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BOULEVARD DER HELDEN
MATA HARI TRIUMPH DER EINBILDUNGSKRAFT
Serie: MICHAEL KÖHLMEIER erzählt die außergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit. Folge 8: Eine geheimnisvolle Spionin, die ihren Mythos selbst erfand.
Hochstaplerinnen – kennt jemand eine? Wir sind gewohnt, die Angeberei in großem Stil von Männern vorgeführt zu bekommen. Und dann erscheint eine Frau, die stellt sie alle in den Schatten, sogar ihren Nachruf scheint sie noch zu manipulieren: Mata Hari, die schöne Agentin, die exzentrische Tänzerin, die Doppelagentin gar – eine geheimnisvolle Frau, der man zutraute, den Verlauf, wenn nicht gar den Ausgang des Ersten Weltkriegs beeinfusst zu haben.
Lügen halten sich in der Geschichte nicht. Heißt es. Irgendwann werden sie aufgedeckt, und bald wird vergessen, was sie uns eigentlich erzählen wollten. Bei Mata Hari ist es umgekehrt: Die Wahrheit über sie und ihre Taten war von Anfang an bekannt, war immer bekannt; aber die Wahrheit wurde vergessen, der Mythos, die Legende hielt stand. Der melodramatische Wunsch, eine schöne, begehrenswerte, hingebungsvolle, zugleich raffnierte, mit aller List und Hinterlist begabte Frau hält in gefährlicher Zeit die Politik eines ganzen Kontinents in Atem, dirigiert die hartgesottensten Männer, schreibt Geschichte – dieser Wunsch hat die Realität besiegt: Mata Hari wurde zu einer dunklen Heldin.
Bücher wurden über sie geschrieben, Theaterstücke, ein Ballett wurde choreographiert, viele Lieder wurden komponiert und getextet, Filme gedreht – wenigstens zehn, der bekannteste 1931 mit Greta Garbo in der Hauptrolle, 1964 wurde sie in einem französischen Film von Jeanne Moreau verkörpert, der vorläufg letzte Film kam 2017 in die Kinos. Sogar eine Spirituose trägt ihren Namen, ein Videospiel ebenfalls.
Was aber waren ihre Heldentaten? Antwort: Sie hat keine Heldentaten vollbracht. Ihre einzige „Heldentat“ war, sich ein triumphales Image zu bauen. Wer war diese Frau? Wer war sie wirklich?
Eigentlich hieß sie Margaretha GeerMICHAEL KÖHLMEIER truida Zelle. Sie stammte nicht aus
Der Vorarlberger Indien oder einem anderen exotischen
Bestsellerautor gilt Land, wie viele glaubten und glauben wollals bester Erzähler ten und glauben sollten, sondern aus Leeudeutscher Zunge. Zuletzt erschienen: der Roman „Matou“, warden in Holland, dort wurde sie 1876 geboren. Ihr Vater war Hutmacher und 960 Seiten, Hanser muss eine ebenso exzentrische PersönlichVerlag. keit gewesen sein wie seine Tochter später, reich und einfussreich war er, durchaus auch angesehen und immer wieder zu theatralischen Späßen aufgelegt. Sein Töchterchen, liebevoll „Grietje“ genannt, fügte er in seine großspurig theatralischen Auftritte ein, zum Beispiel, als er die Dreiährige in einer kleinen, extra angefertigten goldbemalten Kutsche von zwei weißen Ziegen durch die Straßen ziehen ließ, nur um den Bürgern zu beweisen, dass kein anderer Vater erstens sein Kind so sehr liebt und verwöhnt, zweitens – eigentlich erstens –, dass kein anderer Mann sich solchen Luxus leisten kann. Dem Kindchen scheint es gefallen zu haben. Als erwachsene Frau noch erinnert sie sich immer wieder an diesen Sonntagnachmittag, und sie teilt ihre Erinnerungen ihrem Publikum mit – dann spielt die Szene einmal in Indien, aus den Ziegen werden Elefanten, ein andermal wird sie von Affen in einer Sänfte getragen. Oscar Wilde sagte einmal, wir lieben Männer mit Zukunft und Frauen mit Vergangenheit, schon mit siebzehn Jahren inszenierte sich Margaretha Geertruida als
geheimnisvolle Frau, deren Vergangenheit hinter einem Schleier aus Melancholie und Melodram nur erraten werden konnte.
