es Mittwoch eingesperrt. Mehr als vierundzwannoch Sozialarbeiter gehabt. In seiner Arbeit sei zig Stunden, achtundvierzig Stunden oder wie er frei. Keine genaue Beschreibung der Aufga- viele Stunden das auch immer waren. Das war benbereiche. Für Fachpersonen, Psychologen immer so in Kloten im Ausschaffungsgefängnis. und so weiter sei die Stelle jedenfalls zu wenig Warum? Es gibt keine Regeln dort. Die machen attraktiv. Therapiestunden beispielsweise liessen mit den Häftlingen, was sie wollen. Es hing von sich nicht einrichten. ›Sicherheit‹ sei das den Launen der Aufseher an der Réception ab, Argument. Überhaupt lege die Institution den ob beispielsweise Freunde, die mich besuchten, Betreuern etliche Hindernisse in den Weg. Als Essen und Zigaretten bringen durften. Mal Betreuer sei man eben eher auf der Seite der sagten sie ja, mal sagten sie nein, je nach Lust Insassen. Man gehe dort mit Idealismus gegen und Laune. Bei mir war das drei, viermal so. die Misere der Insassen an die Arbeit. Aufseher Ich weiss nicht, ob das ein Gesetz ist, oder hätten diesen nicht. Die wollen bloss ihren Job Druck, oder zum Stress machen. Jedenfalls machen, der aus Sicherheitsaufgaben besteht. hassen alle diesen einen Tag, diesen Mittwoch. Ich war die ganze Zeit alleine in der Zelle, mir Morgenrapport, Auskunft über Eintritte, Ausschaffungen, Austritte. Zellentüren öffnen um passte das. Meistens sind es jedoch zwei Per8.00 und schliessen um 16.30 Uhr. Abwartsjob. sonen pro Zelle. Mittwochs war es aber schwieEssen austeilen. Viel Leerlauf, viel ›Blick‹ lesen rig, ich schrieb, schaute TV. Man konnte dort im Kaffeezimmer. Eine Gemeinschaft, in der für zwei Franken pro Tag einen Computer und man versuche, gut aneinander vorbei, gut für einen Franken einen Fernseher mieten. So konnte ich mich beschäftigt. Briefe schrieben, zuranke zu kommen.

Engagiert

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aus dem Fenster schauen, die Flugzeuge beobachten. – Aber ich meine, das ist ein Horror. Was soll ich dazu sagen! So lange eingesperrt ohne Grund. Die sagen dem illegaler Aufenthalt. Menschen, die Probleme haben in ihren Heimatländern kommen hierher, beantragen Asyl und das Migrationsamt bringt sie direkt ins Gefängnis. Das ist unerhört! Ist es normalerweise nicht so, dass wenn Menschen in der Schweiz Asyl beantragen, sie bis zum Entscheid in ein Heim gebracht werden, wo sie sich frei bewegen können, spazieren, etwas tun? Während meiner Ausschaffungshaft musste ich aber oft erleben, dass viele Leute, die neu aus irgendwelchen Ländern gekommen sind, aufgegriffen wurden. Am Bahnhof, am Flughafen. Zwar haben die noch ein Asylgesuch eingereicht, wurden aber meist direkt in Ausschaffungshaft gebracht. Das ist ungerecht. Ich weiss nicht, ist das gesetzlich? Oder hat sich das Gesetz verändert? Gegenüber den Themen Migration und Politik würden sich die Aufseher teilnahmslos geben. Der SVP-Anteil und entsprechende Ansichten seien hoch. Als Verbrecher sehen Aufseher die Insassen zwar nicht gerade. Es gebe aber doch die Ansicht, dass die schon wüssten, warum sie dort drinnen stecken. Nicht grad Verbrecher. Als Delinquente würden sie aber doch betrachtet. Dies auch aus völligem Unwissen darüber, dass das juristisch gar nicht der Fall sei, dass dort gar keiner kriminell sei. Viele der Aufseher würden das nicht reflektieren, es gehe ihnen um einen Alltag. Die Aufseher seien verletzt, weil ihre Insassen sich respektlos verhielten, die Aufseher, erkennen die Zwangsbeziehung nicht. Dass die Insassen gar keine Lust hätten, sich nett und respektvoll zu verhalten. Diesen wiederum gehe es darum, möglichst viel rauszuholen.

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Demgegenüber hätten die Betreuer mehr Empathie. Im gewöhnlichen Strafvollzug sei es einfach, weil die Verurteilten wüssten, warum sie dort sind und für wie lange. Die Verhältnisse lägen klar. In der Ausschaffung hingegen sei nichts klar, die Insassen wissen nichts. Es herrsche eine grosse Unsicherheit, sie verstünden nicht, weshalb sie inhaftiert seien, wo sie doch nichts verbrochen hätten. An solche Sachen kommst du als Betreuer näher ran. Er habe sich anfangs gefragt, was für Leute dort arbeiten würden. Alles Sadisten? Es zeige sich dort jedoch von Schweizer Seite gewissermassen die soziale Frage: Langzeitarbeitslose, alleinerziehende Mütter, Pleite Gegangene, Umsteiger, keine Jobalternativen. Machst halt was, wofür man keine Qualifikationen braucht. Eine geregelte Arbeit halt, mit relativ gutem Lohn. Keine Anlehre, zuerst Learning by Doing. Nach einem halben Jahr dann eine zweijährige, berufsbegleitende Ausbildung. Ein Brotjob halt. Mittwochs schrien die Häftlinge oft zum Fenster raus, oder schlugen gegen die Türe, ich auch manchmal. Das muss man, sonst platzt einem der Schädel, so eingesperrt in einer kleinen Zelle, Wand, Wand, Gitter, für was, für nichts! Viele sind psychisch krank geworden, ich auch, konnte nicht mehr schlafen. Manches Mal sagte ich zu den Beamten, es sei dort schlimmer als in Guantánamo. Warum stecken sie Leute, die Asyl beantragen monatelang in Ausschaffungshaft, das ist ein Horror. Das bringt nichts, wenn sie dich nach achtzehn Monaten nicht ausschaffen können, lassen sie dich wieder auf freien Fuss und wieder bist du dann illegal. Das ist absurd. Psychologische Hilfe? Einen Arzt gab es zwar. Mal kam einer, weil ein Zellennachbar



Realität an allen Orten, wo es Regeln gebe. Zuerst habe er gedacht, die Regeln dort seien eindeutig. In der konkreten Situation gebe es jedoch Schlupflöcher. Das hänge dann von den jeweiligen Aufsehern ab, was sich wiederum auf die Insassen auswirke: Er erzählt wie er selbst, als er dorthin kam, von den Insassen zuerst ausgetestet wurde. Weil, ausser die Aufseher zu beobachten, hätten die nichts zu tun. Grenzen ausloten: Der eine Aufseher mache es so, der andere mache es andersrum. Das aber sei abhängig von der miesen Laune Wir geben nicht nur acht – wir achten des Aufsehers. Von aussen betrachtet, den Menschen, die uns Anvertrauten könne man dem Willkür sagen, von und uns gegenseitig. innen gesehen handle es sich bloss um schlechte Organisation. Aus Sicht der Insassen dagegen sei es ganz klar Willkür, Verschwörungstheorien enteinige Tage so weiter bis ich schliesslich explo- stünden da. Obwohl er bei den Aufsehern keidierte und forderte, er solle ihn zum Arzt nen gezielten Sadismus verzeichnen könne. bringen. Er meinte bloss, er sei der Chef, er Absurde Ansammlung von Leuten, von irgendwisse was er tue. Endlich am siebten Tag kam woher geflohen, erzwungene Konfliktgemeinder Mann doch in ärztliche Behandlung. Aller- schaft zwischen Wärtern und Insassen. Überhaupt waren die Beamten, diese Chefs, dings nur kurz, zehn Minuten oder so, dann kam er zurück mit Tabletten in der Hand. Die diese Mitarbeiter im Gefängnis unfreundlich, haben kein Interesse, das ist denen egal. Wenn hart, so rassistisch. Man merkte das. Ich weiss jemand stirbt, stirbt er, wenn jemand psychisch nicht, was die denken, was die Häftlinge verbrokrank ist, ist er halt krank. Ärzte gibt es dort, chen haben. Im Ausschaffungsgefängnis in Kloten waren jedenfalls höchstens zwei Prozent aber eigentlich für nichts! Der Tagesablauf sei durchstrukturiert dort, kriminell, höchstens. Alle andern sind Asylpolizeimässig, militärisch. Entscheide verliefen suchende aus Afrika, aus Algerien, aus Afghavon oben nach unten. Die Aufseher zuunterst. nistan, Pakistan. Niemand würde seine Heimat Trotzdem trügen die Aufseher viel Verantwor- verlassen, wenn er keine Probleme hätte in tung: bei Streit in der Abteilung, oder bei seiner Heimat. Aber hier werden diese grossen Neueintritten. Sie bräuchten soziales Gespür, Kriminellen achtzehn Monate lang in Ausschafwer mit wem zusammenpasst. In den oberen fungshaft gesteckt. Ich diskutierte und stritt oft Rängen würde das nicht so estimiert. Anderer- mit dem Personal, sagte, was wir brauchen, was seits sei das System offen für Willkür, halt eine fehlt, was wir nicht brauchen. Die liessen sich nicht mehr gegessen, nicht mehr geredet hatte. Ich machte einen Aufseher darauf aufmerksam, dass der Nachbar krank war, nicht mehr ass, nicht mehr sprach, nicht mehr duschte, dass er vielleicht eine Behandlung bräuchte. Der Aufseher hatte darauf nicht reagiert. Das ging

Menschlich

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nicht darauf ein, die meinten nur: Es muss so oder in den Briefen vom Migrationsamt, ich sein, Gesetz ist Gesetz. Ich kämpfte um meine erklärte es ihnen und schrieb für viele Leute vor Rechte. Die mochten das nicht, auch nicht, allem aus Afrika Briefe an die Botschaften und wenn jemand lesen, diskutieren konnte, sich mit so, vermittelte Kontakte zu ›augenauf‹ oder zu den Rechten auskannte. Während dieser Zeit einem Anwalt. Ich informierte mich auch hatte ich auch Kontakte zu ›augenauf‹2, ich te- immer genau, studierte Zeitungen, verfolgte lefonierte mit ›augenauf‹ und schrieb Briefe. Nachrichten, schaute die Sendung Arena und Die bemerkten auch, dass ich diesen Kontakt erzählte dann den andern, was es zu Auslänhatte. Ich merkte, dass die meine Briefe lesen, dern und zur Ausschaffung Neues gibt, klärte kontrollieren, wer mich besucht. Die wollten sie auf, was Ausschaffungshaft überhaupt ist. nicht, dass ich zu ›augenauf‹ Kontakt habe, Das war interessant für die andern. Die meisten ihnen Informationen darüber gebe, was im Ge- hatten ja gar keine Ahnung, weshalb sie im fängnis läuft. Die wollten das verstecken. Wenn Gefängnis sind. Viele wurden bei der Einreise beispielsweise irgendwelche Leute von draussen aufgegriffen und direkt in Ausschaffungshaft zu einer Führung durchs Gefängnis kamen, gebracht. Ich verstehe nicht, warum sie Leute, wurde denen gezeigt, wie schön wir es hier ha- die Asyl beantragen oder Sans-Papiers so lange ben, hier die Zellen, hier das Spielzimmern, die in Ausschaffungshaft stecken. Häftlinge aber wurden in die Zellen gesperrt. Weshalb? Die Direktorin wollte nicht, dass wir mit diesen Leuten sprechen. Nach zehn Monaten kam dann mal ein Zivildienstler. Er war der erste, der die Wir führen nicht nur nach Vorschrift – wir Häftlinge als Menschen und führen vorbildlich, unsere Mitarbeiterinnen nicht als Ausländer behandelMitarbeiter und die uns anvertrauten te. Er verteilte regelmässig Menschen, auf der Basis einer offenen und Zeitungen in die Zellen, zuverlässigen Kommunikation. brachte Bücher, setzte sich mit den Häftlingen zusammen um ihre Geschichten zu hören, sprach sogar englisch Viele können gar nicht ausgeschafft werden. und auch französisch. Alle mochten ihn. Ich diskutiert viel mit ihm, musste zuletzt aber mer- Zudem ist es den Sans-Papiers verboten zu arbeiten. Hast zwar einen Beruf, darfst aber ken, dass er doch nichts ausrichten kann. Weil ich nebst Englisch auch Deutsch lesen nicht arbeiten. Was sollen sie machen, wovon und schreiben kann, war ich immer viel mit den sollen diese leben? Die wollen, dass die Auslänandern Häftlingen zusammen. Sie fragten mich, der kriminell werden. Dabei ist es so einfach: was geschrieben steht in den Gerichtsakten erhalten die Ausländer einen Ausweis, mit dem

Vorbildlich

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und



sie arbeiten dürfen, arbeiten sie und bezahlen Steuern. Jetzt arbeiten viele illegal und bezahlen ihre Steuern nicht und auch die Arbeitgeber brauchen so nicht zu bezahlen. Das ist ein Chaos. Es scheint, als ob die Politiker, die Gesetzmacher, wollen, dass Ausländer kriminell werden. Manchmal verstehe ich das Schweizergesetz auch nicht. Die Beziehungen seien schwierig im Ausschaffungsgefängnis. Es gäbe dort sehr viel Bewegung, Ausschaffung, Botschafter, Haftrichter et cetera. Gefangenentransporte mache die Securitas. Den Weg zum Haftrichter besorge die SED. Da gebe es grauenhaftes Zeugs Beschimpfungen, rassistischer Umgang, unnötig hart. Dieser schlechte Umgang mit den Insassen nerve die Aufseher, und sei es auch nur darum, weil die Insassen dann aufgebracht seien. Auch die Kantonspolizei komme ins Ausschaffungsgefängnis. Dann nämlich, wenn jemand ausraste. Der Betreffende werde dann bestraft, in den Bunker eingesperrt. Die Polizei komme ausserdem, wenn jemand freiwillig in den Bunker wolle. Oder bei solchen, die Selbstmordabsichten hegen. Im Rapport heisse das dann »Reizabschirmung«. Einen Psychiater gebe es dort zwar auch, der müsse immer mal wieder schauen. Keine richtige Sitzungen, Behandlung heisse vor allem Medikamente. Wolle jemand sich das Leben nehmen, müsse er über Nacht in die Einzelzelle. Die Polizei filze den Betreffenden, ziehe ihm andere Kleider über. Ein Aufseher sitze dann vor der Tür und halte Wache. An drei Tagen in der Woche kämen Leute vom Roten Kreuz. Er halte dann Sitzwache vor dem Sitzungszimmer. Rechts- und Rückkehrhilfe hiesse das, eine Art Beratungsgespräche, um überhaupt mal die Lage zu

erklären. Die Gerichtsunterlagen seien alle in deutscher Sprache abgefasst. Abklären, was die einzelnen Insassen machen könnten, ob es sich überhaupt lohne, einen Anwalt einzuschalten. Sehr oft ginge es jedoch um Rückkehrhilfe für jene, die sagen, sie wollen das Land verlassen. Papiere organisieren, mit Angehörigen telefonieren. Kontakte habe er hergestellt zwischen den Insassen und dem Roten Kreuz. Das Rote Kreuz sei die einzige, noch richtig im Gefängnis drinnen verbliebene Organisation. Das sei für den Gefängnisbetrieb extrem wichtig. Weil, die Insassen sollten weg, das Ziel sei schon vorher klar. Es werde nicht geschaut, ob jemand bleiben könne, man wolle sie weg haben. Ausschaffungen bei Schengenfällen würden den grössten Teil ausmachen. Es gebe aber etliche, die nicht ausgeschafft werden könnten. Weil keine Papiere vorhanden seien, weil ein Land keine Papiere ausstellen wolle. Trotzdem behalte man sie monatelang drinnen. Gebe viel Geld aus. Lasse sie schliesslich doch raus, mit der Aufforderung das Land zu verlassen. Gehen sie nicht, leben sie halt illegal hier. Trotzdem gebe es seitens der Aufseher dem Roten Kreuz gegenüber ein Misstrauen. Was stecken die ihre Nase in unsere Angelegenheit? Wir hatten auch einen Kiosk. Jeden Tag bekamen wir fünf Franken, also fünfundzwanzig Franken die Woche. Mit diesem Geld konnten die Leute was kaufen. Jeden Freitag konnte wir eine Bestellliste ausfüllen. Mayonnaise, Ketchup, Getränke, Früchte, Schokolade, Zigaretten, Tabak etc. waren im Angebot. Weil ich schreiben und lesen kann, bekam ich einen Job im Kiosk, wo ich eine Zeit lang arbeitete. So teuer wie dort sind die Sachen draussen nicht. Am teuersten waren die Früchte. Bananen, kosten sie draussen beispielsweise zwei Franken

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dritten, vierten Stockwerk seien die Zellentüren den ganzen Tag offen, im ersten nur den halben Tag. Im zweiten, dritten, vierten Stock gebe es einen Fitnessraum, und im dritten und vierten so ein bisschen Arbeit: dort kannst du noch schaffen, nicht viel und so. Es sei schrecklich jemanden in Empfang zu nehmen, schwierig, sich richtig zu verhalten. Wichtig sei die Präsenz. Markieren, dass man nichts zu Leid tun wolle. Aber distanziert in der Haltung. Englisch oder Französisch, die meisten Aufseher können beides nicht, oder nur sehr schlecht. Englisch und Französisch seien bloss erforderliche Basics, besser wäre Arabisch oder Russisch oder Chinesisch. Übersetzen gehöre daher auch noch zu seinen Aufgaben: Gerichtliche Verfügungen übersetzen, Aufsehern helfen bei der Kommunikation mit den Insassen, übersetzen beim Arzt. Er habe viele heikle Situationen entschärfen können, weil er eben verschiedene Sprachen beherrsche, im Unterschied zu den Aufsehern. Die seien unsicher, unsouverän, überfordert. Es herrscht dort eine Kommunikationsmisere. Einigen gehe es sehr schlecht. Es Wir tun nicht unsere Pflicht – wir sind / sei immer das Gleiche: Schlimm am Anfang, es komme aber der Moment, wo die Insassen sich an die Haft gewöhnt hätten. Da funktioZu seinen weiteren Aufgaben gehöre es, niere auch die Zermürbungstaktik nicht mehr. Neue beim Eintritt in Empfang zu nehmen. Nach einer gewissen Haftdauer sagen die sich: Erklären, wie der Tag im Gefängnis ablaufe. jetzt kann ich nochmals fünf Monate hier drin Alle, die neu kommen, würden im 1. Stock bleiben, was soll’s. Der Besuch beim Haftrichuntergebracht. Man wolle sie so etwas kennen ter erfolge alle drei Montae. Manche fordern lernen, schauen, was das für Leute seien, da: sagt mir doch gleich, dass es achtzehn Moschwierige oder nicht. Dann erfolge so eine Art nate sind. Trotzdem gebe es da erstaunlicherAufstieg: wenn du brav bist, kannst du in den weise eine grosse Hoffnung auch bei jenen, die zweiten, dritten, vierten Stock. Im zweiten, schon lange drinnen seien: ja vielleicht klappt das Kilo, waren es drinnen vier Franken. Wie oft stritt ich mit dem Kioskbetreiber! Schliesslich haben die Leute, die dort drinnen sind, kaum Geld. Das ist ungerecht. Der wollte allerdings nicht diskutieren und nach drei Monaten verlor ich deswegen diesen Job auch wieder. Jeden Freitag bekam ich Listen mit Bestellungen. Die bestellten Sachen teilte ich ein pro Zellennummern, füllte sie in eine Kiste und beschriftete sie. Am darauffolgenden Mittwoch holte ein Beamter dann die Sachen und verteilte sie. Pro Arbeitstag erhielt ich dafür zwanzig Franken. Für mich war das eine willkommene Beschäftigung, ich war froh über diese Arbeit und machte sie gerne, weil es langweilig war, den ganzen Tag in der Zelle zu sitzen ohne was zu tun. Für mich war das gut drei Monate lang. Danach machte ich wieder nichts, genau gleich wie die andern Häftlinge.

Überzeugt

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es ja jetzt, vielleicht lässt der Haftrichter mich sein, und irgendwann zugeben, dass wir die jetzt gehen. Da gebe es dann jeweils eine rie- einen wollten, die andern nicht, Beispiel Einsige Krise, wenn sie zurückkämen. Aber das sei bürgerungen. Das habe wenig mit Rechtsstaateine Verkennung des Systems. Die Haftrichter lichkeit zu tun, sondern mit unserer Willkür. würden nichts Neues sagen. Die würden ledig- Dass dies in der Schweiz möglich ist, sei für ihn lich prüfen, ob die Haftbegründung des Migrationsamts legal sei. Um die Ausschaffungshaft legal zu machen, gebe es allerdings tausenderlei Gründe. Die Haftrichterbesuche seien Wir wollen das führende Gefängnis eher eine Alibiübung. sein, das durch menschliche und konsequente Das Schweizer volk, die Betreuung, durch beispielhafte Kommunikation meisten, haben keine Ahund Führung und seine grosse Sicherheit nung, was Ausschaffungshaft Massstäbe setzt. bedeutet. Das ist etwas Politisches. Die Gesetze machen die oben in Bern, die Reichen für die Armen, das ist überall so. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Schreckerfahrung gewesen, meint ein Zies so etwas gibt in der Schweiz. Die Schweizer, vildienstler. Administrativhaft sei ein Verwaldie ich draussen kennengelernt habe, waren tungsakt, der den Einzelnen zum Leiden alle nett und sympathisch. Die haben keine bringe, oder töte, wenn man so wolle, zugeAhnung, was Ausschaffungshaft bedeutet. Die spitzt gesagt. Politiker sind es, die behaupten, dass die Aus1 Dieses und die weiteren Zitate zieren die Wände des Besucherländer kriminell sind. raumes im Ausschaffungsgefängnis Zürich Kloten. Auch Spielzeug liegt bereit. Die ganzen Migrationsangelegenheiten sind 2 ›augenauf‹ ist eine nichtstaatliche, unabhängige Menschennicht in einem juristischen, sondern in einem rechtsorganisation, die Betroffene von behördlichen Übergriffen, politischen Bereich angesiedelt. Es gebe da so Diskriminierungen und Menschenrechts- oder Grundrechtsverletzungen unterstützt und entsprechende Öffentlichkeitsarbeit einen politischen Willen, in der Schweiz, der leistet. www.augenauf.ch das Asylsystem bestimme, eine Asylgesetzgebung. Und irgendjemand müsse das dann praktisch umsetzen. Als Nigerianer beispielsweise gibt es fast keine Möglichkeit legal hier zu bleiben. Es sei wie eine Verschleierung, wenn den Insassen gesagt würde, es gehe um Juristisches, man könne sich wehren, es gebe Rechtswege und so. Man müsse ehrlich genug

Unsere Mission

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Die Angst vor der Revolte: Kneub端hl kontra Hobbes Text Gabriel H端rlimann, Z端rich

Im Herbst 2010 verhalf der Rentner Peter Hans Kneub端hl der Stadt Biel zum Ausnahmezustand. Legitimiert der Widerstand erst die staatliche Ordnung oder die Ordnung erst den Widerstand?

