Reportagen Nr. 11

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#11 / JULI 2013

WWW.REPORTAGEN.COM

CHF 20 / EUR 15

REPORTAGEN CHRISTOPH WÖHRLE

MARGRIT SPRECHER

Sushi made Wir handeln

in Brazil die Welt Felipe Vilani weist mit seiner Fischzucht dem ehemaligen Hippie-Paradies Morro de São Paulo den Weg in die Zukunft.

Gierige Spekulanten oder ganz normale Geschä!sleute? Am Insider-Kongress der Rohsto"ändler.

S.8

S.60

SANDRO MATTIOLI / OLIVIER KUGLER

TOM KUMMER

Mafioso

Borderline

Luigi Bonaventura ist Italiens Kronzeuge Nr. 1. Jetzt wartet der ehemalige Auftragsmörder auf den Prozess.

S.72

ausser Dienst S.22 NATHANIEL RICH

Das Geheimnis

der Qualle

Unser Reporter auf einem Road-Trip entlang der Grenze von den USA und Mexiko: Beinahe wurde der Zaungast verhaftet.

SASKIA JUNGNIKL

Papas Ende Was passiert, wenn der eigene Vater unvermittelt aus dem Leben tritt? Der offene Brief einer Tochter. S.92 DIE HISTORISCHE REPORTAGE:

Die Turritopsis-Qualle stirbt nicht. Ein japanischer Forscher ist dem Rätsel auf der Spur. Winkt uns bald ewiges Leben?

TOUR DER SCHMERZEN

S.42

S.100

ALBERT LONDRES


N

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O

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Schweiz S. 60 Japan S. 42

Österreich S. 92

USA /Mexiko S. 72

ÖSTLICHE HEMISPHÄRE NORDPOL

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SÜDPOL

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KOORDINATEN DER ERDOBERFLÄCHE NORD 90° 80 N.Pz.

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b . M e r id i a n

WEST westl. Länge 90° östl. L 270°

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S.Pz.

SÜD AE Äquator — W.d.K. Wendekreis des Krebses — W.d.St. Wendekreis des Steinbocks — N.Pz. — S.Pz. Nördl. w. Südl. Polarkreis —

Italien S. 22 Frankreich S. 100

Brasilien S. 8


EDITORIAL

Liebe Leserinnen und Leser Um es vorwegzunehmen: Die Antwort auf die Frage in der Unterzeile von «Wir handeln die Welt», nämlich ob Rohsto"ändler gierige Zocker sind oder ein ganz normales Rädchen in der globalisierten Handels- und Warenmaschinerie, haben auch wir nicht. Dafür liefert Margrit Sprechers Reportage vom Lausanner Rohstoffkongress inklusive Gegenveranstaltung das Bild von zwei Welten: Hier die smarten Dealer, die mit dem Ausnützen von Preisdifferenzen auf den Weltmärkten Geld verdienen, da die linken Aktivisten, die im Rohsto"ändler die Verkörperung des Bösen schlechthin sehen. Zudem verweist sie auf das Dilemma, in dem wir uns alle befinden. Es ist verfehlt, die Männer in den Handelsmetropolen Zug und Genf als alleinige Verursacher hoher Nahrungsmittelpreise zu brandmarken, wenn selbst Lieschen Müllers Portfolio Maispapiere enthält, die sie sich aufschwatzen liess und unsere Pensionskassengelder auch in Weizen, Zucker und Kaffee investiert sind. Oder sich über Umweltsünden der Minen zu enervieren und bedenkenlos das neuste iPhone zu kaufen. Ebenso zynisch ist die Aussage des milliardenschweren Glencore-CEOs Ivan Glasenberg, der behauptet, «Was wir in Afrika tun, ist grossartig». Er meint damit wohl sein Vorzeigespital und seine Vorzeigeschule in Kitwe (Sambia), wo Glencore im Kupferbergbau tätig ist. Dass sowohl Schule als auch Spital nur für einen winzig kleinen Bruchteil der 20 000 Mann starken Belegscha& gedacht und das Spital für die lokale Bevölkerung unerreichbar teuer ist, kann so «grossartig» kaum sein. Auf der einen Seite entrüstet man sich und moralisiert – ist aber nicht ganz ehrlich mit sich selber. Auf der anderen Seite wird gerne mit den Gesetzen des freien Marktes argumentiert – man müsse ihnen gehorchen. Dabei gehört das Flunkern – im Verständnis von Glencore & Co. – offenbar dazu. Ein schon lange währendes Spiel mit offenem Ausgang – aber zurzeit mit eindeutigen Vorteilen für die Rohsto'ranche, denn der Konsument ist in seiner Doppelmoral gefangen. Ein Bild in Sprechers Reportage symbolisiert dies treffend: Beim Joggen trifft ein Händler auf eine Gruppe Demonstranten, die im Sprechchor und mit erhobenen Armen Parolen skandieren. Der Händler stellt sich spasseshalber davor und dirigiert einen Moment lang die Gruppe, bevor er ins Fünfsternehotel entschwindet.