Schauspielerin möchte sie werden, Tänzerin, Sängerin. Ihr Vater spendiert aufwendige Ausbildungen, sie spricht fünf Sprachen, trainiert sich in allen Sprachen, auch in der Muttersprache, einen Akzent an, der die Fantasie ihrer Zuhörer befügeln soll, in Wahrheit stamme sie von irgendwo ganz anders her. Talent zur Schauspielerei hat sie wenig, auch nicht viel, um zu singen und zu tanzen. Aber das scheint keine Rolle gespielt zu haben. Sie war die Meisterin des Als-ob. Eine Meisterin des Konjunktivs – so kann man es auch ausdrücken. Wenn sie sang, tat sie, als ob sie zwar keine Sängerin sei, eine innere Not, ein rätselhaftes Schicksal aber dränge sie zum Singen, zum Ausdruck. Keinen perfekten, aber seelenlosen Belcanto gab sie, sondern den undurchdringlichen Abgrund. Nach Abgründen waren die Menschen damals geradezu verrückt. Ohne diese ganz Europa in ihren Bann ziehende Sehnsucht nach der Katastrophe wäre der Erste Weltkrieg nicht zu erklären.
Sie heiratet einen holländischen Kolonialoffzier, bringt einen Sohn zur Welt, da ist sie erst neunzehn, ein Jahr später eine Tochter, zieht mit ihrem Mann nach Java, wo die Familie fünf Jahre lebt. Ihr Sohn stirbt im Alter von zwei Jahren unter ungeklärten Umständen, die Ehe zerbricht an dieser Tragödie. Die Familie kehrt nach Europa zurück, Margaretha Geertruida und ihr Mann lassen sich scheiden. Die Tochter wird dem Mann zugesprochen, die Mutter habe kein großes Interesse an dem Kind gezeigt.
Mit neunundzwanzig erst startet Margaretha Geertruida ihre eigentliche Karriere, sie zieht allein nach Paris, entwirft sich ein neues Leben, eine neue Vergangenheit. Sie nennt sich Mata Hari. Das ist malaiisch und heißt „Auge des Morgens“ oder „Aufgehende Sonne“. Geschickt verbreitet sie das Gerücht, sie sei die Tochter eines orientalischen Herrschers. Ihr Aussehen konnte das bestätigen. Sie hat dunkles Haar und einen olivbraunen Teint. Schminke erledigt den Rest. Alles belässt sie im Ungefähren. Wenn ihr ein Reporter Widersprüche in ihrer Biografe nachweist, schaut sie ihn lange mit ihren dunklen Augen an, so lange, bis er ihren Blick nicht mehr aushält. Sie kann gut reden, noch besser kann sie schweigen.
Ihre Auftritte als Tänzerin beginnt sie mit dem Satz: „Shiva, ich tanze ihn für dich, den Bajaderentanz.“ Eine Bajadere ist eine indische Tempeltänzerin, deren Aufgabe in erster Linie nicht darin bestand, in einem europäischen Sinn gut zu tanzen, sondern so zu tanzen, dass die Aufmerksamkeit Shivas erregt wurde. Wer weiß schon, welche Körperbewegungen einen Gott erregen? Die Besucher der entsprechenden Etablissements waren entzückt, zumal Mata Hari beim Tanzen einen Schleier nach dem anderen fallen ließ, bis sie schließlich nackt war – alles zu Ehren des Gottes. Die Belle Époque liebte das Extrem, das Außergewöhnliche, das Laszive, das Ruchlose, den Rausch.