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Die jagd

I.

Am 8. September 2010 ereignete sich etwas Ausserordentliches: »Ein 67-Jähriger Mann hat in der Nacht auf den Donnerstag im Lindenquartier in Biel einen Polizisten angeschossen und schwer verletzt. Anschliessend flüchtete er. Eine Durchsuchung seiner Liegenschaft und der näheren Umgebung mit Hunden sowie mit einem Super-Puma-Helikopter der Armee mit Wärmebildkamera blieb erfolglos. Am Nachmittag umstellte ein Grossaufgebot der Polizei einen nahen Wald. Andere Polizisten sicherten weiterhin das Wohnhaus des Mannes, für den Fall dass er zurückkehren könnte.«1 Und Peter Hans Kneubühl – so heisst der Mann ­– kehrte zwei Tage später tatsächlich zurück, schoss abermals auf die Polizei und entkam erneut. »Die Jagd nach Kneubühl«2 sollte anschliessend noch weitere sieben Tage dauern und an ihr partizipierten nicht nur ein gigantisches Polizeiaufgebot, sondern auch die Medien in Form permanenter Berichterstattung. Diese triadische Konstellation, die sich zwischen Kneubühl, den Ordnungshütern und den Medien einstellte, offenbart einen charakteristischen Zug moderner Staaten: Der Staat soll

Ruhe, Sicherheit und Ordnung durch sein Gewaltmonopol stiften, aber die Legitimation dieser Funktion beruht letztlich auf der Fähigkeit des Staates, sich als ordnungsstiftende Gewalt im Ernstfall zu inszenieren und dabei spielen die Medien, welche das Walten des Staates in der Öffentlichkeit repräsentieren, eine zentrale Rolle. Weshalb ist das so? In den folgenden Abschnitten soll der Ernstfall des kneubühlschen Aufbegehrens weder als Verbrechen gegen den Staat diffamiert, noch als Heldenstück affirmiert werden. Vielmehr wird es darum gehen, die historisch-philosophische Dimension dieser ausserordentlichen Konstellation mit Bezugnahme auf Grotius, Hobbes und Foucault zu vergegenwärtigen, um sie in ihrer Besonderheit zu erschliessen.

II.

In seiner Schrift ›De Jure Belli Ac Pacis‹ wirft Hugo Grotius im Jahre 1625 unter anderem die Frage auf, wie sich gewaltlose Verhältnisse im Innern eines Staates organisieren lassen.3 Unter Krieg im Allgemeinen, verstanden als Zustand von Personen, die miteinander gewaltsam kämpfen, subsumiert Grotius dreierlei: Öffentliche Kriege werden von Personen geführt, die souveräne Macht inne haben, in privaten

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Kriegen kämpfen Personen ohne souveräne später, »dass in jedem vollkommenen Staate, Macht und zu gemischten Kriegen kommt es d.h. wo keinem Bürger das Recht zusteht, dann, wenn Personen ohne souveräne Macht behufs seiner Erhaltung von seinen Kräften mit Personen kämpfen, die über souveräne nach seinem Ermessen Gebrauch zu machen, Macht verfügen.4 Das »Katz-und-Maus-Spiel in oder wo das Recht des Schwertes dem einzelBiel«5 zwischen Kneubühl und der Polizei wäre nen Bürger nicht zusteht, einer die höchste gemäss dieser Terminologie also ein gemischter Gewalt besitzen muss [...].« 7 Ein vollkomKrieg. Und solche Kriege gilt es gemäss mener Staat zeichnet sich gemäss Hobbes also Grotius zu delegitimieren, damit sich eine durch ein Gewaltmonopol in den Händen des staatliche Ordnung etablieren kann. So schreibt Souveräns aus, welcher allein legitimiert ist, Grotius im Kapitel ›Über den Krieg der Unter- gewaltsame Interventionen zur Erhaltung der tanen gegen die Obrigkeit‹: »Nach dem Natur- Ordnung zu lancieren, wenn dies nötig errecht haben zwar alle, wie erwähnt, das Recht, scheint. Konsequenter noch als Grotius, in dessen Werk sich auf Grund seiner naturrechtlichen Prämissen auch konträre Einschätzungen befinden 8, vertritt der rechtspositivistische Damit wird die Delegitimation Hobbes die Ansicht, dass Gehorsamsverweigerung von Untertanen niemals gerechtfertigt gemischter Kriege vollzogen, denn sie sein kann, ausser der Untertan erhält den Befehl zur Selbsttötung.9 Damit ist die Delesind Hobbes zufolge schlicht gitimation gemischter Kriege vollzogen, denn sie sind Hobbes zufolge schlicht unvereinbar unvereinbar mit der Idee des Staates. mit der Idee des Staates: (Kriegerische) Unordnung und (friedliche) Ordnung schliessen sich gegenseitig aus und der Staatsapparat ist das sich durch Widerstand vor Verletzungen zu Instrument, mit welchem diese Separierung in schützen. Aber wenn die bürgerliche Gesell- der Praxis zu realisieren versucht wird. In der schaft zum Schutz der öffentlichen Ruhe ein- kanonischen Fassung von Max Weber heisst es gerichtet ist, so erwächst daraus für den Staat dann: »Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb unmittelbar ein gewissermassen höheres Recht heissen, wenn und insoweit sein Verwaltungsgegen uns und das Unsrige, soweit er dessen zu stab erfolgreich das Monopol legitimen phyjenem Zwecke bedarf. Der Staat kann deshalb sischen Zwanges für die Durchsetzung der dieses unbeschränkte Recht des Widerstandes Ordnung in Anspruch nimmt«.10 um des Friedens und der öffentlichen Ordnung willen aufheben. [...] Denn solange jenes unbeschränkte Recht des Widerstandes besteht, ist noch kein Staat vorhanden, sondern eine Menge Einzelner.« 6 Ganz in diesem Sinne formuliert dann Thomas Hobbes 20 Jahre

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III.

Wie wird das Gewaltmonopol gerechtfertigt? Hobbes’ einschlägige Argumentation ist be11 kannt : Ohne staatliche Ordnung mit Gewaltmonopol würden sich die Menschen in einem rechtlosen Naturzustand befinden, in welchem sich auf Grund der intellektuellen und körperlichen Gleichheit aller weder globale Hierarchien noch lokale Hegemonien ausbilden würden und in dem auf Grund identischer Bedürfnisstrukturen permanenter Konkurrenzkampf walten würde. Das Resultat: Ohne Staat würde ein Krieg aller gegen alle herrschen und damit ein Zustand, den kein rationaler Mensch wollen kann. Eine staatliche Ordnung gilt es mithin als im Interesse aller Menschen zu betrachten, was so viel heisst wie: Wenn wir tatsächlich im hobbesschen Kriegszustand leben müssten, dann wäre die einzig logische Konsequenz, dass wir uns per Vertragsschluss zu einer Gemeinschaft vereinen und eine souveräne Instanz zu dem Zweck autorisieren, alle notwendigen Mittel zu ergreifen, um den befriedeten Kriegszustand zu perpetuieren. Diese kontraktualistische Herrschaftslegitimation im Konjunktiv hat Programm: Sie zementiert den jeweiligen status quo. Denn die Menschen leben und lebten immer schon in mehr oder weniger stark hierarchisierten Ordnungsgefügen, dessen war sich auch Hobbes bewusst.12 Sein Punkt ist aber, dass sich jeder die Situation hypothetisch vergegenwärtigen kann, die den Naturzustand prägen würde, denn »man kann die Lebensweise, die dort, wo keine allgemeine Gewalt zu fürchten ist, herrschen würde, aus der Lebensweise ersehen, in die solche Menschen, die früher unter einer friedlichen Regierung gelebt hatten, in einem Bürgerkrieg abzusinken pflegen.«13 Jenseits der Ordnung lauert

als stete Gefahr die Unordnung und wer jene will, muss diese verachten. Deshalb ist es doch plausibel, die bestehende Ordnung jeder potentiellen Unordnung vorzuziehen. Hobbes’ Zeitgenoss_innen leuchtete diese Intuition indes nicht ein: Im Englischen Bürgerkrieg stellten sie ihre bestehende Ordnung – es war die monarchische unter König Karl I. – radikal infrage und zwar deshalb, weil sie eine gerechtere Ordnung mit mehr Partizipationsmöglichkeiten anstrebten.

IV.

Das Verhältnis von staatlicher Ordnung und kriegerischer Unordnung, wie es von Hobbes etabliert wird, ist aber komplexer, als bisher dargestellt. Denn die Ordnung kann die Unordnung nicht überwinden, ohne sich selber zu torpedieren. Mit anderen Worten: Die Unordnung ist ein konstitutives Element der Ordnung, was auch im kneubühlschen Aufbegehren deutlich wird. Doch bevor wir mit dieser Erkenntnis wieder in Biel im Herbst 2010 ankommen können, gilt es sie über Foucaults Einwürfe zu Hobbes’ ›Leviathan‹ überhaupt erst zu entwickeln. In seiner Vorlesung ›In der Verteidigung der Gesellschaft‹ von 1976 hält er nämlich fest, dass Hobbes den Kriegszustand nicht nur nicht als ein in der Vergangenheit liegendes Schreckensszenario konzipierte, sondern auch nicht als eine ausserhalb der Ordnung liegende Gefahr: Der Kriegszustand liege als latente Bedrohung vielmehr im Innern der Ordnung selbst. D.h. der Krieg aller gegen alle ist der Ordnung immanent und manifestiert sich immer dann ereignishaft, wenn die

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befriedende Ordnungsmacht des Staates zu versagen droht.14 Diese Überlegungen ermöglichen es Foucault, in seiner Reformulierung des Kriegszustandes ein zentrales Merkmal besonders hervorzuheben: »In dem elementaren Kriegszustand von Hobbes stossen nicht wilde und entfesselte Kräfte aufeinander, werden keine Waffen gekreuzt oder Fäuste geschwungen. In dem elementaren Krieg von Hobbes gibt es keine Schlachten, kein Blut, keine Leichen. Es gibt Vorstellungen, Bekundungen, Zeichen, emphatische, listige, lügenhafte Ausdrucksformen; es gibt Lockungen und Willensäusserungen, die in ihr Gegenteil verkehrt werden, Ungewissheiten, die als Gewissheiten ausgegeben werden. Wir befinden uns auf dem Theater des Austausches von Repräsentationen, in einem zeitlich unbestimmten Angstverhältnis; wir sind nicht wirklich im Krieg.«15 Das zentrale Merkmal des Kriegszustandes gemäss Foucault ist mithin ein agonisches Spiel mit spezifischen Vorstellungen. Nicht realer Krieg im Sinne Grotius’ Definition von gewaltsamem Kampf zwischen Personen macht aus dem Natur- einen Kriegszustand, sondern ein permanentes »Theater des Austausches von Repräsentationen«, das sich durch drei Elemente16 auszeichnet: die berechnende Vorstellung, die emphatischen Bekundungen und die Abschreckungstaktiken. ›K‹ stellt sich die Kräfte von ›P‹ vor und berücksichtigt zudem, dass ›P‹ dasselbe tut. Als nächstes erfolgt der Schritt von den Vorstellungen zu den Bekundungen, indem ›K‹ ›P‹ signalisiert, dass er bis zum äussersten zu gehen bereit ist, also von der gewaltsamen Konfrontation nicht zurückschreckt. Dasselbe signalisiert auch ›P‹. Doch anstatt die Konsequenzen aus ihren Bekundungen zu ziehen und den Ernstfall zu erproben, wechseln ›K‹ und ›P‹

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in den Modus der Abschreckung. Denn sowohl ›K‹ als auch ›P‹ fürchten im Prinzip die handfeste Konfrontation und versuchen deshalb, die Bekundungen des jeweils anderen durch Übertreibungen, Täuschungen und Finten derart zu überbieten, dass der jeweilige Kontrahent von einer Konfrontation zurückschreckt, wofür es aber letztlich keine Garantie gibt (wie der Fall Kneubühl vs. Polizei zeigte).

V.

Vor diesem Hintergrund lässt sich der hobbessche Kriegszustand als komplexes Netzwerk von Machtbeziehungen beschreiben, in welchem die Akteure durch spezifische Handlungen (Bekundungen der Kampfbereitschaft und Übertreibungsgesten zur Abschreckung) auf die Handlungen der jeweils anderen derart einzuwirken versuchen,17 dass diese die gewaltsame Konfrontation nicht riskieren wollen. Dieser Punkt ist wichtig, vermag er doch das Dilemma der hobbesschen Argumentation zu erhellen: Der Kriegszustand und damit die Unordnung kann niemals endgültig verlassen werden, weil er aus mannigfaltigen Machtbeziehungen resultiert, die sich über menschliche Interaktionen im Kontext eines Sicherheitsdispositivs reproduzieren. Der Kriegszustand ist kein barbarisches Stadium, so Foucault, »das der Mensch mit der Geburt des Staates endgültig aufgibt; es handelt sich vielmehr um eine Art immerwährende Grundlage, bei der Listen und Berechnungen immer dann angewendet werden, wenn die Sicherheit nicht mehr gewährleistet«18 ist. Im hobbesschen Kriegszustand herrscht demnach kein realer Krieg, sondern ein agonisches Spiel


von Vorstellungen und taktischen Handlungen, wodurch ein allgemeines Klima der Angst erzeugt wird, wenn es denn gespielt wird. Obgleich in Biel zwischen dem 8. und 17. September 2010 Schüsse fielen und ein Ordnungshüter am Kopf verletzt wurde – man könnte diesbezüglich der Frage nachgehen, welche Abschreckungstaktik von welchem Akteur dysfunktional war –, ist es instruktiver, dieses »Katz-und-Maus-Spiel« als ein agonisches Spiel zu lesen, das durch den millionenschweren Polizeigrosseinsatz »mit dem Ziel, Kneubühl festzunehmen und die Bevölkerung zu schützen«19, erst so richtig in Fahrt kam und durch die enorme Resonanz in den Medien komplementiert und dramatisch aufgeladen wurde. Das kneubühlsche Aufbegehren wurde durch die mediale Spiegelung erst zu einem veritablen Ernstfall für den Staat, auf den er wiederkehrend angewiesen ist, um sein Gewaltmonopol zwecks öffentlicher Akklamation zu inszenieren.20 Bevor diese Betrachtung abgeschlossen werden kann, muss noch ein weiterer Aspekt von Foucaults Hobbes-Diskussion eingeholt werden. Denn wenn Hobbes mit seiner vertragstheoretischen Argumentation nicht die Genese von realen Staaten rekonstruieren will, dann drängt sich die Frage auf, weshalb Hobbes dann zwei Modi der Staatsgründung unterscheidet: Den ›Staat durch Einsetzung‹ und den ›Staat durch Aneignung‹. Dieser Umstand, besonders aber die rechtspositivistische Konklusion, dass die Rechte und Befugnisse eines Souveräns gleichermassen legitim seien, unabhängig davon, ob der Souverän per vertragliche Einsetzung oder durch gewaltsame Aneignung an die Macht gekommen ist21, sind Indizien dafür, dass Hobbes eine spezifische Gegner_innenschaft seiner Zeit zu bedrängen versuchte.

VI.

Doch wer sind die Gegner von Hobbes? Foucault ermittelt sie indirekt: »Indem er scheinbar überall Krieg erklärt, vom Moment des Aufbruchs bis hin zur Ankunft, besagt der Diskurs von Hobbes in Wirklichkeit genau das Gegenteil. Er behauptet, dass Krieg oder Nicht-Krieg, Niederlage oder nicht, Eroberung oder Übereinkunft dasselbe sei«22� und damit die Irrelevanz des Krieges für die politische Philosophie. Diese Wendung ist überraschend, gilt Hobbes doch gemeinhin als Philosoph, der sein Theoriegebäude aus der Faktizität des Krieges entwickelt. Aber Hobbes Folgerung ist letztendlich, dass die Legitimität souveräner Herrschaft solange gegeben ist, wie sie es vermag, ein ordnungsstiftendes Sicherheitsdispositiv aufrechtzuerhalten, unabhängig davon, wie die Herrschaft errungen wurde. Es ist deshalb nur konsequent, wenn Hobbes diejenigen Könige kritisiert, die meinen, sie müssen den Krieg rechtfertigen, durch den sie an die Macht gekommen sind, um daraus ihre Herrschaftsansprüche abzuleiten. Denn indem diese »unnötigerweise meinen, sich selbst zu rechtfertigen, rechtfertigen sie hiermit alle erfolgreichen Aufstände, die der Ehrgeiz zu allen Zeiten gegen sie und ihre Nachfolger anzetteln wird.«23� Und hiermit sind wir beim Kern der Sache angelangt: Im Innern des hobbesschen Postulats, dass der Krieg irrelevant sei, gibt sich eine Angst vor der Revolte zu erkennen. Die Gegner_innen von Hobbes sind also alle diejenigen, für welche Krieg oder Nicht-Krieg, Eroberung oder friedlicher Zusammenschluss im Prozess der

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Herausbildung staatlicher Ordnungen absolut entscheidende Kriterien sind und für die eine Revolte gegen eine bestehende Ordnung ein legitimes Mittel darstellt, wenn diese Ordnung kriegerischen Ursprungs ist und dadurch in ihrer Funktionsweise auch geprägt wird. Foucault hält deshalb fest, dass »sich die logische und historische Notwendigkeit der Revolte in jede historische Analyse ein [schreibt], die den Krieg als durchgängigen Strang der gesellschaftlichen Beziehungen, als roten Faden oder Geheimnis der Institutionen und der Machtsysteme herausstellt.«24 Die Möglichkeit derartiger Analysen und positiver Bezugnahmen auf revoltierendes Handeln wollte Hobbes untergraben, denn die Revolte ist gefährlich, weil sie die Befriedung der Ordnung gefährdet.

VII.

Aber wenn die Irrelevanz des Krieges behauptet wird, wieso dann die suggestive Figur des Krieges aller gegen alle? Hier gilt es nun die beiden Beobachtungen von Foucault zu verketten: Eben weil die Irrelevanz des Krieges behauptet wird, kann im Krieg aller gegen alle kein Krieg gemäss Grotius herrschen, sondern lediglich ein diffuses Angstverhältnis und eben weil die staatliche Ordnung allein durch ihre sicherheitsgarantierende Funktion legitimiert wird, erweist sich die Unordnung »als das Andere der Ordnung für diese als konstitutiv«25. Konstitutiv ist die Unordnung für die Ordnung insofern, als die vollkommene Abwesenheit der Unordnung, die Anwesenheit der Ordnung in Frage stellen würde: Wenn es nichts zu ordnen gibt, weshalb dann überhaupt

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ordnen? Wieso ein Sicherheitsdispositiv, wenn keine Gefahr besteht? Die Ordnung selber ist deshalb stets auf eine minimale Anwesenheit von Unordnung angewiesen und wenn diese nicht in der Gestalt einer realen Schlacht vom Himmel fällt, dann gilt es sie über die Verbreitung von Feindbildern oder die Inszenierung von Krisen zu evozieren. Und genau hier wird die Figur des Krieges aller gegen alle relevant, weil sie Krieg und Nicht-Krieg, Wirklichkeit und Möglichkeit dergestalt zu integrieren vermag, dass beide konträren Pole in einem Spannungsverhältnis bestehen bleiben. D.h. mit der Figur des Krieges aller gegen alle wird es möglich, die Unordnung – und damit auch ihre permanente Anwesenheit – als der Ordnung immanent zu denken. Denn was genau wird eigentlich geordnet, wenn eine staatliche Ordnung installiert wird? Das Verhalten der Menschen. Doch weil das menschliche Verhalten per Gesetz und Sanktionsgewalt nicht determiniert, sondern lediglich beeinflusst werden kann, steckt in jedem Menschen als Element der Ordnung das Potential, durch ausserordentliches Verhalten Unordnung zu erzeugen und damit zu einer Gefahr der Ordnung zu werden. Der hobbessche Staat und seine Politik der Sicherheit, die vor diesem Hintergrund auch als Politik des Ordnens charakterisiert werden kann, bezieht aus diesem Umstand ihre Legitimation, denn ein ›Kneubühl‹ ist jederzeit möglich.


VIII.