Wir wünschen Ihnen eine bereichernde und anregende Lektüre. Daniel Puntas Bernet, Chefredaktor Reportagen

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#11 ÜBERSICHT

8 WIRTSCHAFT

Sushi

made in Brazil Christoph Wöhrle war bereits für alle möglichen Publikationen («vom ‹Stern› bis zum ‹Playboy› ist alles dabei») weltweit im Einsatz und hat sich auf Reportagen und Porträts spezialisiert. Der langjährige Brasilien-Kenner, der das Land o& auf eigene Faust erkundet hat, war schon achtmal auf der Ilha de Tinharé, auf der seine Geschichte spielt: «Ich habe selbst beobachten können, wie sich die Insel von einem Hippie-Nest und BackpackerParadies zu einem Zentrum des Massentourismus wandelte.» Schon seit seiner Jugend ist er von der Fischerei fasziniert. Damals war er noch in seiner Heimat als Angler unterwegs, später dann fischte er auch im Amazonas, wo man nach seinen Angaben «die Angel ins Wasser halten und 30 Sekunden später einen Piranha herausziehen kann». Die Faszination für dieses Handwerk liess ihn nicht los, und als er, mal wieder auf der Ilha de Tinharé in den Ferien, nach Fischern fragte, sagten alle: «Geh zu Báda, der kennt sich aus.» Eigentlich wollte Wöhrle eine «ganz normale» Geschichte über das Fischen schreiben. Dann traf er aber Felipe Vilani, den Evangelisten der Aquakultur, der zufälligerweise im selben Hotel wohnte. Und plötzlich war klar, dass 4

sich die Geschichte der Ilha de Tinharé, die Geschichte von Alt gegen Neu, an kaum zwei anderen Protagonisten so bildha& erzählen lassen würde wie an diesen beiden Männern. 22 VERBRECHEN

Mafioso ausser Dienst

Die Abneigung des deutsch-italienischen Doppelbürgers Sandro Mattioli gegenüber der Mafia hat sich schon im Kindesalter ausgeprägt: «In meinem schwäbischen Heimatdorf haben mich meine Mitschüler grammatikalisch inkorrekt als Mafiosi gehänselt.» Mattioli beschäftigte sich mit der organisierten Kriminalität und publizierte 2011 das Buch «Die Müllmafia», in dem er zusammen mit dem italienischen Autor Andrea Palladino die Verstrickungen der Mafia in die illegale Gi&müllentsorgung untersucht. Auf den MafiaKronzeugen Luigi Bonaventura stiess Mattioli bei den Recherchen zu seinem Buch. Wie war es, einem waschechten Mafioso gegenüberzustehen? «Unsere Gespräche waren geprägt von gegenseitiger Sympathie und gegenseitigem Misstrauen. Natürlich ist es irritierend, jemanden sympathisch zu finden, der Menschen umgebracht hat, und ich war die erste Zeit auch reichlich verwirrt. Mit der Zeit hat sich da aber tatsächlich so etwas wie eine Freundscha& entwickelt. Dass Bonaventura mittlerweile dem Verbrechen abgeschworen hat, hil& da sicher» Ein Problem stellte laut Mattioli die kodifizierte Sprache der Mafia dar: «Die Tatsache, dass ein Wort für einen Mafioso eine völlig andere Bedeutung haben kann als für einen Normalsterblichen, fördert das Misstrauen auf beiden Seiten – man weiss nie genau, woran man beim anderen ist. Trotzdem habe ich das


ÜBERSICHT

Gefühl, dass Bonaventura mir vertraut. Immerhin so weit, dass er mich zu sich nach Hause einlädt.» Hat Bonaventura keine Angst, dass ihn die Mafia nun erst recht unter Druck setzen wird? «Für ihn ist dieser Artikel eine Flucht nach vorn. Und für die Mafia gilt eine Kosten-Nutzen-Rechnung: Der Tod Bonaventuras wird momentan offensichtlich nicht als Gewinn angesehen.» 42 WISSENSCHAFT

Das Geheimnis der Qualle Nathaniel Rich sagt von sich, dass er selbst gerne unsterblich wäre, am liebsten für immer 28 Jahre alt bliebe. Entsprechend fand er in Shin Kubota, der laut Rich während seines Besuches seinen Wunsch nach Unsterblichkeit mindestens 80-mal wiederholte, einen Verbündeten. Auf das Thema stiess Rich, als er einen Essay las, in dem stand, moderne Wissenschaft zeige auf, dass die Wurzel allen Lebens Unsterblichkeit sei. «Diese Anmerkung hat mich umgehauen. Sie schien alles auf den Kopf zu stellen, was wir als fundamentale Naturgesetze annehmen. Nach etwas Recherche stiess ich auf die unsterbliche Qualle und war erstaunt, wie wenig über diese Spezies bekannt ist. Ohne viel Erfolg fragte ich bei ein paar Spezialisten nach, bis dann einer meinte, dass es da einen Typen in Japan gebe…» Der 1980 geborene amerikanische Schri&steller, Essayist und Journalist schreibt unter anderem für die «New York Review of Books», «Harperʼs» und «Rolling Stone». Seine Geschichte über den japanischen Wissenscha&er Kubota, der unsterbliche Quallen erforscht, erschien erstmals im «New York Times Magazine» und hier als deutsche Erstveröffentlichung. Richs zweiter Roman «Schlechte Aussichten» erschien in der deutschen Übersetzung im April dieses Jahres. 5