Sie reist nach Berlin, wo sich neue Möglichkeiten auftun, in Berlin spielt das Leben. Es gelingt ihr, Kontakte zu Politikern und hohen Militärs zu knüpfen. Sie streut das Gerücht, sie habe mit dem Kronprinzen, dem Sohn von Kaiser Wilhelm II., ein Verhältnis. Alles Lüge. Verhängnisvolle Lüge. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist Mata Hari bereits achtunddreißig Jahre alt. Sie weiß, sie hat nichts erreicht in ihrem Leben. Alles, was sie ist, ist Schein. Sie hatte zahlreiche Geliebte, aber keine Liebe, sie hat die Männer nur ausgenutzt für ihre sogenannte Karriere, und diese Karriere bestand darin, sich einen Ruf als eine außergewöhnliche Frau zu verschaffen, wobei niemand sagen konnte, auf welchen Qualitäten dieser Ruf eigentlich fußte. Nur einmal bewarb sie sich bei einem großen, seriösen Theater in Berlin, der Intendant war außer sich vor Freude, dass die berühmte Mata Hari an seinem Haus spielen wollte, und war nach dem Vorsprechen erschüttert. Nie habe er eine talentlosere Schauspielerin erlebt.
Bei einem Empfang lernt sie den Presseattaché der deutschen Botschaft in Den Haag, einen gewissen Carl H. Cramer, kennen. Die beiden werden heimlich ein Paar. Cramer ist nicht nur bei der deutschen Botschaft angestellt, er ist auch Agent des militärischen Nachrichtendienstes des Deutschen Reiches. Offen und ohne Umschweife fragt er seine Geliebte, ob sie für ihn in Frankreich spionieren wolle. Auch Cramer überschätzt Mata Hari, er meint, sie habe Zugang zu den höchsten Kreisen von Militär und Politik. Ebendiesen Eindruck hat sie ihm vermittelt, indem sie geschickt Gerüchte so platzierte, als stammten sie aus wohlinformierten Kreisen. Mata Hari, die sich nie ernsthafte Gedanken gemacht hatte über Politik und den Krieg, wertet das Angebot als Möglichkeit, sich auch in ihrem Alter noch interessant zu machen. Sie stimmt zu und liefert. Was sie liefert, ist letztlich ohne Belang, aber man wird auf sie aufmerksam. Ein anderer Liebhaber, ein gewisser Georges Ladoux, seinerseits Chef der französischen Spionageabwehr, fragt sie, er ebenso ohne Umschweife, ob sie sich vorstellen könne, auch für die Franzosen zu arbeiten – als Doppelagentin. Mata Hari bekommt Geld, von den Deutschen, von den Franzosen. Endlich kann sie ihren Lebensstil, den sie vor dem Krieg gewohnt war, wieder aufnehmen. Sie kommt sich wichtig vor. Sie interessiert sich für den Krieg nur, insofern er ihre Karriere hemmt oder fördert. In welche Gefahr sie sich begibt, ahnt sie

nicht einmal. Es war ihr mit List, Erotik und der Gabe, überzeugend zu lügen, gelungen, von sich das Image einer wichtigen Persönlichkeit zu erzeugen. Nun nahm man sie wichtig.
Der französische Geheimdienst kommt zur Auffassung, Mata Hari, die deutsche Agentin H 21, die vorgab, als Doppelagentin zugleich für Frankreich zu spionieren, sei in Wahrheit eine raffnierte und gefährliche Dreifachagentin im Dienst des deutschen Kaisers. Ihr Verhältnis mit dem Kronprinzen – das in Wahrheit nie bestand – wird in den entsprechenden Berichten belastend angeführt.
Vor einem französischen Militärtribunal fndet der Prozess statt, Mata Hari wird zum Tode verurteilt. Am 15. Oktober 1917 wird sie auf Schloss Vincennes nahe Paris hingerichtet. Auch in den letzten Minuten ihres Lebens gibt sie die Rolle ihres Lebens nicht auf – die rätselhafte Frau mit der melodramatischen Vergangenheit, die auch angesichts der Gewehrmündungen die Männer in Erregung versetzen konnte.
Der Kommandant des 26. französischen Jägerbataillons berichtet: „Ihr Auftreten war von unglaublichem Stolz und, fast möchte ich sagen, ein wenig theatralisch. Sie umarmte ihren Verteidiger und schickte viele Abschiedskusshände in die Richtung, wo viele offzielle Persönlichkeiten standen. In dem Augenblick, da ich meinen Degen hob, um ‚Feuer!‘ zu kommandieren, sah sie mir fest ins Auge und sagte mit ruhiger dunkler Stimme: ‚Ich danke Ihnen, mein Herr‘.“





DAS JAHRESABO


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