Begriffsrahmen als gemischter Krieg gelten muss, den der Staat aus der befriedeten Ordnung verdrängen kann. Aber bereits bei Hobbes stellt sich die Sachlage komplizierter dar, weil der Krieg aller gegen alle, auf den er sich zwecks Herrschaftslegitimation beruft, konstitutiv für die Ordnung ist und deshalb nicht aus der staatlichen Ordnung verdrängt werden könnte, ohne deren Legitimation zu untergraben. Er kann aber auch nicht ins Aussen der Ordnung verdrängt werden, weil es kein wirklicher Krieg ist, sondern genau besehen ein agonisches Spiel, das der Ordnung immanent ist und deshalb von den Ordnungshütern aufgerufen und mithilfe des medialen Spiegels inszeniert werden kann und muss, um sich selbst und ihr

Anders als im Europa des 16. Jahrhunderts und damit im Jahrhundert der grossen Konfessions- und Bürgerkriege, in dem Hobbes lebte, hat sich im Europa des 21. Jahrhunderts das staatliche Gewaltmonopol schon lange etabliert. Es irritiert die meisten Zeitgenoss_innen deshalb umso mehr, wenn ein Mensch sich bewaffnet, um gegen die Obrigkeit gewaltsamen Widerstand zu leisten, wie dies der Rentner Peter Hans Kneubühl praktiziert hat, als er sich am 8. September der Zwangsversteigerung seines Elternhauses widersetzte, einen Polizisten verletzte, sich die folgenden neun Tage erfolgreich dem Zugriff Im Innern des hobbeschen Postulats, eines beachtlichen Polizeiaufgebots entzog und im Bieler Linde-Quartier wie ein Guerilladass der Krieg irrelevant sei, kämpfer agierte.26� Leicht könnte man diese Konstellation nun gemäss Grotius als gegibt sich eine Angst vor der Revolte mischten Krieg analysieren und als anachronistischen und barbarischen Akt deuten und diezu erkennen. jenigen diffamieren, die mit seiner Aktion sympathisierten: »Man kann den KneubühlHype als Kuriosum abtun und ihm nicht zu viel Sicherheitsdispositiv als erforderlich zu erweiBeachtung schenken. Die geschmacklose Sym- sen. Unter der Oberfläche unserer Gesellschaft pathiewelle lässt jedoch das Gefühlt zurück, sieht es deshalb tatsächlich erschreckender aus, dass es unter der Oberfläche unserer Gesell- als man vermuten mag, aber nicht, weil auf schaft erschreckender aussieht, als man vermu- Facebook sofort Pro-Kneubühl-Gruppen entten mag. Manchmal genügt ein durchgeknallter standen sind oder T-Shirts mit dem FahnAlter, der zur Waffe greift, um solch verstö- dungsfoto und Aufschriften wie »Peter K. spiel noch ein wenig!«28� feil geboten wurden, was rende Einblicke zu ermöglichen.«�27 Doch diese Einschätzung leidet an einer bloss Ausdruck der gegenwärtigen Eventkultur Komplexitätsreduktion. Denn was unser histo- und der ökonomischen Vermarktungslogik ist. risch-philosophischer Exkurs gezeigt hat, ist, Sondern vielmehr deshalb, weil unter der dass Kneubühls Aktion zwar in Grotius’ Oberfläche unserer Gesellschaft noch immer

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ein hobbesianisches Sicherheits- und Ord- nungsgefährdendes Handeln zwingend als nungsdispositiv waltet, das auf ausserordent- gefährlich taxieren muss, um seine Notwendigliches Verhalten à la Kneubühl angewiesen ist, keit unter Beweis zu stellen. Die triadische um sich zu profilieren und zugleich zu legiti- Konstellation von Kneubühl, Ordnungshümieren, dieses aber über eine Evozierung eines ter_innen und Medien muss vor diesem HinAngstverhältnisses erst zu einem ordnungs- tergrund verstanden werden. War Kneubühl gefährdenden Element stilisieren muss. Dass gefährlich? Wir müssen es glauben. dabei der medialen Repräsentation des Ernstfalls eine zentrale Rolle zukommt, zeigt bereits das narrative Angstszenario aus der folgenden Und dies scheint mir das probMeldung: »Unbedarft standen Beamte am lematische Moment dieser Mittwoch vor Kneubühls Tür. Sie wollten sein Politik des Ordnens zu sein, Haus zwangsversteigern, ihn in die Psychiatrie einweisen. Kneubühl war vorbereitet. Er das sich im Fall Kneubühl manifestierte: brauchte nur noch zu den geladenen Waffen zu Jemand, der sich nicht einordnen lässt und greifen. Das Resultat: ein schwer verletzter seinem Unmut über die Ordnung mit ausserordentlichen Handlungen Ausdruck verschafft, kann gemäss dieser Politik nur als »durchgeknallt«, psychisch krank und abnormal wahrgeAuf dieser Basis wird gefolgert: nommen werden. Ob Kneubühl tatsächlich geistig verwirrt war, unter Verfolgungswahn30 Normale Menschen verhalten sich litt und deshalb »Waffen, Munition und Bargeld«31 in seinem Haus hortete, ist letztendordnungskonform und Querulanten lich irrelevant. Entscheidend für die Politik des Ordnens ist, dass es alle glauben und dadurch gilt es wegzusperren, denn »solche folgende Serien akzeptieren, in denen die hobbessche Angst vor der Revolte inne wohnt: Leute müssen von der Strasse«. ordentlich – ordnungserhaltend – gesund – gut vs. ausserordentlich – ordnungsgefährdend – Polizist mit Kopfschuss, Schulen evakuiert, das krank – böse. Und auf dieser Basis wird dann Lindenquartier in Angst und Schrecken, die gefolgert: Normale Menschen verhalten sich Elite-Polizeitruppen aus fünf Kantonen, mit ordnungskonform und Querulanten gilt es Gewehren, Hunden und Super-Puma-Heli- wegzusperren, denn »solche Leute müssen von koptern.«29� Der Fall des Bieler »Amok-Rent- der Strasse«32. Die Erkenntnis, die man aus ners« kann deshalb als exemplarisch gelten für Foucaults Hobbes-Diskussion gewinnen kann, das diskursive Zusammenspiel von medialer ist also, dass es immer wieder konkrete EreigBerichterstattung, polizeilicher Analysen und nisse der Unordnung geben muss, die das allgemeinen Sicherheitsmotiven, die diesem staatliche Gewaltmonopol der Ordnung Ordnungsdispositiv eigen sind und das ord- herausfordern, damit sich dieses legitimieren

IX.

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kann. D.h. eine Politik des Ordnens muss sich auf die Unordnung beziehen können, weil dieses für jene konstitutiv ist, aber sie kann es nur im negativen Modus der Angst. Und wenn kein Mensch Angst hat, dann muss sie erzeugt werden – im Fall Kneubühl unter anderem durch übermässige Dauerpräsenz von diversen polizeilichen Spezialeinheiten im beschaulichen Linden-Quartier.

17 Vgl. dazu Foucault (2005), S. 285: »In Wirklichkeit sind Machtbeziehungen definiert durch eine Form von Handeln, die nicht direkt und unmittelbar auf andere, sondern auf deren Handeln einwirkt. Eine handelnde Einwirkung auf Handeln, auf mögliches oder tatsächliches, zukünftiges oder gegenwärtiges Handeln.« 18 Foucault (2001), S. 112. 19 Neue Zürcher Zeitung vom 17. 09. 2010, S. 24. 20 Vgl. dazu auch Agamben (2010), S. 12; 302 – 309. 21 Vgl. Hobbes (1966), S. 159. 22 Foucault (2001), S. 117, 119. 23 Hobbes (1966), S. 538. 24 Foucault (2001), S. 137. 25 Hirsch (2004), S. 75. 26 Vgl. für eine Gesamtdarstellung des Falls bspw. den Artikel »Der ›Amok-Opa‹ plante seine Tat minutiös« in der Berliner Morgenpost vom 18. September 2010; oder das Dossier der Berner Zeitung auf: http://www.bernerzeitung.ch/dossiers/bern/ dossier2.html?dossier_id=709

1

Neue Zürcher Zeitung vom 10. 09. 2010, S. 24.

2

SonnntagsZeitung vom 12. 09. 2010, S. 3.

3

Vgl. hierzu Baumgold (2010), S. 28ff.

4

Grotius (1869), S. 132 [1,3,I.1]: »Ein öffentlicher Krieg ist der, welcher von einer Personen geführt wird, die obrigkeitliche Gewalt hat; ein privater, wenn er von Personen geführt wird, die keine obrigkeitliche Gewalt haben; ein gemischter, wenn er von der einen Seite ein öffentlicher, von der anderen ein Privatkrieg ist.«

27 Tages-Anzeiger vom 15. 09. 2010, S. 9.

5

Tages-Anzeiger vom 11. 09. 2010, S. 3.

30 Vgl. z.B. Tages-Anzeiger vom 17. 09. 2010, S. 16.

6

Grotius (1869), S. 186 [Buch 1, Kapitel 4, Abschnitt II.1]. Hervorhebungen und leicht abweichende Übersetzung von G.H.

31 Neue Zürcher Zeitung vom 15. 09. 2010, S. 26.

7

Hobbes (1994), S. 137.

8

Grotius (1869), S. 203 [1,4,VII]: »Erstens können die, welche unter dem Volke stehend die Staatsgewalt ausüben [...], im Fall sie sich gegen die Gesetze oder den Staat vergehen, nicht allein mit Gewalt zurückgewiesen, sondern auch mit dem Tode bestraft werden [...].«

9

Vgl. Hobbes (1966), S. 168.

10 Weber (1972), S. 29; vgl. auch ebd., S. 821ff. 11 Vgl. für das Folgende Hobbes (1966), Kapitel 13 und 17. 12 Ebd., S. 97: »Vielleicht kann man die Ansicht vertreten, dass es eine solche Zeit und einen Kriegszustand wie den beschriebenen niemals gab, und ich glaube, dass er so niemals allgemein auf der Welt bestand.« 13 Ebd. 14 Vgl. hierzu auch Hirsch (2004), S. 75: »Indem der künstliche Körper des Leviathan die lose Gesellschaft der autonomen Individuen zu einer politischen Gliedergruppe ordnet, versucht er mit einem Zwangsakt jegliche Unordnung zu eliminieren. Und gerade Hobbes war allzu bewusst, dass es sich hier nicht etwa um einen einmaligen Vertragsakt handelt, der mit seinem Vollzug auch ein für allemal die Unordnung und das Chaos der Naturzustandes beseitigt. Dieser bleibt auch im Staat latent bestehen und bedroht stets dessen Bestand und Ordnung.« 15 Foucault (2001), S. 111. 16 Vgl. ebd., S. 111.

28 Vgl. blick.ch vom 14. 09. 2010 (http://www.blick.ch/news/schweiz/ amok-rentner-wird-fuer-einige-zum-helden-156500). 29 SonntagsZeitung vom 12. 09. 2010, S. 3.

32 SonntagsZeitung vom 12. 09. 2010, S. 3. Literaturverzeichnis Agamben, Giorgio (2010), Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Berlin: Suhrkamp. Baumgold, Deborah (2010): Contract Theory in Historical Context. Essays on Grotius, Hobbes, and Locke, Leiden und Bosten: Brill. Foucault, Michel (2001): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), Frankfurt a/M: Suhrkamp. Foucault, Michel (2005): Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Band IV, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a/M.: Suhrkamp. Grotius, Hugo (1869): Des Hugo Grotius drei Bücher über das Recht des Krieges und Friedens, in welchem das Natur- und Völkerrecht und das Wichtigste aus dem öffentlichen Recht erklärt werden. Aus dem Lateinischen des Urtextes übersetzt, mit erläuternden Anmerkungen und einer Lebensbeschreibung des Verfassers versehen von J. H. v. Kirchmann, Berlin: Heimann. Hirsch, Alfred (2004): Recht auf Gewalt? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes, München: Wilhelm Fink Verlag. Hobbes, Thomas (1966): Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hrsg. und eingeleitet von Iring Fetscher, Frankfurt a/M: Suhrkamp. Hobbes, Thomas (1994): Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, Hamburg: Felix Meiner Verlag. Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundrisse der verstehenden Soziologie, 5. Auflage, Tübingen: J.C.B. Mohr.

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Maskiert

Der typische Deutsche oder Automatisierte Erkennung erfordert individuelle Charakteristika – Sei durchschnittlich. Komposit & Kompositmaske Raul Gschrey, Frankfurt / Main

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Auch in Farbe unter: www.pro-these.com/cctv/komposit.htm

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»Der typische Deutsche« ist ein Komposit aus 150 Portraitaufnahmen von Menschen, jeweils zur Hälfte männlich und weiblich, die sich regelmässig in verschiedenen Städten Deutschlands bewegen. Die Maske ist aus lokalen Modellen entstanden, die in Berlin, Frankfurt a.M., München, Gießen, Offenbach a.M., Bremen, Mainz und Marburg zu den Schauen von »Contemporary Closed Circuits – Subversive Dialoge«, einer Ausstellung zum Thema Überwachung, zusammengestellt wurden.1 Die Maske kann ausgeschnitten und im öffentlichen Raum getragen werden, um eine automatisierte Gesichtserkennung, wie sie in Überwachungssystemen immer häufiger wird, unmöglich zu machen. Durch die Komposittechnik werden Gemeinsamkeiten hervorgehoben, durchschnittliche Charakteristika treten in den Überblendungen in den Vordergrund. Gesichtserkennungssysteme nutzen aber gerade Abweichungen von der Norm, um die Aufnahmen von Personen ihrem digitalen, biometrischen Spiegelbild zuzuordnen. Die Komposittechnik wurde Mitte des 19. Jahrhunderts in England von Francis Galton entwickelt: dem Begründer der eugenischen Forschung und einem Wegbereiter der modernen Personenidentifikation. Als Vorbild dienten die künstlerischen Mehrfachbelichtungen des Fotografen Oscar Gustave Rejlander. Galton versprach sich von der Technik, dem zu dieser Zeit weit verbreiteten Glauben folgend, dass sich Intellekt und Charakter in der Physiognomie widerspiegeln, eine Möglichkeit zur Auswahl und zum Ausschluss von Individuen zu seinen »Forschungszwecken«. Den Wissenschaftlern der Zeit ging es in ihren Vermessungen des Menschen um eine Typologisierung. Unter anderem wurden Komposite zur Beschreibung von kriminellen

Veranlagungen, Krankheitsbildern und ethnischer Zugehörigkeit erstellt. So verwundert es auch nicht, dass nicht die ausgleichende Wirkung der Komposite im Zentrum stand – vielmehr wurde versucht, spezifische Gemeinsamkeiten von Gruppen festzustellen und Menschen anhand ihrer äusseren Erscheinung zu klassifizieren. Zeitgenössische Nutzungen der Komposittechnik finden zumeist den Weg zurück in das Feld der Kunst. Die Ansätze wenden sich jedoch gegen die zweifelhaften Konnotationen aus den Anfangstagen der Technik und betonen die ausgleichende, de-individualisierende Wirkung der fotografischen Überblendungen, oder werfen ironische Blicke auf die Wissenschaftlichkeit des Ansatzes.2 Mit der fortschreitenden Entwicklung fotografisch-biometrischer Techniken, die heute in vielen Identifikationsdokumenten einen Platz gefunden haben und deren Wichtigkeit als staatliches Ordnungs- und Kontrollinstrument zunehmend an Bedeutung gewinnt, erlangt das Thema eine neue Aktualität. Identifikationstechniken rücken immer näher an den Körper des Menschen heran: Sensoren fahren über Fingerkuppen, streifen die Gesichtshaut, scannen die Struktur der Iris. Die Umsetzung der Maske des »Typischen Deutschen« folgt dem Bedürfnis nach informationeller Selbstbestimmung, sie verhindert das Erfassen biometrischer Daten und ist gleichzeitig eine Möglichkeit »Gesicht zu zeigen« gegen die sich ausweitenden staatlichen Kontrollmechanismen. 1

Weitere Infos zu dem Ausstellungsprojekt: www.pro-these.com/ cctv

2 Für eine ausführliche Beschreibung der Entwicklung der Komposittechnik in den letzten 150 Jahren: Gschrey, Raul: »Kompositfotografie: Zwischen wissenschaftlicher Evidenzbehauptung und künstlerischer Subversion.« In: Richtmeyer, Ulrich (Hrsg.): PhantomGesichter. Zur Sicherheit und Unsicherheit im biometrischen Überwachungsbild. München: Wilhelm Fink, 2011 (In Vorbereitung).

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In/ Visibility: Cartographing the Strait of Gibraltar Text Teresa Callejo Pajares, Madrid

Teresa Callejo-Pajares untersucht in ihrem Beitrag die Bilderproduktion an der Grenze zwischen Spanien und Afrika und wie diese Bilder nicht nur Diskurse bestimmen, sondern auch die materielle Situation der Migrant_innen. Teresa Callejo-Pajares focuses on the visual representation of the border between Spain and North Africa. The article shows how these images not only form and limit discourses on migration but also the opportunities of the migrants.

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Aussengrenzen

I

n this article I aim for an analysis of the here on referred to as SIVE). In this sense it has conditions of visibility of the border bet- become a strong marker for notions of beween Spain and North Africa. In other longing, citizenship, language, and race, which words, how it has come to be imagined not are enacted at this specific site and are dispersed only as a national border but also as a global to both sides of the border through the media. geostrategic site at the turn of the century. The reason I consider this topic worth exploring is the increased political, economic and social Border dynamics, context stakes that are now invested in this space as the and visibility Southern border of Europe. These stakes are Up until the turn of the century the Southern being debated in terms of visual representation Border of Europe, as it is now regarded, has through the instauration of the Integral System been neither more nor less complex than other of Surveillance of the Strait of Gibraltar (from frontier spaces. However, today, in the context

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that has arisen from the Schengen Agreements border geography as a global divide of North/ and in relation to the dynamics and ideologies South and East / West relations. This fortificamobilized around the terrorist attacks in New tion or frontier enforcement as a result of the York, Madrid, and London, the Spanish-Afri- Schengen Area has come to alter radically the can border can no longer be regarded as it once perception of the concept of border itself, and was; that is, as a space of separation and com- has redefined Spain’s role as one of the munication, permeable to the flows of informa- Southern entryways into the European Union. tion and the agency of their populations. Since Entry countries, transit countries, new settlements, deportation agreements and new production centers are some examples of the border dynamics that are transforming European Migration is thus the main and neighboring territories alike in acquiescence with European standards of security topic of discussion when thinking about and economic agreements. In the sources I have been studying I have the Spain-North Africa border, found that there are a series of recurring images that dominate the arena of discussion around after which delinquency and terrorism the border between Spain and North Africa. The most popular are the pateras – boats with are thought to follow as inevitable a small capacity – that cross the waters of the Strait of Gibraltar area and the Canary Islands, consequences. and the arming of the Ceuta and Melilla fences, both constituting illegal entry ways into Spain 1997, the Schengen Agreements have provided on the part of African migrants. Migration is for the removal of systematic border controls thus the main topic of discussion when thinkbetween the 25 participating European coun- ing about the Spain-North Africa border, after tries. Conversely, the borderless zone created which delinquency and terrorism are thought by its implementation has led to an increased to follow as inevitable consequences. This surveillance and control of the exterior borders accounts for the highly politicized treatment of of what is called the Schengen Area. The Area this issue and accounts for the increasing premobilizes many European agencies ranging dominance of the discourse generated by the from individual state-led initiatives that involve SIVE as a detective and preventive technology the military in many cases, to a pooling of against incoming people from Africa. My aim is to offer a multidirectional approach resources into privately managed pan European corporations such as Frontex.1 Hence, there encompassing the numerous debates present in has been an inescapable shift in the meaning of the Spain and North Africa border site. Firstly European borders, or lack thereof, and a quan- through an analysis of the dominant discourses titative and qualitative change to the political, disseminated by mainstream media and the role social and economic investment in this specific of the SIVE in political and popular imagina-

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tion; and secondly through a series of works by Van Dijk (Universitat Pompeu i Fabra) elaboracultural agents that deal with specific issues of ted in 2006 a general study on racism and dismobility, language, technology, labor and gen- course in Spain, paying attention to the role of the media in the reproduction of certain forms der as they are being precluded by the SIVE. of racism. When dealing with the issue of immigration he identified a set of topics in media Media and the Southern border coverage that show that the topic of Irregular of Europe Entry represents 25% of the total, with AdminisAs mentioned above the main topics that come trative Events and Solidarity following with to mind when thinking about Spain’s southern 17%, Europe 10%, Racism and discrimination border are migration related. From all the chal- 7% and Crime 7% (Van Dijk, 2006). The »entry stories« appear almost daily and lenges entailed in being a member state of the EU, Spain’s role or specialization is in control- their general structure and meaning have ling incoming migration from non-European become routine for the agents involved. The countries, but mostly from the neighboring immigrants are the passive participants with an territory of Africa. Hence, it is relevant to ana- emphasis on their physical descriptions or capaclyze the inscription of the phenomenon of ity to endure hardships, rather than their culimmigration in everyday Spanish politics tural structures, relationship to one another or through the main channels of communication to their countries (their status as refugees, for and dissemination: example may be completely overlooked). They The media has played a key role in the pro- are »found«, tended to, sheltered, returned duction and dissemination of the figure of the and homogenized as immigrants by the authormigrant and there has been much attention ities and the NGO’s (the Spanish Red Cross in granted to the crossing of the Strait of Gibraltar particular). In this way, they are enclosed in a and to the Canary Islands, the stories, the new-found structure of meaning with varying testimonies and the means. degrees of »interest« depending on the number »Although the vast majority of immigrants of children and pregnant women, the physical arrive by airplane, no day passes without exten- state of the crew upon arrival to Spanish shores, sive media coverage of how many new immi- or the type of vessel they were travelling in, grants (successfully or unsuccessfully) tried to generally called pateras if arriving at continenenter the country in the dangerous little boats tal Spain or cayucos for the Canary Islands. (pateras) that cross over from Morocco to the The pateras generally range from makeshift Southern tip of Spain or the Canary Islands flotation devices, to the high speed boats more (cayucos) – and about how many died in the often associated with drug traffic. process.«2 Also present in newspaper articles and TV For our immediate purposes, the border as a stories is another matter that could be applied whole is a constantly revisited theme that is very to other border sites; the issue of nationality. telling of the general attitudes and discourses in When it is not posed as a lack – in the sense that the media. As an illustration, the author Teun an immigrant is such because he or she lacks the

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host country’s nationality – it is information of political relevance that can be used in the larger arena of transnational agreements. We have to keep in mind that, as is the case with Peruvians or Columbians in Mexico, many African border crossers pass as Moroccans in order to remain within the geographical vicinity of the border and not be deported to their countries of origin

Spain’s measures of surveillance and contention of mobility in its maritime area of sovereignty have taken form in the Integral System of Surveillance of the Strait of Gibraltar. such as Mauritania, Senegal or Nigeria, among others. Morocco is therefore at once a transit and a host country, playing the double role of immigration sender and receiver of mostly SubSaharan migrants and deportees from Spain.3

Integral System of Surveillance of the Strait (SIVE)4 In the last few years, different European agencies have intensely developed the surveillance of the small seas of Europe (the Baltic, the Mediterranean) and of the straits such as Gibraltar. Spain’s measures of surveillance and contention of mobility in its maritime area of sovereignty have taken form in the Integral System of Surveillance of the Strait (of Gibraltar). The SIVE is presently implemented in the Canary

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Islands, in the entire Andalusian coast and the Spanish enclaves in Africa, Ceuta and Melilla, but it has been projected to cover all the rest of Spain’s Mediterranean coast. Its technology involves the sending of information in real time to control centers which mobilize the necessary resources according to the ›situation‹. The components of this system’s information analysis are utilised on land installations, boats, aircraft and satellites and include a network of radar sensors, acoustic sensors and optoelectronic systems such as infrared cameras and continuous video surveillance. But the surveillance by the SIVE is not only limited to the maritime areas of the border, it’s technology is used in the two localized perimeters around the Spanish enclaves in North Africa, Ceuta y Melilla, which add up to 18 kilometers. These territories have become in-creasingly fortified in past years not only in regards to surveillance but also in their physical appearance of width and height; they have been made into veritable obstacles for both mobility and communication between two political geographies that are otherwise part of the same landscape and share a strong cultural affinity. However, the political rhetoric is very similar, if not the same, to the one deployed in the Strait of Gibraltar. I am inclined to think that this is due to the shared SIVE as a formative homogenizing technology. On one hand this general approach from the optics of state surveillance disregards the different experiences that these borders entail for the people who try or succeed in circumventing them, subsuming them into the all-encompassing category of migrants. And on the other it overlooks the actual specificities of the different borders sites that divide Spain and Africa.