60 ROHSTOFFE

Wir handeln die Welt Für die allererste Ausgabe von Reportagen schrieb die langjährige Journalistin Margrit Sprecher eine fulminante Geschichte über Irland, die auch nach einem Jahr noch zu den Top Ten unseres Portfolios gehört. Unsere Idee, sie den «Financial Times»-Rohstoffkongress in Lausanne besuchen und von dort berichten zu lassen, nahm sie begeistert an: «Wild entschlossen, mir das Herrscha&swissen anzueignen, hab ich schlicht alles aus dem Internet heruntergeladen, was sich zum Thema finden liess. Doch praktisch alle Artikel, die in den grossen Tageszeitungen erschienen, waren pflichtbewusst trockene Arbeiten. Es schien, dass der Grossteil der Schweizer Presse vor dem Thema die Waffen streckte, schlicht, weil er zu kompliziert war.»

Aber damit allein ist es nicht getan: «Da ich stets mit leichtem Gepäck reise, bestand mein grösstes Problem im passenden Outfit: Es musste was sein, das sowohl bei den Genossen im Lausanner Quartierhaus wie bei den Multi-Milliardären im Lausanner 5-SternHotel nicht unangenehm auffiel, womit ich sowohl im Demonstrationszug mitmarschieren wie meine Interviews in der ‹Beau Rivage›Hotelbibliothek führen konnte.» Dieses Problem konnte aber gelöst werden und Sprecher erinnert sich nur an einen einzigen Augenblick der Verlegenheit: «Als im Kreis der NGOs von den hundsmiserablen Bedingungen der Goldschürfer die Rede war, spürte ich meine Goldreife zentnerschwer an den Armen baumeln.» Margrit Sprecher, die den Notizblock dem Tonband vorzieht, arbeitet als Reporterin für Zeitschri&en im In- und Ausland. Sie lebt in Zürich und in Graubünden.


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MIGRATION

MENSCHEN

Den 1963 geborenen Tom Kummer als Reporter zu verpflichten, scheint ein sicherer Weg zu sein, als Magazin die journalistische Glaubwürdigkeit zu verlieren. Zu o& hat Kummer mit seinen erfundenen Interviews mit Hollywood-Promis Redaktionen getäuscht, zu oft hat er Realität und Fiktion vermischt. Dass er dieses Vorgehen auch noch als Kunstform gerechtfertigt hat, machte ihn spätestens ab 2000 in der deutschsprachigen Presse zu einer Persona non grata. Immerhin hat er eine Literaturgattung, den «Borderline-Journalismus», geprägt. Etwas, was nicht alle Journalisten von sich behaupten können.

Saskia Jungnikls Reportage über den Suizid ihres Vaters, die zuerst im österreichischen «Standard» erschien, ist für sie weniger Selbsttherapie denn ein Versuch, für das Thema zu sensibilisieren: «Mir war bewusst, dass es ein sehr persönlicher Text ist. Ich wollte ihn aber nicht schreiben, um mein Leid zu klagen. Ich wollte zeigen, dass es Menschen gibt, die, aus welchen Gründen auch immer, ihr Leben nicht mehr ertragen. Und dass es Menschen gibt, die zurückbleiben. Deren Leben wird nie wieder so sein, wie es einmal war. Das ist etwas, worüber es zu reden gilt.»

Borderline

Ist nun alles, was uns Kummer in seiner Reportage über das Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko au&ischt, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit? Obwohl wir nicht selbst auf seiner Reise mit dabei waren, können wir sie immerhin anhand der Fotos nachvollziehen, die Kummer unterwegs geschossen hat. Dass uns darüber hinaus sein Wort genügt, keine «Anreicherung der Realität» betrieben zu haben, ist derselbe Grad des Vertrauens, den wir auch allen anderen Autoren zukommen lassen. Wir freuen uns, einen «echten» Kummer zu präsentieren. Denn er ist ein hervorragender Geschichtenerzähler, dessen Talent während mehr als eines Jahrzehnts brach lag. Seine Wanderung entlang des Grenzzaunes ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel. Wieviel Sujektivität es im Journalismus verträgt, und wieso Kummer die Lations an seinem Wohnort Los Angeles nach der Rückkehr von der Reportage noch mehr ans Herz gewachsen sind, lesen Sie im Autoren-Interview unserer Redaktionskollegin Andrea Jansen auf Seite 114. 6

Papas Ende

Wenn man ein solch persönliches Thema angeht, besteht die Gefahr, dass man kaum mehr zwischen Innen- und Aussensicht unterscheiden kann. Jungnikl war sich dieser Gefahr bewusst, befürchtete, dass der Text zu gefühlig, zu selbstmitleidig werden könnte. Entsprechend hat sie laut eigenen Angaben penibel darauf geachtet, Distanz zu bewahren. Hat sich Jungnikl nicht davor gefürchtet, sich vor der Öffentlichkeit blosszustellen? «Ich öffne mich zu einem grossen Teil, aber nicht gänzlich. Es existieren auch weit weniger reflektierte Texte, die ich über meinen Vater geschrieben habe – und die ich nie veröffentlichen würde.» 100 SPORT

Tour der Schmerzen Kriegskorrespondent, Schri&steller und Poet – Albert Londres, geboren 1884 in Vichy, gilt heute noch als der grosse französische Journalist. Londresʼ Durchbruch kam 1914 mit seiner Reportage über den Beschuss der


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IMPRESSUM

Kathedrale von Reims durch die deutsche Artillerie. Sie erschien nur zwei Tage später in «Le Matin» und zeugt heute noch von seiner geschliffenen, präzisen und gleichzeitig poetischen Sprache.

