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sechs+sechzig · 11. Jahrgang · Ausgabe 1/2010

Wenn alte Ängste aufbrechen Menschen mit belastender Vergangenheit finden in NĂŒrnberger Klinik Hilfe

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or rund vier Jahren hat die bundesweit einzige »Psychosomatische Tagesklinik fĂŒr Ältere« (PTK  55+) in NĂŒrnberg ihre Arbeit  aufgenommen. Hier sollen unter  anderem Menschen Hilfe bekommen, die  in jungen Jahren Schlimmes erlebt haben,  was sich im Alter durch psychosomatische  Störungen Àußert. »Wir haben die PTK  55+ gegrĂŒndet, weil Àltere Menschen ganz  eigene Probleme haben«, erlĂ€utert Professor Dr. Wolfgang Söllner, der Leitende Arzt  der Klinik. Der Eintritt ins Rentenalter, der  Tod des Partners, chronische Krankheiten,  Alleinsein oder Vereinsamung, GefĂŒhle  wie Nicht-Gebraucht-Werden oder NichtVerstanden-Werden sowie Arbeitslosigkeit  lösen hĂ€ufig körperliche Symptome ohne  organische GrĂŒnde aus, verursachen Ängste,  ZwĂ€nge, Depressionen.  Die Tagesklinik in der Klinik fĂŒr Psychosomatische Medizin und Psychotherapie  befindet sich im Erdgeschoss des Hauses 8  im Klinikum NĂŒrnberg-Nord. Hier finden  Patienten ab 55 Jahren ein mehrwöchiges  intensives Behandlungsangebot in einer  Kleingruppe von neun Personen. Rund  400 Patienten wurden bislang behandelt,  80 Prozent davon waren Frauen, wobei  der MĂ€nneranteil langsam zunimmt. Die  meisten Interessenten sind zwischen 55 und  75 Jahre alt. Die HĂ€lfte hat keinen Partner,

klinik. Die 72-JĂ€hrige wehrte sich zuerst  das Durchschnittsalter betrĂ€gt 63 Jahre.  (»Habe ich jetzt nicht mehr alle Tassen im  Zehn Prozent sind Aussiedler, zehn Prozent  Schrank?«), meldete sich aber dann doch  Gastarbeiter.  an. In der PTK 55+ erfuhr sie, dass die  Viele der 400 Patienten gelten als trauPanikattacken möglicherweise mit frĂŒheren  matisiert. Bei rund 20 Prozent sind ErlebÄngsten zusammenhĂ€ngen, die sie als Kind  nisse im Zusammenhang mit dem Zweiten  bei der Bombardierung NĂŒrnbergs erlebt  Weltkrieg oder dem Krieg in Jugoslawien  hatte. K entschloss sich zu einer Therapie in  mitverantwortlich fĂŒr die Entstehung psyder Klinik.  chischer oder psychosomatischer ErkranDie 80-jĂ€hrige Maria H. musste zeitlekungen im Alter. Die Betroffenen haben  bens schwer arbeiten, sie  Bombenkrieg, Flucht, Verschuftete schon als Kind bei  treibung, Hunger, KĂ€lte und  Alles, was »Psycho« sexualisierte Gewalt erlebt.  heißt, wird gern mit »ver­ Bauern und FremdfamiliSie haben diese EindrĂŒcke  rĂŒckt« abgetan. Nicht zu­ en. Im Alter zeigt sie eine  Depression mit deutlicher  weitgehend verdrĂ€ngt, um  zuâ€‚ĂŒberleben. Die versteck- letzt wegen der Ideologie Störung des SelbstwertgefĂŒhls, außerdem leidet sie  ten Empfindungen kommen  des Dritten Reiches. unter einer Sehminderung,  jedoch im Älterwerden  Gangunsicherheit und Schwerhörigkeit.  wieder hoch und belasten die Psyche. Bei  Gudrun F. (72), klagtâ€‚ĂŒber ein Reizdarmsynweiteren 20 Prozent der Patienten handelt  drom. Sie erzĂ€hlt: »Eigentlich dachte ich,  es sich um Traumatisierungen innerhalb der  ich hĂ€tte eine schwere Darmerkrankung,  Familie (etwa durch sexuellen Missbrauch  aber die Ärzte im Klinikum sagten mir, die  oder andere körperliche Misshandlungen).  Ursache sei psychisch. Das hat mich zuerst  Zur therapie entschlossen sehr geĂ€rgert. Ich bin dann aber trotzdem in  die Tagesklinik gekommen und dachte mir,  Marianne K. (Name geĂ€ndert), 72, aus  es kann ja nicht schaden.«  NĂŒrnberg war stolz darauf, nie krank geDiese Reaktionen zeigten eindeutig, so  wesen zu sein, vor allem nicht seelisch. Als  Diplom-Psychologin Dr. Corinne Reichhart,  sie vor einem Jahr starke Herzschmerzen  therapeutische Leiterin der Tagesklinik, dass  verspĂŒrte, ging sie zum Kardiologen. Der  ein Großteil der Älterenâ€‚ĂŒber kein genaues  Arzt meinte, sie leide unter Panikattacken  psychologisches Wissen und wenig Verund riet ihr zum VorgesprĂ€ch in der TagesstĂ€ndnis fĂŒr eine Psychotherapie verfĂŒge.  Alles was »Psycho-« heißt, werde gerne mit  »verrĂŒckt« abgetan. Nicht zuletzt wegen  der Ideologie des Dritten Reiches und der  Tötung sogenannter »Geisteskranker«.  Viele Patienten kĂ€men mit der Vorstellung,  ihr Leiden sei einmalig; eine psychische  Krankheit sei eine CharakterschwĂ€che und  man mĂŒsste eigentlich alles alleine schaffen,  nach dem Motto »Reden hilft nichts« oder  »Man muss die ZĂ€hne nur zusammenbeißen«. Deshalb habe man es hier eher mit  vom Hausarztâ€‚ĂŒberwiesenen Patienten zu  tun als mit Menschen, die sich aus eigener  Überzeugung melden. Hinzu komme, dass  es Ältere als KrĂ€nkung empfinden, im Alter  auf die Hilfe anderer, noch dazu jĂŒngerer  und lebensunerfahrener Menschen angewiesen zu sein.  Der Krieg schlug tiefe Wunden

Gruppengymnastik, Qigong (hier mit Krankenpfleger Armin Schatz) und EntspannungsĂŒbungen sind Bestandteil der therapie.

»Wo haben Sie Ihre Kindheit verbracht?«,  fragt die Psychologin eine Patientin des  Jahrgangs 1935. »Im Keller«, lautet kurz  und knapp die Antwort. Die stĂ€ndige Angst  vor dem nĂ€chsten Alarm, die unzĂ€hligen


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