The SIVE’s technical means of represen- seen, sometimes in the comfort of our own livtation demonstrates the logic of the binome ing rooms, what is taking place at the scene of knowledge/power as a technology of power action and thus gives a false sense of firsthand which manifests determined criteria of organi- knowledge and control of the represented space. zation and classification, the same of surveil- In this respect, Allen Feldman (NYU), with his lance and control. In foucauldian terms, the term cultural anesthesia, argues that there exists actual surveillance or control and documenta- an impossibility of identification with the object tion – the registry – is the expression of a disci- of the gaze, in this case, with those who are plinary apparatus, and it is no coincidence that indeed crossing – the immigrants, the crew in the implantation of the SIVE followed only a the patera o cayuco – and that which is being year after the events of 9/11. The prototype in patrolled. By this logic we have a sensorial disAlgeciras went into service in August of 2002, position, an epistemology constituted through Málaga and Fuerteventura in December 2003, the tradition of objective realism which renders Cádiz and Granada in 2004, and Ceuta in us insensitive, anesthetized, to other perspec2005. This is part of what Van Dijk calls racism tives present within this frame. Or rather, as institution, traditionally associated with a more general or ›macro‹ approach to racism that refers to legal discrimination, exemplified Its mechanism, the capture of the in this case in the form of restrictions to immigration and sanctioned further by a prominent images through surveillance photopolitical figure. The fact that the most widely spread images graphy offers us avantage perspective, of the border come from the SIVE accounts for their high politicization; in the first place presumably the perspective of the by the logic of the system that contextualizes them ideologically through anchorage in the police agent, the surveyor, with whom media – through captions, appearing next to statements by the Guardia Civil, accompanied we may identify. by articles that set the tone, etc. – and secondly, by the actual medium that makes us both it prevents us from contemplating them in a voyeurs and accomplices at the same time. Its mechanism, the capture of the images different view than the one that is predeterthrough surveillance photography (infrared mined, in this case, the mechanisms of the rays, night vision technology etc.) offers us a images such as mediation, distancing and filvantage perspective, presumably the perspective tering the image of the African migrant. of the police agent, the surveyor, with whom »Like the normative optics of gender and gaze, we may identify. This perspective has a long objective realism, the depictive grammar of the tradition in colonial scopic regimes. It is a point mass media, should not be perceived as an of view from where we can see without being ahistorical given; it is an apparatus of internal

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and external perceptive colonization that dis- perception of Mexican (or Central/South seminates and legitimizes particular sensorial American) immigration through Río Grande dispositions over other within and beyond our and Río Bravo. »[…] Rio Grande may have been flowing public culture.«5 Pursuing further Feldman’s notion of a sen- but not the young men who drowned. Money sorial predisposition, I am inclined to under- does not flow. It is sent, and the need to send stand that the media’s fascination with this it often confines transplanted workers into topic of the sea voyage as analysed above and veritable bondage abroad. ›Flow‹ disguises the the fixation by the authorities on this entry way fact that the world of neoliberal capitalism is has to do with the emphasis it places on the run by decisions people make that have ethical perilous journey by water. Subtracting Spanish dimen-sions.«6 responsibility on the whole matter and rather These images conflate scientific observation focusing on the voyage itself instead of the con- and detection technology in a fashion that ditions that lead up to it, the capricious water renders the cultural and political situation as a natural occurrence that can be intellectually apprehended and controlled. These images are created, or rather gathered, and disseminated The flow of water as a metaphor in a way that is very similar to the collection and interpretation of scientific data as objective for contemporary economically-driven numbers; statistics and patterns to be extracted from the natural world in an effort to make mobility is used to narrate or contain sense of them. As statistics on the index of maritime traffic in the Strait of Gibraltar, the the reality of these voyages. It is a images of the assault on the Melilla fence or capsized pateras are to be read as evidence in persistent element in the percepton of the war against irregular mobility, and consequently acted upon as the basis for legitimate North-African immigration. state action and violence. Images are data insofar as they are the product of scientific observacurrents are highlighted instead of the govern- tion with technological means and subject to mental policies that surround it. Flow is per- ›objective‹ interpretation by the institutions ceived here as something inevitable that cannot deemed competent. That is, in this case, the and should not be stopped much like the flow Ministry of Interior and the Guardia Civil. of capital in neo-liberal economies. The flow of water as a metaphor for contemporary economically-driven mobility is used to narrate Approaching the border or contain the reality of these voyages. It is There are multiple agents that exercise their a persistent element in the perception of own usage over the border landscape and the North-African immigration, as it is with the technology available, picking up on the contra-

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dictions and obscurities in the state’s perspec- around the globe. It traces a complex cartotive and making them visible. Whether by ap- graphy for re-envisioning global relationships propriating the modes of visibility of the SIVE where frontier territories have been urged to or by exercising surveillance over it, they suc- speak to each other, made their dynamics ceed in making the border a distributed affair relatable and relative. It can serve as a tool to and offer a rich arena of practice and thought. think specifically about what the US/ México, Borders are spaces which by nature lend Spain/ North Africa, Palestine/ Israel, India/ themselves to interruption, re-appropriation Kashmir/ China borders have in common with and subversion, all practices that allow a re- each other and with others around the Political articulation of the terms of engagement and Equator, and if so, what can be useful about the conditions of existence beyond the idea of these similarities, as well as what are the border as an agreement between two govern- grounds of their differences. ments on socioeconomic policies. Thus, traditional political maps and other conventional representations cannot take into account the Therefore, a new cartography is needed full complexity of this space because the drawn lines that constitute them are unable to grasp in order to navigate it, one that will the multiple dynamics that have come to articulate the broader geography of the border.7 account for new conceptions of belonging Therefore, a new cartography is needed in order to navigate it, one that will account for on both sides of the border and for new conceptions of belonging on both sides of the border and for the strategies that are being the strategies that are being deployed deployed in order to circumvent it and make it into a livable space, both physically and discurin order to make it into a livable space. sively. This new cartography is being constituted through alternative maps that invert the Albeit the flourishing of »border studies« in power relations between Europe and Africa; singular experiences as opposed to broad nar- Spain as a theme and as a discipline – inspired ratives; and fiction as an entryway into reality.8 no doubt by US border studies – there is still a lot of work to be done in this area, with special attention to its evolution from a more local The Political Equator experience, pertaining mostly to Morocco and Teddy Cruz’s (UCSD) collaborative project Spain, into a transnational border of cosmopol›The Political Equator‹ 9 (2007) in San Diego itan dimensions and made to engage in a broaand Tijuana maps out the North/South divide der framework of global relations. Some of the in the 28º-32nd parallel which interestingly conditions are very specific to this particular falls on this and other border spaces that have border space, whereas others might be expandbecome highly relevant for policy making ed to other border spaces.

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unprecendented migration across global borders : in search of the strong economies of the functioning core

FUNCTIONING CORE

SAN DIEGO / TIJUANA

GIBRALTAR/CEUTA

ISRAEL / PALESTINE

NON - INTEGRATING GAP

the politics of multi-national outsourcing : in search of the cheap labor markets of the non-integrating gap

INDIA/KASHMIR

CHINA


Fadaiat While it is important for me to refer to the general notions that can be applied to a number of border spaces – as part of the North/South divide for example – it is also crucial to enter into their own particularities; only in this way it will be possible to let these particularities speak for themselves. Being as they are de facto influenced by the general dynamic of contemporary globalization, they still constitute and articulate a world of their own. I hope the examples in this section are of use to illustrate the limitations of the border as a political project. The Fadaiat project is an anthology of documents related to border activism in the space between Spain and North Africa and its theories.10 What is of most value for the purposes of undermining conventional perspectives is their contribution to cartographical experiments that suggest alternative relations of power and perspectives between Europe and Africa and, much like Teddy Cruz’s project, theorize the global relations between the First and the Third World. Their proposal is that technology’s power relationship can be re-appropriated and imagined in a way that accounts for the human dimension of the border. Hence, the project deals with the affective uses of technology as opposed to the effective usage by surveillance and detection mechanisms as deployed by the state. The democratization of electronic media has allowed for the border to be reinterpreted and appropriated thus offering a viable alternative usage of the same technologies that usually exert unilateral control over the border site. Projects like Fadaiat, the Political Equator, and many others, aim for more plural modes of engagement with the border, circumventing the strict mapping of the SIVE and contributing to

alternate experience and knowledge of the border.10 They aim to show the human scale in the monolithic concepts and landscapes insistently drawn by polity and conventional maps.

Conclusions The popular claim is that the border is constituted by crossings; that the experience of the border is one of migration and of entailing directionality – usually to the North. However, this claim comes to reinforce the hierarchical

What is of most value for the purposes of undermining conventional perspectives is their contribution to cartographical experiments that suggest alternative relations of power and perspectives between Europe and Africa. disposition of the cultures and communities on either side, perceived to be of more or less ›value‹ according to where they fall after the border division. Furthermore, it privileges one type of experience of the border over others by which the border-crossing voyage is the epitome of migration, exploiting the facile humanitarian angle and facilitating its containment into a recognizable ›story‹ of doomed human struggle. What are consciously left out of this perspective,

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however, are the everyday lives of those that come to inhabit the border: Yet, as the artist Antoni Muntadas suggests in his mosaic of interviews, all of us inhabit the border in one way or the other. Even those who are not thought to be affected at all by the border are in fact inadvertently crisscrossed with the limits of its discourse. For the absolute terms of engagement in border geography, this side or the other, evidence our own necessarily complicit spatiality with it. The existence of borders seems to be an issue of migration and crossing, of labor and advancement, or merely of more or less accidental lines in maps dividing the globe. However, the physical border travels on to the imaginary and necessarily precludes emotional, affective, landscapes. It is a generative geography of structural invisibilities that constructs the South as an exotic and menacing fiction leaving little room for actual knowledge of, for example, Moroccan culture or Islam. The border is the space where ideologies that exist more or less hidden in society are proven and physically become put into practice. Moreover, precisely because it is such – a representational space, a stage, a battleground – its terms are more flexible, or rather, more easily re-imagined, than for any other geography. Movements, air, sea and water resources, economic dependencies, Diaspora, familial groups, emotional affiliations and settlements etc. cannot be contained in the border, as it is known – through fear, through estrangement. Rather, the realities and processes occurring in and around the border necessitate a different visibility, a fresh imagination. They necessitate political and cultural projects that will interpolate the constructed discourse and materiality of the Strait of Gibraltar.

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1

Frontex, the EU agency based in Warsaw, was created as a specialised and independent body tasked to coordinate the operational cooperation between Member States in the field of border security. www.frontex.europa.eu

2

Van Dijk, Teun A. ›Racism and Discourse in Spain and Latin America‹. John Benjamins Publishing Company, 2005.

3 There is an ongoing conflict over Moroccan sovereignty in the Sahara region very much worth exploring in relation to the issues in this paper. www.saharalibre.com 4

Sistema Integral de Vigilancia del Estrecho

5

Feldman, Allen. ›On Cultural Anesthesia: From Desert Storm to Rodney King‹. American Ethnologist, Vol. 21, No. 2 (May, 1994).

6

Pratt, Mary Louise. ›Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation‹. Routledge, 2008.

7

»Maps report existing territories, but they also construct them; thus territory lives in the mind and is constructed as knowledge.« Editing collective in ›Technological Observatory of the Strait‹ Fadaiat (2006)

8

The New Cartography suggests alternative relations of power and perspectives between Europe and Africa and re-imagine global relations between the First and Third Worlds. But more importantly, these maps explore the juncture between ›real‹ landscapes and virtual datascapes, both of which being representations.

9

www.politicalequator.org, Cruz, Teddy. ›Border tours : strategies of surveillance, tactics of encroachment‹. In Michael Sorkin, Indefensible Space: The Architecture of the National Insecurity State. New York: Routledge, 2008.

10 Fadaiat is a virtual platform modeled after Indymedia. It presents an open space of interaction and connection between programmers, activists and thinkers akin to contemporary social movements. Their work develops in three main areas: new geographies or Madiaq, a critical cartography of the Strait of Gibraltar; what they call the border factory, related to issues of migration and labor; and the development of democratic communications technologies. Their proposal is that technology’s power relationship can be re-appropriated and imagined in a way that will account towards the human dimension of the border. Hence, the project deals with the affective uses of technology as opposed to the effective usage by surveillance and detection mechanisms as deployed by the state. The democratization of electronic media has allowed for the border to be reinterpreted and appropriated thus offering a viable and alternative usage of the same technologies that strive to exert unilateral control over the border site.www. fadaiat.net 10 Another example of this new cartography is Gold Extra. Gold Exstra is a team of artists based in Salzburg, Austria, whose projects pertained mostly to the field of fine arts, performance and music. Since 2006, however, they have teamed with other media artists and come up with Frontiers, a multiplayer video game designed for users to experience life at Europe’s borders. As of now they have finalized a version of the game covering the border between Spain and North Africa but they are working to portray the experience of other ›hot spots‹ of the pan European border. It is free and accessible to anyone with a computer. www.frontiers-game.com


Inserat

Glotzt nicht so romantisch.

Bertolt Brecht

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Im Park Text  Alex Riva, Marseille

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Lyrik I

Entgegen segeln alle paar Gedanken noch zwei Vögel mit fahl gelben Bäuchen, sie scheinen jedes Mal dieselben. Entstehn wie aus dem Blätterschwarz des Baumes und entfliehn dem gewitterschweren Licht. Queren Raum, den sie ins Leere kehren, der Echo andrer Räume ist, an die Entschwundnes pocht. Durch den Kies geschlendert kommt die Gestalt, wer weiss, ob’s etwas ändert.

[12.7.2010]

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Nichts wie Du Text  Alex Riva, Marseille

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Lyrik II

Hast weisse Plastikstühle umgestossen, sie über Plätze, Strassen geschleift. Verfolgt die kleinen Leute wie die grossen, zu fassen unter Röcke, in die Hosen. Wie grob fährst Du ins Haar, das schön sie striegeln. Wer immer über den Weg Dir läuft, wird sich erneut vor grellen Spiegeln schniegeln und schniefen und sich fühlen wie nach Prügeln. Mir hast Du kürzlich meine Zigarette vom Munde weg zur Hälfte geraucht, mich nicht gefragt, foutiert Dich um ein Bitte, als ob ich nicht die ganze nötig hätte. Wer will das bisschen Nikotin bejammern, wer Deinetwegen verärgert sein? Du wehst das Licht in unsre engen Kammern, und machst, dass Fliegen sich an Wände klammern. Du wirbelst auf den Staub, die Pflanzenreste und alles, was da modert und dorrt, in Glitzerzeugs Du’s wandelst wie zum Feste, Plakate reisst Du ab mit leichter Geste. Daher, dass uns es um die Ohren zische! Den Wirren, Weisen, allen dazwischen ... Mische, Mistral, mische, mische, mische, zerstör und füge neu mit Deiner Frische!

[3.3.2010]

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Triumph der Ohnmacht Text Tobias Lander, Kenzingen

1963 übernimmt Andy Warhol Charles Moores berühmte Aufnahmen der Rassenunruhen in Birmingham / Alabama in seiner ›Race Riot‹-Serie. Den Pop-Künstler und den Reporter verbindet das Bewusstsein, dass der entscheidende Moment der Photographie im asymmetrischen Kampf gegen ein gewaltausübendes System zur wirksamen Waffe des Schwächeren werden kann.

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Bild und widerstand

S

chwarze Jugendliche, von der Feuerwehr mit Wasserschläuchen von der Strasse gespült, eine ältere Dame mit weissen Handschuhen, von Polizisten zu Boden gerungen, oder von den Schäferhunden der Ordnungskräfte bedrängte Demonstrierende: Charles Moores Photos des Civil Rights Movements haben sich längst im kollektiven Gedächtnis festgesetzt, insbesondere die der Proteste in Birmingham, Alabama von 1963. Betrachtet man Moores Aufnahmen, so fällt in erster Linie die Distanzlosigkeit des Photographen auf. Ausgestattet mit Kameralinsen geringer Brennweite, nähert sich der Reporter dem Geschehen unmittelbar, ermöglicht den Betrachter_innen den Blick über die Schultern der sich gegen die Kraft des Wasserstrahls lehnenden Feuerwehrleute oder in die vor Zähne starrenden Mäuler der sich aufbäumenden Polizeihunde (Abb. 1 u. 2). Gerade die Bilder vom Einsatz der Hundestaffeln heben sich von der Masse des photojournalistischen Materials

ab, besitzen sie doch nach Cartier-Bresson das Besondere des instant décisif, in dem Emotionalität und Dramatik des Geschehens kumulieren: Sie werden nicht nur in unzähligen nationalen und internationalen Zeitschriften veröffentlicht, sondern auch als herausragende Beispiele des Photojournalismus in wichtigen Ausstellungen wie der Weltausstellung der Photographie von 1964 präsentiert. Nicht zuletzt die immense Verbreitung dieser Photos rückte die Proteste der Bürgerrechtsbewegung und die Rassendiskriminierung in den Blick der amerikanischen Meinungsträger_ innen: Als Moores Bilder in LIFE erschienen, erreichten sie ein Millionenpublikum – über ein Zehntel der amerikanischen Bevölkerung zählte damals zu den Subskribent_innen des

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Abb. 1 u. 2


Abb. 4

Abb. 3

Magazins.1 Sicherlich liegt es auch an der Bekanntheit der Bilder, dass sich ein Künstler wie Andy Warhol ihrer für seine ›Race Riot‹-Serie bedient, sind doch Popularität und massenmediale Verbreitung elementare Kriterien seiner Motivwahl. In ›Red Race Riot‹ (1963, Abb. 3) reproduziert er einige von Moores Photos aus atomare Bedrohung, um ein politisches StateBirmingham mittels Siebdruck auf einer rot ment zum Rassismus.2 bemalten Leinwand. Dadurch ergänzt er seine Betrachten wir zunächst die Art und Weise, ›Electric Chairs‹ und die ›Atomic Bomb‹ (Abb. wie Warhol mit den verschiedenen Bildern der 4 u. 5), verankert in den zentralen Auseinan- Photostrecke eine Geschichte erzählt: Eines dersetzungen der Zeit um Todesstrafe und dieser Bilder zeigt einen Schwarzen mit Hut, der sich zunächst erstaunt umwendet, als ein Polizeihund sein linkes Hosenbein zerreisst; zwei weitere zeigen denselben Mann, wie er diesem Angriff mit einem Schritt nach vorne zu entgehen versucht und dann von weiteren zähnefletschenden Hunden bedrängt breitbeinig verharrt, die Arme zum Schutz vor den Bissen angehoben. Die Attacke scheint angesichts des eher überrascht wirkenden Angegriffenen und der völlig ruhig am Strassenrand stehenden Afroamerikaner_ innen unangebracht: Ohne Zweifel liegt die Sympathie der Betrachter_innen beim schwarzen Opfer, das offensichtlich keinerlei Anlass geboten hat, dergestalt von den Hundestaffeln angegangen zu werden, zumal sich der Hund im letzten Bild dem Photographen, und damit auch den Betrachter_innen, zuwendet. Soweit die Aussage der Photos von Moore; Warhol spitzt diese Aussage zu, indem er die Bilder in einem Rhythmus anordnet, welcher den Fluchtbewegungen des Bedrängten entspricht: Zunächst bringt er alle drei Motive auf dasselbe Format,

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Abb. 5

wodurch das Narrative die Oberhand über die Besonderheit der einzelnen Aufnahme gewinnt. In der Zeitschrift LIFE, der Quelle von Warhols Siebdruckvorlagen, erstreckt sich das finale Bild hingegen über eineinhalb Seiten, während den am äussersten linken Rand übereinander angeordneten Anfangsbildern des Erzählstrangs nur ein schmaler vertikaler Streifen zugestanden wird, den sie sich zudem mit der Überschrift und einem kurzen Text teilen müssen.3 Bei Warhol sehen wir in der Leserichtung von links oben nach rechts unten – bei ›Red Race Riot‹ mit seinen kleineren, aneinandergereihten Einzelbildern die aus Photoreportagen oder Bildergeschichten gewohnte Leserichtung – zunächst den parallel zum Bildrand stehenden Mann, welcher im zweiten Bild gegen unsere Blickrichtung zu fliehen versucht. Gestoppt wird unser Blick von einem Uniformierten mit Schlagstock, worauf er sich den Szenen darunter zuwendet, welche die Ausweglosigkeit und die Attacke duplizieren; darunter wiederum der Versuch der Flucht und schliesslich das endgültige Festhalten des Schwarzen in auswegloser Verdoppelung: Die begrenzte rote Fläche der Leinwand als Äquivalent zum Bewegungsraum des Fliehenden ist ausgeschöpft: Bis hierhin und nicht weiter! Besitzen bereits die den Siebdrucken zugrundeliegenden Originalaufnahmen einen moralischen Impetus, welcher der Dualität

von Aggression und Ohnmacht entspringt, so macht Andy Warhols Werk die Not des von den Hunden gejagten und gepeinigten Mannes durch das Hin-und-her des Betrachterauges endgültig erfahr- und fühlbar. Gerade Warhols ›Red Race Riot‹ beweist die Möglichkeit, mittels einer anderen Anordnung der vorgefundenen Photographien eine Geschichte intensiver zu erzählen, als dies die ursprüngliche Reportage vermochte. Diese bildkünstlerisch überzeugende Verstärkung der Aussage belegt den politischen Anspruch Warhols. Doch auch Charles Moore ist kein neutraler Beobachter. Sicher: seine Aufnahmen bewahren stets die Integrität des Dokumentarischen, dennoch redet Moore selber von einem »fight with my camera«, betrachtet seinen Photoapparat als Waffe im Kampf um Menschenrechte.4 Hierbei geht er mit den Strateg_innen der Bürgerrechtsbewegung konform, welche im Bild das ideale Kommunikationsmedium erkannten. Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) unterhielt ein eigenes Netz von Photograph_innen, und wies 1965 explizit auf die Wichtigkeit der Bilder hin:

»No speaker, however eloquent, can convey to an audience that is removed from the situation just exactly what it is all about […]. Photographs can, and do«.5 Das Diktum von Aristoteles, wonach nicht die Taten die Menschen bewegten, sondern die Worte über die Taten, hat eine Modernisierung erfahren: Es sind nun die Bilder der Taten, welche die Menschen bewegen. So definiert sich das Civil Rights Movement letztlich durch Bilder, welche von dessen Vertreter_innen auch

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Abb. 6

bewusst gesucht wurden: Birmingham galt als Stadt mit der striktesten Rassentrennung, auch wurden dort zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und Anfang 1963 mehr als zwei Dutzend Bombenanschläge auf prominente schwarze Meinungsführer_innen und Institutionen verübt, was der Gemeinde den Spitznamen »Bombingham« eintr ug. Zudem war der dortige Public Safety Commissioner Eugene ›Bull‹ Connor, ein Mitglied der rassistischen Dixiecrats, für seine Gewaltbereitschaft sowie für seine Medienaffinität berüchtigt. 6 Birmingham präsentierte sich als idealer Ort für eine Kampagne der Bürgerrechtsbewegung, garantierte diese Konstellation doch den medienwirksamen Zusammenprall eines aggressiven Südstaaten-Konservatismus mit Martin Luther Kings Prinzip der Gewaltlosigkeit. Es ist nicht zuletzt Moores Bildern aus Birmingham zu verdanken, dass die Strategie des gewaltlosen Widerstands zum Erfolg führen konnte, dokumentierten sie doch die moralische Überlegenheit der Erleidenden. Täter stehen gegen Opfer, Gewalt gegen Friedfertigkeit, Staatsmacht gegen Bürger_innen und Weiss gegen Schwarz. In Moores Aufnahmen kulminieren diese Gegensätze in einer moralischen Rechtfertigung des schwarzen Emanzipationsbestrebens. Diese ungleiche Konfrontation dokumentiert auch Bill Hudson mit dem Photo eines jungen Schwarzen, der von einem Schäferhund frontal

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angegriffen wird, während ihn der Hundeführer an der Strickjacke packt (Abb. 6). Entgegen verbreiteter Interpretationen kommt Martin Berger in einer interessanten Analyse zu dem Schluss, dass hier ein durchaus wehrhafter Schwarzer zu sehen sei.7 Eingefroren durch das Kameraauge, sehen wir nicht, wie der Angegriffene zuvor nach dem Arm des Hundeführers gegriffen hat, um dem Hund danach sein Knie unter das Kinn zu schmettern. So schildert der Abgebildete, ein mit dem Umgang mit Hunden vertrauter einheimischer Jugendlicher, der nach eigenen Angaben den Protesten eher distanziert gegenübersteht, das Geschehen. Eine andere Aufnahme Hudsons zeigt einen Afroamerikaner, der gar mit einem Messer gegen einen Polizeihund vorgeht, und auch Moore photographiert Schwarze, die alles andere als passiv auf den Polizeieinsatz reagieren: Einige ausgelassene Jugendliche machen sich erkennbar einen Spass daraus, den Wasserstrahlen der Feuerwehr flink auszuweichen und spielen Katz-und-Maus mit den schwerfälligen Polizeikräften. Weitere Aufnahmen zeigen einen Demonstranten, der die Hunde provoziert, indem er seine Jacke wie ein Torero schwenkt, auf einer anderen sieht man eine Gruppe Afroamerikaner_innen einen Ordnungshüter heftig verspotten (Abb. 7).

