The Red Bulletin CD 03/23

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ABSEITS DES ALLTÄGLICHEN

GANZ NACH OBEN

Kletterweltmeisterin

PETRA KLINGLER und ihr Aufstieg zur inneren Stärke

SCHWEIZ, CHF 3.80 03 / 2023 JETZT ABONNIEREN getredbulletin.ch

HOCH HINAUS

Was die Personalities unserer aktuellen Ausgabe eint: Sie alle sind über sich hinausgewachsen – und haben sich nicht nur in ihrer Sportart, sondern weit darüber hinaus bewiesen. Coverstar Petra Klingler etwa musste sich von Zweiflern schon eine Menge anhören: Sie sei zu kräftig, zu wenig athletisch gebaut, um es in die (haha!) Oberliga der Kletterinnen zu schaffen. Doch die heute 31­ Jährige wusste es besser – und ist mittlerweile die erfolgreichste und vielseitigste Sportkletterin der Schweiz. Wie sie das geschafft hat und was für eine überraschende Rolle dabei ihr Tagebuch spielt – ab Seite 36 öffnet sie’s.

Von den schneeweissen Grundlinien des CentreCourts lässt sich Tennisspieler Stefanos Tsitsipas nicht einschränken, im Gegenteil, im Kopf ist er schon ein, zwei Games weiter: Was er für die Zeit nach seiner aktiven Karriere plant und welche Bilder in seinem Kopf entstehen, verrät er ab Seite 64.

Ganz grosse Optik liefert auch BMX­Fahrer

Kriss Kyle, der die Grenzen der Schwerkraft hinter (und unter) sich liess – und seinen Parcours auf gut 600 Meter Höhe verlegte. «Hoch soll er leben!» ist für ihn weniger Lied als Auftrag. Ab Seite 46.

Bis hierher war Alltag – ab hier ist Abenteuer. Die Redaktion

Contributors

ANTOINE TRUCHET

Der französische Fotograf erzählt über sein Shooting mit Stefanos Tsitsipas: «Es fand in einer wunderschönen Umgebung im spanischen Marbella statt. Da Stef sich für Fotografie und Filmemachen interessiert, war es spielend einfach, mit ihm zu arbeiten. Er dachte mit und brachte Ideen zur Art des Shootings ein, was ich sehr zu schätzen wusste.» Wie sehr? Antwort: ab Seite 64

LAKIN STARLING

«New Orleans steckt mich jedes Mal an mit seinem Spirit – und bei diesem Besuch hat Big Freedia das auch getan», sagt die in Brooklyn, New York, lebende Autorin unseres Porträts über die Hip-Hop-Künstlerin. «Ich hatte Freedia schon im Reality-TV gesehen und wusste, dass sie einzigartig ist, aber ihre authentische Freundlichkeit hat mich dann doch noch mal überrascht.» Ab Seite 56

PHILIP MÜLLER

Die Spezialität des Fotografen sind seine lebendigen Porträts – und da hatte er beim Shooting mit dem ehemaligen Model und Designer Yannik Zamboni, der sich als «Epizentrum der Anti-Fashion» betrachtet, viel Freude. Umso mehr, als Zürich die Shooting-Plattform war, wo sich der gebürtige Zürcher Müller nach 25 Jahren in Paris vor kurzem erneut niederliess. Ab Seite 77

EDITORIAL
4 THE RED BULLETIN SANDRO BAEBLER (COVER)
© Estate of Jean-Michel Basquiat. Licensed by Artestar, New York.

Die Schauspielerin und HollywoodRegisseurin («Little Woman», «Barbie») und ihre sanfte Revolution.

RAFAEL „VENI“ EISLER 20

Der Wiener Prof-Gamer verrät, wie man’s mit «Minecraft» ganz nach oben schafft.

JOANA MÄDER & ANOUK VERGÉ - DÉPRÉ 22

Das Schweizer Beachvolleyball-Duo kommt nach einer Verletzung stärker zurück. Aber wo und wann?

PICTORIAL

DIE HOLZKLASSE 24

Das Red Bull Seifenkistenrennen ist zurück in der Schweiz – die besten Bilder aus der Box.

KLETTERN

DER GIPFEL IM KOPF 36

Petra Klingler ist die erfolgreichste Sportkletterin der Schweiz. Geschafft hat sie das durch ihre mentale Stärke.

Tsitsipas ist der vielleicht vielseitigste Tennisprof der Welt. Auch außerhalb des Courts – wo er sich völlig freispielt.

Der BMX-Prof Kriss Kyle liess für diesen Stunt alle Schwerkraft hinter sich – und bikt im Himmel.

Wie Artist Big Freedia mit ihren Bounce-Tracks die Musikwelt eroberte – und dabei Stars wie Beyoncé und Drake beeinfusste.

INHALT 03/2023 GALLERY 8 ZAHLEN, BITTE! 14 FUNDSTÜCK 16 HEROES GRETA GERWIG 18
BIKEN DER SKYRIDER 46
MUSIK MISS AMERICA 56
56 TENNIS GAME, SET – STEFF 64 Stefanos
UND JETZT DU! REISEN 77 HÖREN 82 BIOHACKING 84 TRAINIEREN 86 DENKEN 88 ERLEBEN 90 MICHAEL KÖHLMEIERS BOULEVARD DER HELDEN 94 IMPRESSUM 96 CARTOON 98 64 6 THE RED BULLETIN ANTOINE TRUCHET, JUSTEN WILLIAMS

DIE GRÖSSTE BIKE-AUSWAHL.

bikeworld.ch
für deine freiheit
GALLERY FOCUS SPORTS/RED BULL CONTENT POOL

Mumbai, Indien

CURRY- HURRY

Jason Paul ist in Eile. Es ist Mittag, und alle haben Hunger. Und so nimmt der Freerunner die Abkürzung über die Dächer der Stadt. Essenszusteller, das ist an dem Tag sein Job, «The Lunchbox» heisst der Clip. Auftrag: eine Büchse mit frischem Curry (das Bild entstand auf dem Weg zur Abholung) quer durch die Metropole zuzustellen. Das Essen ist am Ende noch heiss – und auch Jason könnte jetzt eine Portion vertragen. redbull.com

THE RED BULLETIN 9

Brˇezina, Tschechien GENERATION X

Zwei Generationen, ein X: Hinten parkte Fotograf Jirˇí Šimecˇek den Red Bull RB7, in dem Sebastian Vettel 2011 Weltmeister wurde. Ein erfüllter Traum. Vorne steht ein Tatra T607, der tschechoslowakische Formel-1-Bolide. Ein zerplatzter Traum. Konstruiert wurde er Anfang der Fünfzigerjahre. Doch der Kalte Krieg verbaute ihm letztendlich den Weg in die Königsklasse –die Klasse des Klassenfeindes. jirisimecek.com

GALLERY
JIRI SIMECEK/RED BULL CONTENT POOL, DAN KRAUSS/RED BULL ILLUME DAVYDD CHONG

Salt Lake City, Utah, USA

DER ROT- SPOT

Blau durchzieht zaghaft den düsteren Morgen. Hell genug, um den Himmel im Salzsee zu spiegeln. Noch zu dunkel, um den roten Fleck im Hintergrund scharf auszuleuchten. Wandelt da, zwei Jahrtausende nach Jesus, wieder ein Mann übers Wasser? Nicht ganz –es ist der Skater Jack Hessler, der im grellen Blouson einen Kickflip vollführt. Allerdings doch am Ufer, von Fotograf Dan Kraus ra∞niert positioniert. dankraussphoto.com; redbullillume.com

THE RED BULLETIN 11

Avilés, Spanien

HÖCHSTE KREISE

Windmühlen sind auch nicht mehr das, was sie zu Don Quijotes Zeiten waren. Und wogegen jener chancenlos kämpfte. Dieser Ritter hingegen, der durch ein Schlachtfeld verrottender Windmühlenteile zieht, heisst Sergio Layos und hat es im Gegensatz zum alten Don geschafft: Mit seinem BMX­Rad bewegt er sich in den höchsten Kreisen. ismaelibanez.blogspot.com; redbullillume.com

GALLERY
12 THE RED BULLETIN
ISMAEL IBANEZ/RED BULL ILLUME DAVYDD CHONG

KÖNIGIN FUSSBALL

Von 20. Juli bis 20. August steigt in Neuseeland und Australien die Fussball-WM der Frauen – hier vor dem ersten Match elf Zahlenspiele.

190

5

Minuten benötigte Fabienne Humm 2015 für ihre drei Tore beim 10 :1 der Schweiz gegen Ecuador – der schnellste Hattrick.

6

Siege in Serie ohne Gegentreffer – dieses Kunststück gelang der deutschen Mannschaft mit Torfrau Nadine Angerer bei ihrem Titelgewinn 2007.

46,5

Zentimeter hoch und 4,6 Kilo schwer ist der 1998 von William Sawaya designte WM-Pokal. Er besteht aus Migmatit, vergoldeter Bronze und poliertem Aluminium.

12

der 32 qualifizierten Teams werden von Frauen trainiert –darunter Deutschland (Martina Voss-Tecklenburg) und die Schweiz (Inka Grings).

Teamtore hat die Kanadierin Christine Sinclair (Stand April) erzielt –mehr als jeder andere Mensch weltweit.

8

Fussball-WM wurden seit 1991 ausgetragen. Viermal ging der Titel an die USA, die nie einen schlechteren Platz als einen dritten erreichten –zuletzt 2015 und 2019.

2.000.000.000

TV-Zuseher erhofft sich die Fifa in Summe. 2019 waren es weltweit 1,12 Milliarden, das Finale sahen 260 Millionen.

17

Tore erzielte die Brasilianerin Marta bei Weltmeisterschaften –eines mehr als der treffsicherste Mann, Miroslav Klose aus Deutschland.

64

Spiele werden in 10 Stadien in 9 Städten ausgetragen, die Eröffnung (Neuseeland gegen Norwegen) in Auckland, das Finale in Sydney.

150.000.000

Dollar (132,8 Millionen Franken) schüttet die Fifa bei der Frauen-WM als Preisgeld aus – fünfmal so viel wie 2019, deutlich weniger als bei den Herren 2022 (440 Mio. Dollar).

Tore wurden sowohl bei der WM 2015 als auch der WM 2019 erzielt – in je 52 Spielen. 2023 finden (mit 32 statt 24 Teams) 64 Spiele statt.

ZAHLEN, BITTE!
146
14 THE RED BULLETIN GETTY IMAGES, PICTUREDESK.COM HANNES KROPIK CLAUDIA MEITERT

The greatoutdoors

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Natur und Abenteuer Paradies: 1’400 km Wanderwege, Trailrunning, Klettern, Bouldern, MTB und jede Menge Wasserspass! … nicht zu vergessen die über 2’300 Stunden Sonnenschein im Jahr!

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Cardada Cimetta

DIE SCHUH - NUMMER

Klicks, Euros, Awards: Erfolg im Hip-Hop lässt sich in vielen Einheiten messen. Rapper Bausa misst ihn aber auch an diesem Paar Sneakers.

Eine Diamant-Schallplatte für 1,3 Millionen verkaufte Einheiten seines Songs «Was du Liebe nennst», ein schwarz-goldener Versace-Bademantel vom Auftritt bei der «1Live Krone», ein Exemplar des ersten Albums «Dreifarbenhaus» – gefragt nach Dingen, die seinen Weg in die Champions League des Deutschrap prägten, fallen Bausa beim Interview mit The Red Bulletin

Gegenstände wie diese ein. Auch ein Paar Nike Air Max 97 Ultra ’17 Skepta haben eine besondere Bedeutung für ihn. Handbeschriftet mit seinem Spitznamen «Baui» schickte ihm der Hersteller die Sneaker als Geschenk – für Bausa ein weiteres Zeichen dafür, dass er es nach oben geschafft hat. Im Oktober startet seine «Drei Jahre später»-Tour, am 11. Oktober tritt er in Zürich auf.

Bausa, 34, trat beim Red Bull Soundclash gegen Stars wie Apache 207 und Loredana an. Erlebe die ganze Show auf redbull.com.
FUNDSTÜCK 16 THE RED BULLETIN
ROBERT WUNSCH DAVID MAYER

GRETA GERWIG

prägt die sanfte Revolution der Hollywood-Regisseurinnen Statt platter Erotik macht sie den Gucci-Pyjama zum Lebensprinzip.

TEXT RÜDIGER STURM

Doch Gerwig, die Anti-Barbie vom Dienst, hatte stets zu kämpfen. Schon als sie am College eigene Filme drehen wollte, standen ihr immer wieder männliche Kommilitonen im Weg: «Wenn ich mir eine Kamera ausleihen wollte, war nie etwas verfügbar, weil die Jungs die Geräte in Beschlag genommen hatten. Als Mädchen warst du ausgegrenzt, wenn es um technischere Berufe ging. Die männlichen Studenten nahmen immer an, dass mich das doch gar nicht interessieren könne.»

Klare Worte statt harter Bandagen Zugegebenermassen war es dann aber dennoch ein Mann, der Greta Gerwigs Karriere entscheidend beeinfusste: Regisseur Noah Baumbach, der auch zu ihrem Lebenspartner wurde, verhalf ihr mit Rollen wie in «Greenberg» zum Durchbruch als Darstellerin – doch sie forderte diese Hilfe auch stets proaktiv ein. «Ich hatte zwar schon vorher geschrieben, aber dann Drehbücher mit ihm gemeinsam verfasst. Und ich habe ihn dabei ständig gefragt, wenn ich etwas Regietechnisches wissen wollte. So habe ich mich weitergebildet.»

Greta Gerwig ist derzeit in «Weisses Rauschen» auf Netflix zu sehen.

Am 19. Juli startet ihr Kinofilm „Barbie“.

Instagram: @officialgretagerwig

Guten Morgen! Und gute Nacht? Zum Interview tritt Greta Gerwig in einem Outft an, das wie ein Schlafanzug aussieht. Immerhin von Gucci, wie sie auf Nachfrage ausführt. Die preisgekrönte Schauspielerin und Filmemacherin betrachtet Textilien als Stoff der Freiheit.

«Ich ziehe mich so an, weil ich niemandem ausser mir selbst gefallen muss. Und diese Klamotten fühlen sich gerade richtig an.»

Nein, Gerwig, 39, hat nicht die geringste Lust, festgefahrene Erwartungen an ihr Aussehen zu erfüllen. Auch in ihren Filmen «Greenberg» oder «Frances Ha» porträtiert sie als Darstellerin Frauen, die sich nicht über die Optik defnieren. Gleiches gilt für ihre jüngste Literaturverflmung «Weisses Rauschen» (derzeit auf Netfix), wo sie als Mutter einer PatchworkFamilie gegen ihre innere Todesangst kämpft: «Ich mag es, wenn ich die Nische der Rollen, die nicht sexy sind, ausfüllen kann.»

Doch längst ist die New Yorkerin mehr als nur eine Nischenfüllerin. Sie zählt zur Riege junger Regisseurinnen, die nach Jahrzehnten männlicher Übermacht das Filmbusiness endlich weiblicher machen: Als sie 2017 in «Ladybird» ihr Regiedebüt gab, erhielt sie prompt Oscar-Nominierungen für Regie und Drehbuch. An diesen Erfolg knüpfte sie zwei Jahre später mit «Little Women» an; der Film war für einen Oscar für das beste adaptierte Drehbuch nominiert. Und heuer startet ihr bereits vorab hochgehyptes Movie «Barbie» mit Margot Robbie und Ryan Gosling.

Vielleicht ist das auch der wichtigste Faktor ihres Erfolgs: Greta Gerwig musste keine Ellbogen einsetzen, sie hat einfach ihren Mund aufgemacht. Wenn sich Baumbach im Wochenrhythmus mit bekannten Regiekollegen wie Wes Anderson oder Brian De Palma zum Abendessen traf, sagte sie: «Ich komme mit, ich will hören, worüber ihr euch unterhaltet.»

Und prompt war sie Teil eines exklusiven Dinnerzirkels. «Wenn du kreativ sein willst, musst du dich im Umfeld der Kreativen bewegen. Dieser Austausch ist ganz wichtig.» Auch ihre Hauptrolle in «Weisses Rauschen», bei dem Noah Baumbach Regie führte, bekam sie, indem sie klipp und klar ihre Wünsche äusserte: «Bei der Lektüre des Romans (von Don DeLillo; Anm.) fragte mich Noah, wer denn die Mutterrolle übernehmen könnte, und ich sagte: ‹Ich!›»

Bei der Oscar-Verleihung 2020 kam es dann zu einem offziellen Aufeinandertreffen zwischen Greta und Noah, da ihre Filme «Little Women» (sie) und «Marriage Story» (er) für jeweils sechs Auszeichnungen nominiert waren. Doch Gerwig bestreitet jedes Konkurrenzdenken, und sie wirkt in ihrer sanften Ausstrahlung glaubwürdig. «Ich hätte mich auch nicht von Noah getrennt, wenn er mich nicht für ‹Weisses Rauschen› besetzt hätte.»

Ja, diese Greta Gerwig wirkt sanft. Doch ihre Marschrichtung ist klar und unverrückbar. Das zeigt sich, wenn sie über junge Filmstudentinnen, die Generation eins nach Greta, spricht: Wenn sie da eine sehe, die beim Dreh «Nein, das passt so nicht» sagt, gehe ihr das Herz auf.

«Yeah, zeig’s ihnen!», sagt sie dann.

HEROES
18 THE RED BULLETIN ROBBY KLEIN/CONTOUR BY GETTY IMAGES FOR THE RECORDING ACADEMY
«Rollen, die nicht sexy sind: Diese Nische will ich ausfüllen!»
THE RED BULLETIN 19
Greta Gerwig, 39, über ihren Job jenseits der Hollywood-Klischees

HEROES

RAFAEL «VENI» EISLER

Die Karriere des Wieners begann, als er mit drei Jahren auf Papas Bürorechner zockte. Heute ist er 26, Prof-Gamer und verrät, wie man’s mit «Minecraft» ganz nach oben schafft.

Und schon bald wurde Rafael alias Veni bei einschlägigen Events von Fans nur so bestürmt. Was sein schüchternes Gemüt nicht unbedingt zu pimpen vermochte und man auch heute noch an seinem vermeintlichen Styling-Spleen sieht: Veni trägt schon einmal bunt lackierte Fingernägel. «Ich bin ja ein leidenschaftlicher Nägelbeisser», sagt er und schmunzelt. «Und so kam ich auf die Idee mit dem Nagellack. Aber den hab ich mir halt auch immer wieder runtergeknabbert. Seit ich Shellack, also diesen harten Gel-Lack, verwende, klappt das aber super.»

Eins zu einer Million

Instagram: rafi_veni

YouTube: VeniCraft redbull.com/FTW

Als Vierzehnjähriger startete er mit Spielen wie «Minecraft» seine Karriere auf YouTube. Eigentlich eh sehr spät, wie er meint, sass er doch bereits als Knirps von drei Jahren am Firmenrechner seines Vaters, um zu zocken. Das mögen andere Kinder in diesem Alter freilich auch gemacht haben. Nur – Rafael blieb dran. Und katapultierte sich in der Folge unter dem Künstlernamen Veni (Abwandlung der Figur Vanitas aus der Action-RollenspielReihe «Kingdom Hearts») zum Shootingstar der Gaming-Branche – mit «Minecraft», einem vergleichsweise harmlosen Spiel, das offziell für Kinder ab sechs Jahren freigegeben ist: Der Fokus liegt auf der Erkundung der von Höhlen durchzogenen Spielwelt sowie dem Bau eigener Gebäude und Vorrichtungen. Der Spieler kann Rohstoffe abbauen («to mine»), diese zu anderen Gegenständen weiterverarbeiten («to craft») und gegen Monster kämpfen.