VERLAG Puntas Reportagen AG GESCHÄFTSSITZ Zumikerstrasse 16a, 8702 Zollikon REDAKTION Reportagen, Käfiggässchen 10, 3011 Bern, T +41 31 981 11 14, redaktion@reportagen.com

Im Sommer 1924 berichtete Londres von der Tour de France. Henri Desgrange erfand die Tour und bezeichnete sie als «grausame Prüfung für Körper und Geist» – perfektes Material für aussergewöhnliche Geschichten! Londres berichtet von diesem einzigartigen Strassenrennen und versetzt uns mit seinen Schilderungen in eine längst vergangene Zeit, in der der Radsport erst allmählich zu einem Geschä& wurde. Sicherlich geschah die Erfindung des Dopings nicht im Sommer 1924. Aber ebenso sicher gilt das in Londresʼ Reportage enthaltene Gespräch mit den Brüdern Pélissier, die freimütig über ihren Konsum von Pillen, Pulvern und Salben berichten, als die erste Doping-Beichte der Geschichte.

REDAKTION Claude Fankhauser, Andrea Jansen, Daniel B. Peterlunger, Rocío Puntas Bernet, Hannes Grassegger (Redaktionsleiter Deutschland) (vorname.nachname@reportagen.com)

114 AUTOR IM GESPRÄCH

CHEFREDAKTOR Daniel Puntas Bernet daniel.puntas@reportagen.com

ART DIRECTION UND GESTALTUNG Moiré: Marc Kappeler, Dominik Huber, Ruth Amstutz, www.moire.ch, grafik@reportagen.com MARKETING UND VERTRIEB Lucas Hugelshofer, lucas.hugelshofer@reportagen.com KORREKTORAT Christina Heyne, Andrea Suter, Irmgard Matthes ABONNEMENTE Christa Bless, christa.bless@reportagen.com ANZEIGENLEITUNG Ivo Knüsel, ivo.knuesel@reportagen.com SCHRIFT Moiré KARTE Martin Woodtli PAPIER Lessebo 1.3 Natural 120 gm2, CO2-Neutral, FSC-zertifiziert UMSCHLAG Peyer Mattleinen DRUCK Druckerei Odermatt AG, Dallenwil BUCHBINDER: Buchbinderei Burkhardt AG, Mönchaltorf

Andrea Jansen spürt dem BorderlineJournalisten Tom Kummer auf den Zahn: Was ist wahr?

Printed in Switzerland

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Tour der Schmerzen umfasst drei Kapitel aus Die Gefangenen der Landstrasse, Covadonga Verlag, Bielefeld, 2011. Aus dem Französischen von Stefan Rodecurt. Erstveröffentlich in der Zeitung Le Petit Parisien, Juni/Juli 1924.

KEINE GESCHICHTE

Alexander Bühler über ein gepfändetes Schulschiff und einen Wirtschaftskrimi ohne Täter. 120 DAS OBJEKT

Im Landesmuseum findet Urs Mannhart ein Objekt, das die Damenwelt vergangener Tage einige Zentimeter über den übel riechenden Tatsachen schweben liess. 122 DAS BUCH

© 2013 Puntas Reportagen AG © für die Texte: Reportagen und die Autoren © für die Illustrationen/Grafiken: die Gestalter

VERTRIEB CH Valora Schweiz AG, Hofackerstrasse 40, 4132 Muttenz. Buchzentrum AG (BZ), Industriestrasse Ost 10, 4614 Hägendorf, T +41 62 209 26 93 VERTRIEB D/A PARTNER Medienservices GmbH Julius-Hölder-Straße 47, 70597 Stuttgart, T +49 711 7252-222 ERSCHEINUNGSWEISE 6 x jährlich PREISE Jahresabonnement CHF 100 (Schweiz), EUR 75 (Deutschland, Österreich), EUR 85 (übriges Europa) / USD 120 (Übersee) ISBN: 978-3-906024-10-3 www.reportagen.com

123 CLAUDIO CALABRESE

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SASKIA JUNGNIKL

Papas Ende Wenn der eigene Vater unvermittelt aus dem Leben tritt: Der Bericht einer Tochter.