Abb. 7


Abb. 8

All diese Dokumente selbstbewusst-aggressiver Opposition sind heute fast nur noch interessierten Wissenschaftler_innen bekannt.8 Vernachlässigt man die einem Historiker unangemessene Attitüde des ›was wäre wenn?‹, erscheint Martin Bergers These, wonach die Civil Rights Photography zwar die schnellen Reformen in der Rassenfrage vorangetrieben, eine umfassende Gleichberechtigung durch die Zementierung der schwarzen Opferrolle jedoch gleichzeitig in weite Ferne gerückt habe, zumindest bedenkenswert. Zwar hätte die Photographie als Waffe der Machtlosen dadurch nichts von ihrer Schärfe eingebüsst, der in der Überschrift dieses Essays postulierte »Triumph der Ohnmacht« aber durchaus ein Fragezeichen verdient. Wehrhaftigkeit ist fest in der Freiheitskultur der USA verankert – das verfassungsmässige

Recht des Einzelnen auf Waffenbesitz zielt im Kern auf die gewaltsame Verhinderung einer tyrannischen Regierung, weist dem wehrhaften Bürger also eine Kontrollfunktion der Staatsgewalt zu. Dennoch wären bewaffnete Schwarze, welche sich gegen die Ordnungskräfte auflehnen, auch liberalen Weissen kaum vermittelbar gewesen. Die Reaktionen auf die gewaltbejahenden Selbstverteidigungsaufrufe an die schwarze Bevölkerung durch Malcolm X und später durch die Wortführer_innen der militanten Black Panther Party zeigen deutlich, dass eine vermittelte Gewaltlosigkeit zwingend für die Bereitschaft des weissen Mainstream war, die Emanzipationsbestrebungen der Afroamerikaner_innen zu unterstützen. Danny Lyon, ein Aktivist des SNCC, berichtet von der bis zur Selbstverleugnung gehenden Bereitschaft zur Zensur bei der Massenkundgebung 1963

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in Washington, welche durch die »I have a dream«-Rede Martin Luther Kings berühmt wurde: Vor allem Aktivist_innen aus den Südstaaten waren darüber verärgert, hatten sie für das Recht auf freie Rede doch vielfach ihr Leben riskiert und bekamen nun einen Maulkorb verpasst, um die Vertreter_innen des weissen PolitEstablishment nicht zu brüskieren.9 Ungeachtet einer aggressiven schwarzen Protestkultur überlagert das von den Strateg_innen des Civil Rights Movement postulierte Bild der passiven Afroamerikaner_innen die historische Realität. Hier offenbart sich ein Dilemma, mit dem sich letztlich alle Protestkulturen auseinandersetzen müssen: Sobald der Protest nicht nur isoliert erscheinen soll, als wie auch immer gerechtfertigter Aufstand einer kleinen Gruppe, sondern eine gesamtgesellschaftliche Dimension anstrebt, bedingt dies die Bildung einer Mehrheitsmeinung. Eine isolierte Protestbewegung kann sich allen Kompromissen hermetisch verschliessen und auf Maximalforderungen beharren, setzt sich allerdings damit auch der Gefahr des Scheiterns aus. Soll der Protest anhaltende Veränderungen generieren, die sich in neuen sozialen Regeln und Gesetzen manifestieren müssen, bedarf es zwingend der Akzeptanz des Mainstreams, wozu Zugeständnisse auf Kosten radikaler Konzepte unausweichlich werden. Die Adressat_innen der Proteste in Mississippi, Georgia oder Alabama waren nicht zuletzt die liberalen Weissen im Norden, die sich den rückständigen Southerners überlegen fühlen durften. Überspitzt gesagt wurden die gewaltlosen, von Polizeikräften misshandelten Schwarzen zum Mittel einer politischen Auseinandersetzung zwischen Weissen. Dies schlägt sich auch in der Kunst nieder: Norman Rockwells ›The Problem We All Live

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With‹ (1964, Abb. 8) – zuweilen als »the single most important image ever done of an AfricanAmerican in illustration history« angesprochen – zeigt Ruby Bridges, ein kleines schwarzes Mädchen aus New Orleans, auf dem Weg zur Schule.10 Da die Schule die Integration von schwarzen Schülern ablehnt, wird sie von U. S Marshals begleitet, welche Ruby beschützen und ihren Anspruch durchsetzen sollen. Durch die Detailverliebtheit des Gemäldes – angefangen von der zerplatzen Tomate und der verblassten »Nigger«-Schmiererei an der Mauer bis zu den Schulutensilien und akkurat umgestülpten Tennisöckchen des Mädchens – erinnert das Gemälde trotz des Themas an die harmlos-spöttischen Schilderungen amerikanischen Alltagslebens, für die der Illustrator der Saturday Evening Post-Cover bekannt ist. Sein Gemälde ›Southern Justice (Murder in Mississippi)‹ (1965, Abb. 9), das von dem Mord an drei Bürgerrechtlern erzählt, ist dagegen von einer für den Künstler untypischen erdigen Düsternis: Angestrahlt von einer von rechts kommenden Lichtquelle – vermutlich die Autoscheinwerfer der Mörder, deren Schatten rechts ins Bild ragen – stützt ein aufrecht stehender Weisser einen an ihm herabsinkenden Schwarzen, auf dem steinigen Boden liegt bäuchlings ein weiteres Opfer. Den Blick fest auf die Angreifer gerichtet, erscheint hier der ›gute Weisse‹ als Beschützer seines schwarzen Kameraden, während die Rassisten unsichtbar bleiben. Beide Bilder appellieren an die Verantwortung des weissen Amerika für ihre schwarzen Mitbürger_innen, welche dadurch in gewisser Weise allerdings auch entmündigt werden. So gutgemeint Rockwells Intentionen auch sein mögen, sie bleiben in dieser Hinsicht latent diskriminierend.

Abb. 9



Abb. 10

Im Fokus sowohl der politischen als auch künstlerischen Appelle war der gewalttätige Rassismus des Südens mit seinen Bombenanschlägen, Lynchmorden und den brennenden Kreuzen des Ku-Klux-Klan. Der systemische Rassismus der schlechteren Arbeitsbedingungen und Bildungschancen, unter welchem auch die Schwarzen im Norden der USA litten, wurde weitgehend ausgeklammert. Eine umfassende Gleichberechtigung, welche die Gesamtsituation der schwarzen Bevölkerung auch ausserhalb der amerikanischen Südstaaten berücksichtigt hätte, konnte so kaum mehr stattfinden. Spätestens 1966, als die Southern Christian Leadership Conference (SCLC) unter M. L. King die Gleichberechtigung der Schwarzen auch in Chicago einforderte – hier wurde vor allem die ghettoartige Wohnsituation als rassendiskriminierend empfunden –, musste man die Kehrseite dieser Strategie erkennen. Zwar waren die meisten Amerikaner_innen bereit, ihren schwarzen Landsleuten gegen die menschenverachtende Rassenpolitik im Süden der USA beizustehen, sobald die Forderungen aber Auswirkungen auf ihr eigenes Lebensumfeld zu entwickeln begannen, war das Ende der Toleranz erreicht: Kings Tross wurde von den weissen Anwohner_innen Chicagos dermassen massiv angefeindet, dass er entsetzt bemerkte, er habe noch nie soviel Hass und Feindseligkeit bei so vielen Menschen verspürt.11 Vor diesem Hintergrund wirkt Martin Bergers These wohlfeil, garantieren massen-

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medial verbreitete Dokumente aktiv kämpfender Schwarzer doch keineswegs eine schnellere oder umfassendere Emanzipation, sondern bedienen allenfalls den zugegebenermassen gerechtfertigten revolutionären Stolz der Aktivist_innen. Man kann davon ausgehen, dass ein Gutteil der weissen Mehrheit beim Betrachten des Moore-Photos mit der einen Polizisten verspottenden schwarzen Menschenmenge eher der Meinung gewesen sein dürfte, dass eine solche Provokation einen harten Polizeieinsatz rechtfertigen könne. Aus gutem Grund wählt Andy Warhol eben nicht jene Bilder, welche eine selbstbewusst-aggressive schwarze Protestkultur dokumentieren, sondern jene mit den angreifenden Polizeihunden aus der LIFE-Bildstrecke aus, besitzen sie doch die klarste Aussage hinsichtlich des Opfer/ Täter-Verhältnisses. Als erfolgreicher Art Director ist er mit den Kommunikationsprozessen der Werbung bestens vertraut und wählt deshalb schlicht die wirksamsten Bilder hinsichtlich seines Publikums – der weissen Kulturelite New Yorks. Dass Warhol genauso wie die Bürgerrechtler_innen letztlich die Opferrolle der Schwarzen betont, liegt an dieser Kongruenz der Adressaten. Mit Duane Hanson gibt ein weiterer Künstler seinen Kommentar zur Rassendiskriminierung in den USA ab. ›Riot‹ (1967, Abb. 10) zeigt eine für den Plastiker typische Gruppe lebensnaher polychromer Figuren, welche Martin H. Bush wie folgt beschreibt:

»Sieben Figuren waren in eine heftige Auseinandersetzung verwickelt. Ein stämmiger Polizist, umgeben von Selbstjustiz übenden Bürgern, schlug brutal mit seinem Knüppel, dem Symbol der


Autorität, auf einen Schwarzen ein, und – das schlimmste – er schien es zu geniessen. Hanson wollte deutlich herausstellen, wie Gewalt, auch in einer Demokratie, manchmal dazu benutzt wird, Rassenvorurteile aufrechtzuerhalten«.12 Bush irrt jedoch, wenn er bei der Beschreibung des Werks die etablierte Täter-OpferRolle repetiert. Bei Hanson rangelt ein mit einer Stange bewaffneter Weisser mit einem Afroamerikaner, der eine Machete schwingt, und einem hinterrücks mit einem Schlagstock gewürgten Schwarzen eilt ein weiterer mit erhobener Sichel zu Hilfe, wodurch der Künstler ein deutliches Statement zur Existenz und Berechtigung schwarzer Wehrhaftigkeit abgibt. Diese Konstellation ist irritierend, bricht sie doch mit dem verbreiteten Bild der erleidenden Schwarzen. Das Mitleid als Triebfeder der Solidarität mit den Forderungen der Afroamerikaner_innen – auf welches die Strategen des Civil Rights Movement setzen – fällt fast zur Gänze aus. Hansons Schilderung militanter Schwarzer gilt bis heute als kaum vermittelbar, wird von den sieben Figuren doch zumeist nur jene Gruppe mit dem prügelnden Polizisten und dem am Boden zusammengekrümmten Schwarzen ausgestellt und publiziert (Abb. 11). Revolutionsromantiker mag es bei dem Gedanken grausen, aber dass die amerikanische Bürgerrechtsbewegung nicht nur eine historische Fussnote geblieben ist, sondern seit dem Civil Rights Act von 1964 in verbindlichen Gesetzen zur Gleichberechtigung mündete, liegt letztlich an der Bereitschaft der Bürgerrechtler_innen, einen Teil der Eigenverantwor-

tung für ihren Kampf aus der Hand zu geben. Der Preis für die Solidarität der weissen Meinungsträger_innen, war jedoch hoch. Der erleidende Schwarze wurde zu einem im Kern diskriminierenden Topos, der eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe langfristig behinderte. Auch Moores Aufnahmen mit den angreifenden Schäferhunden zementieren die schwarze Opferrolle, was sie jedoch vor dem Anwurf der latenten Diskriminierung schützt, ist deren im Medium begründeter Authentizitätsanspruch. Während die irritierende Süsslichkeit oder das unverhohlene Pathos der Rockwell-Gemälde deren Aussage als gewollt und zweckgerichtet diskreditieren, beharrt das Kamerabild auf einem kategorischen ›so ist es gewesen‹. Dabei wird jedoch leicht vergessen, dass die Aufnahme keinerlei Aussage über ein davor oder danach zulässt. Das Klicken des Kameraverschlusses stanzt nicht nur einen scharf umrissenen Ausschnitt aus einem Ort, sondern auch aus der Zeit. Zwar suggerieren Bilderreihen wie jene Moores einen Erzählstrang, es sind jedoch lediglich zeitlich nah beieinanderliegende Momente. Was die Bilder nicht zeigen, kann unmöglich rekonstruiert werden, und die kluge Aussage Yves Michauds, wonach wir Photographien aus dem Blickwinkel all der Bilder zu hinterfragen hätten, die nicht existierten, hat angesichts der klaren Bildaussage der Moore-Photos durchaus etwas frustrierendes.13 Doch ist die Bildaussage tatsächlich so klar?

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Abb. 11


Dass Hudsons Aufnahme keinen passiven, sondern einen sich wehrenden Schwarzen zeigt, hätte man auch am Bild selber ablesen können, ist doch sowohl die Hand auf dem Unterarm des Polizisten als auch das angezogene Knie des Schwarzen sichtbar, ganz zu schweigen von seinem entschlossenen Gesichtsausdruck. Und auch Moores berühmte Photos zeigen mehr als das festgefahrene Bild des schwarzen Opfers und des weissen Aggressors. Die am Rande stehenden Schwarzen wirken eher wie neugierige Zuschauer_innen als wie geschulte Aktivist_innen der Bürgerrechtsbewegung, und womöglich gehört auch der Angegriffene zu dieser Gruppe – bei einem zufällig attackierten Unbeteiligten wäre die Bereitschaft zum Opfer, welche den Märtyrer auszeichnet, nicht mehr gegeben. Dazu gesellen sich im Hintergrund einer Aufnahme etliche Reporter, welche mit gezückten Kameras auf das perfekte Motiv lauern. Dieses von Moore festgehaltene Publikum beeinträchtigt die Spontaneität der Szene empfindlich, verleiht es dem Geschehen doch in gewisser Weise den Charakter einer Aufführung. Dies war genau die Intention des Polizeichefs Eugene ›Bull‹ Connor, der die Reporter mit dem berühmten Satz, »I want ’em to see the dogs work«, so nah wie möglich am Geschehen haben wollte, und es entbehrt nicht der Ironie, dass er dadurch einige der eindrucksvollsten Bilddokumente der Civil Rights Photography ermöglichte.14 Durch die Erweiterung der Kategorien auf Opfer, Täter und Zuschauer_innen verschiebt sich das nicht nur metaphorisch zu verstehende Schwarz-Weiss der Bildaussage zumindest in Nuancen hin zu einer differenzierteren Interpretation. Nicht ohne Grund

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haben die Bildredakteure des LIFE-Magazins die Reporter grösstenteils aus dem Bild geschnitten. An einer Erweiterung des Aussagehorizonts liegt ihnen nichts, denn erst in seiner visuellen Zuspitzung – welche auch immer Vereinfachung sein muss – gerinnt das einzelne Bild zu einer Chiffre des Rassismus. Bei Warhol verstärkt zudem der Kontrast der absichtsvoll schlecht ausgeführten Siebdrucke die Zeichenhaftigkeit der Bilder. Diese Ausführungen belegen, dass die Bildaussage nicht zwingend mit dem tatsächlichen Geschehen konform gehen muss, dass Photographie mehr ist als Dokumentation. In der kurzen Zeit, in der die Blende der Kamera sich öffnet, können weise Staatenlenker zu Hanswürsten, Hollywoodschönheiten zu Durchschnittstypen und zufällige Passant_ innen zu Held_innen werden. Charles Moore ist ein Meister des photographischen Augenblicks, wo im professionellen Spiel mit dem Zufall eine Balance zwischen Tatsachenbericht und Intention entsteht. Die Aufnahme, die Wahl des Bildausschnitts und erst recht die Auswahl der jeweiligen Bilder zum Zwecke der Vervielfältigung sind interpretative Akte. Nichtsdestotrotz sind Moores Bilder aus Birmingham Beispiele für das Wirken dessen, was Heinrich Böll die »humane Kamera« genannt hat:

»Es gibt grosse Augenblicke der Photographie. Wenn die Kamera dem geschichtlichen Augenblick begegnet, zur Stelle ist, wenn im einzelnen Schicksal das allgemeine zum Bild werden kann, ohne das einzelne Schicksal im Vorgang des Photographierens zu verletzen.«15


Warhol geht noch einen Schritt weiter, indem er die Aufnahmen – ohne auf den Realitätsanspruch des Mediums zur Gänze zu verzichten – seinem Gestaltungswillen unterwirft. Für den Pop-Künstler sind die Aufnahmen Verfügungsmasse im Ringen um eine zugespitzte Bildaussage. Das trifft auch auf den Titel zu: ›Race Riot‹, nicht etwa ›Birmingham‹, betitelt er sein Werk und impliziert so eine Allgemeingültigkeit, welche vom Ort des Geschehens losgelöst ist. Durch seine Wiederverwertung

Abb. 12

kommentiert er nicht nur das manipulative Moment jeder Photographie, sondern verschafft der Bildreportage Moores in erster Linie einen neuen Rahmen. Herausgelöst aus dem massenmedialen Verbrauch, dem jedes Pressebild unterworfen ist, garantiert dessen Übernahme in die Kunst Beständigkeit. Während die Bilderflut der Tagespresse eine Konkurrenzsituation schafft, in der das Einzelbild um die Aufmerksamkeit der Rezipient_innen ringen muss, schafft Warhol den Bildern jene »der Kontemplation förderliche, Zurückhaltung fordernde Umgebung«, welche Susan Sontag für ange-

messen hält. 16 Durch die Übernahme der Pressephotos in die Kunst konserviert er auch die Deutungshoheit über das Dargestellte. Im politischen Kampf um die Bilder gehört es zum Geschäft, besonders unliebsame Darstellungen zu verhindern oder zumindest zu diskreditieren. Als aktuelles Beispiel sei die berühmt gewordene Aufnahme des gegen den Stuttgarter Bahnhofsneubau protestierenden Pensionärs genannt, dem die Wasserwerfer der Polizei beide Augen zerfetzt haben (Abb. 12). Unmittelbar nach deren Veröffentlichung versuchte die offizielle Seite sich des Vorwurfs der übertriebenen Polizeigewalt zu entziehen, indem unzähliges teils fragwürdiges Bildmaterial freigegeben wurde, das die Gewaltbereitschaft der Demonstrierenden dokumentieren sollte. Bereits 1962 intervenierte Polizeichef Sullivan in Montgomery gegen die Veröffentlichung eines Photos von Moore, welches einen weissen Mann zeigt, der mit einem Baseballschläger nach einer älteren schwarzen Dame ausholt. »Sullivan’s problem is not a photographer with a camera«, wies der Zeitungsherausgeber diesen Zensurversuch zurück: »Sullivan’s problem is a white man with a baseball bat«.17 Ironischerweise erkannte der Polizeichef im Gegensatz zum Zeitungsmann, dass sein Problem weniger in der Existenz des gewalttätigen Rassisten gründete, sondern in der Symbolkraft des veröffentlichten Bildes. Wenn Warhol Bilder wie diese in die Sphäre der Kunst verfrachtet, verhindert er deren etwaige propagandistische Umdeutung und deren Zensur.

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Es gibt nur wenige Bilder, in welchen sich Geschichte zu einem moralischen Appell verdichtet: Die Aufnahme des kleinen jüdischen Jungen, der im Warschauer Ghetto mit erhobenen Händen durch die Gasse uniformierter deutscher Soldaten schreitet, jene des vor Napalmbomben fliehenden nackten vietnamesischen Mädchens oder eben Moores Photos von den Rassenunruhen in Birmingham sind Beispiele für diese Art von Symbolbildern. Sie zeigen zugleich das Geschehen, wirken also als Tatbestandsaufnahme und verdichten als Symbolphotos gleichzeitig eine ganze Kette von ähnlichen Ereignissen. Weitgehend entkoppelt vom konkreten historischen Moment illustrieren Moores Aufnahmen die Idee des gerechten Kampfes um Emanzipation. Sie werden zu ikonischen Bildern der Bürgerrechtsbewegung, was der grosse Kommunikator Warhol sofort erkennt: Bei ihm überdauert die generelle Aussage der Moore-Photos im modernen Historienbild. Während Moores Photostrecke viele Aspekte der BirminghamProteste zeigt – auch durchaus aggressiv agierende Demonstrierende –, wählt Warhol ganz bewusst jene Bilder aus, welche die Schwarzen als Erleidende präsentieren. Damit gibt er dieselbe Lesart vor, welche auch die Strateg_innen des Civil Rights Movement bevorzugen. Warhols Appell gegen die Rassendiskriminierung ist der des Propagandisten, während Charles Moore als Reporter stärker dem Ethos des Dokumentarischen verpflichtet bleibt. Was den engagierten Bildreporter, der die Repressionen des rassistischen Systems am eigenen Leib erfährt, und den aus der räumlichen und kulturellen Distanz New Yorks agierenden PopKünstler jedoch verbindet, ist das Wissen um die Macht der Bilder und das politische Bewusstsein, diese auch zu nutzen.

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1

Siehe die Birmingham-Aufnahmen Moores in: Durham, Michael S.: Powerful Days. The Civil Rights Photography of Charles Moore, New York 1991, S. 92-119; LIFE, 17. Mai 1963, S. 26-36, URL: http://books.google.com/books?id=2kgEAAAAMBAJ&prints ec=frontcover&hl=de&source=gbsgesummary_r&cad=0#v=onep age&q&f=false [14. 01. 2011]; Cartier-Bresson, Henri: Images à la sauvette, Paris 1952, S. 2; Abb. von Charles Moores Photo in: Pawek, Karl (Red.): Weltausstellung der Photographie. 255 Photos von 264 Photographen aus 30 Ländern zu dem Thema ›Was ist der Mensch?‹, Hamburg 1964 (= Ausst.kat. Berlin / Paris / Wien u. a. 1964), Tafel 78; Berger, Martin A.: Fixing Images: Civil Rights Photography and the Struggle Over Representation, in: RIHA Journal 0010 (21. Oktober 2010), URL: http://www.riha-journal.org/ articles/2010/berger-fixing-images [14. 01. 2011], Anm. 8 f.