Veni hatte dieses Spiel offenbar derart gut drauf, dass er recht schnell hunderttausende Follower zählen konnte. Und alle wollten ihm beim Gamen zusehen. Was ihn als Teenager doch recht überwältigte: «Ich war, bevor ich mit YouTube begonnen hatte, eigentlich sehr schüchtern. Und diese Masse an Views hat mich zu Beginn ziemlich verlegen gemacht.» Und das kann Gamer mitunter auch träge machen. «Wenn du neben der Schule daheim stundenlang vor dem Computer sitzt, nimmst du recht schnell zu.» Deswegen stand auch das Gym am Plan. Mit dem Erfolg kam der Ruhm.

Auch seine schulischen Leistungen in einer Wiener HTL für Netzwerktechnik waren lange Zeit recht passabel. Bis zur Matura – zu der er nicht antrat. «Meine Klasse war damals der erste Zentralmatura-Lehrgang. Und niemand hat gewusst oder konnte uns sagen, was uns erwartet. Es war das pure Chaos. Und ganz ehrlich, ich hatte eh schon keine Lust mehr.» Während seine Kollegen also die Matura absolvierten, weilte Veni längst auf einem BrandEvent in China. Die Entschuldigung für sein schulisches Fernbleiben schrieb er sich selbst. «Ich bereu’s auch nicht. Aber empfehlen würde ich das heute niemandem. Die Chance, ohne Matura und mit meinem Lebenslauf so erfolgreich zu werden, steht meines Erachtens bei eins zu einer Million.» Auch ein davor angestrebtes Studium war schnell keine Option mehr. «Ich hab auf YouTube mehr für mein Leben gelernt als in der Schule oder vielleicht bei einem Studium, bei dem mich eh nur ein Teil interessiert.» Lebensschule YouTube? «Auf jeden Fall! Ich hab beim Gamen viele amerikanische Creators gesehen und perfekt Englisch gelernt. Das kann dir in der Schule kein Lehrer in dieser Form beibringen.»

Heute leitet der Gamer nebenher eine Social-Media-Agentur und unterstützt tatkräftig andere Spieler – gemeinsam mit der Tiroler Gamerin Veyla. «Teamgeist, Zeitmanagement und Kreativität sind bei den Spielen ganz wichtig», sagt Veni. Die beiden suchen nun für den grossen Gaming-Event «Red Bull For The Win» am 15. Juli die besten Spielerinnen- und Spielerteams Österreichs. «Was etwa bei einem Fünfer team zum Wichtigsten zählt, ist die Kooperation. Und die will als Einzelkämpfer gelernt sein. Aber man muss kooperieren können und vor allem – vertrauen! Du musst dich auf den anderen unbedingt verlassen können.»

Bei Veni trifft das in jedem Fall zu. Ohne viel Aufhebens organisiert er nebenbei immer wieder Charity-Turniere zugunsten schwerkranker Kinder. Es heisst ja: Wie man schnell und gut reagiert, lernt man am schnellsten und besten beim Gamen.

20 THE RED BULLETIN
TEXT ISABELLA GROSSSCHOPF FOTO MATTHIAS HESCHL
«Ich hab auf YouTube mehr für mein Leben gelernt als in der Schule.»
THE RED BULLETIN 21
Rafael «Veni» Eisler, 26, über sein ganz persönliches Bildungsprogramm

JOANA MÄDER & ANOUK VERGÉ - DÉPRÉ

waren als Beachvolleyballerinnen voll auf Erfolgskurs. Bis eine Verletzung sie aus der Sandkiste warf – aber als Team stärkte. Nun feiern sie bei der EM in Wien ihr Comeback.

sich Joana beim Service die Schulter aus. Eine Zeitlang konnte sie nicht einmal ihre Hand bewegen. «Es war ein Schock für uns. Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder auf diesem Level spielen kann», sagt Joana. «Ich hätte verstanden, wenn sich Anouk anders orientiert hätte. Aber sie hat auf mich gewartet.»

Anouk hat entschieden, dass der Weg gemeinsam weitergeht: «Wir sahen uns nicht in der Opferrolle. Nach ein paar Wochen war da die Frage: Wie können wir beide diese Zeit bestmöglich nutzen, um noch stärker zurückzukommen?» Beachvolleyball sei manchmal wie eine intensive Paartherapie, erzählt sie. Man lernt sich selbst und seine Spielpartnerin extrem gut kennen: «Wir gehen tagtäglich zusammen ans Limit und möchten es gemeinsam verschieben. Wir haben so viele Situationen erlebt, schöne wie schwierige. Joana weiss ganz genau, wie ich funktioniere, und umgekehrt.»

Die Macht der kontrollierten Gefühle Anouk war wichtig, Joana zu vermitteln, dass es keinen Zeitdruck gibt, sie wissen zu lassen: «Ich bin ready, wenn du es bist.» Joana musste in den letzten Monaten ihren Spielstil verändern, um mit der frisch operierten Schulter mit den Weltbesten mitzuhalten. «Platzierte Bälle waren vorher nie mein Talent, ich bin sehr athletisch und habe durch Power gepunktet.» Die zehnmonatige Auszeit hat beide vielseitiger gemacht. «Wir haben gelernt, zu akzeptieren, dass es Unsicherheiten gibt. Aber wir wissen jetzt auch, es gibt für alles eine Lösung.»

Seit 2017 ein Team, waren beide am Anfang sehr impulsiv im Wettkampf. «Wir waren jung, unerfahren und laut», bringt es Anouk auf den Punkt. Sie mussten trainieren, ihre Gefühle bewusster einzusetzen: «Es gibt Emotionen, die Aggressivität und Überzeugung ins Spiel bringen. Aber es gibt auch unkontrollierte Emotionen, die dich von wichtigen Spielentscheidungen ablenken.» Nach der Verletzung waren sie auf Rang 40 der Weltrangliste zurückgefallen. Jetzt kämpfen sie sich zurück. Wollen Punkte sammeln, Stabilität und Rhythmus im Spiel fnden. Ihr Ziel ist es, bereits dieses Jahr bei den Grossanlässen wieder Medaillen ins Visier zu nehmen. Ihr Fernziel: Gold bei den Olympischen Spielen in Paris 2024.

Instagram:

@joanamaeder

@anoukvergedepre

@beachvolleyballmajors

Eine Beachvolleyball­Mannschaft ist ein spannendes Konstrukt: Sie besteht aus zwei Spielerinnen, die sich blind verstehen müssen, um ein perfektes Team zu sein. Sie kommunizieren oft ohne Worte. Wenn aber eine ausfällt, wird es brenzlig, denn es gibt keine Ersatzspielerin.

Das mussten die Schweizerinnen Joana Mäder, 31, und Anouk Vergé­Dépré, 31, im Vorjahr hautnah erleben. Sie waren gerade auf Erfolgskurs, standen auf Position vier der Weltrangliste. Im Bronze­Match bei der WM in Rom kegelte

Nach zwei Jahren treten die Europameisterinnen von 2020 erstmals wieder zusammen an: bei den A1 CEV Beachvolleyball­Europameisterschaften im August in der Red Bull Beach Arena auf der Wiener Donauinsel. Für sie wird es eine Art Heimspiel: «Ausser in den Spielen gegen Österreich dürfen wir in Wien glücklicherweise immer auf die Unterstützung der Fans zählen», strahlt Anouk. «Die Stimmung in Wien ist ein Wahnsinn. Es macht uns immer viel Spass, dort zu spielen», ergänzt Joana.

HEROES
22 THE RED BULLETIN LORENZ RICHARD/RED BULL CONTENT POOL
TEXT KARIN CERNY

Mit Jeep® steigt die weltweite Nummer eins der SUV- und Geländewagenmarken in den nächsten Jahren komplett auf Elektromodelle um. Den Auftakt macht der neue vollelektrische Jeep® Avenger, welcher den legendären Stil mit effizienter Leistung und innovativer Technologie neu interpretiert.

Jeep®, das Original – jetzt 100 % elektrisch. Jeep® produzierte schon SUV, bevor es den Begriff überhaupt gab. Damit ist und bleibt Jeep® das Original. Und das Original gibt es jetzt 100 % elektrisch. Nicht nur das – mit dem Jeep® Avenger wurde der erste vollelektrische SUV des legendären amerikanischen Autobauers zum Auto des Jahres gewählt.

«Design to Function» – nach diesem Ansatz wurde der neue Kompakt-SUV konzipiert. Mit knapp über vier Metern fühlt sich der Avenger im Gelände ebenso wohl wie in urbanen Gefilden. Aussen lebendig, muskulös, wie man

es von Jeep® gewohnt ist, innen modern, digital. Die 54-kW/h-Lithium-Ionen-Batterie ermöglicht dem Avenger eine Reichweite von bis zu 550 Kilometern, je nach Modus.

Geballte Freiheit erleben

Wer die elektrische Freiheit von Jeep® in seiner geballten Form miterleben möchte, darf sich freuen: Der Jeep® Avenger ist bereits bestellbar. Mehr Informationen gibt es auf jeep.ch oder direkt beim Jeep® Händler in deiner Nähe.

JEEP ELEKTRISCH WIRD jeep.ch

PURE EMOTION Der moderne, digitale Innenraum verbindet das Gefühl von Freiheit mit hoher Funktionalität und Konnektivität. GEBALLTE FREIHEIT Der erste vollelektrische Jeep SUV fühlt sich im Gelände genauso wohl wie in der Stadt. Jeep® Avenger Elektro: Stromverbrauch (kombiniert): 15,9–15,3 kWh / 100 km; elektrische Reichweite (kombiniert): 389–404 km; CO2-Emissionen: 0 g/km.
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Werte nach WLTP-Testverfahren. Die tatsächliche Reichweite kann aufgrund zahlreicher Faktoren wie Fahrstil, Route, Wetter und Strassenbedingungen sowie Zustand, Gebrauch und Ausstattung des Fahrzeugs variieren.

IN DER BOX DAS MATCH

Die Fantasie ist ihr Motor, bunte Boxen sind ihre Karosserie. Ach ja, und beschleunigt wird abwärts: Das Red Bull Seifenkistenrennen ist zurück in der Schweiz. Hier zur Einstimmung die besten Pics aus der Holzklasse.

ZIELWASSER

Lausanne, 2017 Eng und schwer steuerbar: Die Seifenkiste von «Passage Express» schaffte es trotz des rutschigen Parcours zumindest unbeschadet bis ins Ziel.

24 THE RED BULLETIN
TEXT SASKIA JUNGNIKL-GOSSY
ROMINA AMATO/RED BULL CONTENT POOL

ABGEFAHRENER AGENT

London, Grossbritannien, 2022

Was bei diesem Seifenkistenrennen nicht fehlen durfte, war ganz klar: das Schärfste, was Ihre Majestät zu bieten hat! Geheimagent Austin Powers sorgte für Sicherheit –und gewann zwar nicht das Rennen, dafür aber viele Zuseherherzen.

26 THE RED BULLETIN
THE RED BULLETIN 27 MARK ROE/RED BULL CONTENT POOL

FLOTTE KAROTTE

Kapstadt, Südafrika, 2022

Nach einer Woche

Schlechtwetter

herrschten am Renntag zwar perfekte Streckenbedingungen.

Leider half das nicht

jedem Team ins Ziel –dieses hier stellte es etwa auf die Nase.

HOLZSALAT

Paris, Frankreich, 2014

Immer nur bergab wäre viel zu einfach, deshalb gab es auf dem Parcours am Stadtrand der Millionenmetropole einige fiese Hindernisse – und so schaffte es auch nicht jedes Team über die volle Distanz.

EDELROLLER

Osaka, Japan, 2022

Im Land der aufgehenden Sonne, konkret im Expo ’70 Commemorative Park, ging es zunächst eine Rampe hinunter und dann mehr oder weniger elegant ins Ziel.

THE RED BULLETIN 29 WAYNE REICHE/RED BULL CONTENT POOL, ALEX LAUREL/RED BULL CONTENT POOL, SUGURU SAITO/RED BULL CONTENT POOL
30 THE RED BULLETIN

WOHLDOSIERT

Circuit de SpaFrancorchamps, Belgien, 2022 Red Bull Racing? Nicht ganz Max Verstappen, aber dennoch auf dem besten Weg ins Ziel – nur in Sachen Aerodynamik gibt’s noch Luft nach oben.

THE RED BULLETIN 31 STEFAAN TEMMERMAN/RED BULL CONTENT POOL

GOLD FÜR GRÜN

Lausanne, 2017

Der Pokal für die schnellste Kiste ging an die Lokalmatadore: «La Tortue Roquett» aus Lausanne schafften die Rennstrecke in knapp 43 Sekunden.

THE RED BULLETIN 33 DEAN TREML/RED BULL CONTENT POOL

27. AUGUST 2023

SPRING IN DIE KISTE

Die schnellsten und kreativsten Seifenkisten gibt es Ende August in der Schweizer Hauptstadt Bern zu bestaunen. Dann nämlich, wenn sich beim Red Bull Seifenkistenrennen Hobbykonstrukteure der Herausforderung stellen, in ihren möglichst ausgefallenen Rennkisten einen hindernisreichen Kurs zu meistern. Pficht sind Luftreifen, eine funktionierende Lenkung und gute Bremsen. Und natürlich Begeisterung für die Sache. Die Jury vergibt drei Preise: je einen für Performance, Kreativität und Geschwindigkeit.

Für weitere Infos einfach den QR-Code scannen

Das Team «Jurassic Jeep» setzte bei seinen Pacemakern auf tierische Hilfe: Zwei Tyrannosaurus Rex waren für sie im Einsatz.

«Unicornbusters TM» liessen sich von der guten Laune der 42.000 Zuseherinnen und Zuseher anstecken.
34 THE RED BULLETIN

Die Jury bewertet Performance und Kreativität, dazu wird das Tempo eingerechnet. Hier: Radiomoderator Manu Py (links), Beachvolleyballerin Anouk Vergé­Dépré und Skifahrer Jérémie Heitz beim letzten Schweizer Rennen 2017.

2017 rasten über 60 Teams am Red Bull Caisses à Savon in Seifenkisten die Avenue d’Ouchy hinunter.

THE RED BULLETIN 35 DEAN TREML/RED BULL CONTENT POOL, LUIS VIDALES/RED BULL CONTENT POOL, ROMINA AMATO/RED BULL CONTENT POOL

SIE H Ä LT AN IHREN TR ÄUMEN FEST

TEXT SAMUEL WALDIS FOTOS SANDRO BÄBLER

Fast wie schwerelos Petra Klingler trainiert in der Boulderhalle von Dübendorf in der Nähe von Zürich.

THE RED BULLETIN 37

Die zweifache Kletterweltmeisterin

Klingler hat sich

studierte Psychologin:

Fels- oder Kletterwänden, und zwar in Absprunghöhe. Klingler ist eine der vielseitigsten Kletterinnen der Welt. Das bewies sie etwa im Herbst 2022, als sie beim Red Bull Dual Ascent am Verzasca-Staudamm als einzige Frau im Finale mit dabei war. Doch ihr Weg nach oben ist, nun ja, steinig. Denn sie hadert mit ihrem Körperbild. Andere Menschen streuen Zweifel, und sie lässt sich irritieren. Und wäre sie in einem Land mit bescheideneren medizinischen Standards geboren, so könnte sie heute vielleicht nicht einmal richtig gehen. Doch davon später.

Ein Boxtrainer hilft

PMehrere Personen hielten Petra Klingler für zu kräftig und zu schwer, nennenswerte sportliche Erfolge würde sie nie erreichen. Während andere Kletterinnen drahtiger sind, ist Petra muskulös. Das fällt auf. Immer wieder kündigen sie die Speaker als «das Kraftpaket aus der Schweiz» an. Früher störte sie das. Sie wollte mehr sein als das, was man auf den ersten Blick sieht. Und sie wollte wie alle jungen Menschen gefallen. Eine Hilfe war ihr Bruder: «Er sagte immer, dass diese abgemagerten Mädchen ohnehin nicht schön seien. Wenn er das sagte, dann schien es objektiver, als wenn es etwa von meinen Eltern kam.»

Petra Klingler ist die erfolgreichste und vielseitigste Sportkletterin der Schweiz. Ihr Erfolgsrezept: Der Kopf muss so stark sein wie der Körper.

aris, 18. September 2016, Weltmeisterschaft: Petra Klingler steht mit ihrem Trainer Kevin Hemund in den Gängen der Accor Arena im Stadtteil Bercy. Links und rechts Sitzungszimmer, Behandlungsräume, Garderoben, kein Tageslicht. Die beiden kommen gerade von einem spielerischen Aufwärmen, auch ein wenig rumgeblödelt haben sie währenddessen. Kevin sagt: «Geniesse das, was jetzt kommt.» Und sie erinnert sich noch heute genau an diesen Augenblick: «In seinem Blick lagen all die Jahre, die wir auf diesen Moment hingearbeitet hatten. All das Selbstvertrauen. Und seine Vorfreude, gleich zuschauen zu können.» Dann trennen sich ihre Wege. Kevin geht zur Tribüne. Und für Petra beginnt das ewige Duell aller Kletterer: sie und die Wand. 10.000 Menschen schauen ihr zu, Licht in Regenbogenfarben leuchtet die Halle aus, ein Grossbildschirm zeigt jedes Detail der Wand, aus Boxen brüllen Beats. Der Wettkampf ihres Lebens beginnt.

Petra Klingler, 31, ist die erfolgreichste Boulderin der Schweiz. Bouldern, das ist Klettern ohne Seil an

Als sie sechzehn Jahre alt war, spürte ein Bekannter aus der Kletterhalle, dass es ihr nicht so gut ging. Sie redeten über Körpergewicht und Zweifel, darüber, dass Petra langsam selbst glaubte, sie könne nichts erreichen. Sie hatte auch mit ihren Trainern darüber geredet. Aber ihnen ging es nur um die Sache. Hier war sie immer Petra, die Kletterin: «Geh joggen», sagten die Trainer. Aber sie hasste Joggen. Der Bekannte, ein Boxtrainer aus ihrer Gegend – Bonstetten nahe Zürich –, war der Erste, der sie emotional erreichte. Hier war sie Petra, der Mensch. Er bot ihr an, sie im Boxtraining auf andere Gedanken zu bringen. So lernte sie eine neue Welt kennen, neue Ansichten – und ihren Körper. Heute sagt sie: «Ich habe damals realisiert: Entweder lasse ich mich runterziehen. Oder ich blende alles aus. Das eine raubt mir Energie, das andere nicht.»

Und siehe da, es gibt Menschen, die sich freuen, wenn Athleten mit gerade ihrem Körperbau – 1,63 Meter gross, 59 Kilogramm schwer – Erfolg haben. Petra sagt: «Solche Kommentare tun extrem gut. Sie machen mir bewusst, wie viele Menschen ich inspirieren kann.»

