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UHREN. Lust auf Provokation die Erfolgsgeschichte von Swatch

Bernardo Tribolet (li.), Swatch Vice President Marketing, Carlo Giordanetti, Creative Director: zwei Herren, die Spaß an Uhren haben
INTERVIEW Zeit für Zauberei
Swatch-Uhren haben unsere Wahrnehmung von Zeit verändert. Sie sind innovativ, künstlerisch angehaucht und trotzdem erschwinglich. Ein Interview mit zwei kreativen Masterminds der Marke – über Erfindergeist und Konditoren als Berater.
Text WOLFGANG WIESER


Süße Inspiration: SwatchModell „Caramellissima“
„Beginnen wir mit der ‚Caramellissima‘“, sagt Carlo Giordanetti. Klingt irgendwie süß, sieht auch so aus, tickt aber und schmeckt bestenfalls nach Plastik. Die Damenuhr hat ein rosa 25MillimeterGehäuse und ein Armband aus bunten Perlen, die uns unweigerlich an Zuckerl denken lassen. „Es war eine Saison der Pastellfarben, voll süßer Dinge. Wir hatten dafür eine Geschichte entwickelt, die von Gebäck inspiriert war – und arbeiteten dafür tatsächlich mit einem Konditor aus Zürich zusammen. Auch an die Entstehung der ‚Red Shore‘ erinnere ich mich gern, weil sie viel mit Freiheit zu tun hat – hier kam unser Swatch Lab ins Spiel. Wenn es einen Ort gibt, an dem man Ideen verwirklichen kann, dann ist das Lab definitiv einer. Nach langen Diskussionen waren wir so weit, dass wir alle dachten, dieser verschwommene Effekt hätte tatsächlich einen emotionalen Wert, sodass wir eine Geschichte darüber erzählen könnten. Außerdem steckt viel Ironie drin: auf der einen Seite die Liebe der Schweizer zur Präzision und die scheinbare Unschärfe dieser Uhr auf der anderen. Bei der ‚Unavoidable‘ hatten wir einfach Lust auf Provokation – und deshalb verpassten wir ihr eine kleine Komplikation, eine Petite Seconde (einen separaten kleinen Sekundenzeiger; Anm.).“ Eine Komplikation ist eigentlich die Spezialität der traditionellen Uhrmacherkunst, so
„Unavoidable“: mechanische Uhr mit Petite Seconde

was ist für gewöhnlich teuer und aufwendig. Die Provokation bestand darin, dafür zu sorgen, dass dieses Modell aus der Reihe „Sistem51“ mit einem Preis ab 145 Euro trotzdem erschwinglich blieb. „Caramellissima“, „Red Shore“ und „Unavoidable“: drei von knapp 10.000 Modellen aus 38 Jahren SwatchGeschichte. Creative Director Carlo Giordanetti ist seit vielen Jahren (mit Abstechern zu Montblanc und Piaggio) für Swatch tätig, er gründete das hauseigene Design Lab und ist CEO des Swatch Art Peace Hotels in Shanghai. Wir trafen ihn und Vice President Marketing Bernardo Tribolet im Swatch Headquarter in Biel, eine Stunde von Zürich entfernt – zu einem Gespräch über eine Welt, die den Zeitgeist atmet.

the red bulletin: Es gibt fast 10.000 verschiedene Swatch-Modelle. Wer hat sich die alle ausgedacht?

carlo giordanetti: Das geschieht in Teamarbeit. Seit 1998 gibt es im Inneren des Unternehmens so etwas wie eine Blase, das Swatch Lab – die Idee wurde in Mailand geboren, wuchs in den USA auf, hatte eine erste echte Heimat in Zürich und fand schließlich ihr endgültiges Zuhause in Biel. Diese Blase lebt – wie ein Organismus, wie eine Zelle. Es gibt eine zehnköpfige Kerntruppe, die sehr schnell die täglichen Anforderungen bewältigt. Und dann stoßen, ganz nach Bedarf, Menschen dazu, die ihre speziellen Beiträge leisten. Wir sind sehr lebendig und haben ständig Appetit auf Neues.

„In unserem Labor wachsen Ideen wie in einem Organismus.“
Aktuell gibt es rund tausend Modelle zu kaufen. Ist das nicht etwas übertrieben?
giordanetti: Tausend Modelle gibt es nur online, in den Shops sind es durchschnittlich 220. Einige Uhren gibt es schon seit Ewigkeiten – auf die werden wir nie verzichten, weil es so wäre, als würde man jemandem einen Arm abschneiden …
bernardo tribolet: … unsere Uhren erweitern gewissermaßen deine Persönlichkeit. Heute hatte ich zum Beispiel das Gefühl, dass ich einen Funken Orange brauche, um dem Tag Schwung zu verleihen. Wir entwerfen, um bestimmte Gefühle zu wecken. Es gibt auf der ganzen Welt so viele Emotionen, für die man entwerfen kann.
Der französische Werbeguru Jacques Séguéla meinte, dass es zwar wichtig ist, dass sich ein Produkt verkauft; dass es aber noch wichtiger ist, die Marke unsterblich zu machen, indem man dem Produkt eine Seele gibt.
giordanetti: Eine Swatch hat Seele, wenn sie Persönlichkeit hat – für mich ist das eine Swatch, in der du dich wiederfindest. tribolet: Du schnappst dir eine 20 Jahre alte Swatch, und auf einmal erlebst du all die Momente von damals wieder. Es ist, als würdest du Musik von aha hören oder von Spandau Ballet. In vielen Fällen stehen sie für bestimmte Momente deines Lebens. Und das macht ihre Seele aus.
Woher kam die Liebe von Swatch zur Kunst? Es gab schon 1985 eine Kooperation mit Kiki Picasso…
giordanetti: Die Idee hatte Herr Hayek selbst (Swatch Gründer Nicolas Hayek; Anm.). Plastik ging damals gar nicht.
Die „Red Shore“: Farben als emotionaler Effekt
„Wir entwerfen Uhren, um Gefühle zu wecken.“
Bernardo Tribolet, Swatch-Manager
Also fragte er sich, wie man das Material aufwerten kann. Die Antwort lautete: indem man mit Künstlern zusammenarbeitet. Die Künstler lieben es, dass ihre Werke Teil des Lebens ihrer Träger werden.
Über die „Sistem51 Irony“ heißt es, dass sie PremiumQualität und PremiumDesign ohne den PremiumPreis bietet. Erstens: Wie geht das? Zweitens: Was soll ich mir als Käufer einer echten Premium-Uhr denken, wenn ich das lese?
giordanetti: Das war eine ebenso smarte wie verrückte Idee. Es war eine echte Innovation, eine mechanische Uhr aus 51 Teilen zu schaffen, die von einer einzigen Schraube zusammengehalten werden. tribolet: Natürlich steckt dahinter immer auch ein bisschen Lust an der Provokation. Für manche in der Branche war es ein Schock. Du kennst sicher die „Flymagic“ (antimagnetische Spiralfeder, rückwärts laufender Sekundenzeiger, 2019 präsentiert; Anm.): In gewisser Weise zeigt so eine Uhr, dass wir alles Wissen haben, das dafür nötig ist. Und dass wir tun können, was wir wollen. Die „Flymagic“ war definitiv ein Stück Uhrmacherkunst – das wäre sie auch für eine andere Marke gewesen. Tatsächlich aber war es Swatch, die diese Uhr herausgebracht hat.