2

Zum Vorwurf, der Künstler nutze mit poptypischer Oberflächlichkeit nur zynisch das Aufmerksamkeitspotential der Aufnahmen, und zum politischen Aspekt der Pop Art siehe: Lander, Tobias: Coca-Cola und Co. – Die Dingwelt der Pop Art und die Möglichkeiten der ikonologischen Interpretation, Petersberg 2011 (im Erscheinen), Kap. 4.3.

3

Abb. der von Warhol markierten Doppelseite aus Life in: Phaidon Editors (Hrsg.): Andy Warhol. ›Giant‹ Size, London / New York 2006, S. 236.

4

Moore, Charles: Fight with my camera, URL: http://video.google. com/videoplay?docid=-4242786686933713169&ei=OtyfS6nRHpPo rAKghbnpCQ&q=charles+moore+i+fight+with+my+camera# [14. 01. 2011].

5

Julian Bond, Pressechef des SNCC, zit. n.: Schmeisser, Iris: Camera at the Grassroots: The Student Nonviolent Coordinating Committee and the Politics of Visual Representation, in: Miller, Patrick B. u.a. (Hrsg.): The Civil Rights Movement Revisted. Critical Perspectives on the Struggle for Racial Equality in the United States, Hamburg 2001 (= FORECAAST (Forum for European Contributions to African American Studies), Volume 5), S. 105.

6

Berger, Fixing Images, Abs. 1; Riches, William T. Martin: The Civil Rights Movement. Struggle and Resistance, 2. Aufl., Houndmills / New York 2005 (= Studies in Contemporary History, hrsg. Von T. G. Frasier und J. O. Springhall), S. 18 u. 68 f.

7

Berger, Martin A.: Race, Visuality, and History, in: American Art, Summer 2010, Vol. 24, Nr. 2, S. 94-99.

8

Ders., Fixing Images, Abb. 5; Durham, S. 103, 110 u. 114 f.

9

Lyon, Danny: Memories of the Southern Civil Rights Movement, Chapel Hill / London 1992, S. 84.

10 Ken Laird Studios: »The Problem We All Live With« – The Truth About Rockwell’s Painting, URL: http://hubpages.com/hub/TheProblem-We-All-Live-With---Norman-Rockwell-the-truth-abouthis-famous-painting [14. 01. 2011]. 11 Riches, S. 89. 12 Bush, Martin H.: Duane Hanson – Skulpturen, in: Ders., Buchsteiner, Thomas (Hrsg.): Duane Hanson – Skulpturen, Ostfildern 1990 (= Ausst.kat. Tübingen u. a. 1991/92), S. 19. 13 Michaud, Yves: Kritik der Leichtgläubigkeit. Zur Logik der Beziehung zwischen Bild und Realität, in: Fischer, Hartwig, Kunstmuseum Basel (Hrsg.): Covering the Real. Kunst- und Pressebild von Warhol bis Tillmanns, Köln 2005 (= Ausst.kat. Basel 2005), S. 28. 14 Berger, Fixing Images, Abs. 7 u. Anm. 10.


15 Böll, Heinrich: Die humane Kamera, in: Pawek, unpag. [S. 3]. 16 Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten, München / Wien 2003, 140 f. 17 Zum Kampf um die Deutungshoheit der Bilder im Falle der Stuttgarter Bahnhofsproteste siehe Würger, Takis: Eine geordnete Sache, in: Der Spiegel. Das deutsche Nachrichtenmagazin, Nr. 50 / 13. Dezember 2010, S. 49-54; Grover Hall, zit. n.: Durham, S. 25;

Abb. 6: Bill Hudson: Polizeihunde greifen William Gadsden an, Birmingham, Alabama, 3. Mai 1963, aus: Berger, Martin A.: Race, Visuality, and History, in: American Art, Summer 2010, Vol. 24, Nr. 2, S. 95.

Moores Photo in ebda., S. 48 f.

Abb. 7: Charles Moore: Schwarze verspotten einen Polizisten, Birmingham, Alabama, 3. Mai Bildnachweis 1963, aus: Durham, Michael S.: Powerful Days. Abb. 1: Charles Moore: Einsatz der Polizei- The Civil Rights Photography of Charles Moore, hunde in Birmingham, Alabama, 3. Mai 1963, New York 1991, S. 114 f. aus: Durham, Michael S.: Powerful Days. The Abb. 8: Norman Rockwell: The Problem We Civil Rights Photography of Charles Moore, All Live With, 1964, Öl auf Leinwand, 91,4 x New York 1991, S. 104. 147,3 cm, The Norman Rockwell Museum at Abb. 2: Charles Moore: Einsatz der Polizei- Stockbridge. hunde in Birmingham, Alabama, 3. Mai 1963, Abb. 9: Norman Rockwell: Southern Justice aus: Durham, Michael S.: Powerful Days. The Civil Rights Photography of Charles Moore, (Murder in Mississippi), 1965, Öl auf Leinwand, 134,6 x 106,7 cm, The Norman Rockwell New York 1991, S. 105. Museum at Stockbridge. Works by Norman Abb. 3: Andy Warhol: Red Race Riot, 1963, Rockwell printed by permission of the Norman Siebdruck und Kunstharz auf Leinwand, 350 x Rockwell Family Agency, Book Rights Copyright 210 cm, Museum Ludwig, Köln, © 2010 The © 2011 The Norman Rockwell Family Entities. Andy Warhol Foundation for the Visual Arts /  Abb. 10: Duane Hanson: Frühe Installation Artists Rights Society (ARS), New York. von ›Riot‹ (1967), aufgenommen vermutlich in Abb. 4: Andy Warhol: Silver Disaster, 1963, Florida, © VG Bild-Kunst, Bonn 2010. Siebdruck und Kunstharz auf Leinwand, 106,7 Abb. 11: Duane Hanson: Riot (Policeman and x 152,4 cm, The Baltimore Museum of Art, Sammlung Sonnabend, © 2010 The Andy War- Rioter), 1967, Öl auf Polyesterharz und Fiberhol Foundation for the Visual Arts / Artists glas, div. Materialien, Lebensgrösse, Privatsammlung © VG Bild-Kunst, Bonn 2010. Rights Society (ARS), New York. Abb. 5: Andy Warhol: Atomic Bomb, 1965, Acryl und Siebdruck auf Leinwand, 264 x 204,5 cm, Sammlung Saatchi, London © 2010 The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts / Artists Rights Society (ARS), New York.

Abb. 12: Marius Becker: Während einer Demonstration gegen ›Stuttgart 21‹ verletzter Dietrich Wagner mit Helfern, 30. September 2010, aus: Der Spiegel. Das deutsche Nachrichtenmagazin, Nr. 50 / 13. Dezember 2010, S. 49.

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Ulf lief Amok oder how I learned to love military forces Von und mit Julia Jarque y Jörg, Ines Kramaric, Julia Lemmle, Judith Philipp, Anne Steinbrück, André Vollrath ~ Konzept Julia Lemmle, Judith Philipp

Gekürztes Skript der Uraufführung vom 25.6.20100 beim Festival 48h Neukölln, Berlind


Theater

I. Prolog Auftritt André. Zum Publikum: Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm. Gesang von der Empore: »Gaudeamus igitur iuvenes dum sumus, post iucundam iuventutem, post molestam senectutem, nos habebit humus!« 1 Auf der Empore wird die erste Fahne entrollt. Darauf die Übersetzung: »Lasst uns, weil wir jung noch sind, uns des Lebens freuen! Denn wir kommen doch geschwind wie ein Pfeil durch Luft und Wind zu der Todten Reihen.« Auftritt Julia L. Zum Publikum: Die Julia steht im Walde ganz still und stumm. Da kommt ein deutscher Panzer und fährt sie um. Dank der deutschen Bundeswehr gibt’s jetzt keine Julia mehr.

Auftritt Judith. Alle drei in einer Reihe. Sehen sich an. André. Zum Publikum: »Ulf läuft Amok. Aber nicht jetzt.« Julia L. und André gehen wandernd und »Gaudeamus igitur« singend zur anderen Seite des Raumes. Dort sitzen Anne, Ines und Julia J in einer Reihe auf der Stufe vor dem Tisch und machen waldatmosphärische Geräusche: Pfeifen, Zwitschern, Trillern. Judith klebt eine Deutschlandkarte grossflächig im hinteren Teil des Raumes ab. Darauf markiert sie mit Fähnchen Orte, an denen Amokläufe stattgefunden haben. Verschiedenfarbige Bauklötzchen markieren Anzahl und Geschlecht der Täter und Opfer. Um die Fähnchen anzubringen bohrt Judith mit ihrem Akkuschrauber energisch Löcher in das Holz. Das Gerät ist wie eine Pistole in einem Gürtelhalfter angebracht. Der Akku wechselt sich wie das Kugelmagazin einer Automatikwaffe.

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»Kabul 2005. Lieber Robert, man braust etwas soldatisch-romantisch in der Panzerluke II. Waldidylle im Krieg stehend durchs Land, funkt ein bisschen hin Auf dem Tisch breitet Julia die Picknickdecke aus, und her, lebt von EPA, schläft auf dem Panzerund packt aus dem Rucksack aus. Zum Publi- deck und denkt unter einem unendlichen kum: »Jagdschinken, Jagdmesser, Jagdwurst, Sternenhimmel über diese Welt nach. Dein Landjäger und – Briefe aus Afghanistan«. Stabsarzt Christian, 38 Jahre alt.« 2 Waldgeräusche und Kriegskrachen gemischt. Julia J. singt lauter: »Vor der Kaserne, vor Dazu »Lili Marleen« summen und singen. Wäh- dem grossen Tor, steht eine Laterne und steht renddessen: Vorlesen der Feldpostbriefe. sie noch davor. Da wollen wir uns wiedersehen, »Kabul 2003. Liebe Erika! Seit IFOR wird bei der Laterne wollen wir stehen. Wie einst Lale Andersens Lili Marleen in allen Aus- Lili Marleen. Wie einst Lili Marleen.« landseinsätzen der Bundeswehr zum Ende des Programms von Radio Andernach, dem Einsatzradio der Bundeswehr, gespielt – und damit III. The code is simple auch als Rausschmeisser aus den Betreuungsein- Julia L. als Coach durch den Raum dozierend, richtungen jeden Abend um kurz vor 22 Uhr. laut, gestikulierend, ohne Pause, ständig in BeDas Lied erzeugt ein seltsames Zusammengehö- wegung. Währenddessen bewegen sich alle ohne rigkeitsgefühl. Wenn man es zu Hause hört, Pause in verschiedenen Trainingseinheiten durch weckt es sofort Erinnerungen. Lili Marleen ist den Raum: Kurzstreckenlauf, Sit-Ups, Tischein Stück der Kameradschaft, ein Teil dieses tennis, Geländerobben. Die Geschwindigkeit steimerkwürdigen Gefühls, das mir nicht gelingen gert sich, alle kommen immer mehr ausser Atem. will, jemandem zu beschreiben, der es nicht Coach: Guten Morgen, meine Damen und selbst erlebt hat. Dein Oberleutnant Claus, Herren, ich freue mich sehr, Sie hier begrüssen 41 Jahre alt.« zu können, zu unserem Seminar für Führungs»Masar-i-Scharif 2009. Lieber Thomas! kräfte. Freue mich auch sehr, dass sie aus allen Plötzlich eine Detonation, der Boden unter Teilen Deutschlands angereist sind. Wie Sie den Füssen vibriert. Ich drehe mich um und wissen, arbeite ich eng zusammen mit dem sehe einen Staubpilz in der Luft, 50 Meter von Bestsellerautor von »Legionär in der Röuns. Keiner weiss, was passiert ist. Ein zweiter mischen Armee. Der ultimative Karriereführer« und ein dritter Knall. Jetzt ist klar: ein Mörser- und habe Ihnen deswegen zwei besondere oder Raketenangriff. Ein Offizier befiehlt, Quellen mitgebracht. Zwei rhetorische Meisin die Flughalle einzurücken. terleistungen aus einem Film. Und Sie kennen Ich ziehe Weste und Helm an. Ein Zugführer alle diesen Film. Ein weltweit sehr erfolgreicher schreit seine Soldaten an, nicht vor den Fens- Film eines deutschen Regisseurs, Wolfgang tern zu stehen. Ein anderer brüllt: »Gefechts- Petersen. Es geht um Troja. Und da gibt es bereitschaft herstellen!« Ich lade mein Gewehr zwei wichtige Männer, sozusagen Gegenspieler. und spüre das Adrenalin. Dein Oberstleutnant Ich habe ihnen zwei Monologe dieser beiden Boris, 42 Jahre alt.« Helden mitgebracht, rhetorische Meisterleis-

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tungen. In einem sehr schwierigen Moment motivieren sie ihre Leute. Sehen Sie sich die Kopien auf Ihrem Tisch an. Sie werden heute zusammen mit mir diese Monologe sprechen lernen! Sie werden spüren, was das heissst, wenn ich motivieren kann. Es geht um alles, die Feinde stehen vor Trojas Toren und in diesem Moment hält Hektor eine Ansprache an seine Krieger: »My whole life I lived by a code and the code is simple: honor the gods, love your wife, defend your country – Troy has been mother to us all – fight for her!« 3 Business-Englisch sollten sie alle können, einmal übersetze ich trotzdem auf deutsch: »Mein ganzes Leben lebte ich nach einer Regel. Und die Regel ist einfach: ehre die Götter, liebe deine Frau und verteidige dein Land. Troja ist unser aller Mutter. Kämpft für sie!« Coach: Und jetzt gleich schon mal zusammen: My whole life... Coach wiederholt Monolog wieder und wieder. Coach: Sehr gut, aber jetzt geht es über in den nächsten Level. Denn Sie kennen das alle, manchmal muss man auch Dinge vertreten, die hm... schwierig sind und dann braucht man Visionen. Visionen wie Brad Pitt, der als Achilles zu seiner Elitetruppe Folgendes sagt: »Myrmidons – my brothers in arms – I rather fight with you than with any army of thousands. Let no one forget how menacing we are – we are lions! Do you know what lays beyond that beach – immortatility – take it – it’s yours! 4 Und alle zusammen: Myrmidons ...« Bei »we are lions« ahmen ab der zweiten Wiederholung alle Brad Pitts Kriegsgeheul aus der Verfilmung nach, weitere Steigerung des Tempos beim Sport. Der Coach bricht nach einigen Wiederholungen ab, geht zur anderen Seite des Raums, unter das Vordach. Bleibt dort ruhig stehen.

V. Familienfeier Familie: »Kannst kommen!« Julia L. geht zum Geburtstagstisch. Alle: Happy birthday to you … lieber Tim, Sebastian, Ernst, Robert, Georg, happy birthday to you! Alle sprechen laut und aufgeregt durcheinander. Ständig wird in die Partypfeifen geblasen und chaotisch hin und her gelaufen. Nur das Geburtstagskind sitzt stumm auf seinem Platz. Lass dich herzen, mein Junge. Setz dich doch mal. Immer diese Kinder. Vati, Zeitung. Geburtstag. Lass doch. Zeitung. Setz dich doch mal. Ja das glaub ich. Singen wir doch noch mal. Und jetzt kommt der Kuchen. Wünsch dir was. Ja Mama. Die Oma, da die Oma. Oma?! Und noch mal. Jetzt schneid doch mal, Junge. Da den Kuchen. So ein schöner Kuchen. Gelungen. Rezept? Genau, mein Geheimrezept. Zitronensaft. Ah, Zitronensaft! Schokolade? Köstlich. Also wirklich. Wie du wieder. Jetzt aber Zeit.

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Einen Schnaps. Und Prost. Prosit. Schneid doch mal den Kuchen an. Und ein Schnäpschen für die Erwachsenen. Singen wir doch nochmal: Happy Birthday... Prost. Geschenke! Hier! Da. Jetzt aber! Das ist jetzt von der Oma. Wundertüte für Jungs. Geburtstagskind packt aus. Es ist ein Spielzeugpanzer mit Fernbedienung. Oh! Ein German-Tiger. Wird jetzt benutzt in... Niemand interessiert sich mehr für das Geburtstagskind. Judith nimmt den Panzer und fährt ihn durchs Publikum zur Deutschlandkarte zurück. Die Bauklötzchen-Statistik wird erweitert um Amokläufe in Amerika. Auch hier dominieren die männlichen Täter und die weiblichen Opfer.

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VII. Eine ganz normale Familie Julia L. stellt Schild mit Aufschrift »Sven 2009« auf den Tisch, an dem die Familie schweigend sitzt und isst. Die anderen essen schweigend weiter. Julia L. Zum Publikum: »Ich komme aus einer Akademikerfamilie. Meine Eltern waren beide total überfordert. Meine Mutter hatte ernsthafte psychische Probleme und extreme Stimmungsschwankungen: von supernett bis extrem autoritär. Und wenn ich nachmittags von der Schule kam, wusste ich nie: Hat sie jetzt gute oder schlechte Laune? Und ab sechs Uhr abends wurde getrunken. Berufstätig war sie nicht,


sie hatte ja genug zu tun mit sieben Kindern. Mein Vater war selbstständig, und sie hat ihren Beruf als Ingenieurin erst sehr viel später ausgeübt, so hobbymässig. So lange wir klein waren, hat unsere Mutter uns total isoliert und kontrolliert. Ich durfte nicht in den Kindergarten, denn da waren ja nur die armen Kinder von den Rabenmüttern. Wir durften auch nicht in den Fussballverein, denn sonntags musste man ja in die Kirche. Und auf Klassenfahrten durften wir auch nicht mitfahren – da hätten wir ja darüber reden können, was bei uns zu Hause so los war. Mein Vater? Der war beruflich sehr erfolgreich, aber in der Familie abwesend. Bis heute weiss ich eigentlich nicht, was ihn interessiert – ausser der Arbeit und dem Garten: Wie ich klein war, habe ich meine Mutter gehasst, später war es eher der Vater. Als ich in die Pubertät kam, habe ich angefangen, ihn zu verachten. Weil er alles gemacht hat, was sie gesagt hat. Er war ein Schwächling. So einer wollte ich nicht werden.« 5 Schild wird umgedreht, auf der Rückseite steht: »Jürgen 1969«. Familie isst schweigend weiter. Julia L. Zum Publikum: »Am traurigsten bin ich, wenn ich zu Hause bin, wo alles so steril ist, dass man bald auftreten muss nur auf Zehenspitzen, ist ja alles soooo sauber, wenn es heiliger Abend ist, und ich gehe runter ins Wohnzimmer, viele Geschenke sind da für mich, ist ja ganz toll, und wenigstens an diesem Abend beherrscht meine Mutter einigermassen ihr Wechselbad-Temperament, so dass man meint, vielleicht kannst du heute Abend mal Deine (also meine) eigene Schlechtigkeit etwas vergessen, aber es knistert irgendeine Spannung in der Luft, so dass man weiss, es wird ja doch wieder Scheisse. Ich packe meine Geschenke aus und »freue« mich, zumindest tue ich so.

Mutter packt ihre Geschenke aus, die von mir, und freut sich wirklich. Inzwischen ist das Essen fertig, Hühnersuppe mit dem Huhn drin, und der Vater kommt, zwei Stunden nach mir. Er hat bis jetzt gearbeitet, wirft Mutter irgendein Haushaltsgerät vor die Füsse, ihr kommen die Tränen vor Rührung, und er brummt irgendwas, das »Fröhliche Weihnachten« bedeuten könnte. Er setzt sich an den Esstisch: »Na, wie ist das, kommt Ihr endlich?« Schweigend wird die Suppe gelöffelt, das Huhn rühren wir nicht an. Kein Wort wird gesprochen während dieser Zeit, nur das Radio spielt leise, wie schon seit Stunden. »Die Hoffnung und Beständigkeit gibt Kraft und Trost zu jeder Zeit...« Wir sind fertig mit Essen, Vater setzt sich auf und brüllt uns an: »Prima, und was machen wir jetzt?«, so laut er kann, richtig gemein hört es sich an. »Nichts machen wir jetzt!« schreit Mutter zurück und läuft weinend in die Küche. Ich denke: »Wer straft mich da, das Schicksal oder der liebe Gott?« Ich frage leise: »Willst Du nicht wenigstens nachschauen, was wir Dir geschenkt haben«. »Nein!« Er sitzt nur da und stiert mit leerem Blick auf das Tischtuch. Es ist noch keine acht Uhr. Ich habe hier nichts mehr zu suchen, mache, dass ich auf mein Zimmer komme.« Julia L rennt auf die andere Seite des Raumes, die Empore hoch, spricht von dort weiter. Julia L.: »Warum habe ich die Hölle hier, warum wäre es besser tot als so was erleben? Weil ich ein Mörder bin? Das kann gar nicht ganz stimmen, es war heute nicht anders als jedes Jahr. Natürlich gehört mein Vater (meine Mutter natürlich auch) zu den Menschen, die überzeugt sind, die »Erziehung« der Nazis hätte auch ihr Gutes gehabt. Selbstverständlich, möchte ich beinah sagen, habe ich meinen

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Vater schon sagen hören (im Gespräch mit ebenfalls älteren Leuten, die ja nahezu alle so denken!) da war noch Disziplin, da war Ordnung, die kamen nicht auf dumme Gedanken.« 6 Alle. Gleichzeitig wiederholen alle am Tisch chorisch, immer lauter werdend: »Immer und immer wieder fragen wir uns wieso dies geschehen konnte warum wir seine Verzweiflung und seinen Hass nicht bemerkt haben. Bis zu dem furchtbaren Geschehen waren auch wir eine ganz normale Familie.« 7

VIII. Nur die Frauen abballern Jugendlicher: »Dass wir Frauen blöd fanden. Oberflächlich und total auf Äusserlichkeiten fixiert. Dann ging das los mit den ersten EgoShootern. Der allererste war Wolfenstein, in dem ist man immer in den Gängen eines Gebäudes rumgerannt und hat so Typen in Naziuniformen abgeballert.« Interviewerin: »Und was war daran so toll?« Jugendlicher: »Dass man Druck abbauen konnte. Man konnte sich den ganzen Hass vom Leib spielen. Jetzt könnte man meinen, das wäre dann doch ein Ventil und nicht gefährlich. Aber das Problem war, dass ich dadurch überhaupt erst auf den Gedanken kam: Was wäre, wenn ich es auch mal in echt tun würde? Das besondere an Ego-Shootern ist ja, dass man immer durch irgendwelche Gänge rennt und alle Menschen abballert, die aus den Türen kommen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, dass es doch toll wäre, an unsere Schule zu gehen und sich mal so richtig an allen zu rächen! Das war lange, bevor es in Deutschland den ersten Amoklauf gab.« Interviewerin: »Habt ihr darüber auch miteinander geredet?« Jugendlicher: »Absolut! Welche Lehrerin

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und welche Schülerinnen wir abballern! Und wo man sich in unserer verwinkelten Schule toll verstecken könnte.« Interviewerin: »Stopp! Sie haben gerade nur von Lehrerinnen und Schülerinnen geredet. Wollten Sie denn nur Frauen erschiessen?« Jugendlicher: »Ja, genau das ist doch der Punkt. Wir wollten immer nur die Frauen abballern. Vielleicht noch ein paar Alphamännchen dazu. Aber richtig interessant waren die Frauen. Die Frauen, von denen man sich gedemütigt gefühlt hat und abgestossen.« 8