Petra hat Sport und Psychologie studiert, quasi Körper und Geist. Je länger sie klettert, desto mehr Modelle aus dem Studium kann sie damit verknüpfen. Sie hat zum Beispiel gelernt, dass sie nach einem erfolgreichen Boulder innehalten muss: Wie oft ist sie daran gescheitert? Was waren die Details dieser Route? Sie hat gelernt, dass sie manchmal dem Körper die Arbeit

Petra
viel anhören müssen. Sie sei zu kräftig, zu schwer, nicht gut genug. Heute weiß die
Wenn sie ihren Weg weiter geht, schafft sie es. Auch ganz rauf bis zum Glück.
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überlassen muss: Was fühlt sich gut an? Was kam intuitiv? Und sie hat gelernt, dass Scheitern den Fortschritt antreibt. Aufstehen. Analysieren. Anpassen. «Wenn ich es geschafft habe», sagt sie, «muss ich herausfnden, warum. Das ist dann mein Learning.»

Es hat Jahre gebraucht, bis sie im Kopf so weit war. 2015 begann sie die Zusammenarbeit mit Trainer Kevin, dem Mann aus den grauen Gängen der Accor Arena in Paris. Mit 23 hatte sie schon erfolgreiche Jahre hinter sich. Aber der grosse Exploit fehlte ihr noch.

Als sie zum ersten Mal zusammensassen, fragte Kevin: «Was ist dein Ziel an der WM 2016 in Paris?» Und Petra antwortete: «Das Final.» Kevin schaute sie an. Dann sagte er: «Nein. Wir gewinnen das.»

Er glaubte an sie. Also durfte auch sie an sich glauben: So fühlte sie in diesem Moment. Wenn andere ihre Zweifel ablegen, darf sie auch ihre eigenen vergessen.

In der Vorbereitung auf die WM ist eine Methode in ihr Leben getreten, die sie bis heute beibehalten hat. Kevin schlug ihr vor, Tagebuch zu schreiben. Sie solle pro Tag drei positive Punkte notieren. Nach dem Training sinnierte sie stets auf der Fahrt im Zug: «Dreissig Minuten – und manchmal stand nur ein einziger neuer Punkt in meinem Buch. Ich hatte extrem Mühe, positive Sachen bei mir zu fnden.»

Ein Buch wie ein innerer Spiegel

Heute klingen diese Punkte zum Beispiel so: «Timing auf Griff war super» oder «Drangeblieben trotz Crash! Angst in Motivation transformiert». Mit dem Tagebuch nimmt sie Fortschritte bewusster wahr und hat gelernt, sie anzuerkennen. Das Tagebuch ordnet ihre Gedanken und spendet Ruhe, weil es wie eine Art Absicherung funktioniert. Sie sagt: «Ich habe die Tendenz, eher nach vorne zu schauen, die Ziele im Fokus. Dabei vergesse ich, was ich alles geschafft habe.» Zweifelt sie vor Wettkämpfen, beweise ihr das Buch: «Ich habe extrem viel trainiert. Ich habe gemacht, was ich kann.»

Seit 1989 gibt es den Kletterweltcup, seit 1991 Weltmeisterschaften, und seit Tokio 2020 ist Klettern olympisch. Künstliche Wände, drei Kategorien: Lead – Klettern am Seil, so hoch wie möglich; Speed – Klettern auf einer genormten Route, so schnell wie möglich; und Bouldern – Klettern ohne Seil auf Absprunghöhe.

Ihren ersten Weltcupsieg im Bouldern holte Petra 2015 in der chinesischen Stadt Haiyang. China war damals kaum verankert im Weltcup und die Infrastruktur

Zielorientiert Klingler trainiert 35 Stunden pro Woche, verteilt auf sechs Tage.

«Mein Trainer Kevin glaubte an mich. Also durfte auch ich selbst an mich glauben.»
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VORWÄRTS - RÜCKBLICK

Petra Klinglers treuester Begleiter ist ihr Tagebuch: Hier notiert sie, was gut lief und wie sie sich verbessert hat – als Motivation für den nächsten Move.

entsprechend bescheiden. Die Matten, die Boulderer beim Fallen schützen, mussten nach einem Gewitter erst mal getrocknet werden. Eine war so stark durchgescheuert, dass die Veranstalter sie mit einem Kreis markierten: Hier bitte nicht aufprallen. Viele Athletinnen regten sich darüber auf. Petra liess sich von all dem nicht aus der Ruhe bringen: «Es war eine Herausforderung. Aber ich wusste, alles wird klappen.» Dieses Mindset versetzt Berge.

Ein Fotos ihres Sieges in China trug sie als Print auf der Kreditkarte jahrelang mit sich. Zusammen mit dem Gefühl, Weltcupsiegerin zu sein. Ein Jahr später holte sie auch als Eiskletterin den ersten Weltcupsieg, 2022 wurde sie in Saas-Fee gar Weltmeisterin. Die Disziplin dient ihr vor allem als Training, und früher fnanzierte sie mit dem Preisgeld des Winters die Boulder-Saison im Sommer. Aber die Erfolge mit den Eispickeln machen sie

Klingler zieht und stemmt, balanciert und springt – und manchmal macht sie kurz Pause.

auch zur Rarität in der Kletterwelt: Es gibt kaum Athleten, die im Sommer und im Winter so erfolgreich klettern. Petra hat es jenen Stimmen zum Trotz geschafft, die ihr wegen ihres Körpers Scheitern prophezeit hatten. Sie sagt: «Nach dem ersten Weltcupsieg, oben auf dem Podest, dachte ich an diese Menschen. Ich habe meine Genetik zu meinem Vorteil gemacht. Ich habe mit diesem Körper Erfolg gehabt. Sollen sie doch reden.» Denn Tuschelthemen gab’s von Anfang an genug. Petra ist 1992 mit einem Klump- und Sichelfuss zur Welt gekommen, einem Geburtsfehler, bei dem die Füsse nach innen gedreht sind. Bis sie neun Monate alt war, gipsten die Ärzte ihre Füsse jede Woche neu ein, um sie in die richtige Position zu drücken. Danach trug sie jahrelang Spezialschuhe, auch während sie schlief. In der Nacht mussten sie die Eltern zur Toilette tragen. Sie bekam immer wieder schulfrei, um in einem Orthopädieladen am Zürcher Stauffacher ihre Schuhe zu kaufen, und mochte diese Ausfüge zusammen mit der Mutter. Aber noch lieber erzählt sie heute, wie sie als Teenager ihre ersten normalen Schuhe bekam: «DCSkaterschuhe, ich war so stolz!»

In Industriestaaten werden Klumpfüsse korrigiert. In ärmeren Ländern können unbehandelte Betroffene nie richtig gehen. Laut Stiftung MiracleFeet wird weltweit eines von 700 Kindern mit dieser Fehlstellung geboren. Petra setzt sich als Botschafterin dieser Stiftung dafür ein, dass mehr Kinder so proftieren wie sie. Ihren Füssen sieht man den Geburtsfehler nicht an. Sie sagt: «Meine Füsse sind heute deformierter von den Kletterschuhen.» Diesen eng anliegenden Gummischuhen, schwarz und spitzig, wie der Schnabel eines Raben.

Workout unterm Wohnzimmertisch

Zurück nach Paris, zurück zum 18. September 2016, zurück zur Weltmeisterschaft: Petra ist jetzt auf sich allein gestellt und steht vor dem entscheidenden Boulder. Ein Griff in den Magnesiumbeutel, dann platziert sie ihre Füsse auf blauen Tetraedern. Die Hände suchen Halt an den knallgrünen, croissantförmigen Griffen –manchmal sehen Kletterwände aus der Ferne so aus, als würden all die Griffe, Henkel und Einbuchtungen bunt zerfiessen. Mit dem rechten Arm, weit ausgestreckt, sucht sie nach dem nächsten Griff, dem entscheidenden. Und rutscht ab. Sie lässt den Griff putzen, oft ein Psychotrick der Kletterer. Dann versucht sie es noch einmal. Zweieinhalb Minuten bleiben für das Problem, an dem bisher alle in diesem Final gescheitert sind.

Um für Momente wie diesen bereit zu sein, trainiert Petra 35 Stunden pro Woche, verteilt auf sechs Tage. Sie zieht, stemmt und reisst; presst, balanciert und drückt; greift, springt und dehnt. Und manchmal klettert sie im Wohnzimmer unter dem Sofatisch durch,

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«Am Podest nach dem ersten Sieg dachte ich auch an jene, die sagten, ich würde scheitern.»

Fokussiert Klingler kann kaum noch etwas aus der Ruhe bringen.

ohne den Boden zu berühren. 2019 wurde dank all diesem Training ein Traum wahr. In der japanischen Stadt Hachiōji war sie schlecht in den Wettkampf gestartet. Später war herausgekommen, dass sie sich bei einem steilen Boulder mit zu viel Körperspannung eine Rippe gebrochen hatte. Trotzdem kletterte sie weiter. Danach musste sie lange auf die offziellen Resultate warten. Sie verliess die Halle und stöberte planlos in einem Kleiderladen, um die Zeit herumzukriegen. Dann erhielt sie eine SMS ihres Trainers mit fünf Nullen: «00000». Fünf Ringe. Zurück in der Halle, liefen ihr die Tränen die Wangen hinunter – die poetische Antithese zu ihrem Sport, in dem es immer nach oben gehen soll. Dank ihrem Resultat war sie zwei Jahre später in Tokio bei der olympischen Kletterpremiere dabei und verbesserte den Schweizer Rekord im Speed-Klettern der 15-MeterDistanz auf 8,48 Sekunden.

Gedanken an die Zukunft

Ein letzter Rücksprung. Paris, 18. September 2016, Weltmeisterschaft: Petra steht wieder auf den blauen Tetraedern. Wieder fassen ihre Hände die grünen Croissants. Nächster Versuch. Sie streckt den rechten Arm aus, die Hand greift nach dem geputzten Griff. Diesmal haften die Finger an der Oberfäche, rau wie Schleifpapier – und Petra kann mit Hand und Fuss die entscheidende Spannung aufbauen. Ihr Mund bleibt so lange offen, wie ihr Unglaube darüber anhält. Die TV-Expertin sagt: «Das ist die pure Ekstase nach einer Bewegung, die du selbst nicht für möglich gehalten hast.» Dann fnden Petras Zehen eine grüne Halbkugel, so gross wie ein Tischtennisball. Sie stösst ihren ganzen Körper darauf ab und schafft es – bis nach oben. Sekunden spä-

SO FÜHRT AUCH DEIN WEG NACH OBEN

Petra Klingler hat Weltmeistertitel im Bouldern und im Eisklettern gewonnen. Und sie ist studierte Psychologin. Hier fünf Tipps von der Top-Athletin, wie du an deiner mentalen Stärke arbeiten kannst.

WISSE, WAS DU WILLST

Viel zu oft machen wir Sachen ohne spezifisches Ziel. Werde dir bewusst, warum du bestimmte Dinge machst, wie du dich entscheidest und warum du wie handelst. Setz dir Ziele für den Tag, die deinem langfristigen Ziel helfen.

NIMM ERFOLGE UND MISSERFOLGE BEWUSST WAHR

Wenn du etwas geschafft hast, frag dich, wie der Erfolg zustande gekommen ist. Wie war der Weg dahin?

Was waren die entscheidenden Methoden? Wenn du scheiterst, tu das Gleiche. Analysiere dein Scheitern, steh wieder auf, versuch es erneut. So lernst du aus deiner eigenen Vergangenheit.

ES GIBT KEINE ABKÜRZUNGEN

Du musst dir bewusst sein, dass du dich nicht selbst betrügen kannst. Wenn du ein Ziel verfolgst, führt nichts daran vorbei, am Morgen aufzustehen und zu trainieren oder zu lernen. Das gilt nicht nur für all jene, die ein Sixpack anstreben, sondern für jeden Bereich des Lebens.

MOTIVATION IST DIE ENERGIE

FÜR

EINE HANDLUNG

Der Energiehaushalt ist für die Motivation enorm wichtig. Du hältst ihn im Lot mit genügend Schlaf, ausgewogener Ernährung, guter psychischer und physischer Gesundheit und einem stabilen und gesunden sozialen Umfeld. Das Wichtigste sind der Selbstrespekt und das innere Vertrauen in die eigene Person, unabhängig von Erfolg oder Misserfolg.

MACH DIR BEWUSST, WIE DU SPÄTER

AUF DICH ZURÜCKSCHAUEN MÖCHTEST

Bleibe dir selbst und deinen Werten bei jeder Entscheidung treu. Sei dir dieser Werte bewusst. Dann kannst du später stolz auf dich sein und auf das, was du aus deinem Leben gemacht hast.

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Füsse in der Luft, Kopf oben Wenn bei Petra Klingler das Mindset passt, versetzt sie Berge – und Kunstwände.

ter schluchzt sie in der Freude so, dass das ruckartige Ausatmen ihren Körper erzittern lässt.

Sie wird als erste Schweizerin Boulder-Weltmeisterin. Sieben Jahre nach diesem Titel fndet die Weltmeisterschaft von 1. bis 12. August 2023 in Bern statt, die erste in der Schweiz seit 22 Jahren. Für den Finaleinzug muss viel zusammenkommen. Denn mit 31 Jahren gehört sie inzwischen zu den älteren Athletinnen. Und obwohl das Ende der Karriere noch nicht absehbar ist, hat sie sich darüber schon Gedanken gemacht. Sie sagt: «Das Schöne ist, dass ich nach der Karriere im Sportklettern einfach eine Karriere am Naturfels anhängen kann. Das inspiriert mich.» Klettern draussen, so, wie es die Grosseltern taten und die Eltern noch immer tun.

Und jetzt, im letzten Abschnitt der Karriere, was bedeutet Petra das Klettern heute? «Klettern ist die Verbindung zu meiner Familie.» Und Familie, das sind alle Menschen, die nie an ihr zweifelten.

Von 1. bis 12. August 2023 messen sich die weltbesten Kletter:innen an den IFSC Climbing and Paraclimbing World Championships Bern 2023: bern2023.org

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Absolute Aussicht Wiltshire, England. Kriss Kyle blickt beim Dreh von seiner Rampe hinab – trotz Film-Motto «Don’t Look Down».

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BMX-Prof Kriss Kyle ist der Prototyp eines Aufsteigers: Er performt in 640 Meter Höhe. Alles, nur kein Schwindel!

KRISS, DIE HIMMELFAHRT

TEXT JESSICA HOLLAND

rotz der frühmorgendlichen Kälte ist Kriss Kyle heiss, er hat kaum geschlafen. Im kleinen Flugzeughangar eines Landguts in Wiltshire, einer Grafschaft im Südwesten Englands, checkt der Dreissigjährige sein BMX-Bike und versucht gleichzeitig, weder auszukühlen noch auszufippen. Draussen, wo das frostige Gras noch unter den Füssen knirscht und die aufgehende Sonne den Nebel auflöst, bricht nämlich gerade der Tag an, auf den Kyle so lange hingefebert hat.

Elf Monate hatte er auf das ideale Wetter für seinen bisher extremsten Stunt gewartet. Die Idee dazu kam ihm vor drei Jahren bei einem Lockdown-Ausfug in die Hügel seiner schottischen Heimat: Warum nicht mal eine BMX-Rampe vom Himmel baumeln lassen? Es wäre nicht das erste hohe Ziel in der Karriere des Prof-Riders – aber selbst für seine Verhältnisse ein neues Level. Und dennoch war von Beginn an klar: «Verdammt, ich meine es zu 100 Prozent ernst, wir können gleich loslegen.»

Die Umsetzung dauerte dann aber doch länger als gedacht: Nach vielen Rückschlägen schaffte es das Team mit harter Arbeit, diesen BMX-Ride Wirklichkeit werden zu lassen. Und nun steht da an jenem kalten Morgen in Wiltshire eine 13 Meter lange Rampe aus Kohlefaser bereit, wie man sie sonst nur aus Skateparks kennt.

In Form und Grösse ähnelt sie einem leeren Garten-Swimmingpool, im Verwendungszweck nicht ganz: Sie ist extra dafür gebaut, am grössten Heissluftballon Grossbritanniens befestigt und rund 600 Meter himmelwärts gezogen zu werden. Diese Halfpipe ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen den Ingenieuren von Red Bull Advanced Technology, die normalerweise an F1-Rennwagen arbeiten, dem in

TBristol ansässigen Unternehmen Cameron Balloons und einer Gruppe von Kyles alten BMX-Kollegen aus Schottland und Nordengland.

Diese illustre Truppe hat sich also nun vor Sonnenaufgang auf dem Grundstück des Earl of Suffolk versammelt, um das Fluggerät aus Nylon, Korbgefecht und Carbon zusammenzusetzen. Cooles Gimmick: ein paar Flammenwerfer zur Beseitigung des Kondenswassers, das sich bei einem Temperaturabfall auf etwa minus 12 Grad in eine Eisschicht verwandeln könnte. Nun soll sich zeigen, ob Kyle seinen Traum vom Biken im Himmel verwirklichen kann.

Inzwischen stehen Hubschrauber bereit, um die Fotografen, Filmemacher und Drohnenpiloten zu transportieren, die Kyles Höhenritt dokumentieren sollen. Auf besorgtes Nachfragen gibt sich Kyle lässig, ganz kalt hat ihn das Briefng über mögliche Worst-Case-Szenarien aber nicht gelassen. Er trägt nicht nur Thermowäsche, einen Helm und Sportkleidung, sondern auch einen Fallschirm, den er sich auf den Rücken geschnallt hat. Ob der auch funktioniert? Kyle hat es nicht ausprobiert. Und hofft, dass es dabei bleibt. Eine Höhe von 640 Metern ist für einen Fallschirmsprung verdammt niedrig. Es bleibt nicht viel Zeit, den Schirm zu öffnen und sich zu orientieren, bevor man auf dem Boden aufschlägt.

Letzte Checks Flugvorbereitungen im Hangar in Wiltshire (oben). Die Flugbahn des Heissluftballons ist strikt vorgegeben.

48 THE RED BULLETIN EISA BAKOS, SAMANTHA SASKIA DUGON
«Verdammt, ich meine es
100 Prozent ernst!»
zu
Kyle, bereits mit Helm, kurz vor dem morgendlichen Start

Air Run

Kyle performt in 640 Meter Höhe, nachdem er sich aus dem Korb auf seine Plattform abgeseilt hat.

DIE HÖHENHALFPIPE

Leicht wie eine Karosserie aus der Formel 1

Eine Sky-Rider-Rampe zu konstruieren ist keine triviale Aufgabe. Was zählte, war nicht nur die richtige Grösse und Form für Kyle. Die Bowl musste auch leicht genug sein, um von einem Heissluftballon hochgehoben zu werden, ihre Einzelteile durften für den An- und Abtransport nicht schwerer als 150 Kilo und nicht breiter als drei Meter sein. Gleichzeitig musste der «Bausatz» stabil genug sein, um Kyles Bike-Manövern standzuhalten. Das galt auch für die Geländer an den Seiten. Und last, not least mussten an der Unterseite Kufen für die Landung angebracht werden.

Die Konstruktion begann mit einem Gespräch zwischen Kyle und dem Rampenbauer George Eccleston. Kyle skizzierte seine Anforderungen, und Eccleston entwarf und baute einen Prototyp aus Holz, der sechs Tonnen wog. Nach Tests und Optimierungen wurden die Entwürfe an Red Bull Avanced Technology (RBAT) geschickt, die Abteilung für Hochleistungsfahrzeuge von Red Bull Racing.