Am 6. Juli 2008 kritzelt mein Vater etwas auf einen mintgrĂźnen Post-itZettel. Er steigt die Wendeltreppe hinunter in die Bibliothek und holt seinen Revolver. Dann geht er durch den schmalen Gang hinaus aus unserem Haus in den Hof. Dort legt er sich unter unseren alten grossen Nussbaum. Ich weiss nicht, ob er dabei irgendwann gezĂśgert hat. Ich glaube, er wird noch einmal tief eingeatmet haben, als er da lag. Vielleicht hat er sich noch kurz die Sterne angesehen und der Stille gelauscht. Dann schiesst er sich in den Hinterkopf. Sein Tod teilt mein Leben in ein Vorher und ein Nachher. 92 92


REPORTAGEN #11

Unter seinen Sachen finde ich eine Menge Zeichnungen und Unterlagen über Kopfschüsse: Wo ist die beste Einschussstelle? Wie ist man sofort tot, entstellt aber nicht sein Gesicht? Er hat sich gut vorbereitet. In der Welt, die nach seinem Tod für mich explodiert, in dieser Mischung aus Wut und Trauer, aus Frust und Aufregung, ist da eine liebevolle Dankbarkeit: dafür, dass er uns davor bewahrt hat, ihn mit halb zerrissenem Schädel sehen zu müssen. Es muss jedenfalls ziemlich gehallt haben, vor dem Haus geht es bergab, Wälder und Wiesen ringsum. Am Horizont ist den ganzen Abend über Wetterleuchten zu sehen. Meine Mutter ist nicht zu Hause. Als sie ihn dann später sucht, fällt sie in der Dunkelheit fast über ihn. Es beginnt zu regnen. Alles Blut wird weggeschwemmt. Ich bin an diesem 6. Juli im Strombad im niederösterreichischen Kritzendorf. Mir geht es zum ersten Mal seit Jahren richtig gut. Vier Jahre vorher ist mein Bruder gestorben. Seit damals lasse ich mein Handy jede Nacht eingeschaltet. Ich habe das Gefühl, immer erreichbar sein zu müssen. Aber nicht an diesem glücklichen Tag, ich will ihn geniessen, und das tue ich. Am nächsten Morgen sehe ich auf dem Display zwei Anrufe von meiner Mutter. Ich erschrecke kurz, dann rufe ich sie an. Ich erreiche sie nicht und mache mich auf den Weg ins Büro. Später ru& sie zurück: «Papa ist in der Nacht gestorben. Er hat sich erschossen.» Meine Mama klingt ein bisschen zittrig und unglaublich erschöp&. Für ein paar Sekunden bleibt alles stehen, bis es mir den Hals zuschnürt. Von da an läu& alles automatisch. Ich sage, dass ich meinen jüngeren Bruder holen und ins Burgenland kommen werde, und noch ein paar Sachen, an die ich mich nicht mehr erinnere. Dann gehe ich die Strasse entlang. Ich rufe meine beste Freundin an, meinen Bruder, meinen Exfreund, der meinen Vater gut gekannt hat. Das lenkt mich ab. Wenn ich stillhalte, merke ich, wie in mir ein Knoten wächst und wächst. Mein Vater, der stolze, selbstbewusste, dominante Mann, ist tot? Selbstmord? Es kommt mir unwirklich vor. Ich fühle mich wie in einem Film, alles wartet auf die Pointe. Ich merke, wie mein Körper Unmengen an Adrenalin ausschüttet, irgendwie finde ich die Situation merkwürdig spannend. Ab und zu schüttelt es mich, ich schluchze, aber ich weine nicht. Ich habe panische Angst vor dem, was mit mir passiert, wenn der Adrenalinschub nachlässt. Ich kann das Dunkel dahinter förmlich sehen. Ich schiebe die Angst weg, indem ich mich beschä&ige. Ich hole das Auto, anschliessend meinen Bruder, zusammen fahren wir ins Burgenland. Je näher wir unserem Haus kommen, desto unruhiger werde ich. Fast muss ich lachen. 93


MENSCHEN

Mein Vater war neugierig, hochintelligent und auf der Suche, er war im Laufe seines beinahe siebzigjährigen Lebens Schri&steller, Regisseur, Kameramann, evangelischer Pfarrer, Musiker und Landwirt. Er war depressiv, er hat gern mal getrunken, beides hat sich im Alter verstärkt. Er war unser Vater, und wir haben ihn bewundert und geliebt. Er und meine Mutter haben mich und meine drei Brüder gemeinsam im Südburgenland aufgezogen. Jetzt fahren wir in dieses Zuhause, das sich für immer verändert hat. Im Hof sehe ich den dunklen Fleck auf hellem Kies, wo er gelegen hat. Das Bild brennt sich mir ein. Meine Mutter, meine zwei Brüder und ich sitzen auf Gartenmöbeln, einige Meter entfernt. Wir rücken nicht nur körperlich zusammen. Wir trinken Bier, wir rauchen. Meine Mutter zeigt uns den mintgrünen Postit-Zettel. Seine letzten acht Worte, nur an uns gerichtet. Sie erzählt, wie sie meinen Vater im Haus gesucht hat. Dann im Hof. Er liegt zwischen den Holunderbäumen und dem Nussbaum, ein paar Meter von der Eingangstür entfernt. Sie hat bloss eine Ahnung, als sie ihn entdeckt, sie redet sich ein, er sei nur hingefallen. Es schüttet mittlerweile, und sie zerrt an seinem Arm: «Steh auf, komm schon, du wirst dich verkühlen.» Als er sich nicht bewegt, läu& sie ins Haus und ru& die Rettung. Sie deckt ihn zu, damit er nicht krank wird. Die Rettung kommt, meine Mutter geht ins Haus. Noch heute sagt sie leicht verwundert: «Ich habe die Wunde nie gesehen.» Es ist eine merkwürdige Unterhaltung, die wir im Hof führen. Konzentriert und rastlos zugleich, wir weinen, wir lachen, manchmal schaut jemand auf den dunklen Fleck. Es ist anstrengend, und sehr wichtig. Eine Woche vor seinem Tod habe ich meinen Vater das letzte Mal lebend gesehen. Ich war das Wochenende über zu Hause, und kurz bevor ich fahre, renne ich ihm an der Küchentür in die Arme. Er hält mich fest und sagt, dass er mich liebt. Und er fragt, ob ich ihn in guter Erinnerung haben werde, wenn ich alt bin. Mein Vater neigt manchmal zum Pathetischen, also lache ich und umarme ihn fest. Ich sage ihm, dass ich ihn auch liebe. Er hat sich von mir verabschiedet. Es ist schaurig, dass er wusste, dass wir uns nie wieder sehen, ich aber nicht. Die Tage nach seinem Tod verbringen wir gemeinsam zu Hause. Meine Mutter macht o& Suppe, das isst sich leichter. Alles andere würgen wir hinunter. Der Arzt hat uns Beruhigungstropfen gegeben, Psychopax. Wir nehmen sie nicht. Wir sprechen viel miteinander, trotzdem ist jeder allein. Ich versuche mich mit praktischen Dingen abzulenken, ich kündige Abos und bestelle seine Kreditkarten ab, gehe zur Bank und löse seine Konten auf. All das zu erledigen hil& mir, damit ich 94


