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Schwerpunkt

Amerika erzählt T.C. Boyle ist nicht der einzige weltberühmte amerikanische Autor, der uns in diesem Frühjahr mit einem neuen Buch beglückt – im Gegenteil: Aus den USA rollt eine starke Welle potenzieller Bestseller auf uns zu. Ein Überblick über die wichtigsten Neuerscheinungen. Text: Marius Leutenegger und Benjamin Gygax

Wer Toni Morrison als grossartige Romanschriftstellerin bezeichnet, lehnt sich nicht weit zum Fenster hinaus: Die 79-Jährige ist die Königin der afroamerikanischen Literatur. Und das nicht nur, weil sie bereits den Literaturnobel- und den Pulitzerpreis gewann – sondern auch, weil sie die Situation der Afroamerikaner mehr als jede andere zu ihrem Kernthema gemacht hat. Auch ihre neunte

Erzählung, «Gnade», beschäftigt sich eindringlich mit Rassismus und Sklaverei. In einem Interview hat die Autorin erzählt, sie habe mit diesem Buch eine Antwort auf eine für sie wichtige Frage gesucht: «Wann begann die Verbindung von Sklaverei und Rassismus? Sklaverei an sich war ja einst nichts Spezielles – die gab es überall auf der Welt. Aber wie kam es zur Hierarchie Weiss vor Schwarz?» Der in den USA bereits 2008 erschienene Roman spielt im 17. Jahrhundert, als die Staaten Nordamerikas noch nicht vereinigt waren und sich ein latenter Rassismus entwickelte. Der Händler und Farmer Jacob Vaark erhält von einem Schuldner die kleine Tochter einer portugiesischstämmigen Sklavin zur Zahlung. Das Mädchen Florens wird Teil der Gemeinschaft, die auf Vaarks Hof lebt. Der im Titel angedeutete Gnadenakt,

der einen Ausweg aus der Sklaverei bringen könnte, führt aber nicht zur erhofften Erlösung; die Möglichkeiten, das Leben anderer zu verbessern, bleiben innerhalb der Gesellschaft für alle begrenzt. Auch wenn «Gnade» vor dem Hintergrund realer Ereignisse spielt, handelt es sich hier nicht um ein Geschichtsbuch, sondern um einen äusserst vielschichtigen und auch künstlerisch vielfältigen Roman. Faszinierend bleibt, wie es Toni Morrison gelingt, die Perspektive der verschiedenen Figuren einzunehmen und zu vermitteln – ein Beleg für die grosse Empathie der Autorin. Die interessanteste Figur ist die junge wissbegierige Florens, die erst vom Drang getrieben wird, sich anderen stets zu unterwerfen, sich dann aber aus der seelischen Sklaverei befreit. «Ein ganz wunderbares Buch», urteilte Schriftsteller Amos Oz – man kann sich diesem Urteil ohne Vorbehalt anschliessen.

144 Seiten dünn – und trotzdem ein richtiger Roman Auch der ewige Kandidat für den Nobelpreis, der mittlerweile 77-jährige Philip Roth, hat eine neue Erzählung vorgelegt: «Die Demütigung». Da­ rin geht es, wie bereits in den neueren Roth-Erzählungen «Exit Ghost» oder «Das sterbende Tier», um einen alten Mann, der eine viel jüngere Frau liebt. Die Protagonisten diesmal: Der gefeierte Schauspieler Simon Axler, der plötzlich nicht mehr spielen kann und darüber sein Selbstwertgefühl verliert, und Pegeen, die Tochter eines befreundeten Paares. Pegeen ist bisexuell und in erotischen Dingen äusserst experimentierfreudig. Axler könnte durch sie wieder das Leben lieben lernen – doch er ist sich bewusst, dass der Altersunterschied zwischen ihm und Pegeen unüberbrückbar bleibt und er sie nicht wird halten können. Die Erzählung läuft schnurgerade auf ein unausweichliches Ende hinaus, alle Hoffnung ist nur Schein – die De-

books – März 2010 – 13


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