Das RBAT-Team beschloss, die Schale aus der gleichen Kohlefaser wie ein F1-Auto zu bauen. Nach dem Bau der Form, dem Auftragen der Glasfaserschichten und der Bearbeitung mit Harz wurde die Struktur bei hoher Temperatur und hohem Druck in einem luftdichten Behälter ausgehärtet. Weil sich die Innenseite bei den ersten BMX-Testfahrten als zu rutschig erwies, musste noch eine rutschfeste Oberfläche aufgetragen werden.

Eine bange

Frage begleitet den Aufstieg: Was taugt der Fallschirm?

«Wenn du ihn brauchst, kann der Schirm dir das Leben retten, aber deine Beine wirst du abschreiben müssen», hat man Kyle psychologisch einfühlsam erklärt. Stört das Gewicht des Fallschirms auf seinem Rücken sein Gleichgewicht? Könnte sich sein Lenkergriff in der Schlaufe der Reissleine auf seiner Brust verfangen? Offene Fragen als Flugbegleiter.

Zwischen Baumeln und Taumeln

Kyle stellt sich vor, den Fallschirm versehentlich zu öffnen und aus der Rampenschale gesaugt zu werden. Zusammen mit dem Schwindelgefühl, das er in dieser Höhe erleiden könnte, ist das kein ideales Szenario, um komplizierte Runs durchzuziehen. Und dann ist da noch der eigentliche Kampf: die Tatsache, dass die Rampenschale als Reaktion auf Kyles Bewegungen wie ein Pendel hin und her schwingt.

Als er die Schale zum ersten Mal – an einem Kran hängend – ausprobierte, hätte er das Projekt beinahe aufgegeben. Das Schwingen machte ihn seekrank und verwandelte selbst einfache Bewegungen in einen «Albtraum», den er mit einer AlkoFahrt im Auto vergleicht. Dabei hat sich Kyle nicht nur Basic Moves vorgenommen, er hat eine Liste von neun Runs, die geflmt werden sollen, einige davon hat er bei den paar Trainings am Kran-Haken noch nicht hingekriegt. «Das ist das Härteste, was ich mir vorstellen kann», sagt er.

Kein Spielraum für Fehler

Ein detaillierter Entwurf zeigt, wie die Rampenschale an den Heissluftballon angebracht ist.

Der schwierigste Trick auf Kyles Liste ist der sogenannte «Fakie-Frontfip»: rückwärtsfahren bis zum Rand der Rampe, vom Hinterrad abspringen und sich um 360 Grad vorwärts in der Luft drehen, um dann fahrend zu landen. Die meisten WeltklasseFahrer hätten selbst auf festem Boden Schwierigkeiten, diesen Trick auf so engem Raum zu schaffen. Warum, um Himmels willen, dann der Versuch da oben?

THE RED BULLETIN 51 EISA BAKOS/RED BULL CONTENT POOL, SAM DUGON/RED BULL CONTENT POOL
Ab ins Körbchen Kyle macht sich prüfend mit den Eigenheiten des Ballon­Korbes vertraut.
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Vogelperspektive Wiltshire am frühen Morgen. Unten Ruhe, oben Adrenalin

Kyle ist frisch verheiratet, er liebt seine Frau, sein Zuhause. Er schwärmt von seinem Leben voller Reisen und Abenteuer, das ihm seine BMX-Karriere ermöglicht hat. In YouTube-Videos und bei Presseauftritten ist er fröhlich, höflich und professionell, bei seinen Kumpels geht er mehr aus sich heraus und zeigt seinen trockenen Humor. Aber hinter alldem steckt der Wunsch, aussergewöhnliche Dinge zu tun. Beim Dreh eines Videos etwa brach er sich mehrere Rippen, als er von einem Dach auf einen Baum sprang, stand dann aber wieder auf und machte den Sprung noch dreimal. Schon als Kind opferte Kyle alles für sein Hobby. Mit vierzehn war er so besessen von BMX, dass er bei Freunden aus Glasgow auf der Couch schlief und die Schule schwänzte, um sich die sechsstündige Hin- und Rückfahrt von seinem Zuhause am Land zum Indoor-Skatepark Unit 23 in der Nähe von Glasgow zu sparen. Bald darauf bot der Besitzer des Parks, Chick Mailey, Kyle ein Sofa zum Schlafen an. Also zog er dort ein und ignorierte die Schulbehörde, die wegen der Fehlstunden hinter ihm her war.

«Die Nächte im Skatepark waren brutal», sagt er. «Die Stimmung war unheimlich, es wimmelte nur so von Ratten. Ich hatte keine sauberen Klamotten und lebte von Süssigkeiten. Aber wenn meine Freunde da waren und ich gefahren bin, war es die beste Zeit überhaupt.»

Kyle lebte jahrelang im Skatepark und sammelte immer mehr Gleichgesinnte um sich. «Es war der totale Wahnsinn», sagt Dave Summerson, der mit 20 in die Unit 23 einzog, «aber es war das Beste, was ich je getan habe.» Während Kyle nur aus praktischen Gründen von zu Hause gefohen war, litten Summerson und andere unter, wie er sagt,«ziemlich üblen Verhältnissen in unseren Familien. Das stärkte hier unser Gemeinschaftsgefühl.» Aus den Ridern wurde »eine Familie, so etwas wie eine Gruppe von Brüdern». Und aus dem jugendlichen BMX-Wunderkind Kyle ein weltreisender

Wettkampffahrer, der sich nach seinem Abschied von den Contests auf den Dreh von Videos konzentrierte. Auf seinem Weg band er möglichst viele Mitglieder der alten Unit-23-Gang in seine Projekte ein. Heute in Wiltshire sind drei dieser «Brüder» als Teil der Crew anwesend. Es waren dieselben Kumpels, die Kyle durch die dunkelsten Momente seiner Reise bis zu diesem Punkt halfen. Wann immer der Druck zu gross wurde oder nichts voranzugehen schien, nahmen sie ihn mit ins nächste Pub oder trafen sich zu gemütlichen BMX-Sessions.

Erst brutal – dann plötzlich surreal Auch jetzt, kurz vor dem Aufstieg, als Kyle in den Korb des Heissluftballons klettert und seine Nervosität nur noch notdürftig verbergen kann, ist noch einer aus der alten Gang an seiner Seite. Die grossen Gasbrenner werden gestartet, und der Korb löst sich vom Boden. Schliesslich hebt auch die Rampe ab, die sieben Meter unter dem Korb hängt. Die Crew wuselt durcheinander, als das massive Ding ins Schlingern gerät. Doch dann gewinnt es rasch an Höhe – und irritiert die Autofahrer auf den Landstrassen von Wiltshire, die anhalten und ihre Handys zücken. «Plötzlich wurde es ganz real», sollte Kyle später sagen. «Und ehe ich mich’s versah, befanden wir uns auf 640 Meter Höhe, und ich hörte: ‹Los geht’s!›» Er klettert aus dem Korb in die Schale hinunter und lugt über die Kante, während ihm das Adrenalin in die Adern schiesst.

«Bevor sich die Hubschrauber näherten, war es in der Luft ganz still», sagt er später. «Man schwebt einfach, ganz surreal fühlt sich das an. Ich dachte zurück an den zehnjährigen Kyle, der gerade BMX-Fahren für sich entdeckt hatte, an all die coolen Projekte, an denen ich arbeiten durfte.»

Doch dann kippt ein innerer Schalter: Kyle schwingt sich auf sein Rad, setzt an und legt mit seinem typischen Mix aus Präzision und Style los. «Ich glaube, ich habe die ganze Zeit den Atem angehalten«, verrät er rückblickend. «Normalerweise gibt es zwischen den Tricks einen Moment zum Entspannen, aber diese Runs waren so vollgepackt, dass ich kaum Luft holen konnte.»

Als die Rampe zum allerersten Mal in einem Hangar in Milton Keynes, Südostengland, enthüllt wurde, waren die Red Bull-Fahrer Kieran Reilly und Bas Keep eingeladen, sie auf festem Boden zu testen. «Wir hatten alle Schwierigkeiten», sagte Keep damals. «Man muss so schnell die Richtung wechseln. Aber für Kriss ist es perfekt, er ist wendig wie eine Fliege.»

Doch nun blendet die aufgehende Sonne. Und oben in der Luft schwingt die Schale so stark hin und her, dass Drohnenpilot Andrew Lawrence Mühe hat, Kyles Bewe-

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Er hauste Jahre im Skatepark – nur um einmal seinen Traum zu leben.
EISA BAKOS/RED BULL CONTENT POOL

gungen zu verfolgen. «Kumpel», krächzt er über Funk, «wie zum Teufel kannst du nur so fahren?» Denn da setzt Kyle zum «Ice Pick» an: frontale Anfahrt, haarscharf bis zum Rand der Rampe. Dann 90-Grad-Drehung in der Luft. Und weiter geht’s, mit beiden Rädern den Rand entlang, halb fahrend, halb schleifend, nur ein, zwei Zentimeter vom Abgrund entfernt. «Ich dachte nur: verdammte Scheisse!», fasst Kyle diese Momente anschaulich zusammen. Denn beinahe wäre er zu schnell gewesen und übers Ziel hinausgeschossen. Doch hinter dem Ziel ist nur noch – nichts. Egal, Videoregisseur Matty Lambert wünscht sich noch einen weiteren Take aus einem anderen Winkel. «Vergiss es!», brüllt Kyle. Und dann, drei Sekunden später: «Okay, ich tu’s!»

Und dann diese Landung: Die Schale prallt auf dem Boden eines Rugbyfeldes auf und kippt fast um, die Insassen des Korbes landen auf Händen und Knien. Die anderen Teammitglieder eilen herbei, um Kyle zu gratulieren. Der freut sich zwar über den Jubel, doch sein eigenes Glück ist leicht getrübt: «Ich habe den Fakie-Frontfip nicht geschafft. Ich muss noch mal rauf.»

Im Februar 2023, knapp drei Monate nach dem Erstversuch, bricht schliesslich ein zweiter kalter, windstiller, thermisch perfekter Tag an, und Kyle bekommt grünes Licht für einen weiteren Versuch. Es bleibt keine Zeit fürs Aufwärmen. Oben angekommen, beginnt Kyle sofort mit einem etwas leichteren Lauf, um fürs Erste die Kameras zu füttern, und bringt sich

dann rasch in Position für den FakieFrontfip. Als er rückwärts losfährt, von seinem Hinterrad abhebt und sich vorwärts überschlägt, kneift er die Augen zusammen. Dann spürt er, wie seine Reifen auf dem Belag aufschlagen, und hört eine Explosion von Jubelrufen. «Ich konnte es nicht glauben», sagt er danach. «Es hat auf Anhieb geklappt. Gott sei Dank haben wir es hinbekommen. Es tat so verdammt gut, es endlich geschafft zu haben.»

Ein Bike namens Freiheit

Es gibt Fahrer, die sich darauf konzentrieren, bestimmte BMX-Tricks bis zum Äussersten zu treiben, bis zum Triple Flair (dreifacher Backfip, erweitert um eine weitere halbe Drehung), den Kieran Reilly 2021 geschafft hat. Aber was Kyle mit seinem Projekt namens «Don’t Look Down» erreicht hat, ist anders. «Er denkt über den Tellerrand hinaus», sagt Reilly. «Er denkt ausserhalb von BMX.»

Das Bild eines Menschen, der auf über 600 Meter Höhe in der Luft fährt und dann bei seinen Kunststücken nur von heisser Luft getragen wird, ist mehr als die Demonstration technischen Könnens. Es berührt etwas Tieferes: den Wunsch, nicht nur der Schwerkraft, sondern auch allen anderen Zwängen zu entkommen. Als Kyle gebeten wurde, sich einen Namen für sein Signature-Bike für die Marke BSD auszudenken, entschied er sich für «Freedom». «Beim BMX gibt es keine Regeln», sagt Kyle. «Man kann sich einfach selbst ausdrücken, es ist eine Zufucht. Es ist das beste Gefühl überhaupt. Es hat mich als Person geformt und ist alles, was ich immer wollte.»

Dieses Mass an Leidenschaft geht einher mit rastloser Energie. Kyle plant bereits sein nächstes Projekt, diesmal auf einem Mountainbike, und sagt, er würde sofort wieder in den Ballon steigen, um weitere Clips zu drehen, wenn er könnte. Doch zunächst hatte er bei der Premiere von «Don’t Look Down» einmal die Gelegenheit, innezuhalten und die unglaubliche Leistung zu feiern, die er und seine Freunde da vollbracht haben. «Um ehrlich zu sein, ich kann noch immer nicht glauben, dass das möglich war. Nach dieser Erfahrung habe ich das Gefühl, dass ich alles tun kann.»

Und dass der Himmel wirklich gütig ist – wenn man ihn erst mal ein wenig kennt.

Um «Don’t Look Down» sowie Material von hinter den Kulissen zu sehen, klicke auf: redbull.com/ ch-de/films/dont-look-down

«Nach der Landung hatte ich das Gefühl: Ich kann alles.»
54 THE RED BULLETIN SAM DUGON/RED BULL CONTENT POOL
Die Erdung Kyle in dem RugbyFeld, in dem der Ballon unsanft landete

Bordkamera

Kyle zeigt seine Tricks in 640 Meter Höhe. «Kumpel», krächzt der Drohnenpilot über Funk, «wie zum Teufel kannst du nur so fahren?»

Ein Tornado fegt über New Orleans – und drinnen beginnt Hip-Hop-Musikerin und Showstar Big Freedia zu erzählen: Wie sie als Chorknabe startete. Wie sie mit Beyoncé Songs schreibt, für Drake Sounds entwirft. Eine amerikanische Erfolgsstory. Aber anders. Aufregend anders.

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BULLETIN

TEXT LAKIN STARLING FOTOS JUSTEN WILLIAMS Geborene Diva Big Freedia beim Fotoshoot für The Red Bulletin in New Orleans
RED
THE
«Ich mach der ganzen Welt Feuer unter dem A****.»

ptown New Orleans, Musikclub «Tipitina’s». Umringt von ihrem eingeschworenen Team hat sich die «Queen Diva» zum Interview vor der Kamera auf einer schwarzen Ledercouch ausgebreitet und wirft dabei ihrem Spiegelbild bewundernde Blicke zu. Sie wirkt selbstbewusst und zurückhaltend zugleich. «Yes, honey, shine bright like a diamond», antwortet sie singend auf ein Kompliment für ihren Glitzer-Look.

Seit zwanzig Jahren arbeitet BounceMusic-Star und LGTBQ-Ikone Big Freedia unermüdlich daran, Bounce Music rund um den Globus bekannt zu machen. Sie hat etliche EPs veröffentlicht, ein Album und ein Buch (2015 erschien «Big Freedia: God Save the Queen Diva»), sie war der Star von sechs Staffeln ihrer höchst erfolgreichen US-Reality-Show («Big Freedia Bounces Back»), begann gerade mit den Dreharbeiten zu einer Spin-of-Serie («Big Freedia Means Business») und bereitet ein neues Album vor. In den vergangenen fünf Jahren standen Kollaborationen mit und Samples für Drake, Lizzo und Beyoncé auf dem Programm. Und kürzlich erhielt sie auch bei den Grammys die längst überfällige Anerkennung: Beyoncés «Renaissance», für das sie als Songwriterin mitverantwortlich zeichnete, wurde für das Album des Jahres 2023 nominiert, ging aber – noch – leer aus.

UEgal. «Ich bin unendlich dankbar dafür, dass sich der Kreis geschlossen hat, dass ich nominiert wurde und endlich als Songwriterin anerkannt werde», sagt Freedia, 45.

Freedias Musikstil Bounce Music entstand in den späten 1980er-Jahren in den Sozialsiedlungen von New Orleans und vereint Herz, Seele und Vibes der Stadt. Diese Untergattung des Hip-Hop verschmilzt Upbeat Rhythm mit druckvollen Basslines und repetitiven Raps. Für ihre Auftritte switchen Freedia und ihre Dance-Crew zwischen winzigen Clubs und riesigen Konzerthallen. Hauptsache, keiner steht still. «Der ganzen Welt Feuer unterm Arsch machen» nennt sie das.

Den Ton anzugeben lernte sie bereits in jungen Jahren beim berühmten Chor «Gospel Soul Children of New Orleans» und später als stellvertretende Leiterin ihres Kirchenchors. «Dort begann meine Selbstfndung», sagt sie, «die Kirche war mein sicherer Hafen. Meine Patentante Georgia, die Chorleiterin, empfng mich mit offenen Armen und akzeptierte mich, wie ich war.» Und wie war sie? «Ich war ein Schwergewichts-Chorknabe aus New Orleans», sagt sie. Bevor Bounce ihr Zufuchtsort wurde, war Freedia Freddie, genauer gesagt Freddie Ross Jr. – und die Kirche ihre Chance, dem Viertel ihrer Kindheit zu entkommen.

Schmetternd durch die Schule

Die Mutter, eine Friseurin, und der Vater, ein Lkw-Fahrer, taten ihr Bestes, Freddie ein gutes Leben zu bieten. Die Familie konnte bald in ein Haus in einer besseren Gegend umziehen, Freddie in die Walter L. Cohen High School in Uptown wechseln. «Ich war schon in der Schule laut und auffällig», sagt Freedia lachend. «Jeder kannte Big Freddie. In den Gängen habe ich Chormelodien geschmettert. Die meisten haben es geliebt, einigen ging ich damit auf die Nerven. Aber das war einfach meine Berufung.»

Ihr Talent erkannte Freedia früh, und sich zu verbiegen kam nicht in Frage. Keine Selbstverständlichkeit für einen jungen schwarzen, queeren Menschen im Süden. «Schwarz und schwul zu sein war damals nicht so akzeptiert», sagt Freedia. «Es war ein Tabuthema, die Durchschnittsfamilie hat

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Glanzlicht Freedia mit theatralischer Geste und Glitzer-Kostüm

sich vermutlich dafür geschämt, eine schwule Person im Haushalt zu haben.» Bevor Freddie, bevor Freedia ihr Selbstvertrauen fand, outete sie sich mit zwölf bei ihrer Mutter, die sich sofort schützend vor sie stellte. «In der Highschool war ich dann Chorleiterin und hatte die Schlüssel zur Aula. Ich war diese Queen, die überall herumstolziert.»

Am Tag nach dem Fotoshooting im «Tipitina’s» braut sich über New Orleans ein gewaltiger Tornado zusammen. Die Wolken verdunkeln sich, während wir uns Freedias Haus nähern. Freedia steht auf der Veranda und raucht in Ruhe eine Zigarette zu Ende. Einen schwarzen, dreibeinigen Hund mit dem Namen Yoncé schickt sie vorsorglich ins Haus. Für unser heutiges Treffen hat sie den Fotoshoot­Glam abgelegt und trägt einen violetten Hausmantel mit Seidenhaube.

Ihr gemütliches, wetterfestes Heim ist voll mit handgemalten Porträts, die sie zeigen. Neben dem Eingang ist das Esszimmer mit weissen Möbeln und Gedecken, die zu makellos aussehen, um wirklich zum Essen verwendet zu werden. Wir sitzen im Wohnzimmer auf einer senffarbenen Samtcouch vor einer dazu passenden Wand aus Samt und Cord. Darüber prangt ein Neonschild mit der Aufschrift «Big Diva Energy».