PAPAS ENDE

nicht den Boden unter den Füssen verliere. Nur einmal wache ich auf, ich sitze auf unserem Parkplatz und lehne am Reifen meines Autos. Mit meiner linken Hand grabe ich in den Kieselsteinen. Ich bin furchtbar verzweifelt. Vor mir scheint sich ein unbezwingbarer Berg immer höher aufzutürmen. Das eine ist die Trauer, damit kann ich umgehen. Das andere ist eine höllische Angst. Ich glaube nicht, dass ich je wieder in mein Leben zurückkehren kann ohne diese Angst. Die Vorstellung, wieder in einem Büro zu sitzen oder allein in meiner Wohnung, erscheint mir in diesen Tagen unmöglich. Wenige Tage nach seinem Tod stehe ich allein in der Leichenhalle. Als ich den Gang zum Sarg vorgehe, wird mir schlecht vor Angst und Nervosität. Ich blicke durch das Sichtfenster in den Sarg. Mein Vater lächelt ein wenig. Ich weiss, dass er tot ist, aber ich schrecke ein paar Mal auf, weil ich glaube, dass er zwinkert. Ich staune über dieses glatte und vertraute Gesicht. Dann weine ich. Ich streiche mit der Hand über das Glas, auf seiner rechten Wange ist ein winziger schwarzer Fleck. Es macht mich wahnsinnig, dass ich ihn nicht wegwischen kann. Ich weiss, dass ich meinen Vater das letzte Mal in meinem Leben sehe. Ich mustere sein Gesicht, als würde ich eine Antwort suchen. Wieso ist er tot? Er war nicht körperlich krank, aber er hatte Angst davor, im Alter zu verfallen. Er hatte keine Schulden, aber Sorge, dass ihm eines Tages das Geld ausgeht. Er war einsam, aber er hat Gesellscha& abgelehnt. Solange ich mich erinnern kann, hat er alles, was er gemacht hat, fanatisch gemacht. Als ich 14 bin, ist er, der ausgezeichnete Gitarrist, plötzlich der Meinung, die Geige sei das beste Instrument der Welt. Er bestellt sich eine Geige und lernt sie in einem Schnellkurs zu spielen. Dann räumt er sie in den Schuppen. Er grei& sie nie wieder an. Ein Banjo löst die Geige ab. Nicht lange. Immer treibt ihn eine Leidenscha& für etwas – sobald ihn die eine langweilt, stürzt er zur nächsten. Rastlos. Als er fünfzig ist, ist es die Religion. Bis dahin Atheist, studiert er plötzlich evangelische Theologie, er wird Lektor und übersetzt die Bibel aus dem Altgriechischen neu. Er lässt uns Kinder taufen, ich bin neun Jahre alt, mein älterer Bruder Till ist zwölf, mein jüngerer sechs. Till stirbt 2004 nach einem epileptischen Anfall an einem geplatzten Blutgerinnsel. Mein Vater findet ihn. Nach diesem Tod verändert er sich körperlich. Die Haare werden schneeweiss, der fast zwei Meter grosse Mann geht plötzlich gebückt, statt auszuschreiten, werden seine Schritte kurz und tapsig. In der Nacht vom 6. auf den 7. Juli 2008 wäre mein Bruder dreissig Jahre alt geworden. Mein Vater stirbt in dieser Nacht. Er ist 67. 95