IX. Tötungsabsicht Stille. Julia J klettert auf den Tresen und singt »I don’t like Mondays.« 9 Ines: »Nur vier Prozent aller Amokläufe an Schulen wurden durch Mädchen bzw. junge Frauen ausgeübt. Frauen sind nicht so brutal gefährlich. Es fehlt ihnen an der Tötungsentschlossenheit.« 10 Julia L, kommt von Empore, stellt sich neben das Schild mit dem Foto von Brenda Ann Spencer: »Am 29. Januar 1979, einem Montag, erschoss Brenda Ann Spencer, 16 Jahre alt, den Hausmeister und den Schulleiter der gegenüberliegenden Schule aus ihrem Schlafzimmerfenster mit dem halbautomatischen Gewehr, das ihr ihr Vater zu Weihnachten geschenkt hatte. Als sie ein Journalist nach dem Grund für ihre Tat fragte, sagte sie: I don’t like Mondays. This livens up the day.« Alle steigen auf den Tresen. Alle, abwechselnd: »Ich steh auf hohem Balkone am Turm, umstrichen vom schreienden Stare, Und lass gleich einer Mänade den Sturm mir wühlen im flatternden Haare. O wilder Geselle, o toller Fant, ich möchte dich kräftig


umschlingen, und, Sehne an Sehne, zwei Schritte Die Transparente mit der Aufschrift »Wir vom Rand, auf Tod und Leben dann ringen! Wär’ tanzen in den Tod« und »Das Scheiden tut nicht ich ein Jäger auf freier Flur, ein Stück nur von weh« werden links und rechts an der Empore einem Soldaten, Wär’ ich ein Mann doch minde- entrollt. stens nur, so würde der Himmel mir raten. Nun muss ich sitzen so fein und klar, gleich einem ar1 »Gaudeamus igitur«: bekanntestes traditionelles Studentenlied. tigen Kinde, und darf nur heimlich lösen mein Textüberlieferungen seit dem Mittelalter. Melodie seit 1788. Haar, und lassen es flattern im Winde.« 11 2 Briefe von deutschen Soldaten in Afghanistan – abgedruckt in »Süddeutsche Zeitung Magazin« Nummer 52 vom 23.12.2009. Alle: »In einem Land mit einer so hohen http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/31953 Selbstmordrate unter Jugendlichen haben wir 3 Monolog von Hector im Film »Troy«, 2004. doch schon längst aufgehört uns von selbst zu- 4 Monolog von Achilles (gespielt von Brad Pitt) im Film »Troy«, 2004. gefügten Verhängnissen schockieren zu lassen./ 5 Interview mit Sven (Name geändert) in EMMA, Heft 3, 2009. http://www.emma.de/index.php?id=teaser_beinahe_amoklaeufer_ Wir akzeptieren den Harakiri-Autounfall als sven_2009_3 eine Art Kriegsverletzung, den tödlichen Crash 6 Jürgen Bartsch in einem Brief an den Journalisten Paul Moor, beim Dragster-Rennen /den Tod durch Alko1969. hol am Steuer, die Handgelenke, die für eine 7 Offener Brief der Eltern des Amokläufers Tim Kretschmer in Winnenden, 2009. übergrosse Blutspende geöffnet werden./ 8 Gleiche Quelle wie Anmerkung Eigentlich unverständlich, dass wir dagegen auf 9 Song der »Boomtown rats«, 1979. Mord, /also den seltenen Fall, dass eine 10 Kriminologe Christian Pfeiffer im Interview mit der Stuttgarter Jugendliche einmal nicht sich selbst, sondern Zeitung zum versuchten Amoklauf einer Schülerin im Mai 2009 in Lörrach. http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/ jemand anderem Schaden zufügen will / mit 2022958_0_9223_-kriminologe-christian-pfeiffer-frauen-sind12 nicht-so-brutal-gefaehrlich-.html Fassungslosigkeit reagieren.« 11 Annette von Droste-Hülshoff: »Am Turme«, 1842.

X. Epilog Alle. Zuerst pfeifend, dann singend: »Und haben wir im Ranzen nichts als ein Kanten Brot. Wir werden leichter tanzen, wir tanzen in den Tod. Duri dei duri da, duri dei duri da. Wir tanzen in den Tod. Es baut die Sonne Brücken wohl über Fluss und See. Das Herz uns zu berücken, das Scheiden tut nicht weh.« Alle klettern herunter, holen ihre Rucksäcke und gehen singend ab. Von der Empore. Alle: »Wir kommen jung an Jahren wohl vor das Himmelstor. Wir wolln die Helden grüssen, ein Landsknecht lässt uns vor. Duri dei duri da, duri dei duri da. Ein Landsknecht lässt uns vor.« 13

12 Elizabeth Wurtzel: »Prozac Nation. Young and Depressed in America«, 1994. 13 Lied, das sich auf den 30jährigen Krieg bezieht. Wird in Liederbüchern von Wandervögeln, Pfadfindern und der Hitlerjugend aufgeführt.

Die gemeinsame Auseinandersetzung mit Amoklauf, struktureller Gewalt und der unterschiedlichen geschlechterspezifischen Prägung begann 2008 in einer Arbeit mit dem Schauspieler Ulf Schmitt. Julia Lemmle und Judith Philipp verbindet eine vom Humanismus geprägte Schulbildung an einem privaten katholischen Gymnasium in Süddeutschland. Vor diesem Hintergrund wurde der dem Skript zugrunde liegende Abend gemeinsam mit dem Performance-Kollektiv erarbeitet.

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Der Aufstand kommt – oder doch nicht? Text Lukas Germann, Zürich

E

In den USA verhalf der ultrareaktionäre in schmales Büchlein sorgt für Aufregung. »L’insurrection qui vient« Fernseh-Talkmaster Glenn Beck dem gut (oder »Der kommende Aufstand« in 100seitigen Text zu einem riesigen Erfolg, als der deutschen Übersetzung) ist 2007 in er ihn als durchaus ernstzunehmende und Frankreich von einem Comitée invisible intelligente Verlautbarung der Feinde Ame(Unsichtbares Komitee) geschrieben worden. rikas darstellte. Die Autor_innen treffen also Es hat sich nicht nur als Bestseller in Frank- durchaus einen Nerv der Zeit mit ihrem reich, den USA und seit seiner Übersetzung Büchlein, das die Perspektiven- und Hoffim deutschen Sprachraum entwickelt, son- nungslosigkeit der kapitalistisch-bürgerdern auch für viel Gesprächsstoff nicht nur lichen Normalrealität beschreibt und für die innerhalb der Linken gesorgt. Von anarchis- totale Revolte plädiert. Weshalb sie vielen tischen Zeitschriften bis zur bürgerlichen kritischen Geistern aus dem Herzen sprechen Presse fand »Der kommende Aufstand« Be- und weshalb ihre Lösungsvorschläge doch keine sind, darum geht’s im Folgenden. achtung und oft anerkennende Kritiken.

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insurrection

Während es in Tunesien, Libyen und Ägypten in Griechenland und England brodelt, die Menschen in Massen auf die Strasse gehen und sich zu wehren beginnen, bleibt es hierzulande ruhig. Es gäbe auch hier genügend gute Gründe, um zu rebellieren. Ohne Zweifel. Doch Ohnmacht und Angst bestimmen die »politische« Landschaft, denen sich auch die Linke nicht ganz entziehen kann. Es ist diese Situation der Starre, der Resignation und Schickung ins Bestehende, die den Ausgangspunkt des kleinen Büchleins »L’insurrection qui vient« bildet. »Unter welchem Blickwinkel man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ausweglos«. (5)

lichkeit einer Gesellschaft, in der sich die Ökonomie an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und in der materielle Gleichheit und das Prinzip allgemeiner Kooperation die Bedingungen der Möglichkeit individueller Entfaltung wären, obwohl die nötigen Voraussetzungen durchaus gegeben wären. Ihrer Verwirklichung steht die Angst entgegen, die Angst, die uns lähmt und ans Bestehende bindet. »L’insurrection qui vient« gibt dieser Stimmung einen Ausdruck und plaudert so das Geheimnis aus, das dem herrschenden Bewusstsein zwar bekannt ist, aber – um dem Funktionieren des Ganzen wie der Einzelnen

›ICH BIN WAS ICH BIN.‹ Mein Körper gehört mir. Ich bin ich, Dem kann zustimmen, wer selbst die Lähmung kennt, mit der die Gegenwart geschlagen scheint, die Zukunftslosigkeit einer Gesellschaft, die nicht mehr weiter weiss, ohne es zuzugeben. Und dies sind nicht wenige, zumindest in den bedrohten aber materiell noch nicht völlig verelendeten Gegenden und Schichten der Gesellschaft. Denn ja, so das vorherrschende Empfinden: Wir, die Bewohner_innen dieser Welt, in der sich der Kapitalismus global durchgesetzt hat, in der die Logik des Kapitals und der Konkurrenz noch die letzten »privaten« Residuen okkupiert, wir wissen nicht mehr weiter. Es fehlt die Perspektive, die über diesen Zustand hinaus weisen würde, die Bewegung, die stark genug wäre, eine grundsätzlich andere Logik in der Negation der kapitalistischen Verhältnisse durchzusetzen. Es fehlt der Glaube an die Mög-

willen – nicht zugegeben werden kann. »‚Das Künftige hat keine Zukunft mehr’ ist die Weisheit einer Epoche, die hinter ihrer Fassade extremer Normalität auf dem Erkenntnisstand der ersten Punker angekommen ist.« (5) Die Autor_innen verleihen dem Unbehagen Worte, das die ununterbrochene Betriebsamkeit der modernen kapitalistischen Gesellschaft in ihren Zentren der Macht begleitet und machen die Leere sichtbar, die den Inhalt des Lebens und Arbeitens in ihr bildet. Darf es der herrschenden Ideologie gemäss den Menschen als elendes und geknechtetes Wesen nur als Opfer brutaler Diktaturen geben, die ihren Untertanen die Wohltaten des bürgerlichen Liberalismus und der freien Marktwirtschaft verweigern, so spricht der Text den Menschen inmitten der Wohlstandszentren der westeuropäischen und

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nordamerikanischen Länder als elend und geknechtet an und aus. Was »Der kommende Aufstand« so bietet, ist nicht nur eine Beschreibung sondern eher eine Poesie der Ohnmacht und des Elends, der Verwahrlosung und Entfremdung. Eine Poesie, die zu ihrem Gehalt die Wahrheit über den Zustand der Gegenwart hat, die – wie der bereits zitierte Eingangssatz des Büchleins verkündet – ausweglos ist. So weit ist das Büchlein eine poetische Aktualisierung der Untersuchungen und Erkenntnisse, die Leute wie Herbert Marcuse, Adorno und andere neomarxistische Kritiker der Entfremdung in der Konsumgesellschaft

bereits aufgestellt haben. Eine solche Aktualisierung ist nicht gering zu schätzen. Der Text vermag in mancherlei Passagen durch die Mittel der Literatur nicht nur darzustellen sondern die Leser_innen durch die Art der Darstellung anzustecken und mitzureissen. Er vermag, wie man es mit einer abgegriffenen, hier aber passenden Metapher sagen kann, vielen Menschen »aus dem Herzen zu sprechen«. Dem Schrecken und der Bedürftigkeit Ausdruck zu geben aber bedeutet die Möglichkeit, sich in Worten verstanden zu wissen und ist der erste Schritt eines Bewusstseins, das die Ohnmacht und Angst zu überwinden vermöchte.

du bist du, und es geht schlecht. Massen-Personalisierung. Individualisierung aller Bedingungen – des Lebens der Arbeit, des Unglücks. (...)‚ ›I AM WHAT I AM.‹ Niemals hat Herrschaft eine über jeden Verdacht erhabenere Lösung gefunden. Die Erhaltung des Ichs in einem Zustand des permanenten Halbverfalls, in einem chronischen Halbversagen, ist das am besten gehütete Geheimnis der aktuellen Ordnung der Dinge. Das schwache, deprimierte, selbstkritische, virtuelle Ich ist wesensmässig das unendlich anpassungsfähige Subjekt, das von einer Produktion erfordert wird, die sich auf Innovation, beschleunigten Verfall der Technologien, beständige Umwälzung der gesellschaftlichen Normen, verallgemeinerte Flexibilität begründet. Es ist gleichzeitig der gefrässigste Konsument und, paradoxerweise, das produktivste Ich, das sich am kraftvollsten und gierigsten auf das geringste Projekt stürzt, um später zu seinem ursprünglichen Larvenzustand zurückzukehren. (S. 11–13)

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Doch das Comitée invisible will mehr, viel mehr. Wenn Adorno letztlich im blossen Gestus der Radikalität verbleibt und diese Gestenhaftigkeit seiner Kritik durch die ängstliche Ablehnung aller praktischen politischen Interventionen und seine Hinwendung zur Ästhetik als dem Residuum des Utopischen unterstreicht, so versuchen die Autor_innen von »L’insurrection qui vient« nicht im denkenden und dichtenden Nachvollzug der Unerträglichkeit des Falschen stecken zu bleiben. Sie wollen auch den Ausbruch daraus, die praktische Negation desselben, die in ihm angelegte Logik der Revolte aufzeichnen. Dafür genüge es – so das Unsichtbare Komitee im einleitenden Text – »sich zu den Schreibern der Situation« zu machen: »Es ist das Privileg der radikalen Umstände, dass die Genauigkeit dort in guter Logik zur Revolution führt. Es genügt, das zu sagen, was man vor Augen hat, und die Schlussfolgerungen nicht zu umgehen.« (10) Es stellt sich aber die Frage, ob dies gelingt und auch ob die Situation, die der Text beschreibt, so radikal ist, wie man als Leser_in, dem verführerischen Duktus des Büchleins erliegend, zunächst gern zu glauben bereit ist. Von wessen Situation ist denn eigentlich die Rede? Für wen ist der Text geschrieben? Wem spricht er »aus dem Herzen«? Und weshalb vermag die Hoffnung auf den kommenden Aufstand, in die das Büchlein mündet, nicht recht zu überzeugen? Ich wage zu behaupten, dass das Publikum von »L’insurrection qui vient« in seiner Mehrzahl weder die Migrant_innen, die in den französischen Vorstädten vegetieren und rebellieren, noch die Industriearbeiter_innen Italiens oder die Harz-IV Empfänger_innen in Ostdeutschland sind. Viel eher handelt es sich dabei um proletarisierte »Gebildete«.

Angst haben die, die noch etwas zu verlieren haben. In einem Zustand »permanenten Halbverfalls«, in welchem sie sich begierig »auf das geringste Projekt« stürzen, sind die, die durch ununterbrochene Betriebsamkeit gegen die lähmende Ohnmacht ankämpfen müssen. Gerade weil es für sie innerhalb der Hermetik des Bestehenden etwas zu tun und – zumindest theoretisch – etwas zu erreichen gibt, dieses »Etwas« aber immer dünner und dünner wird, bis es ganz verschwindet. Was »Der kommende Aufstand« als den Ausgangspunkt seiner Überlegungen beschreibt, ist das Elend derer, die ohne in ihrer materiellen Existenz unmittelbar gefährdet zu sein, den »Sinn«, den sie an die Gesellschaft bindet, verlieren. Und die sich deshalb meist umso mehr an seine Reste klammern, während ihr realer Spielraum kleiner und kleiner wird. Es sind dies in erster Linie die Intellektuellen und Kreativen, die Studentinnen, Werber, Grafikerinnen oder freischaffenden Autoren, die Journalistinnen und Künstler, Lehrerinnen und Kindergärtner – kurz: die wachsende Schicht von Menschen mit guter Ausbildung und bürgerlicher Bildung, die trotzdem nicht zur herrschenden Klasse gehören, auch wenn sie unter der bürgerlichen Hegemonie des zeitgenössischen Kapitalismus, wie sie in den westlichen Ländern durchgesetzt ist, zur Produktion und Reproduktion von deren Ideologie wesentlich beitragen, ja in solcher Ideologieproduktion meist ihre Arbeit besteht. Ihre grösste Herausforderung Tag für Tag ist, aus Nichts – der Leere ihrer Tätigkeit, dem im permanenten Druck abhanden kommenden Sinn ihrer Anstrengungen – Etwas zu machen. In ihrer beschränkten Verantwortung, die an sie übertragen ist, und Ohnmacht, mit der sie

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zu kämpfen haben, sind sie von ihrer gesellschaftlichen Stellung her überdurchschnittlich kritisch und unterdurchschnittlich revolutionär. Sie sind kritisch in ihrem Blick auf die Gesellschaft, gerade weil sie zumindest partiell an sie glauben müssen, um ihre Aufgabe auszuführen. Ihr Klassenbewusstsein ist meist wenig ausgebildet, weil es ihnen an Erfahrungen von Kollektivität fehlt. Doch der Glaube an die Richtigkeit des Ganzen ist erschüttert. Immer schwieriger wird es, sich selber vorzumachen, dass man bei der Arbeit sich selbst und seine Begabungen verwirklichen und etwas »Sinnvolles« tun kann. Es ist also keineswegs falsch, die Situation dieser Bevölkerungsschicht genauer zu betrachten, aus der sich sicherlich ein Grossteil der heutigen westeuropäischen radikalen Linken – mich mit eingeschlossen – rekrutiert. Die kapitalistische Gesellschaft produziert verschiedene Formen der Unterdrückung und Ausbeutung, es gibt in ihr unterschiedlichste Brennpunkte, an denen sich Widerstand regen und Kämpfe entwickeln können. Es wäre auch richtig, ja sogar unbedingt notwendig, aufzuzeigen, wie es Verbindungslinien und Gemeinsamkeiten zwischen dem wachsenden Unbehagen der im bürgerlichen Sinne Gebildeten und den Kämpfen in den Vorstädten, den Streiks in den Fabriken, der Not der Sozialhilfebezüger_innen usw. gibt und wie es nur mit vereinten Kräften möglich sein wird, die Verhältnisse umzuwerfen und neu zu gestalten. Nur versucht das Büchlein nichts dergleichen. Was also schlägt »L’insurrection qui vient« vor? Gefordert wird eine Entscheidung: »Die Katastrophe ist nicht das, was kommt, sondern das, was da ist. (...) Das ist der Punkt, an dem man Partei ergreifen muss.« (75)

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Dies ist sicherlich nicht falsch und folgt tatsächlich aus der Beschreibung des Elends, von dem das Unsichtbare Komitee ausgeht. Wenn es so, wie’s läuft, keine Zukunft geben kann, gilt es die vorgespurten Wege des Bestehenden vollständig zu verlassen. Die Entscheidung, die hier jedoch aufscheint, bleibt die zwischen zwei Katastrophen: der des Bestehenden und seinem Lauf in den Untergang und der des Zusammenbruchs desselben. Denn über den aktiv betriebenen Zusammenbruch des Bestehenden weist der Text nicht hinaus. Stattdessen wird eine Romantisierung der Revolte betrieben, die sich wenig für Politik und objektive Verhältnisse (oder ihre mögliche revolutionäre Aufhebung) interessiert. Stattdessen werden das persönliche Erleben der rebellierenden Tat resp. der ästhetische Blick darauf ins Zentrum einer angeblichen revolutionären Emanzipation gestellt, die sich – so offenbar die Meinung – ganz spontan und in einer Logik der Eigendynamik der Revolte vollziehen wird. Hier kippt die Poesie des Textes zuweilen in Esoterik: »Ein Lauffeuer verbindet das miteinander, was sich bei jedem Ereignis nicht durch die absurde Zeitlichkeit von der Aufhebung eines Gesetzes oder von irgendeinem anderen Vorwand hat gleichschalten lassen. Stossweise und in ihrem eigenen Rhythmus sehen wir so etwas wie eine Kraft Gestalt annehmen. Eine Kraft, die ihre Zeit nicht erleidet, sondern still erzwingt.« (123) Die »Ereignisse« aber, die so ausstrahlen und in die eigene Logik und Zeitlichkeit des Aufstandes eintreten, gehen zunächst weniger in ihrem realen Erfahrungsgehalt als in ihrer ästhetischen Ausstrahlung in die Erfahrung, die der Text beschreibt, ein. Die brennenden Autos und Polizeistationen in den Vororten vieler


französischer Städte 2005 tauchen im Diskurs, den, auf dem der Aufstand gemäss dem Büchden die Autor_innen von »L’insurrection qui lein gedeihen soll, ist nämlich nicht die gesellvient« betreiben, als losgelöste Bilder auf. Es schaftliche Wirklichkeit, sondern ein erst zu geht nicht um eine Analyse der Situation dieser schaffendes Ausserhalb derselben, dem die Aufstände in den Vorstädten, ihrer gesellschaft- Autor_innen den Namen »Kommune« geben. lichen Bedingungen, Widersprüche, politischen Diese Kommunen bleiben als eine Art AussteiMöglichkeiten und Fehler. Es geht auch nicht gerprojekt vage und gewissermassen virtuell: um ihre Besonderheiten und eventuellen Ge- »Die Kommune ist das, was passiert, wenn Wemeinsamkeiten mit anderen Brennpunkten des sen sich finden, sich verstehen und beschliessen, Widerstands, sondern um ihre einfache Einrei- zusammen ihres Weges zu ziehen.« (80) hung in die Bilderreihe fliegender Molotov-Cocktails und Pflastersteine, die unterschiedlichste Erhre grösste Herausforderung Tag für eignisse – von den Unruhen in Tag ist, aus Nichts – der Leere ihrer Athen, über französische oder Tätigkeit, dem im permanenten Druck amerikanische Streikbewegungen abhanden kommenden Sinn ihrer Anbis hin zum Widerstand gegen die G8 in Genua – produziert haben. strengungen – Etwas zu machen. In ihrer Eine Ästhetik der Revolte, die sich beschränkten Verantwortung, die an sie nicht um ökonomische, soziale, übertragen ist, und Ohnmacht, mit politische Fragen kümmert. Es ist der sie zu kämpfen haben, sind sie von dies ein Blick auf die Ereignisse in ihrem Erscheinungsbild, ohne ihrer gesellschaftlichen Stellung her überBemühung, ihnen, ihrer Dynamik durchschnittlich kritisch und unterdurchund den Lehren, die aus ihnen schnittlich revolutionär. gezogen werden könnten, auf den Grund zu zu gehen. Die Ereignisse treten als Bilder von Ereignissen in die Argumentation des Textes ein. Sie Die Kommune ist keine Organisation, der sind Projektionsflächen eines aufständischen das Unsichtbare Komitee misstraut und die sie Wunschdenkens. als »leere Architektur« (78) zurückweist. Sie ist Ein solcher Bilderreigen kann nicht darüber erst recht kein »Milieu«, ein Begriff, mit dem hinwegtäuschen, dass sich die Autor_innen in in »L’insurection qui vient« identitätsstiftende »Der kommende Aufstand« nicht die Mühe soziale Zusammenhänge benannt werden – die machen, den Aufstand und die objektive Klas- schlimmsten Milieus seien dabei das aktivissenposition sowie die konkrete Lebens- und tische und das kulturelle Milieu –, die »konterArbeitssituation der verschiedenen Menschen revolutionär« seien, »weil ihre einzige Beschäfin den Zentren des globalisierten Kapitalismus tigung darin besteht, ihren schlechten Komfort mit einander in Verbindung zu setzen. Der Bo- zu bewahren.« (80)