Freedia reist um die Welt, um international Einfuss zu bekommen. Die grössten Hits an der Spitze der Charts bedienen sich zwar häufg bei Bounce­Samples, im Mainstream ist das Genre trotzdem noch nicht angekommen. Und auch nicht Freedia. Bevor sie Anfang zwanzig begann, sich ernsthafter mit Musik zu beschäftigen, studierte sie

Krankenpfege an der University of Louisiana und arbeitete nebenbei als Dekorateurin für Events wie jene der «Queen Divas», des Sozialprojekts ihrer Mutter. Ein Auftritt bei einer Blockparty gemeinsam mit ihrer besten Freundin Katey Red brachte dann die Dinge ins Rollen.

Plötzlich Talk of Town

In ganz New Orleans wurde über den Auftritt gesprochen, und Freedia wurde für weitere Blockpartys gebucht. Das war anfangs ein nettes Hobby und eine einfache Möglichkeit, ein paar Dollar dazuzuverdienen. Im Jahr 2000 schliesslich wurde das örtliche Plattenlabel Money Rules Entertainment auf Freedia aufmerksam. Es verhalf ihr zum ersten Clubauftritt und den ersten Schritten in der Branche. Ein weiteres Jahr später, mit wachsender Fangemeinde, veröffentlichte Freedia ihren ersten Song, «Uh Huh, Oh Yeah».

«These hoes, they mad. Your boy, I had. I made my cash …» – Sie beginnt zu strahlen, als sie ein paar Zeilen singt. Auch Superstar Drake gefel es – und zwar so gut, dass er sie Jahre später in seinem Megahit «Nice for What» gesampelt hat. Zum Videodreh wurde Freedia trotzdem nicht eingeladen. Für den Dreh zu «My Feelings», einer weiteren Single mit Bounce­Einfuss, kam Drake dann nach New Orleans. Freedia meldete sich, um diesmal nicht aussen vor gelassen zu werden, und landete prompt im Video. «Wir sollten genauso mit dabei sein wie alle anderen, egal was unsere Geschichte oder unsere sexuelle Orientierung ist», sagt Freedia.

Zweites Zuhause

Als Unterstützerin unabhängiger Bühnen spielt Big Freedia regelmässig im «Tipitina’s» in New Orleans.

Live on stage Freedia mit ihren Tänzerinnen auf der Bühne des «Tipitina’s» in New Orleans

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Ihrer Zeit voraus oder brandaktuell – als Bounce über die Grenzen von New Orleans hinaus die Welt eroberte, traf Freedia stets den Nerv der Zeit. 2005 zwang Hurrikan Katrina Tausende, ihre Heimat zu verlassen, und Freedia foh nach Houston, Texas. Unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach New Orleans startete sie eine Partyreihe namens «FEMA Fridays» im «Caesar’s», dem ersten wiedereröffneten Nachtclub der Stadt. Von da an blickte sie nie mehr zurück. Sie hatte die vielen Nebenjobs satt, es zählte für sie nur noch die Musik, die zu einem Teil ihres wahren Selbst geworden war. «Wir wurden nach Katrina in die ganze Welt verstreut, und die Leute wollten mehr über unseren Sound wissen», erzählt sie.

Im Jahr 2010 verliess Freedia den Süden und trat in New York und L. A. auf. Nam­

«Im Süden schwarz und schwul zu sein war nicht immer so akzeptiert.»
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hafte Medien begannen über sie zu berichten. Als «The New York Times» 2010 über Freedia schrieb, war Bounce von grossteils heterosexuellen schwarzen Männern bestimmt. Der vielbeachtete Artikel würdigte den Beitrag queerer Künstlerinnen und Künstler zum Subgenre, was die heterosexuellen Kollegen laut Freedia dazu brachte, «ein bisschen zurückzustecken». Die Aufmerksamkeit brachte Freedias Community voran, auch wenn sie polarisierte. «Ich musste den Leuten beibringen, dass wir das in New Orleans nicht trennen: Es ist einfach Bounce-Musik, und ich bin eben ein schwuler Künstler. Es gibt homosexuelle Menschen, die sie machen, heterosexuelle Menschen, die sie machen, Mädchen, Jungs …» Am Ende war es eine Verschiebung zugunsten von Freedia und anderen LGBTQ-Artists.

Nachhilfe von Miley Cyrus

Als Freedia von den beiden weissen Typen erzählt, die sie auf der Strasse erkannt haben, muss man unweigerlich an das überwiegend weisse Publikum denken, das Karten für ihre Shows kauft. Ein Sinnbild für ihren genreübergreifenden Reiz und die Anerkennung, die mehr Aufmerksamkeit und weltweite Bekanntheit mit sich bringen. Mit dem Wachstum kam auch die Aneignung bestimmter Elemente, Stichwort Twerking.

Ab 2013 schien buchstäblich jede weisse Frau – nicht zuletzt dank der Nachhilfe von Miley Cyrus – die Moves zu kopieren. In Bars und Clubs oder auf Social Media wurden sie ausprobiert und durch Tanzkurse kommerzialisiert. Ging das für Freedia manchmal zu weit? «Aufgeregt hat es mich schon, aber dann habe ich mir gesagt: ‹Du legst hier einen Grundstein, bringst Menschen auf der ganzen Welt deinen Sound und deine Kultur bei›», sagt sie.

«Leute, die Twerking-Kurse geben, schaden mir nicht. Wenn aber irgendein Superstar meinen Sound auf seinem Song verwendet und dafür die Lorbeeren einstreifen will, denke ich mir: ‹Hey, das ist verdammt noch mal meins!› Aber jetzt gehe ich in die Geschichte ein, und die anderen sind mir egal. Und wenn ich mich zu irgendeiner Sache oder einer bestimmte Situation äussern muss, dann werde ich das auch. Man soll nur denen Respekt zollen, die den Grundstein gelegt haben – den Pionieren, die diesen Sound und die Kultur von New Orleans geschaffen haben.»

Deshalb bedeutet es so viel, in einem Musikvideo aufzutauchen, in den Credits für einen Song erwähnt zu werden und endlich für Grammys nominiert zu sein. «Ich glaube, Dinge ändern sich», sagt Freedia. «Türen öffnen sich noch ein Stück weiter

«Privat bin ich die Person im Hintergrund, die alle füttern will.»
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Style als Statement

Big Freedia mischt bei ihren Outfits Glam und Klunker, Gechlechterrollen sind ihr völlig egal.

«Ich will Respekt –

Respekt vor den Pionieren des New - Orleans - Sounds.»

und man sieht, wie die Bounce-Kultur der Musikindustrie ihren Stempel aufdrückt.»

Auch wenn Freedia keine Bestätigung braucht, steht sie ihr zu. Es gab Zeiten, in denen sie aufgeben wollte, räumt sie ein. Als schwuler Künstler ausserhalb der Grenzen des binären Geschlechts musste sie so viel härter arbeiten. Insbesondere in einer Industrie, die viel zu lange gebraucht hat, um sich weiterzuentwickeln. Sie half sich selbst, indem sie Grenzen setzte. Sie stand für sich selbst und ihre Community ein, erhöhte ihren Wert und wollte vorankommen.

Letztes Jahr begann Freedia an ihrem neuen Album zu arbeiten. «Central City» soll 2024 erscheinen. Weil Freedia und ein Topteam in einem Mega-Recording-Camp an einer Vielzahl an Songs tüfteln, ist das Projekt heute schon fast fertig. Ein Doppelalbum wird es werden, das an ihr Debüt von vor zwanzig Jahren anknüpfen soll. «Das ist, wie zu den Wurzeln zurückzukehren und sie mit ein paar neuen Sounds aufzuwerten», sagt Freedia und wirkt dabei richtig aufgekratzt. «Es hat immer noch diese raue alte Freedia, die jeder kennt. Es ist mein Dance/Disco-Album, mit dem ich die Clubs zum Tanzen bringe. Diese Art Musik, die man auf Festivals spielen kann. Die Party geht weiter.» Uh Huh, Oh Yeah!

Und bis es so weit ist, flmt sie ihre neue Reality-Show «Big Freedia Means Business», die diesen Sommer in den USA ausgestrahlt werden soll. Die Serie schaut Freedia beim Regieren ihres Imperiums über die Schulter. Vor allem aber will sie einem jungen Publikum Einblicke in Essentials wie neue Geschäftsmöglichkeiten, das Verhalten in Meetings, die Gründung von GmbHs oder Steuererklärungen geben. Reality-TV zeigt dem Publikum eine Freedia, wie sie jetzt gerade ist: oberkörperfrei , aber dafür in Hausschuhen und Loungewear in ihrem stilvollen Wohnzimmer über ihr Leben erzählend.

werden und so. Ich bin diese eine Person im Hintergrund, die alle füttern will.» Sie ist dankbar für ihren wachsenden Ruhm – sich daran zu gewöhnen ist aber nicht immer einfach. Freedia sieht sich immer noch als «that hood bitch», die Normalität in ihrem Leben behalten möchte. Zeigt sie sich heute in der Öffentlichkeit, wollen alle ihren Standard-Satz hören: «You al-read-y knooooooow!», und zwar in ihrer Singsang-Stimme. «Es kostet Kraft und Energie, das jedes Mal zu tun, wenn ich jemanden sehe», sagt sie und lacht. «Ich bin ja nicht nur im Supermarkt, um das in jedem Gang einmal zu sagen, sondern versuche, dort meine Lebensmittel zu bekommen.»

Ein Lichtlein im Sturm Während der Sturm stärker wird, überlegt Freedia, ob sie dennoch in den Supermarkt fahren soll, damit sie abends kochen kann. Draussen wird es unheimlich. Die Telefone und die Alarmanlage halten nicht mehr still und mahnen, sich vor dem herannahenden Tornado in Sicherheit zu bringen. Freedia –die Hurrikan Katrina überlebt hat, indem sie ein Loch in ihr Dach schnitt, einen lokalen Radiosender um Hilfe rief und von einem Boot gerettet wurde – bleibt auch bei peitschendem Regen und zuckenden Blitzen gelassen. Sie lässt das Verandalicht auffackern, um das Taxi für The Red Bulletin vor ihrem Haus anzuhalten, und sagt: «Wenn ihr am Flughafen feststeckt, gebt Bescheid, ich hole euch ab.» Freedia kümmert sich. Sehr sogar. Und es ist mehr als die förmliche Südstaaten-Gastfreundschaft.

bigfreedia.com

Die echte Freedia ist bodenständig. Sie ist fürsorglich, ruhig, gastfreundlich – und wirklich witzig. «Ihr seht mich in meinem Alltag», sagt Freedia. «Ich bin sehr bescheiden, wenn ich nicht auf der Bühne bin. Ich bin nicht laut und will nicht gesehen

Schon die Bounce-Rhythmen allein stehen für sich selbst. Zusammen mit Freedias Charme und Witz wird aus dem Sound aber etwas Aussergewöhnliches. «Ich liebe meine Musik. Ich liebe, was ich tue», erklärt sie. «Und ich versuche, den Leuten damit gute Laune zu machen. Und wenn ihr nicht nach New Orleans kommen könnt, dann bringe ich New Orleans einfach zu euch.»

Der Weg zum Airport ist geschafft, das Flugzeug fiegt. Und auch der Aufstieg von Big Freedia ist nicht mehr zu stoppen.

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LEBENSLINIEN

Der Mensch hinter dem Tennis-Star – und der Matchplan seines Lebens: Wir trafen

Stefanos Tsitsipas zum Gespräch über sein Polit-Studium, magische Orte, seine stille Sucht. Und einen gewissen Giorgos, der nun weint.

TEXT PH CAMY FOTOS ANTOINE TRUCHET & STEFANOS TSITSIPAS
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Mann mit Haltung

Der 24-jährige griechische Tennisprofi Stefanos Tsitsipas bei einem fotogenen Schlag –beim Shooting in Marbella, Spanien

«Der letzte Eintrag in mein Notizbuch: eine Million oder mehr für die Entwicklung des griechischen Tennis spenden.»

it nur 24 Jahren ist Stefanos Tsitsipas die Nummer 3 im Tennis, reich an Erfahrung, voller Wünsche – und mit starkem Willen, Realismus und Optimismus ausgestattet.

Stefanos kommt aus einem Land, in dem von einem Tennisspieler nicht viel erwartet wurde und von dem auch die Tenniswelt nicht viel erwartet hat. Dennoch hat er seinen Weg bis in höchste Sportsphären konsequent verfolgt, bis er im März 2019 in die Top Ten der Weltrangliste vorstiess.

Seitdem hat er unzählige Höhen und Tiefen durchlebt, Augenblicke unbändiger Freude und andere, schwierigere Momente wie etwa das verlorene French-Open-Finale gegen Novak Djokovic im Jahr 2021 – nachdem ihn fünf Minuten vor dem ersten Aufschlag die Nachricht vom Tod seiner Grossmutter erreicht hatte.

Stefanos lebt mit seiner Familie in der berühmten Tennisakademie des Franzosen Patrick Mouratoglou, der ihn im Alter von fünfzehn Jahren entdeckt hat, er kennt die Zwänge des Tennissports seit seiner frühesten Kindheit – also die ständigen Turniere, das ständige Auf-Tour-Sein und das provisorische Leben aus dem Koffer, um gegen die grössten ATP-Stars anzutreten.

Doch Tsitsipas arbeitet an seinem Tennis ebenso intensiv, wie er sich anderen Bereichen widmet: Er möchte inspirieren, aber auch selbst inspiriert werden. Im Gespräch mit The Red Bulletin erinnert er sich an das, was war, und an diejenigen, die ihm geholfen haben, der zu sein, der er heute ist. Und er denkt an morgen. Er erzählt uns von einer Welt, die er mehr und mehr entdecken möchte. Wie er uns seine Lebensziele offenbart, lernen wir einen geistreichen, sensib-

Mlen und neugierigen Menschen kennen, der das Fotograferen liebt und sich selbst genauso erforscht wie die Aussenwelt – wann immer es möglich ist.

the red bulletin: Du reist im Rahmen der ATP Tour jedes Jahr um die Welt. Welche Länder waren es in diesem Jahr schon?

stefanos tsitsipas: Australien, die Niederlande, Griechenland, Italien, Monaco, Frankreich, die Vereinigten Staaten von Amerika …

Ganz gleich, was der Zweck deiner Reise ist – gibt es etwas, was du immer machst, wenn du unterwegs bist? Ich halte an meinen Routinen fest, denn dadurch fühle ich mich stärker heimisch. Es gibt Dinge, denen ich sehr gewissenhaft nachgehe. Ausserdem achte ich darauf, stets signierte Fotos bei mir zu haben. Da ich weiss, dass ich viele Menschen treffen werde, die Tennis schauen – oder Fans –, kann ich immer sicher sein, dass ich ihnen ein signiertes Foto aushändigen kann. So kann ich den Menschen, den Kids immer etwas geben – und Zeit sparen.

Was machst du mit gewonnener Zeit? Zeit ist sehr wichtig für mich und auch für den Tennissport im Allgemeinen: Je mehr man im Tennis geben kann, desto glücklicher sind die Spieler, desto besser sind auch das Tennisspiel und unser Arbeitsumfeld. Was ich auf Reisen ausserdem immer bei mir habe, ist eine Tasche mit den Dingen, die ich unbedingt brauche, wie mein Laptop – und auch ein Notizbuch für meine

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Mann mit Stil Auf diesem Foto (und auf jenem von Seite 69) trägt Stefanos Tsitsipas AlphaTauri.

Tennis verbessert, mein Auge ist wacher.»

Ideen. Darin steht alles, was mir durch den Kopf geht, die grössten Dinge, die ich in meinem Leben noch erleben oder erreichen möchte. Ich achte immer darauf, dass ich es bei mir habe und meine Ideen aufschreibe, sobald ich welche habe.

Du hast es sofort zur Hand?

Ja, ich kann es euch zeigen. (Lacht und zeigt ein Notizbuch mit der Aufschrift «The Idea Book».)

Wie nutzt du das Buch?

Es ermöglicht mir Kreativität, es gibt keine Grenzen, ich kann hineinschreiben, was ich möchte. Ich bin ziemlich ehrgeizig, und ich liebe es, Entdeckungen zu machen und aus meiner Komfortzone herauszukommen. Wenn ich also etwas hineinschreibe, weiss ich, dass ich das in ein paar Jahren schaffen werde – oder wenn ich mich irgendwann aus dem Tennisgeschäft zurückziehe. Dann werde ich – hoffentlich – alle Zeit der Welt und die Freiheit haben, all das zu tun. Aber ich möchte dennoch realistisch bleiben und keine Ideen aufschreiben, die ich niemals verwirklichen kann.

Ist es für dich in Ordnung, uns die Idee vorzulesen, die du zuletzt in dein Notizbuch geschrieben hast?

(Lacht.) Ja, hier steht – und das ist wirklich der letzte Eintrag von vor ungefähr einer Woche: «Eine Million Euro oder mehr für die Entwicklung des griechischen Tennis spenden.» Ich möchte etwas zur Entwicklung des Tennissports in Griechenland beitragen. Ich weiss, dass der griechische Verband oder die Vereine das nicht können, also möchte ich es tun.

Wann wurde dir klar, dass diese vielen Reisen nicht nur für die Tour, sondern auch für dich persönlich von Vorteil sein können?

Vater des Erfolges. Apostolos Tsitsipas, hier fotografiert von Stefanos, begleitet seinen Sohn oft auf Reisen.

Als ich 2017 noch neu auf der Tour war, hat es bei mir klick gemacht, und mir wurde klar: «Okay, das wirst du jetzt ein paar Jahre machen, also musst du dir einen Ausgleich suchen, um eine gesunde Lebenseinstellung zu behalten und geistig gesund und ft zu bleiben.» Ich war immer ein Entdecker und Abenteurer, aber nur in meinem Herzen. Ich wollte neue Orte sehen, aber ich war jung, unerfahren und unter Aufsicht meiner Eltern. Mit zunehmendem Alter hatte ich mehr Freiheiten, und es ergaben sich für mich mehr Gelegenheiten, unabhängig zu sein.

Du bist dafür bekannt, eher in Bewegung und aktiv zu sein … Wenn ich zwischen zwei Turnieren etwas Zeit habe, kann es sein, dass ich in ein Flugzeug springe und irgendwo hinfiege, um mir etwas anzusehen, bevor ich zu Hause

auf der Couch bleibe und fernsehe – das ist nicht mein Ding. Ich liebe spontane Trips und den Kontakt mit fremden Kulturen, Ideen und Menschen.

Du reist in der Zeit, in der du dich zwischen zwei Turnieren erholen könntest?

Natürlich bin ich so clever, zwischen zwei Turnieren keine sinnlosen Dinge zu tun, besonders wenn die Zeit knapp ist. Und natürlich versuche ich, auf meinen Körper und seine Bedürfnisse zu hören. Manchmal muss ich einsichtig sein und zu Hause bleiben. Meine Tenniskarriere hat Priorität, denn sie wird nicht von langer Dauer sein.

Was meinst du damit?

Meine Tenniskarriere wird nur ein paar Jahre andauern, aber es wird eine aufregende Zeit werden, und ich will alles geben, damit es so spannend wie möglich wird. Das muss mit Bedacht geplant sein.

Deinem Video-Blog auf YouTube zufolge warst du schon im Oman, in Island oder auch in Schanghai.

Ich war schon zweimal in Island, und es hat mir extrem gut gefallen. Die Menschen, diese stark ausgeprägte Wikinger-Kultur. Natürlich ist es kalt, und die Entfernungen sind gross, aber ich verspüre ein Gefühl von Abenteuer, das ich nirgendwo anders empfnde. Es ist wie eine arktische Utopie.