MENSCHEN

Er hat mein Leben geprägt wie kein anderer, und er wird nicht erfahren, was aus mir wird; er wird meine Kinder nicht sehen oder bei meiner Hochzeit sein. Wenn ich mich in meiner Arbeit ärgere, hil& er mir nicht. Dass er das freiwillig so entschieden hat, kann ich bis heute nicht akzeptieren. Meine Mama sagt, eine Familie ist wie ein Mobile. Jedes Familienmitglied hängt an einem Faden, wie bei dem Windspiel bedingt seine Stabilität die der anderen. Nach dem Tod meines Bruders bricht unser Familien-Mobile zusammen. Wir haben es noch nicht wieder aufgebaut, als mein Vater stirbt. Jetzt ist es wieder in Bewegung. Wenn sich alles andere ändert, ändert sich auch die eigene Rolle. Ich verliere durch seinen Tod an Selbstbewusstsein und Sicherheit. Wenn der eigene Vater lieber stirbt, als bei dir zu bleiben, wer wird es dann tun? An das Begräbnis erinnere ich mich nicht sehr gut. Ich starre auf das Bild meines Vaters, das neben der Urne steht. Den Text nach der Predigt habe ich geschrieben, meine Mutter hat die zwei Lieder ausgesucht, die gesungen werden. Im Leichenzug gehe ich neben meiner Mutter, ihr Gesicht wirkt ganz hart vor Anspannung. Dann sehe ich dieses ausgehobene Erdloch vor mir. Am Kopfende steckt das verwitterte Holzkreuz mit dem Namen meines Bruders, daneben das noch glänzende Kreuz mit dem meines Vaters. Wir haben einen Ghettoblaster aufgestellt. Mein Vater hat gemeinsam mit meinem Bruder Till einmal ein Lied aufgenommen: Cotton Fields von Creedence Clearwater Revival. Jede Strophe endet mit einem «Back home». Die fröhliche Unbekümmertheit, mit der Till diese beiden Worte immer mitsingt, tut mir mehr weh als alles andere in diesem Moment. Ich bin so wütend, weil ich erneut hier stehen muss. Ich würde meinen Vater gern anschreien, dann wird mein Kopf wieder leer. Die Reaktionen, die ich nach seinem Tod erlebe, sind sehr unterschiedlich. Sein Arzt weint, als ich bei ihm bin. Er weint, weil er es nicht kommen sehen hat und sich die Schuld gibt. Ein Bekannter sagt, mein Vater sei einfach ein Arschloch. Ich solle ihn vergessen, etwas anderes verdiene er nicht. Ein Arbeitskollege sagt, dass jeder Selbstmörder dankbar wäre, wenn man ihn au1ielte. Mein Vater wäre jetzt dankbar, würde er noch leben. Wieso hätte ich es nicht verhindert? Er sagt es mir auf den Kopf zu. Wieso habe ich es nicht verhindert? Wäre ich an dem Wochenende nach Hause und nicht schwimmen gefahren, wäre vielleicht nichts passiert. Wenn ich mir vorstelle, wie mein Vater allein in seinem Zimmer sitzt, wie er verzweifelt, seufzt, aufsteht, die Waffe nimmt und in den Hof geht, schnürt mir das die Lu& ab. So weh tut das. 96


PAPAS ENDE

Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO begeht eine Million Menschen jährlich Selbstmord. Mehr als die Häl&e davon sind Männer. Ich lese in den Monaten nach seinem Tod viel über Suizid. Es gibt eine Menge Lesestoff von Ärzten und Therapeuten, es gibt Ratgeber, aber es gibt kaum etwas von Betroffenen. Ich lerne, dass mein Vater so ungefähr alle Merkmale vereint, die Studien hergeben. Je älter Männer werden, desto grösser wird die Wahrscheinlichkeit der Selbsttötung. 70-jährige Männer begehen etwa doppelt so häufig Selbstmord wie 30-jährige und dreimal so o& wie gleichaltrige Frauen – obwohl mehr Frauen als Männer an Depressionen leiden. Das machen Soziologen in diversen Studien daran fest, dass Männer immer noch als «starkes Geschlecht» gelten. Sie suchen sich seltener Hilfe oder sprechen seltener über emotionale Probleme. Sie gestehen sich diese vielfach nicht einmal ein. Wer Konflikte sein ganzes Leben lang nur mit sich selbst gelöst hat, für den wird das Verarbeiten eines Verlustes immer unmöglicher, heisst es. Meine Eltern können miteinander kaum über den Tod meines Bruders reden. Sie sind beide gefangen in ihrem unglaublichen Schmerz über den Tod ihres Kindes. Als meine Mutter anfängt, sich zu öffnen, bleibt mein Vater verschlossen. Er hat mich seinen Schmerz nur einmal völlig offen spüren lassen. Kurz nachdem mein Bruder gestorben ist, ru& er mich an. Er steht unter Schock. Wir weinen und fluchen, wir trösten uns und umarmen uns über das Telefon. Als ich ihn ein paar Stunden später noch einmal anrufe, hat er sich wieder im Griff. Das Zeitfenster hat sich geschlossen. Ich habe mit ihm nie wieder in dieser Offenheit und Verletzlichkeit über Tills Tod geredet. Ein Grund, warum mehr Männer als Frauen an Suizid sterben, mag auch zum Teil daran liegen, dass sie eher Todesarten mit einer geringen Wahrscheinlichkeit auf ein Überleben wählen. Sie erschiessen oder erhängen sich, Frauen schlucken eher Tabletten. Gesteigert wird das Suizidrisiko durch erhöhten Alkohol- oder Drogenkonsum. Am höchsten ist die Selbstmordrate in Russland und anderen baltischen Staaten; Länder mit einem extrem hohen Alkoholkonsum pro Kopf. Hoch ist die Zahl der Freitode auch tendenziell in Ländern, in denen psychologische oder psychiatrische Betreuung wenig verbreitet ist. Japan ist etwa unter den Industriestaaten das Land mit der höchsten Suizidrate, über 30 000 Menschen sterben jährlich freiwillig. Das sind über 24 Freitode pro 100 000 Einwohner, schreibt die WHO. Zum Vergleich: In Frankreich sind es etwa 17, in Deutschland 12 Menschen pro 100 000 Einwohner. In der Schweiz töten sich am Tag knapp vier 97