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Die Kommune hat zu ihrer Voraussetzung das Entfremdung entheben soll. Diese angebliche Heraustreten aus dem normalen Gang der Erfahrung wird zum Gehalt emanzipatorischer Gesellschaft und ist gekennzeichnet durch ein Politik verklärt und letztere so auf eine Form qualitativ anderes Erleben in ihrem Innern. der Selbstfindung und individueller LebensgeDieses Erleben ist geprägt von einem Umgang staltung reduziert, wie kollektiv diese sich auch der Mitglieder mit einander, der sich aus dem darstellen mag. Die materiellen Verhältnisse und die Kommune konstituierenden Ereignis her- ihre konkrete und globale Umwälzung in einem leitet. »Eine Kommune bildet sich jedes Mal, politischen und bewussten Prozess fallen dabei wenn einige – aus der individuellen Zwangs- aus dem Blick. Dies aber bedeutet die Preisgabe revolutionärer Transformation der Gesellschaft an ein diffuses Konzept permanenter Revolte als Selbstie Welt geht an ihrer kapitalistischen zweck persönlicher Emanzipation. Normalität zugrunde und nicht In ihrer Anrufung der Revolte peran denen, die diese partikular sprengen – petuieren die Autor_innen letztlich die Vereinzelung und Ohnmacht und sei es auch noch so gewalttätig und der präkarisierten »Gelehrten«. sinnlos. Denn diese Normalität zeichnet Das Pathos der Worte, mit denen sich aus durch Ausbeutung und Unterdie Autor_innen zum Auf- und drückung, stetig wachsende ArbeitsAusbruch blasen, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die hetze, barbarische Konkurrenz von kleinen und grösseren VandalenKindesbeinen an, Hunger in vielen Weltakte, die »spontanen« Revolten regionen, Kriege und die radikale Entund Sabotagen nicht aus der Einfremdung der Menschen voneinander samkeit und auch nicht aus der und von der Wirklichkeit, in der wir Ohnmacht führen, die sie durchbrechen sollen. leben, rücksichtslose Zerstörung der Es ist wohl solche Vagheit und Umwelt usw. Esoterik, die das Büchlein anfällig macht für eine Kritik, die ihm allen emanzipatorischen Gehalt jacke Befreite – plötzlich anfangen, sich nur abspricht und es stattdessen in die Nähe faschisnoch auf sich selbst zu verlassen und ihre Kraft tischer Kreise rücken will. Die Berliner TAZ und die Jungle World schlagen in ihren Rezenan der Wirklichkeit zu messen.« (80/81) Das Büchlein sitzt hier einem Kult angeb- sionen diese Richtung ein. Dies allerdings setzt licher Authentizität auf, die im Bruch mit den eine äusserst böswillige und unterstellende LekNormen und Gesetzen des Bestehenden denen, türe voraus, kombiniert mit einer Sicht auf die die sich dazu entschliessen, im gemeinsamen Welt, der die Unsicherheit, die grundsätzliche Erleben als Erfahrung zuströmen und sie so der Verändrungen mit sich bringen, Angst machen

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und die sich im Zweifelsfall ans Bestehende hält. Diese Position droht früher oder später in die Resignation vor dem Bestehenden zu verfallen, das es in sozialdemokratischer Weise zu verwalten gilt. Jede praktische Zurückweisung desselben und jeder Ansatz zur Überwindung der Situation, der immer voller Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten des Bewusstseins und der Motive sein wird, machen hingegen nur noch Angst. Wenn es einen Verdienst des praktischen Teils von »L’insurrection qui vient« gibt, ist es gerade das offensive Heraustreten aus einer solchen Ängstlichkeit. Die Affirmation revoltierender Gewalt dient in »L’insurrection qui vient« als Markierung eines Austritts aus der selbst gewalttätigen Logik des Bestehenden. Dem Austritt aus einer Normalität also, die für sich in Anspruch nimmt, die einzig mögliche zu sein und darum das Monopol auf die Ausübung von Gewalt zu haben. Die Gewaltaffirmation des Comitée invisible ist so das Gegenteil faschistischer Ordnung, die stets das letzte Mittel der Herrschenden gegen die Revolte ist, die ihnen gefährlich werden könnte. Wenn die Autor_innen daran festhalten, dass es nicht die »Banden« in den Vorstädten und nicht die vandalierenden Jugendlichen sind, die heute zu fürchten wären, sondern der sich perpetuierende Zustand der Hermetik, der Perspektiven- und Hoffnungslosigkeit, des Elends, der Starre und Angst als solcher, so lassen sich dafür sehr wohl gute Gründe nennen. Die Welt geht an ihrer kapitalistischen Normalität zugrunde und nicht an denen, die diese partikular sprengen – und sei es auch noch so gewalttätig und sinnlos. Denn diese Normalität zeichnet sich aus durch Ausbeutung und Unterdrückung, stetig wachsende Arbeitshetze,

barbarische Konkurrenz von Kindesbeinen an, Hunger in vielen Weltregionen, Kriege und die radikale Entfremdung der Menschen von einander und von der Wirklichkeit, in der wir leben, rücksichtslose Zerstörung der Umwelt usw. Es hat auch nichts mit einer Verklärung von Gewalt und antidemokratischem Gehabe zu tun, wenn man den Prozeduren der Verwaltung in den Parlamenten und »demokratischen« Wahlen nicht nur gründlich misstraut, sondern sie negiert; Wahlen, deren Spielregeln so gestaltet sind, dass durch sie nicht nur keine wirkliche Veränderung möglich ist, sondern dass sie den herrschenden Diskurs durch leere Betriebsamkeit und Gefechte um Verwaltungsfragen so okkupieren, dass darin der Gedanke an grundsätzlich andere Möglichkeiten gar nicht mehr aufkommen soll. Der Krawall und die Wut der Banden sind an sich nicht das Problem, im Gegenteil eröffnen sie Breschen, in denen sich etwas anderes formen könnte. Aber – und hier nun zeigt sich die Schwäche des Büchleins – Krawall und Wut haben an und für sich noch keinen politischen Gehalt. Die Fetischisierung einer Praxis des Bruchs mit Norm und Legalität ist selbst noch lange kein politisches Projekt. Vereinzelung und Individualisierung des Leidens und des Drucks sind Symptome eines Systems, das Egoismus zur Triebfeder seiner Reproduktion macht. Die aufgestaute Wut des Einzelnen bleibt auch da, wo sie sich entlädt, in dieser Logik verhaftet. Ausbrechen ist ein individuelles Projekt, auch dann noch, wenn sich ein kleines Grüppchen Aussteiger zur »Kommune« zusammenschliesst. Die gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben davon unberührt. Die Befindlichkeit der Aktivist_innen ist für sich genommen noch keine politische Kategorie

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und schon gar nicht ein Indikator des Erfolgs Nochmals: das Problem ist nicht die Gewalt, einer politischen Intervention. Der Vandalen- die in »Der kommende Aufstand« propagiert akt ohne politisches Projekt und politische wird, und schon gar nicht der mangelnde Strategie bleibt seiner Struktur nach ein Amok- Respekt vor den Autoritäten und Institutionen lauf und ist nur Ausdruck endgültiger Ohn- der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und macht und Vereinsamung, die sich in Destruk- ihrem Staat sowie den »demokratischen Spielretion entlädt, trotz seines Gestus der Ermäch- geln«. Im Gegenteil ist der Mangel an solchem tigung und Negation. Eine Tat als solche, so falschen Respekt durchaus angebracht und nöbefreiend sie für die Täter_innen auch erschei- tig für jeden politischen Ansatz, der die bestenen mag, hat nichts mit Befreiung in einem henden Verhältnisse nicht einfach hinnehmen politischen Sinn zu tun. So lange sie nicht an will und die Emanzipation aller Menschen anstrebt. Aber eine mit dem staatlichen Gewaltmonopol brechende Gewalt ist eben für sich genommen ine Tat als solche, so befreiend sie auch nicht die Lösung. für die Täter_innen auch erscheinen Aus der Revolte folgt keineswegs mag, hat nichts mit Befreiung in einem schon die Revolution. Der Zusampolitischen Sinn zu tun. So lange sie menhang zwischen beiden ist nicht per se gegeben. Revolution ist der nicht an ein Projekt gebunden, in einen allgemeine Aufstand mit dem Ziel, grösseren politischen Zusammenhang die Besitzverhältnisse und die Logestellt ist, ist sie selbst Ausdruck einer gik der Produktion gesamtgesellPerspektiven- und Hoffnungslosigkeit, schaftlich so umzugestalten, dass es nicht länger Ausgebeutete und fortgeschrittener Einsamkeit und MargiAusbeutende gibt. Es ist dies ein nalisierung, gegen die ihr Aufbegehren Prozess, der keinen Bereich der höchstens symbolisch bleibt. Gesellschaft unangetastet lässt und der einen hohen Grad an Bewusstheit und Planung zur Voraussetein Projekt gebunden, in einen grösseren po- zung hat. Die Revolte ist ein mehr oder weniger litischen Zusammenhang gestellt ist, ist sie starker Ausdruck von Nichteinverständnis oder selbst Ausdruck einer Perspektiven- und Hoff- von individueller Rebellion, der aber lokal und nungslosigkeit, fortgeschrittener Einsamkeit zeitlich begrenzt ist und für sich genommen und Marginalisierung, gegen die ihr Aufbe- weder politisch noch emanzipatorisch sein muss. gehren höchstens symbolisch bleibt. Überdies Revolte und Revolution sind zwei qualitativ vertransportiert sie oft patriarchale, rassistische schiedene Dinge, auch wenn sie oft zusammenund andere Unterdrückungsverhältnisse, unter gehören. Das Beispiel Tunesien, wo sich wirklich eine deren Eindruck Wut in Ressentiment umschlaRevolte zu einer Bewegung entwickelt hat, die gen kann.

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die Regierung zu stürzen vermochte und von der noch nicht absehbar ist, ob sie revolutionäre Qualität entwickelt, ist nicht verallgemeinerbar. Im Falle von Tunesien handelte es sich um ein autoritäres Regime, mit klar erkennbarer Machtverteilung. Ein solches ist leicht zu durchschauen. In den bürgerlichen Demokratien des Westens ist eine solche Entwicklung kaum vorstellbar. In komplexeren Gesellschaften gibt es nicht einfach eine herrschende Clique, die man stürzen kann, sondern raffinierte Netze von Teilhabe, Kontrolle, Aus- und Eingrenzung etc, die die Logik der Ausbeutung, auf der diese Gesellschaften nicht weniger als die autoritären beruhen, sichern und in denen es sogar manche Gleichzeitigkeiten von Ausgebeuteten und Ausbeutern gibt. Die Kommunen, von denen »Der kommende Aufstand« spricht, bleiben Aussteigerprojekte von Einzelnen, nicht etwas, das sich aus dem Leben und dem Alltag der Arbeiterinnen und Arbeiter – seien es nun solche in der Fabrik oder solche an Schreibtischen, in den Schulen oder Universitäten – entwickelt. Ihr gesellschaftlicher Ort bleibt irreal, virtuell und – wo sie konkreter Gestalt annehmen – ist nicht ersichtlich, wie sie sich von blossen Milieus unterscheiden, gegen die die Autor_innen so vehement anschreiben. Gewalt spielt eine Rolle bei jedem Aufstand und jeder Revolution. Das Gewaltmonopol des Staates sowie die Grenzen der Legalität und der »demokratischen« Spielregeln herauszufordern und zu durchbrechen, ist Bestandteil jeder revolutionären Politik. Doch ist Gewalt weder ihr Ziel noch das sie auszeichnende Mittel. Wo Gewalt als etwas Eigenwertiges behandelt und zum Massstab genommen wird, verfällt man einem Nihilismus, der ein Mittel zum Projekt selbst erhoben hat. Es gilt der Möglichkeit

einer anderen Welt praktisch wie theoretisch Gestalt zu geben, in der Negation des Bestehenden wie im Entwerfen des Kommenden. Diese beiden Seiten kommunistischer Politik – um ein revolutionär emanzipatorisches Bestreben einmal so zu benennen – müssen wieder mehr zusammengedacht werden sowohl im Blick auf die Zukunft als auch im kritischen Blick auf die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts. Für die kommunistische Bewegung bedeutet Negation die Aufgabe, aus dem Nihilismus hinauszufinden, nicht in ihn hineinzukommen. Damit die revolutionäre Linke auch in Westeuropa wieder zu agieren statt immer bloss zu reagieren vermag, braucht es gerade nicht eine letztlich individualistische Praxis um der Praxis Willen, die den direkt Beteiligten vielleicht ein gutes Gefühl beschert, aber ohne Plan und Strategie bleibt. Wenn der Kommunismus heute und in Zukunft eine Bedeutung haben soll, gilt es, theoretisch wie praktisch weiter zu arbeiten im offenen, solidarischen und kritischen Austausch miteinander.

Buch: Unsichtbares Komitee (2007): Der kommende Aufstand. Übersetzt aus dem Französischen von Elmar Schmeda. Hamburg. Edition Nautilus 2010

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Autor_innen

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Autor_innen

Christine Abbt (*1974, lebt und arbeitet in Nach Streifzügen im Musikjournalismus (vom Zürich) lehrt Politische Philosophie und Ästhe- selbstorganisierten Jugendmagazin-Projekt tik am Philosophischen Seminar der Universität Freihafen zur Spex) und Kulturmanagement (DIY-Kunst-Projekt MachtRaum – VisualArts Zürich. www.christineabbt.ch und Performance im öffentlichen Raum) Hans Asenbaum (*1982, lebt und arbeitet in widmet sie sich seither im Rahmen eines StudiWien) studierte Politikwissenschaft an der Uni- ums der Philosophie und Kulturwissenschaft versität Wien mit längeren Studienaufenthalten Fragen der Kultur- und Sozialphilosophie. Ihre in New York City und Krasnodar (Russland). Arbeit zentriert sich mehr und mehr auf die Themenschwerpunkte sind Kritik der aktuellen Dringlichkeit von Kritik – zwischen kritischer Form westlicher Demokratien, Herrschafts- Theorie der Gesellschaft, marxistischer Ideolosysteme der ehemaligen Sowjetunion und gietheorie, poststrukturalistischer SubjektiOsteuropas und sozialistische Theorien. 2010 vierungskritik und den Widersprüchlichkeiten hat Asenbaum bei der Konzeption der Som- von Popkultur. www.machtraum.de merakademie von Attac Österreich 2010 Demokratie neu Denken mitgeholfen und in Lukas Germann (*1973, lebt und arbeitet in diesem Rahmen den Workshop Demokratie Zürich) schaut gern nächtelang Filme aus aller Welt und schreibt an einer Dissertation zum und Sozialismus geleitet. widerständigen Potential filmischer Ästhetik. Marc Bauer (*1975, lebt und arbeitet in Seit zwei Jahrzehnten ist er in der ausserBerlin) studierte an der Ecole Supérieure d’Art parlamentarischen Linken – mal mehr, mal Visuel Genève. Die Zeichnungen sind das zen- weniger – aktiv. trale Ausdrucksmittel von Marc Bauer. Diese können ebenso aus Serien kleinformatiger Skiz- Raul Gschrey (*1981, lebt und arbeitet in zen und Textblättern bestehen wie ganze Wän- Frankfurt am Main) ist Dozent an der de bedecken. Einzelausstellungen u.a. 2009 im FH Frankfurt und arbeitet im Umfeld der FRAC Auvergne und im Mamco (Musée d’art Gruppe spez.lab, die sich mit sozial relevanten, moderne et contemporain, Genève), 2010 im künstlerischen Ausstellungen und Symposien in die gesellschaftliche Diskussion einbringt. Kunstmuseum St. Gallen. www.marcbauer.ch www.gschrey.org Lina Brion (*1986, lebt in Berlin) verliess im Sommer 2006 ihr Heimatdorf Hamburg- Anke Hagemann (*1974, lebt und arbeitet in St. Pauli in Richtung Hauptstadt, um an den Berlin) studierte Architektur in Berlin, ist Grünletzten Jahren der Berliner Brachflächen und dungsmitglied der Zeitschrift An Architektur, grosszügigen Altbauwohnungen Teil zu haben. war wissenschaftliche Mitarbeiterin im For-

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schungs- und Kulturprojekt Schrumpfende Städte / Shrinking Cities sowie im Bereich Architekturtheorie am Institut gta der ETH Zürich. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Masterstudiengang Urban Design an der HafenCity Universität Hamburg. In freien Projekten beschäftigt sie sich mit der Erforschung und Visualisierung räumlicher Konstellationen und den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Produktion.

Friedensschauplätze – Theater of Peace in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst NGBK in Berlin. www.artwritings.de

Gabriel Hürlimann (*1981, lebt und arbeitet in Zürich) studierte Philosophie, Staatsrecht und Geschichte an der Universität Zürich. Seit Juli 2009 arbeitet er an dem Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel Bausteine zu einer Analytik der Revolte im Rahmen des Forschungsprojekts Repräsentative Gewalt unter Holger Heide (*1939, lebt und arbeitet seit der Leitung von Prof. Dr. Ludger Schwarte einigen Jahren in Schweden) ist Professor i.R., an der Zürcher Hochschule der Künste. http:// Universität Bremen, Leiter des Social Econo- blog.zhdk.ch/repraesentativegewalt/ mic Action Research Institute (SEARI). Er hat sich den grössten Teil seines Lebens bemüht, Mariska Keller (*1978, lebt und arbeitet in nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch Zürich) absolvierte das Kunststudium an der in lebendigen sozialen Bewegungen für die F+F, Schule für Kunst und Mediendesign in Überwindung des Kapitalismus zu wirken, und Zürich. Derzeit setzt sie sich künstlerisch mit dabei auch gelernt, sich selbst zu verändern. dem Thema Langeweile auseinander, wobei sie Seine Interessenschwerpunkte sind: Arbeits- sich für das Gewaltförmige interessiert, das der sucht, Geschichte der Arbeitsgesellschaft, Langeweile als psychischem und gesellschaftArbeitsgesellschaft Ostasiens (insbesondere lichem Zustand inne wohnt. mariska.keller@ Südkorea). Zahlreiche Veröffentlichungen auf gmx.net diesen Feldern. Email-Adresse: holger.heide@ home.se, Website des SEARI: www.wiwi.uni- Tobias Lander (*1969, lebt und arbeitet in Kenzingen) studierte an der Schule für Gestalbremen.de/seari tung Basel und der Universität Freiburg i. Br. Dietrich Heissenbüttel (*1956, lebt und ar- Er ist Preisträger der Dr. Peter Deubner-Stifbeitet in Esslingen) ist Kunsthistoriker und tung für aktuelle kunsthistorische Forschung schreibt als Kunstkritiker u. a. für Neue Zürcher (2001), Terra Foundation for American Art Zeitung, Stuttgarter Zeitung, springerin. International Essay Prize Finalist (2010). 2009 2003/04 war Heissenbüttel Stipendiant der erfolgte die Promotion im Fach KunstgeAkademie Schloss Solitude, wo er das Buch schichte über Die Dingwelt der Pop Art und Ungleiche Voraussetzzungen. Zur Globalisierung die Möglichkeiten der ikonologischen Interpreder Künste geschrieben hat. Zusammen mit tation. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Anke Hagemann und dem Künstlerduo Kunst des 20. Jahrhunderts und Bildwahrbankleer war Heissenbüttel beteiligt an der nehmung. Konzeption und Realisierung der Ausstellung

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Julia Lemmle (lebt und arbeitet in Berlin) studierte Geschichte und Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie arbeitet als Künstlerin und Dozentin. In kollektiven Performance-Projekten seit 2008 thematisiert sie die Tradierung und (Re-)Produktion kultureller Ideen und Bilder, die eine hierarchisierende und gewaltvolle Normalität ermöglichen. Durch die Arbeit mit (auch historischen) Quellen entstehen performative Diskursanalysen. julias.berlin@yahoo.de Teresa Callejo Pajares (lebt und arbeitet in Madrid) studierte Kunsttheorie und Geschichte an der Universidad Autónoma in Madrid und Visual Culture Theory an der New York University. Sie arbeitete für zahlreiche kulturelle Institutionen u. a. das International Studio and Curatorial Program (ISCP) und die Elizabeth Foundation for the Arts in New York City. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Politik der Vertreibung, Diasporic Literatur und postkoloniale Räume. Geographisch konzentriert sie sich hierbei auf Spanien, Lateinamerika und den Mittleren Osten.

Judith Philipp (*1980) studierte an der UdK Berlin und arbeitet seit 2007 als freie Bühnenund Kostümbildnerin an Theatern in Berlin, Frankfurt und Stuttgart. Alex Riva (*1973, lebt und arbeitet in Marseille) Als Korrespondent arbeitet er gelegentlich für deutschsprachige linke Zeitungen. Nebst Gedichten verfasst er Revolutions- und Kinderlieder. Adrian Wettstein (*1979, lebt und arbeitet in Basel) studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Basel und Wien. In der Abschlussarbeit hat er die Frage untersucht, ob die Lektüre von Romanen die Urteilskraft schulen kann. Zurzeit verfasst er im Rahmen des Schweizerischen Nationalfonds Projektes Fiktion und Emotion eine Dissertation über die Rolle, welche Literatur in der Ausbildung unseres Gefühlslebens spielt. Wettstein schreibt regelmässig Kritiken über Filme und Literatur in u. a. Plebs, Netzmagazin, Nahaufnahmen, Juli

Nicole Peter (*1973, lebt und arbeitet in Zürich) studierte Geschichte und Neuere Deutsche Literatur in Zürich und Hamburg. Derzeit arbeitet sie an einem Buch mit langem Titel zur politischen Dimension historischen Erinnerns. Sie war Redaktorin des Politmagazins Risse – Analyse und Subversion. Der Revolutionäre Aufbau Schweiz ist eine politische Organisation, die für eine revolutionäre Veränderung des gegenwärtigen politischen und ökonomischen Systems kämpft. Ziel ist der Kommunismus. www.aufbau.org

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FIN

Ich zertrümmere

Werkzeuge meiner Gefangenschaft den die

Stuhl den Tisch das Bett. Ich zerstöre das

Schlachtfeld das mein Heim war.

Ich reisse die Türen auf,

Wind herein kann und der Schrei der Welt,

damit der

lässt Heiner Müller Ophelia ausrichten. 196

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Ernsthaft: Weil wir nicht auf uns sitzen lassen wollen, überhaupt, weil wir nicht wollen. Nicht verwalten und verwaltet werden. Darum wollen wir Politik. In ihr verlangen wir unsern Anteil. Ohne ›Gewalt‹ geht da nix?

ISBN: 978-3-033-02905-7 ISSN: 1663-8417


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