Mit welcher Ideologie reist du?

Mit welcher «Ideologie»? Sehr gute Frage. Ich möchte in Länder mit guten Vibes reisen und das Leben spüren. Dazu zählen beispielsweise Länder wie Brasilien oder Peru. Das Essen dort ist fantastisch, und wenn man mich fragt, ist die peruanische Küche die beste der Welt. Ausserdem will ich nach Namibia, wo ich die Dünen erkunden sowie die Küsten-Wüste und deren gigantisches Farbenspiel sehen möchte. Auf meiner Liste steht auch Südkorea. Während der ATP-Tour kann ich nicht in solche Länder reisen, weil sie sehr speziell sind und man auf meinem Level in der Regel immer in denselben Ländern spielt.

Was wirst du dort tun, wenn du das eine oder andere dieser Länder wirst bereisen können?

Ich möchte mich in diesen Ländern ganz einfach treiben lassen, mit anderen Menschen, mit Freunden, Familie. Das würde mich glücklich machen, und ich hätte das Gefühl, mein Leben in vollen Zügen zu geniessen. Ein Leben ohne Bedauern, voll mit stetigem Austausch und Abenteuern. Reisen ist besser als jedes Buch, jeder Film. Du selbst bist der Film.

«All diese Winkel und Linien – Fotografieren hat mein
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Mann mit Plänen «Mein Engagement soll weit über den Tennisplatz hinausgehen.»

Mann mit Schlagkraft

Tsitsipas beim Service – später einmal will er mit einer Stiftung Kindern helfen.

Du dokumentierst deine Reisen mit der Kamera – wann hast du damit angefangen?

Seit ich mir 2016 meine erste Kamera kaufen konnte, bin ich süchtig. Das Fotograferen hat mir eine Art Gleichgewicht verschafft, und ich konnte Neues erreichen. Das war eine Lebensphase, in der ich mich sowohl im Tennis als auch in der Fotografe konstant verbessert habe. Bei dieser Nebenbeschäftigung lerne ich nonstop. Ich habe mir Online­Videos angesehen und jede Menge Informationen aufgesogen, um fortlaufend besser zu werden. Dieser Ausgleich hat mir beim Tennis geholfen, mich gelassener gemacht und mir einen Plan B eröffnet.

Hat das Auge des Fotografen das Auge des Tennisspielers verändert oder verbessert?

Genau das habe ich gerade gedacht – mein Auge ist jetzt wacher, es hat sich also schon etwas verändert.

Wie meinst du das?

Die Bildzusammensetzung ist das Herzstück der Fotografe, und bezogen auf die Geometrie eines Tennisplatzes ergibt das wirklich Sinn. All diese Winkel und Linien auf dem Tennisplatz offenbaren eine tolle Komposition. Der Rahmen, diese Gestaltung, die Linien, die sich kreuzen, all das. Der Tennisplatz ist ein gutes Beispiel für meine Herangehensweise an die Fotografe.

Denkst du ans Fotograferen, während du ein Turnier spielst?

Ich konzentriere mich auf das Spiel.

Fotos sind mit Erinnerungen verbunden. Was ist deine unvergesslichste Erinnerung, sowohl als Tennisspieler wie auch als Privatperson?

Im Tennis war es 2019 der Gewinn der ATP Finals in London (die Masters, bei denen die besten acht Spieler der Welt gegeneinander

antreten; Anm.). Das war ein grandioser Moment, weil ich das Jahr mit dem Titelgewinn so schön wie nur irgend möglich und mit einer so positiven Note abschliessen konnte. Der Masters­Titel in London war so viel wert wie ein Grand­Slam­Titel.

Aus welchem Grund?

Weil ich die besten Spieler geschlagen habe, allesamt aus den Top 8, und ich habe mein bestes Tennis gespielt. Ich war auf dem Platz extrem fokussiert, nichts konnte mich aufhalten. Die Freude am Ende war riesengross. Dieses Gefühl werde ich mein Leben lang in mir tragen. Es war eine aussergewöhnliche Leistung, besonders für einen Tennisspieler wie mich: In Griechenland war Tennis überhaupt nicht populär, Tennis wurde als Sport der Reichen angesehen und mit Golf verglichen. Etwas, was man im

Country Club macht, wenn man Zeit und Geld hat. Nur wenige Menschen dachten, sie könnten Tennis spielen. Ich denke, dieser Titel ist eine starke Message gewesen.

Welche?

Ich habe den Eindruck, dass es die Menschen in Griechenland vereint und ich ihnen meine Vision vom Tennis verständlich machen kann. Der griechische Premierminister war bei den ATP Masters vor Ort, und es gab eine grossartige, intensive Feier mit viel Gänsehaut. Ich habe die Woche in London genossen, mein ganzes Team war da, meine Familie, meine Cousins. In ihrer Anwesenheit zu gewinnen und dabei auf dem Platz so stark und unangreifbar zu sein – ich bin auf den Platz gegangen und habe das getan, was man von mir erwartet hat.

Und welche Erinnerung bleibt auf der persönlichen Ebene?

Dass ich heute Tennis spiele, verdanke ich einem Menschen, der mich unterstützt und gesponsert hat, als ich noch jünger war. Ich werde seinen Namen nicht nennen, aber als ich meine ersten Junioren­Turniere gespielt habe, befand sich mein Land in einer grossen Wirtschaftskrise. Das war eine schwierige Zeit für Griechenland. Mein Vater hat sich dennoch um mich gekümmert, und wir sind umgezogen, damit ich Tennis spielen konnte. Die Menschen litten, die Lage war fast schon katastrophal, und für meine Familie war es nicht einfach, mich zu unterstützen. Aber mein Vater hat das Potenzial und das Talent in mir gesehen. Und dann ist dieser eine spezielle Mensch aufgetaucht

«Die Menschen haben wirklich gelitten. Mir zu helfen war für meine Familie nicht einfach.»
THE RED BULLETIN 71 STÉFANOS TSITSIPÁS
Mann mit Durchblick. Tsitsipas dokumentiert alle seine Reisen mit der Kamera.

und hat seine Unterstützung angeboten.

Ich denke, er hat mich gerettet, und durch ihn konnte ich zeigen, was ich wert bin und wozu ich im Tennis fähig bin.

Wie meinst du das?

Er hat mir ermöglicht, zu träumen, aus mir rauszukommen, loszulaufen und zu zeigen, wer ich auf dem Tennisplatz bin. Das weiss ich zu schätzen, denn ich habe den Eindruck, dass ich dank ihm jeden Tag an meinem Imperium weiterbauen kann.

Nach deinen Erinnerungen ein kleiner Blick in die Zukunft …

Ich möchte auf jeden Fall an einer Universität studieren und einen Master machen.

«Reisen ist besser als jeder Film. Denn du selbst bist der Film.»

In welchem Fachgebiet?

Glücks…

«Wenn ich an Situationen meines Lebens zurückdenke, in denen ich wirklich glücklich war, bringt es dieses Foto zum Ausdruck. Ich schoss es in Island.»

Kommunikation oder Geopolitik. Ich liebe es, etwas über die Beziehungen zwischen den Ländern, die Geopolitik und die Geografe zu lernen. Es hat damit angefangen, dass ich mir Online-Videos zu diesen Themen angesehen habe, und dann bin ich immer neugieriger geworden.

Hat der Tennissport für dich Priorität?

An erster Stelle steht die Familie. Sie kommt vor dem Tennissport. Tennis steht an zweiter Stelle, aber es ist mein Leben, dafür atme ich jeden Tag. Wenn ich mich nicht jede Woche neu erfnde, um mich weiterzuentwickeln, riskiere ich Rückschläge. In den ständigen Gesprächen mit meinem Umfeld und meinem Team geht es eigentlich stets um diese Frage: Wie kann ich besser werden?

Unter den Top 3 der ATP-Weltrangliste zu bleiben ist mit Sicherheit nicht so einfach …

Mitunter kann es schwierig, enttäuschend und sogar bedrückend sein. Mein Job ist wie eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Es gibt Tage, an denen ich verlieren oder nicht so gut spielen kann und an denen es mit dem Schlafen schwierig ist, und ich frage mich: «Kann ich nicht einfach ein normales Leben führen und mich ganz normal fühlen?» Ein Leben, in dem ich nicht superaufgeregt und superglücklich oder eben supertraurig und superniedergeschlagen bin.

In einem deiner letzten Videos hast du gesagt, dass du den Menschen nicht nur wegen des Tennissports in Erinnerung bleiben möchtest. Wofür, hoffst du, soll man sich an dich erinnern?

…momente

«Ich habe darüber nachgedacht, nach Island zu ziehen, das meine spirituelle Heimat ist. Hier fotografierte ich die Polarlichter.»

Ich möchte zum Beispiel gute Ideen im karitativen Bereich umsetzen, etwa im Rahmen einer Stiftung, vielleicht für Kinder oder für die nachhaltige Entwicklung meines Heimatlandes, die ich dann unterstützen könnte. Das interessiert mich sehr – was auch immer es sein mag, was den Planeten Erde zu einem besseren und angenehmeren

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«Ich liebe Technologie und will nach der Karriere meine eigene Firma.»

Ort machen kann. Mein Engagement soll weit über den Tennisplatz hinausgehen, und dank meiner Erfolge möchte ich deutlicher wahrgenommen werden, denn sie verschaffen mir die Möglichkeit, mich mit mehr Menschen zu vernetzen. Ich habe so viele Ideen.

In welchen Bereichen?

Ich liebe die Technologie und möchte mich mehr in diesem Bereich einsetzen, auch wenn ich nicht genau weiss, welchen Beitrag ich auf diesem Gebiet leisten könnte. Alles,

was mit Innovation und Nachhaltigkeit zu tun hat und was mit einem saubereren und gesünderen Planeten einhergeht. Ich möchte etwas bewirken, vielleicht mithilfe eines Unternehmens, das ich eines Tages gründen werde und in dem dann Menschen arbeiten, die dieselbe Ideologie und Lebenseinstellung haben wie ich, die immer kreativ und innovativ sind und vielleicht genauso viel beitragen könnten wie ich.

Du folgst auf Instagram zum Beispiel dem Basketballspieler Tony Parker, der

Kurzer Break Trinkpause unter dem wolkenlosen Himmel der  Costa del Sol. Dann schlägt er weiter Bälle – und der Fotograf schiesst Bilder.

in die Hall of Fame der NBA aufgenommen werden soll. Wenn du jemanden für deine persönliche Hall of Fame benennen könntest – einen Verwandten, einen Sportler, Künstler –, wer wäre es?

Man könnte jetzt erwarten, dass ich meinen Vater oder meine Mutter benenne, weil sie die ersten Personen sind, die mir einfallen, oder meine Geschwister. Aber nun muss ich ein wenig ausholen: Tennis ist mein Leben. Dass ich heute hier bin, verdanke ich dem Tennis. Dass ich heute in Monaco lebe, verdanke ich dem Tennis. Dass ich die Leute kenne, die ich heute kenne, verdanke ich dem Tennis. Für mich ist Tennis buchstäblich alles. Also würde ich diesen Titel meinem allerersten Trainer verleihen, demjenigen, der mir das Spielen beigebracht hat.

Und wer ist das?

Sein Name ist Giorgos Spiliopoulos. Ich erinnere mich gut an ihn, wie er sich hingekniet hat, damit er so klein war wie wir Kinder, und wie er dann mit uns gesprochen hat. Er hat mit uns wie mit Erwachsenen gesprochen, obwohl wir erst sechs Jahre alt waren. Bei ihm herrschte Disziplin, aber er war auch sehr nett. Und ich spüre immer noch diese Disziplin in mir, stark zu sein und keine Dummheiten in meinen Kopf zu lassen – und dabei höflich, aufmerksam und respektvoll zu sein.

Was hat er dir beigebracht?

Er hat mich in menschlicher Hinsicht sehr geprägt. Ich habe nur drei oder vier Jahre bei ihm trainiert, aber das war für ihn lange genug, um mich zu dem Menschen zu machen, der ich heute bin. Ich würde mich als freundlichen Typ bezeichnen – was auf dem Platz nicht unbedingt ein Vorteil ist, aber abseits des Courts bin ich es wohl –, ausserdem als grosszügig, höflich und authentisch, und ich denke, dass ich das auch Giorgos zu verdanken habe. Ich weiss, dass ihm die Tränen kommen werden, wenn er das liest. Aber ich möchte ihm diesen Titel verleihen, eine riesengrosse Trophäe für den empathischsten, genialsten, grosszügigsten und gütigsten Trainer der Welt. Mir ist egal, wer «der beste Trainer» ist, denn das ist, was wirklich zählt.

Instagram: @stefanostsitsipas98

74 THE RED BULLETIN

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REISEN, HÖREN, DENKEN, TRAINIEREN, ERLEBEN – UND SONNEN

Designer Yannik Zamboni groovt durch Zürich –zu Wasser, zu Land. Und zwischendurch rollend.

UND JETZT DU!

THE RED BULLETIN 77 PHILIPP MUELLER

SKATE IN THE CITY

Star-Designer Yannik Zamboni zeigt uns sein Zürich: So nah am Wasser gebaut – und wie gemacht für Rollschuhe.

Zürich ist meine Herzensstadt, seit ich 16 Jahre alt war – und daran hat sich bis heute nichts geändert», sagt Yannik Zamboni. Der 36-jährige Modedesigner hat im Herbst 2022 die USReality-TV-Show «Making the Cut» mit Heidi Klum gewonnen, mit einem Preisgeld von einer Million US-Dollar. Seine Karriere ging seither durch die Decke, er ist weltweit gefragt und könnte in jeder Stadt der Welt leben – doch Zürich ist seine Nummer eins.

Was liegt näher, als sich von ihm die schönsten Ecken der Stadt zeigen zu lassen – und das in Rollschuhen.

Wir starten im Herzen

Zürichs: beim Kunsthaus am Heimplatz, das erst 2021 durch den lichtdurchfuteten Neubau des britischen Architekten David Chipperfeld ergänzt wurde. Gemeinsam mit dem Neubau ist es nun das grösste Kunstmuseum der Schweiz, mit bedeutenden Werken vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Es beherbergt

etwa auch eine der grössten internationalen MunchSammlungen. «So ein eindrücklicher und schöner Ort», sagt Zamboni über den Neubau, «diese Weitläufgkeit, diese hohen Wände!» Ausserdem liegt es mitten in der historischen Altstadt, wo man in engen Gassen auf Kopfsteinpfaster auch ohne Ziel fanieren kann.

Ausrollen vor dem Kunsthaus im Herzen Zürichs

REISEN
78 THE RED BULLETIN

Da in Zürich kaum ein Weg zu lang ist, steht man schon nach ein paar Rollschuhschwüngen auf der Münsterbrücke mit atemberaubendem Panorama – sowohl auf die Stadt als auch auf den Zürichsee. Es ist verlockend, einen Augenblick stehenzubleiben und diese Aussicht zu geniessen, doch da drehen sich Zambonis kleine Rädchen schon wieder. «Weiter Richtung See!», ruft er. Und man kann es ihm nicht verdenken, denn zu den landschaftlichen Vorzügen von Zürich gehört nicht nur ein wunderschönes Panorama auf die Berge, sondern auch, dass alles am Wasser liegt. Eines der Dinge, die Zamboni am meisten begeistern: «Das Wasser ist unglaublich sauber, man kann bis auf den Grund sehen», schwärmt er. «Es gibt hier nicht nur die Limmat, den Fluss mitten durch die Altstadt, sondern auch den Zürichsee mit sei­

nen Booten und seinem vielfältigen Freizeitangebot.» Ein Tretboot, «Pedalo», wie es die Locals nennen, will Zamboni auch gleich ausprobieren –und damit gemütlich über den See schippern. Dafür zieht er dann auch die Rollschuhe aus und tritt in die Pedale. Wobei er auch gerne ins Wasser springen würde, gibt es in Zürich doch eine Menge sogenannter «Badis», also kleinere Schwimmbäder – und egal ob Männer­ oder Frauenbäder, Fluss­ oder Strandbäder, es gibt für jede Vorliebe das richtige Bad.

Überhaupt entwickelt sich Zürich zum Geheimtipp für Wochenendtrips. Die Liste

der Vorzüge ist lang: Kultur, Kunst im Überfuss, Landschaft, Idylle, ein grosses kulinarisches Angebot und ein animierendes Nachtleben. Es fällt nicht schwer, sich für die knapp 500.000­EinwohnerStadt zu begeistern. Für Zamboni ist Zürich Homebase und auserwählte Herzensstadt.

Aufgewachsen ist er in einem 700­Einwohner­Dorf, doch

es zog ihn schon früh weg. «Ab meiner Jugend war ich ständig in Zürich», erzählt er. «Im Oberbaselbiet, wo ich herkomme, fehlte mir die Repräsentation queerer Menschen, und für mich als queeres Kind gab es nur in Zürich irgendwie etwas Interessantes. Ich fühlte mich oft anders und verloren – aber in Zürich gab es für mich diese Toleranz und Vielfältigkeit, die ich suchte.» Heute liegt der Arbeitsplatz des fast 1,90 Meter grossen und fast ausschliesslich in Weiss gekleideten Designers, sein Pop­up­Store, im BIG POP in der Bahnhofstrasse: international als eine der teuersten und exklusivsten

Weiss ist heiss: Im Pop-up-Store im BIG POP kleiden sich Yannik und seine Frau Anique in Maison blanche. Ein Eis beim Städtetrip: Yannik und Filmemacherin Anique Wild in «Frau Gerolds Garten».
THE RED BULLETIN 79
Zamboni schwebt –umweht von selbst geschneidertem Tuch – über die Münsterbrücke.
PHILIPP
MUELLER SASKIA JUNGNIKL-GOSSY

Eine Oase mitten im Industriegebiet: «Frau Gerolds Garten»

Einkaufsstrassen der Welt bekannt und die nächste Station unserer Route. Der Luxus Zürichs, wie man ihn der Stadt gerne attestiert – hier ist er greifbar: Boutiquen grosser Modedesigner liegen neben Schmuck­ und Uhrengeschäften sowie Luxushotels. «Mein Store passt hier nicht rein», sagt Zamboni. «Aber ich freue mich darüber, weil mich so Leute entdecken, die sonst nicht auf mich kommen würden.» Die kleineren Designläden fndet man in Zürich im Viadukt, für viele ist das die spannendste Einkaufsstrasse der Stadt. Das ist auch etwas, was an Zürich fasziniert: die Vielfalt und Inspirationsquellen in alle Richtungen. Wovon lässt sich Zamboni in seiner Kunst inspirieren? Ausschliesslich von sozialpolitischen Themen, sagt er. «Alles, was ich in unserer Gesellschaft unfair fnde, gibt

mir Antrieb.» Er entwirft für Menschen, die sich anders fühlen. «Ich glaube nicht an ein binäres Geschlechtersystem», weshalb er bei seinem Label Maison blanche auf Geschlechtereinteilung und Konfektionsgrössen verzichtet.

Mittlerweile ist es Nachmittag, die Füsse tun weh, doch der rollende Zamboni

will noch das andere Zürich zeigen: Industrieviertel, Bahngleise, Beton, Stahl, Unterführungen. Wir setzen uns in «Frau Gerolds Garten», einen versteckten, lauschigen Stadtgarten. «Ich gehe unheimlich gerne her, man sieht eine Seite von Zürich, die nicht bekannt ist und einen Charme hat, den man nicht verpassen sollte», sagt Zamboni. Er empfehlt auch die Rote Fabrik, ein Kulturzentrum auf einem einstigen Fabriksareal. Dann zieht er die Rollschuhe aus. Für heute. Und nur die Limmat rauscht.