MENSCHEN

Personen, das sind über 17 pro 100 000 Einwohner. Damit zählt das Land zu den europäischen Ländern mit überdurchschnittlich hoher Suizidrate und liegt knapp vor Österreich. Für das Jahr 2008 vermerkte die österreichische Statistik einen historischen Tiefstand an Freitoden, 1280 Menschen nahmen sich das Leben. Mein Vater war einer von ihnen. Er hat dafür gesorgt, dass ich eine beschützte, fröhliche Kindheit hatte; eine glückliche Familie – mit den besten Eltern und tollen Brüdern. Vielleicht hat mir das glückliche Vorher über das schreckliche Nachher geholfen. Ich schalte jetzt abends wieder mein Handy aus. Dennoch werde ich manchmal furchtbar wütend. Dann kann ich nicht akzeptieren, dass er mich, meine Mutter, meine Geschwister alleingelassen und sich davongestohlen hat. So ist das. Der Freitod macht den Unterschied. Es bleibt eine Schuldfrage, auch wenn niemand Schuld hat. Mein Vater hatte das Recht, zu entscheiden, wann er stirbt. Dass er am Ende seines Lebens so verzweifelt und traurig gewesen sein muss, wird immer wehtun. NACHTRAG Nach der Publikation des Artikels über den Freitod meines Vaters im österreichischen «Standard» rufe ich meine Mutter an. Sie kennt ihn schon, aber sie liest ihn nochmals. Dann die ersten Reaktionen auf der Online-Seite der Zeitung, die ausnahmslos aufmunternd und mitfühlend sind. Nicht nur mich betreffend, sondern meine gesamte Familie. Auch die E-Mails und SMS, die im Minutentakt eintreffen, sind fast ausschliesslich positiv. In dieser Nacht schlä& meine Mutter so tief und lange wie seit Jahren nicht mehr. Wir wissen nicht, ob das etwas mit der Veröffentlichung des Artikels zu tun hat, aber der Gedanke liegt nahe. Seit dem Tod meines Vaters sind nicht ganz fünf Jahre vergangen. Wir haben durch viele Gespräche, die Zeit und das langsame Aufarbeiten seiner Sachen mit dem Schmerz leben gelernt. Die Veröffentlichung dieser Erfahrung hat auch etwas mit meiner Aufarbeitung zu tun. Ich habe mich sozusagen zumindest zum Teil freigeschrieben. Im Gegensatz zu meiner Mutter schlafe ich in dieser Nacht aber so schlecht, kurz und unruhig wie schon lange nicht. Schon Tage vor der Veröffentlichung bin ich nervös. Ich bin unsicher, ob es mir gelungen ist, die Erfahrungen mit dem Freitod, die andere auch gemacht haben, in deren Augen nicht zu banalisieren. Freitode werden in Österreichs Medien wenig thematisiert, aus Angst vor 98


PAPAS ENDE

Nachahmung. Das ist gut so. Aber es muss ein Weg gefunden werden, sich damit auseinanderzusetzen – das zeigen die unzähligen Reaktionen. Ich wusste, dass ich ein Tabu zum Thema mache, aber nicht, dass der Gesprächsbedarf so gross ist. Meine Familie hat viel über das Geschehene geredet, wir haben geweint, gelacht, uns zerstritten und wieder versöhnt. Ohne den Austausch wären wir nicht darüber hinweggekommen. Viele schreiben über ähnliche schreckliche Erfahrungen und dass sie nicht wissen, wie sie das Geschehene verarbeiten sollen. Sie schreiben, dass ihnen der Artikel geholfen hat. Das freut mich. Ein paar schreiben, ich solle meinen Frieden mit dem Tod machen und meinem Vater seinen Frieden geben. Ich kann sie beruhigen: Das habe ich längst. Sonst hätte ich den Text gar nicht schreiben können. Man kann jemanden lieben, in guter Erinnerung haben und dennoch ab und zu wütend auf ihn werden. Ich halte diese Auseinandersetzung für hilfreich. Die schwierigsten Nachrichten kommen von jenen, die selbst zeitweise daran denken, sich zu töten, und schreiben, dass mein Artikel sie dazu bringt, verstärkt an ihre Kinder zu denken. Wenn es etwas gibt, das ich mit meinem Artikel erreichen will, dann, dass diese Menschen jemanden finden, mit dem sie reden können. Dafür gibt es Profis.

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