Mehr Infos unter: zuerich.com

INTERESSANTE ORTE

1 BIG POP

Pop-up-Stores für handverlesene Angebote wie etwa Maison blanche. Bahnhofstrasse 73

2 Markthalle Viadukt Secondhand und High Fashion abseits des Mainstreams.

Viaduktstrasse

3 Frau Gerolds Garten Stadtgarten inmitten der Grossstadt.

Geroldstrasse 23

4 Kunsthaus Zürich

Eine der bedeutendsten Kunstsammlungen des Landes.

Heimplatz 1/5

5 Bootsvermietung Enge Ob klassisches Pedalo oder Saunaboot –wer in Zürich ist, muss aufs Wasser.

Mythenquai 25

HINKOMMEN

Im Herzen Europas gelegen, ist Zürich einfach und ideal per Bahn erreichbar und dann zu Fuss oder per Rad entspannt zu entdecken!

Mehr Infos: zuerich.com

Zamboni arbeitet an einer limitierten Zürich­Linie in Kooperation mit dem Label Collectif mon Amour und Zürich Tourismus. T­Shirts und Taschen sind in Arbeit und bald im BIG POP erhältlich!

REISEN
Zürich Limmat Zürichsee 1 2 3 4 5
80 THE RED BULLETIN PHILIPP MUELLER, SWITZERLAND TOURISM/JAN GEERK, FRAUGEROLD.CH SASKIA JUNGNIKL-GOSSY
Zürich aus der Vogelperspektive: Die Limmat teilt die Stadt.
INSTITUTIONAL PARTNERS

Macklemores Album «Ben» ist jetzt im Handel. Er tritt am 1. Juli beim Open Air St. Gallen und am 18. August beim Open Air Gampel auf.

ROSEN FÜR ALLE

Rapper Macklemore erklärt vier Tracks, die ihn prägten – und warum wir unsere Nächsten feiern sollten.

Der QR-Code führt zur Podcast-Playlist von und mit Macklemore auf Spotify.

Dem Grammy-prämierten Rapper Ben Haggerty, 39, aka Macklemore, gelang 2012 mit «Thrift Shop» der grosse Wurf. Der Track, den er mit seinem langjährigen Musikpartner und Produzenten Ryan Lewis aufgenommen hat, wurde bis heute 1,7 Milliarden Mal auf YouTube aufgerufen. Auf «Ben», seinem ersten Soloalbum seit sechs Jahren, wirft der dreifache Vater einen gefühlvollen Blick auf die Umstände und Personen, die ihn zum Künstler gemacht haben. «Ich denke, es ist super wichtig, Menschen Rosen zu streuen», sagt Macklemore. «Manche haben keine Ahnung, wie sehr sie geschätzt werden.» Apropos Wertschätzung: Hier geht es zu den vier Songs, die Bens Karriere nachhaltig beeinfussten.

Hieroglyphics YOU NEVER KNEW (1998)

«Dieser Song kam heraus, als ich 15 war. Er leitet das Album

‹3rd Eye Vision› des kalifornischen Hip-Hop-Kollektivs auf eine Weise ein, die diese Kunst für immer mit meinem Leben verbinden wird. Mit diesem Lied im Ohr spazierte ich manchmal leicht bedröhnt bis sechs Uhr früh kreuz und quer durch Seattle. Das war fast eine spirituelle Erfahrung für mich.»

OutKast SPOTTIEOTTIEDOPALISCIOUS (1998)

«OutKast hat mir die Ohren geöffnet: Die Dinge, die sie klanglich gemacht haben, wie die Abmischungen, das Panning – also die Art und Weise, wie ihr Gesang hin und her geht, wenn man Kopfhörer trägt –, haben mich als Künstler extrem beeinflusst. Diese Platte war der Soundtrack für Freitag- und Samstagabende. Nostalgisch und erfolgreich zur selben Zeit.»

Method Man feat. Mary J Blige I’LL BE THERE FOR YOU / YOU’RE ALL I NEED TO GET BY (1995)

«In gewisser Weise war diese Platte dafür verantwortlich, dass ich zu rappen begonnen habe. Mein bester Freund und ich gingen zur Schule, er besorgte das Beatboxing, und ich übernahm den Part von Method Man. Das brachte mich auf den Gedanken: Vielleicht sollte ich mein eigenes Zeug schreiben und schauen, was passiert.»

Rick James

MARY JANE (1978)

«Ich hörte ‹Mary Jane› zum ersten Mal auf dem Soundtrack zur Filmkomödie ‹Friday› mit Ice Cube und Chris Tucker aus dem Jahr 1995, die mich mit so viel Musik in Berührung brachte, die ich als Hip-HopFan, der ohne Internet aufwuchs, sonst nie gehört hätte. Ich erinnere mich, dass ich den Song gerne hörte, während ich die Videogames ‹Mario Kart› und ‹GoldenEye› spielte.»

HÖREN
82 THE RED BULLETIN JAKE MAGRAW WILL LAVIN
WER REGIERT AUF DEM DANCEFLOOR? SCHWEIZER FINALE DU ENTSCHEIDEST! REDBULL.COM/DANCEYOURSTYLE LAUSANNE PLACE DE LA NAVIGATION 20.08.2023 I

FANG

DAS LICHT!

Auch wenn der Morgen strahlt –ohne Sonnenbrille wird dein Tag noch besser! Warum, verrät

Biohacker Andreas Breitfeld

Bessere Laune, mehr Antrieb und tieferer Schlaf gefällig? Und das alles kostenlos? Dann hab ich den einfachsten aller Hacks für dich: Geh am Morgen und vormittags raus ins Sonnenlicht – und lass die Sonnenbrille daheim. Das ist ein echter Turbo für dein Wohlbefnden.

Lange Zeit ging ich bei wolkenlosem Himmel nur mit Sonnenbrille ausser Haus – aber seit ich mich in das Thema eingearbeitet habe, trage ich sie frühestens ab dem mittleren Nachmittag.

Und das hat einen guten Grund: Eine Sonnenbrille mag cool und bequem sein, aber natürlich ist sie nicht. Denn in unseren Augen befnden sich Lichtrezeptoren, die mithilfe des Sonnenlichts unseren Organismus steuern. Und das ist gerade in der ersten Tageshälfte so entscheidend, weil das natürliche Morgen- und Mittagslicht uns erst so richtig in Fahrt bringt.

Natürliches Licht wirkt sich stark auf deinen DopaminSpiegel aus. Dopamin ist unser Motivations- und Antriebshormon. Heisst so viel wie:

AB 15 UHR DARF’S

DUNKEL WERDEN

Nichts spricht gegen die Benutzung deiner Sonnenbrille ab etwa 15 Uhr, da der Körper sich ab dann schon auf den Abend und die Schlafenszeit einstellt. Und kurze Entwarnung für Brillenträger: Es geht in diesem Zusammenhang nicht um UV-Licht, sondern um Helligkeit. Ungetönte optische Brillen und Kontaktlinsen kannst du also ruhig den ganzen Tag lang tragen.

mehr Sonnenstrahlen, bessere Laune, mehr Lebensenergie.

Das helle Licht am Morgen hat auch nachweisbaren Einfuss auf die Qualität deines Schlafes. Denn die Bildung unseres Einschlafhormons Melatonin beginnt etwa zwölf Stunden nach dem ersten Kontakt mit hellem Tageslicht. Wer sich also morgens und vormittags hinter einer dunklen Brille versteckt, schläft abends schwerer ein.

Zudem verbessert die frühe Helligkeit deine Hormonbalance, beeinfusst die Intensität des weiblichen Zyklus (PMS) und kann im Winter die saisonale Depression (SAD) verhindern. All das wird nicht zuletzt über diese enorm mächtigen Lichtrezeptoren im Auge gesteuert!

Das erste gemeinsame Sachbuch von Andreas Breitfeld und Stefan Wagner ist ab sofort erhältlich (ecoWing).

Andreas Breitfeld ist Deutschlands bekanntester Biohacker. Er forscht in seinem speziellen Lab in München. Biohacking umfasst, vereinfacht gesagt, alles, was Menschen eigenverantwortlich tun können, um Gesundheit, Lebensqualität und Langlebigkeit zu verbessern.

Die Biohacking-Praxis ist der PerformanceLifestyle-Podcast für alle, die mehr über Biohacking (und sich selbst) erfahren wollen. QR-Code scannen und reinhören.

BIOHACKING
Gute Laune, Energie oder besserer Schlaf – mehr Sonnenlicht ist ein Turbo-Boost.
84 THE RED BULLETIN PRIVAT ANDREAS BREITFELD BRATISLAV MILENKOVIC ´

zuerich.com/recreation

Städtetrip für Aktive: Matteo war biken. Er hat Ping Pong gespielt, Salsa gelernt und die legendäre Balkenprobe gewagt. In Zürich sorgen besondere Stadterlebnisse und sportliche Aktivitäten in der Natur für eine Auszeit.

Jetzt selbst ausprobieren!

Aktiv entspannt, Zürich, Schweiz.

BODY UND MIND SETZEN DIE SEGEL

Fitnesstrainer Alex Hopson und Physiotherapeut Matt Tinsley trimmen das Alinghi Red Bull Racing-Team für den America’s Cup 2024. Und auch dich!

Das Alinghi Red Bull Racing-Team hat beim America’s Cup ein Ziel: den Sieg. Doch die Konkurrenz ist gross und die Anforderungen an Athleten und Techniker gewaltig. «Beim Segeln brauchen wir ein perfektes Hightech-Boot, ausserdem müssen die Segler körperliche und mentale Höchstleistungen bringen. Das macht den Sport einzigartig», sagt Alex Hopson, der für das Fitnesstraining von Alinghi Red Bull Racing verantwortlich ist.

«Wir sorgen dafür, dass die Segler in den kommenden 15 Monaten eine ideale Vorbereitung bekommen», ergänzt Matt Tinsley, Physio-

therapeut des Alinghi RacingTeams. An Bord gibt es zwei Gruppen: die Driving Group, die die Segel und Foils richtig einstellt, und die Power Group, jene Leute, die Energie bringen. Je nach Bedarf trainieren die 14 Athleten fünf bis sechs Tage die Woche, beim America’s Cup 2024 werden acht an Bord sein. «Es geht um Kraft und Ausdauer. Aber genauso wichtig sind auch mentale Stärke und Refexe, denn Segler müssen schnelle Entscheidungen fällen», sagt Alex Hopson. «Essenziell sind Kraft, Ernährung, mentale Stärke und Erholung.» Und die folgenden vier Tipps, die auch dir helfen können.

Matt Tinsley betreut als Physiotherapeut das Alinghi Red Bull Racing-Team: «Der America’s Cup ist für uns der wichtigste Segelwettbewerb überhaupt.»

Alex Hopson ist Fitnesscoach des Alinghi Red Bull Racing-Teams: «Wir setzen massiv auf die Infrastruktur des Athlete Performance Center von Red Bull.»

TRAINIEREN
Die Driving Group im März beim kognitiven Training An Bord der AC75 zählen neben der Kraft auch Reflexe und mentale Stärke.
86 THE RED BULLETIN XAUME OLLEROS/ALINGHI RED BULL RACING, SAMO VIDIC/RED BULL CONTENT POOL, ADOBE STOCK PHOTO, ALINGHI RED BULL RACING

Diese vier Schlüsselfaktoren sind spezifisch für das Training der Power Group:

KÖRPER

ERNÄHRUNG

«Wie in allen Bereichen sind auch beim Krafttraining Disziplin und ein klarer Trainingsplan Schlüsselfaktoren. Unser Erfolgsrezept lautet daher: Bleib dran – auch an schlechten Tagen. Wir erstellen mit den Sportlern immer erst einen konkreten Trainingsplan, um herauszufinden, wo sie gerade stehen und welche Ziele wir bis zu welchem Zeitpunkt erreichen wollen.

Wir können unsere Leistungen immer nur in geringen Dosen intensivieren.

Wir haben es schon zu oft erlebt: Wer es am Anfang übertreibt, kann sich nicht davon erholen und wird das Training bald wieder

«Der Schlüssel zu sportlichen Höchstleistungen ist eine gesunde und ausgewogene Vollwertkostdiät, die lebensnotwendige Nährstoffe wie Vitamine, Mineralstoffe, Proteine und Kohlenhydrate enthält: Obst, Gemüse und der Konsum von gesunden Fetten aus Nüssen und Hülsenfrüchten, weitgehender Verzicht auf verarbeitete Lebensmittel.

An Bord des Segelbootes brauchen Sportler alle möglichen Ergänzungsmittel, um den Energiebedarf zu decken. Zunächst muss man sich aber fragen, ob die Athleten die Stoffe auch über natürliche Ernährung zu sich nehmen können.»

GEIST

Die Alinghi Red Bull Racing Power Group beim Spinning: Théry Schir, Florian Trueb und Augustin Maillefer (v. li.)

«Unser Tipp: Vertraue der eigenen Intuition, denn alle Menschen ticken unterschiedlich. Die Athleten sollten zunächst herausfinden, welche mentalen Übungen für sie am besten funktionieren.

Die einen mögen Visualisierungen, andere arbeiten mit Atem­ oder Meditationsübungen, um Stress abzubauen und die bestmögliche Konzentration im richtigen Moment abzurufen. Immer beliebter werden auch Gespräche mit Sportpsychologen. Die Sportler sollten alles ausprobieren und dann entscheiden.»

«Es gibt so viele unterschiedliche Studien zum Thema Regeneration. Auch hier gilt es wieder, die Sportdisziplin und die individuellen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Ein Beispiel: Bei Marathonläufern werden vor allem die Beine beansprucht, eine Sportmassage und ein Spa­Besuch können den Regenerationsprozess beschleunigen.

Bei einem komplexen Sport wie dem Segeln geht es auch um mentale Erholung. Hier schwören viele Athleten auf Meditation und andere Arten des geistigen Stressabbaus.

Unterschätzt auf keinen Fall die Bedeutung von Regeneration: Sie ist auf dem Weg zu sportlicher Höchstleistung genauso wichtig wie das Training selbst!»

«Soll die Leistung stimmen, dann muss es auch die Ernährung»
«Finde heraus, ob dir Meditation oder Atemübungen zusagen»
«Bleib dran, auch an schlechten Tagen, und steigere dich schrittweise»
«Regeneration ist genauso wichtig wie das Training»
REGENERATION
THE RED BULLETIN 87

NIETZSCHE RELOADED

Lernen von Geistesgrössen. Diesmal: Friedrich Nietzsche über den Weg aus der Komfortzone – und die wahren Ziele des Herzens.

Ich mag Menschen, die den Mut haben, aus der Komfortzone auszubrechen. Tatsächlich sind sie für mich sogar die einzig wahren Menschen – nicht, weil sie wie Superman lauter Heldentaten verrichten, sondern weil sie der Stimme ihres Herzens folgen. Denn darin liegt für mich die wahrhaftige Grösse eines Menschen: dass er sich selbst seine Ziele setzt und sie konsequent verfolgt. In meinem «Zarathustra» schrieb ich einst, grosse Menschen könne man daran erkennen, dass sie es wagen, «Pfeile der Sehnsucht nach dem anderen Ufer» zu sein – ja, dass sie sich selbst aufs Spiel setzen, weil sie nicht anders zu leben wissen denn als «Hinübergehende».

Allerdings ist das nicht leicht, mein Freund, das musst du wissen. Denn des Menschen Herz ist voller

Fallstricke und Widersprüche. Und es sehnt sich stets nach Anerkennung. Oh, ich sehe viele, die sich getrauen, aufzubrechen und die Bequemlichkeit ihres Alltags zu verlassen. Aber in welche Richtung? Gar zu viele folgen dem Gerede und den Moden ihrer Zeit. Sie schleusen ihren eigenen Geist in die Strömungen des Zeitgeists. Es ist angesagt, als Trailrunner über Bergrücken zu jagen, mit dem Mountainbike die steilsten Pässe zu bezwingen oder im Kajak durch reissende Wildwasser zu pfügen. Also machst du mit und folgst dem, was die vielen von dir fordern. In ihren Augen willst du gross sein. Aber bist du das auch wirklich? Folgst du wirklich deiner Sehnsucht?

Oder folgst du nur dem, was man dir als Ziel verkauft hat? Prüfe dich, mein Freund, denn sonst ist es um dich geschehen. Sonst gehst du wohl an die

Friedrich Nietzsche (1844–1900) gilt als Wegbereiter der Moderne. Er brach mit der Religion und Moralphilosophie und warb für ein selbst bestimmtes Leben. Seine Kritik galt dem Nihilismus – einer Haltung der Gleichgültigkeit, die er in der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts allgegenwärtig vorfand.

Grenze deiner Kräfte. Aber du gehst nicht an die Grenze deines Egos – geschweige denn, dass du sie überschreitest und wahrhaftig über dich hinauswächst.

Versteh mich nicht falsch, mein Freund, der Kühnheit und Entschlossenheit der Menschen, ihre körperlichen Grenzen auszuloten, zolle ich durchaus hohen Respekt. Aber wahre Bewunderung verdienen nur jene Menschen, die es wagen, ihren Willen, ihre Werte, ihre Ideale zu verwirklichen und sich auf das Abenteuer eines neuen Lebens einzulassen. Solange du das nicht wagst, sind all die kleinen Heldentaten, die dein Leib vollbringt, doch nur blasse Abbilder der Erwartungen von anderen.

Wenn du dich wirklich als Pfeil der Sehnsucht aufs Spiel zu setzen wagst, dann musst du bereit sein, auf Pfaden fern aller Konventionen zu wandeln. Ja, womöglich wirst du dann einsam sein, womöglich wirst du auf Bewunderer und Follower verzichten müssen. Denn der Weg, den du gewählt hast, führt durch unbekanntes Land.

Christoph Quarch, beantwortet neue Fragen im Namen der alten Denker. Er ist Philosoph, Hochschullehrer, Gründer der Neuen Platonischen Akademie (akademie-3. org) und Autor zahlreicher philosophischer Bücher, u. a. «Kann ich? Darf ich? Soll ich? Philosophische Antworten auf alltägliche Fragen», legendaQ.

Vielleicht ist es auch nur ein Weg des Denkens, wie der meine es war. Meinem Körper war es leider nicht vergönnt, sich über seine engen Beschränkungen zu erheben. Aber meinem Geist war es möglich. Und nur deshalb hört mir heute noch jemand zu – auch wenn ich zu Lebzeiten der Einsamste der Einsamen gewesen bin. Das bedenke wohl, mein Freund, und sag mir dann, ob wohl die Sehne deiner Seele stark genug ist, dich als Pfeil der Sehnsucht in ein unbekanntes Land zu schiessen.

DENKEN
88 THE RED BULLETIN ADOBE STOCK, ULRICH MAYER DR. CHRISTOPH QUARCH

RED BULL SEIFENKISTENRENNEN BERN.

WO IDEEN IN FAHRT KOMMEN.

AARGAUERSTALDEN, BERN

27. AUGUST AB 11 UHR – ALLE INFOS UNTER: redbull.com/seifenkistenrennen

TANZ DAS LEBEN

Festivals, Bergrennen oder Technoparty: Dieser Sommer wird bunt, hoch und laut.

BIS 20. AUGUST RED BULL DANCE YOUR STYLE

Wenn die besten Tänzerinnen und Tänzer des Landes sich auf der Place de la Navigation in Lausanne in Streetdance-Style-Battles ein Duell liefern; wenn DJs mit grossen Klassikern bis hin zu den Hits von heute den Ton angeben; wenn das tosende Publikum mittels Stimmkarten die Jury ist – dann kann das nur eines bedeuten: Das Red Bull Dance Your Style, die globale All-Style-Streetdance-Contestserie mit Stationen in über dreissig Ländern und einem einzigartigen Battle-Format ist zurück in der Schweiz! Von Hip-Hop über House bis hin zu Locking und Popping Dancemoves – die teilnehmenden Tänzer müssen beim Red Bull Dance Your Style die Zuschauer für sich begeistern und deren Stimme gewinnen. Denn nur das Publikum entscheidet, wer im Battle weiterkommt und am Ende als Sieger beim Weltfinale am 10. Dezember in Südafrika die Schweiz vertritt. Infos: redbull.com/danceyourstyle

Tricks auf Ski, Rad oder Snowboard bei Freestyle Roots

BIS 17. SEPTEMBER DIGITAL FESTIVAL

Egal ob Hackerin, Manager, Wissenschaftler, Programmiererin oder CEO – beim Digital Festival in der Halle 550 in Zürich-Oerlikon gibt es Insights aus erster Hand aus Industrie, Forschung, Wirtschaft und Politik. Zusätzlich ausserdem Workshops, eine Masterclass und Labs. Komm vorbei, mach dir selbst ein Bild! Alle Infos zum Programm: digitalfestival.ch

UND 15. OKTOBER BACK TO THE ROOTS

Nach drei Jahren Pause kommt das Freestyle Roots zurück an seinen Ursprungsort –back to the roots sozusagen. Vor der einzigartigen Kulisse von Thun werden Disziplinen wie Bike, Breakdance, Wake & Surf wie auch Yoga und Graffiti kreativ in Szene gesetzt, zudem wird die Freestyle-Kultur gefeiert. Ein Highlight ist auch die schwimmenden Bike-Plattform. Infos: freestyleroots.ch

ERLEBEN
15 14
Voldo gewann im Vorjahr beim Dance Your Style.
18 90 THE RED BULLETIN JEAN-CHRISTOPHE DUPASQUIER/RED BULL CONTENT POOL, LUKAS IMHOF/FREESTYLE ROOTS

Willkommen beim härtesten Radrennen im Herzen der Walliser Alpen! Die Tour des Stations zeichnet sich durch eine einzigartige Herausforderung aus: Es geht durch so viele Orte auf und ab, dass je nach gewählter Distanz bis zu 8848 Meter Höhenunterschied zusammenkommen – was der Höhe des Mount Everest entspricht. Info: tourdesstations.ch

AUGUST STREET PARADE ZÜRICH

Die grösste Technoparade der Welt ist zurück! Der 2,4 Kilometer lange Umzug der Love Mobiles startet beim Utoquai im Zürcher Seefeldquartier, bevor es den Zürichsee entlanggeht. Es werden hunderttausende Tanzbegeisterte aus aller Welt erwartet: Seid dabei und zieht gemeinsam um das Zürcher Seebecken. Details: streetparade.com

HEITERE OPEN AIR FESTIVAL

Editors, SDP, Trettmann oder Adel Tawil: Am Heitere Open Air Festival gibt es für jeden Musikgeschmack etwas auf die Ohren. Das genreübergreifende Festival findet in Zofingen in der Nähe von Basel und Zürich statt, erwartet werden um die 15.000 Fans pro Tag. Und wer von der Musik mal eine Pause braucht, den erwartet die Republik Heitere mit einer Activity Zone, wo es etwa ein Minigolf­Feld gibt oder einen Spiel­Träff für Kinder. Alle Infos und Line­up: heitere.ch

Einer der Hauptacts beim Heitere Open Air: DJ Robin Schulz

Nach einer erfolgreichen ersten Ausgabe in Brasilien kommt mit Red Bull Pool Clash ein neues und innovatives Format erstmals in die Schweiz. Das Besondere: In der Alaïa Bay, dem ersten Surfbecken in Kontinentaleuropa, surfen die Athletinnen und Athleten um die Wellenbad­Meisterschaft, und durch das Surfen im Pool, ist die Welle für alle gleich.

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BIS 13. AUGUST BIS 24. AUGUST RED BULL POOL CLASH
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BIS 6. AUGUST TOUR DES STATIONS
THE RED BULLETIN 91
LENNART GELKE, TYROMEDIAGROUP.COM

UND

Der höchstgelegene Triathlon in den Alpen findet dieses Jahr wieder in Davos statt. Ob Beginner, Hobby-Athlet oder Profi – der «Challenge NightRun Davos» am Freitagabend ist ein grossartiges Erlebnis für alle Teilnehmenden und macht den Start ins Wochenende! Alle Infos: challenge-davos.ch

JETZT ONLINE GIULIANO CARNOVALI IM PODCAST CROSSROADS

«Jeder Tag ist ein Kampf», sagt Giuliano Carnovali. Der 24-jährige Zürcher ist seit seinem schweren Unfall in der Silvesternacht 2019 auf den Rollstuhl angewiesen. Heute, über vier Jahre später, kann er wieder aufrecht stehen und sogar ein paar Schritte gehen. Das grenzt an ein Wunder. Doch manchmal sind die Schmerzen unerträglich. Giuliano gibt aber nicht auf. Sein grosser Traum ist es, erfolgreicher Tennisprofi zu werden. Dafür trainiert er hart, und er ist auf dem besten Weg dazu. Vor kurzem wurde er in die Schweizer Nationalmannschaft aufgenommen. Was in der Nacht des Unfalls passiert ist und wie er sich zurück ins Leben kämpft, erzählt Giuliano bei Crossroads.

«Crossroads» ist die The Red Bulletin PodcastSerie, in der Heldinnen und Helden über die Wendepunkte ihrer Laufbahn sprechen. Zu finden auf allen StreamingPlattformen wie Spotify und Apple Podcasts und auf redbulletin.com/podcast

SEPTEMBER NIGHT OF THE JUMPS

Höher, schneller, weiter – darum geht es bei der Freestyle-Motocross-Eventreihe. Profi-Fahrer aus der ganzen Welt treten in einem atemberaubenden Wettbewerb gegeneinander an und präsentieren eine Show der Superlative. Sie springen dazu über 11 Meter hoch und bis zu 24 Meter weit. Infos: nightofthejumps.com

9 ERLEBEN
«Ich möchte nicht ungefragt von wildfremden Menschen berührt werden.»
Giuliano Carnovali
Carnovalis Traum: Tennisprofi werden
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26. AUGUST DAVOS CHALLENGE
92 THE RED BULLETIN LUKAS MAEDER, JESPER GRONNEMARK/RED BULL CONTENT POOL, ALPHAFOTO.COM

Chaplins Gast bei der Uraufführung des Films «Lichter der Großstadt». Die beiden fuhren in einer offenen Limousine über den Hollywood Boulevard zum Filmtheater, tausende jubelnde Menschen säumten die Strasse. Die Anekdote berichtet, Einstein habe den Chauffeur gefragt, was denn los sei, warum solche Menschenmassen die Strasse säumten. Der Chauffeur habe geantwortet: «Das ist wegen Ihnen beiden.» Einstein sei sehr irritiert gewesen. Da habe sich Chaplin an ihn gewandt und habe gelächelt. «Mir jubeln sie zu, weil mich jeder versteht», habe er gesagt, «und Ihnen, weil Sie keiner versteht.»

Die Anekdote kann aufschlussreich sein, wenn man tiefer gräbt. Zunächst scheint das Rätsel auf Einsteins Seite. Er wird geliebt, weil keiner begreift, was er tut, dies aber als etwas Grosses gedacht wird. Die Menschen bewundern ihn. Er ist ein Prometheus, der uns Licht bringt. Als er 1916 die allgemeine Relativitätstheorie veröffentlichte, gab es nicht mehr als eine Handvoll Menschen auf der ganzen Welt, die ihn verstanden. Andererseits ist der Gegenstand dieser Forschung ergründbar, zwar schwierig, aber ergründbar, und die Ergebnisse sind beweisbar – das heisst: Die Physik, und sei sie noch so komplex, kann enträtselt werden.

Michael Köhlmeier

erzählt die aussergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit.

TIEFE DER OBERFLÄCHE

Folge 18: Charlie Chaplin – wie er uns durch sein Staunen die Welt erklärt, ohne etwas zu sagen.

Dieser Mann», soll Albert Einstein über Charlie Chaplin gesagt haben, «versteht von Physik so viel wie ich von der Schauspielkunst.»

Charlie Chaplin seinerseits soll Einstein behandelt haben wie ein Wundertier. Als ihn der berühmteste Wissenschaftler seiner Zeit bei einem Berlin-Besuch in seine Wohnung einlud, habe sich der berühmteste Schauspieler seiner Zeit benommen, als werde er in einen heiligen Tempel geführt.

Ja, diese beiden Grössten bewunderten sich gegenseitig, aber einer konnte mit dem anderen nur wenig anfangen. Ihre Gespräche hätten sich im Wesentlichen auf Lächeln beschränkt. Im Januar 1931 war Einstein

A

nders die Kunst des Charlie Chaplin: Sie beschäftigt sich mit der Seele des Menschen, der tiefsten Unbekannten im Universum. Das Besondere dabei ist, dass Chaplin immer an der Oberfäche bleibt. Seine grosse Zeit war die des Stummflms. Das heisst, was er mit seiner Schauspielkunst zum Ausdruck bringen wollte, konnte er nur mit Mimik und Gestik leisten. Chaplin ist der Shakespeare des Körpers. Shakespeare hatte allerdings das Wort zur Verfügung. Mithilfe des Wortes können wir sehr tief im Wesen des Menschen graben. Worte sind zweideutig, mehrdeutig, aber auch präzise und klar. Mit Worten kann ich ausdrücken, was ich weder sehen noch hören kann. Das Wort überschreitet den Bereich des Sinnlichen und greift ins Unendliche. Chaplin hat auf das Wort verzichtet. Er hat verzichten müssen, weil das Kino zur Zeit seiner ersten grossen Erfolge noch nicht Bild und Ton zusammenführen konnte.

In der Kunst des Charlie Chaplin erkennen wir, dass das Wesen des Menschen rätselhaft ist und bleibt. Das Rätsel Mensch beschäftigt uns, seit wir denken können. Chaplins Arbeit ist nicht rational beschreibbar, aber sie gibt dennoch Auskunft über unsere Welt. Jeder versteht, was er tut, aber den Gegenstand seiner Arbeit, den Menschen, den versteht letztlich niemand. Gerade umgekehrt verhält es sich bei der Arbeit des Albert Einstein: Keiner versteht, was er tut, aber das Rätsel seiner Welt kann Schritt für Schritt aufgelöst werden. Am Ende dieses Weges steht die Hoffnung, dass wir eines Tages alles wissen. Das Rätsel Mensch aber scheint immer grösser zu werden, je mehr wir über ihn erfahren.

Charlie Chaplin war der Grossmeister des Staunens. Wenn wir in seiner Biografe dieser These nachgehen, werden wir fnden: dass er über sich selbst am meisten staunte. Er staunt darüber, was eine winzige Geste an psychologischer Einsicht liefern kann. Er staunt dar über und führt es uns zugleich vor, wie sich der

BOULEVARD DER HELDEN
94 THE RED BULLETIN
MICHAEL KÖHLMEIER GINA MÜLLER, CLAUDIA MEITERT GETTY IMAGES

Mensch verändert, wenn er seine Kleidung verändert. Kleidung ist pure Oberfäche, ein Hut ist ein Hut, eine Jacke ist eine Jacke, eine Hose ist eine Hose, und Schuhe sind Schuhe und nichts anderes. Aber wie Kleidung getragen wird, wie sich ein Mensch in ihr bewegt, wie Kleidung die Mimik verändert, das ist ein Konzert aus unendlich vielen Tönen, Akkorden, Melodien, Rhythmen. Jeder kennt die Ausstattung des Tramps.

Die Figur des Tramps hat Charlie Chaplin berühmt gemacht. Wenn heute einer den Namen «Charlie Chaplin» ausspricht, sieht jeder den Tramp vor sich: auf dem Kopf eine Melone, die Jacke mindestens eine Nummer zu eng, dafür die Hose zwei Nummern zu gross, ebenso die Schuhe. In der Hand ein Stöckchen, unter der Nase ein Zwei-Finger-Bärtchen. Es heisst, innerhalb weniger Minuten habe Chaplin am Beginn seiner Filmkarriere dieses Outft zusammengestellt. Er habe sich in einer Drehpause in der Garderobe bedient. Ruckzuck war die wohl berühmteste Figur der Filmgeschichte geboren. Eine Ikone. Und es heisst, von dieser Stunde an in dieser Montur habe sich Chaplin anders bewegt, er habe mit seiner Mimik anders gespielt – er sei ein anderer gewesen. Eben «der Tramp».

haplins grösster Erfolg war der Film «Der große Diktator» – Regie: Charlie Chaplin, Drehbuch: Charlie Chaplin, Musik: Charlie Chaplin, Produzent: Charlie Chaplin. Und Charlie Chaplin in zwei Rollen, nämlich als jüdischer Friseur und als der Diktator Anton Hynkel. Der Film ist der erste Tonflm, den Chaplin gedreht hat. Er war als Parodie auf Adolf Hitler gemeint. Chaplin sagte später, wenn er damals – 1940 – gewusst hätte, wie unfassbar grausam das nationalsozialistische Regime gewütet hat, dann hätte er diesen Film nicht drehen können. Der Film ist, wie fast alle Filme Chaplins, eine Tragikomödie – diese Form stellt die vielleicht grösste dramatische Kunst dar. In vielen Szenen weiss man nicht, ob man lachen oder weinen soll.

Wie sich Chaplin in seine Charaktere vertiefte, wie er eins mit ihnen wurde, schildert folgende Anekdote: Zuerst seien alle Szenen mit dem jüdischen Friseur gedreht worden. Der ist aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt und hat alle seine Erinnerungen verloren. Er muss sich im Ghetto erst wieder zurechtfnden. Der Friseur ist noch der alte Tramp. Chaplin lehnte den Tonflm ab, lange meinte er, diese Art von Kino werde sich nicht durchsetzen. Kino sei Sehen und nicht Hören. In den beiden Rollen, die er im «Großen Diktator» spielt, gibt er nur wenige Worte.

Wenn Hynkel seine berühmte Nonsens-Rede hält, könnte man meinen, der Filmemacher Chaplin verspotte neben Hitler auch den Tonflm. Nachdem die Szenen aus dem Ghetto abgedreht waren, sei Chaplin in eine Depression gefallen. Man müsse den Film aufgeben, habe er zu seinem Bruder Sydney gesagt – mit ihm teilte er sich die Produktion. Nachdem er «am eigenen Leib erfahren habe», wie die Juden unter den Nazis leiden, könne er den Diktator nicht mehr spielen. Man hätte sich das am Beginn der Dreharbeiten überlegen müssen, man hätte mit den Szenen um Anton Hynkel beginnen müssen. Sydney bekniete seinen Bruder. Zu viel Geld sei bereits investiert worden. In diesen Film,

das muss dazugesagt werden, hatte Chaplin nur eigenes Geld gesteckt. Wenn der Film abgebrochen worden wäre, wäre er bankrott gewesen. Während der Arbeit an den Ghettoszenen war Chaplin der liebenswürdigste Mensch, der sich denken lässt, er kümmerte sich um den Liebeskummer des Skriptgirls ebenso, wie er die Geburt einer Tochter eines Mitarbeiters feiern liess und damit kostbare Drehzeit vergeudete. Er habe sich ganz dem Tramp angeglichen: ein liebevoller Kauz.

Michael Köhlmeier

Der Vorarlberger

Bestsellerautor gilt als bester Erzähler deutscher Zunge. Jüngstes Werk: der Roman «Frankie», 208 Seiten, Hanser Verlag.

Nun, als er sich entschloss, doch die Szenen mit dem Diktator zu spielen, habe sich die Atmosphäre auf dem Set schlagartig verändert. Chaplin habe sich vom Schneider die Uniform des Anton Hynkel anpassen lassen, er habe sich vor den Spiegel gestellt, habe sich darin betrachtet, sein Gesicht und seine Gesten hätten sich dem Auftreten Adolf Hitlers immer mehr angeglichen – das Oberlippenbärtchen hatten sie ja bereits gemeinsam –, und schliesslich habe er auf den Schneider gezeigt und im schnarrenden Tonfall des deutschen Diktators zu Sydney gesagt: «Für alles, was nun folgt, ist allein dieser Herr hier verantwortlich.» Im weiteren Dreh sei er unausstehlich gewesen, ein Diktator eben, böse wie Hynkel, böse wie Hitler.

harles Spencer Chaplin wurde am 16. April 1889 – vier Tage vor dem von ihm so unvergleichlich verspotteten Adolf Hitler – geboren. Vater und Mutter waren Schausteller, der Vater ein hoffnungsloser Alkoholiker, die Mutter psychisch schwer beeinträchtigt und immer wieder in stationärer Behandlung. Charlie und sein Halbbruder Sydney wurden nicht nur einmal in ein Waisenhaus gesteckt. Die beiden klammerten sich aneinander, ein Leben lang waren sie einander die Nächsten. Sie wuchsen im Elend auf. Sie weinten, froren und hungerten. Noch als Buben schlossen sie sich der Schaustellertruppe um den legendären Fred Karno an.

Der Podcast

Michael Köhlmeiers Geschichten gibt es auch zum Anhören im The Red BulletinPodcast-Kanal. Zu finden auf allen gängigen Plattformen wie Spotify, auf redbulletin.com/ podcast oder einfach den QR-Code scannen.

Mit vierzehn spielte Charlie die Rolle eines Pagen in dem Stück «Sherlock Holmes», und obwohl die Rolle marginal war, begeisterte er die Zuschauer so sehr, dass etliche seiner Auftritte noch während des Stücks wiederholt wurden, so vehement verlangte das Publikum danach. Es dauerte nicht lange, da war er der Star des Londoner Komödientheaters. Chaplin war Anfang zwanzig, als die Truppe auf einer Tournee durch die USA zog. Dort trennte er sich von Fred Karno und heuerte bei der Filmindustrie an. Nach einer Reihe kurzer Slapstick-Filme gelang ihm mit «The Tramp» ein erster grosser Erfolg. 1919 gründete er zusammen mit Douglas Fairbanks sen., Mary Pickford und David W. Griffth United Artists. Es folgten Klassiker wie «Goldrausch», «Der Zirkus», «Lichter der Grossstadt», «Moderne Zeiten» und schliesslich «Der große Diktator». Während der sogenannten McCarthy-Ära zwischen 1950 und 1955 wurde er als Kommunist denunziert und verhört. Daraufhin verliess er die USA und zog in die Schweiz. Er kehrte nie wieder nach Amerika zurück.

Übrigens: Nur mit dem «Großen Diktator» wurde er für einen Oscar nominiert, ging aber leer aus. 1972, fünf Jahre vor seinem Tod, wurde Charlie Chaplin der Oscar für sein Lebenswerk verliehen. Keinem einzigen seiner Filme wurde diese Ehre zuteil. Schande über die Academy!

C C THE RED BULLETIN 95

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