De:Bug 165

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Music is music, a track is a track. Oder eben doch nicht. Manchmal verändert ein Song alles. Die Karriere der Musiker, die Dancefloors, wirft ganze Genres über den Haufen. In unserer Serie befragen wir Musiker zur Entstehungsgeschichte eben dieser Tracks. Wo es wann wie dazu kam und vor allem warum. Diesmal muss es natürlich Berlin sein, genauer Schöneberg und das gleichnamige Stück von der Berlin EP des Produzenten-Duos Marmion, veröffentlicht 1993 auf dem Hamburger Superstition Label. Der Mittzwanziger dt64-Radio-Moderator und DJ Marcos Lopez und der fast 30-jährige, bereits durch Produktionen auf MfS, Tresor oder Low Spirit bekannte DJ und Live Act Mijk van Dijk trafen sich Anfang der 90er im Berliner Nachtleben und ließen sich bei einem gemeinsamen Gig im Bunker von Lil Louis’ “Blackout” inspirieren. Die Oral History eines legendären Progressive-Tracks, der herauskam, als die DE:BUG Redaktion noch zur Rave-Schule ging.

Mijk van Dijk: Laut meinem original DATTape haben Marcos Lopez und ich das Stück am 10. Oktober 1992 aufgenommen. Ursprünglich wollte ich das Stück erst "A Little Japanese Boy Having A Good Time While Sailing From A Sea Of Ecstasy Into The Peaceful Harbour Of Harmony" nennen, weil dieser Titel die Grundidee des Stückes und einige Soundquellen schön zusammenfasste. War natürlich viel zu lang. Irgendwann sagte Marcos dann: Dein Studio ist in Schöneberg, meine Freundin wohnt in Schöneberg, unsere erste EP soll Berlin-EP heißen, wir nennen es jetzt einfach "Schöneberg". Und so kam's dann auch. Und ich wohne immer noch in Schöneberg. Marcos: Mijk und ich haben die Studioarbeit als eine 50:50-Angelegenheit betrachtet, wobei er der Executive Producer von "Schöneberg" war - definitiv. Er hatte ja auch bei all den Maschinen den absoluten Durchblick, und ich konnte gerade mal meinen Atari-Computer und eine Drum Machine von Roland bedienen. Aber viele Samples kamen von mir, und ich habe sehr viel Zeit am Keyboard verbracht, um die Melodie des zweiten Teils des SchönebergOriginals zu finden, denn Mijk war das eigentlich "zu trancig". Wir bastelten eine ganze Nacht und am nächsten Mittag war der

Track fertig. Im Gegensatz zu vielen anderen Marmion-Produktionen ist "Schöneberg" im Original das Resultat einer 16-StundenSession! Zum Abschluss gab es Pizza und Cappuccino ebenda, wo der Track entstanden war: in Schöneberg. Mijk: Berlin war der aufregendste Ort der Welt. Ich war bereits 1985 hierher gezogen und hatte damals das Gefühl, zu spät zur Party gekommen zu sein. Die NDW-, Punk- und Wave-Szene war bis auf wenige traurige Trümmer verschwunden und es war eine relativ triste und bleierne Zeit. Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich für die "richtige" Party nur ein wenig zu früh eingetroffen war. (lacht) Marcos: Im Winter 1992/93 war der sehr bürgerliche Stadtteil Wilmersdorf mein Domizil - ein eher langweiliges Viertelchen mitten in der Stadt: alte Damen, Dackel, Parks, no Punks. Die Clubkultur des Berliner Elektronik-Undergrounds stand in voller Blüte, besser gesagt: es brannte, und man konnte im Grunde genommen von Montag bis Montag von einem Club in den anderen purzeln - es gab einfach kein Finale. Mijk: Ich war von dem Gedanken beseelt, dass man mit jeder neuen Platte neue Grenzen ausloten kann und muss. Also anstatt einfach die aktuellen Hits zu kopieren, wollte ich den aktuellen Stand der Musik weiterentwickeln. Natürlich war der Bassline-Sound sehr wichtig, der kam von einem Yamaha DX100 oder TX81Z. Und das harmonische Riff im grande finale spielten wir auf einem Roland Jupiter 6, der nur leihweise bei mir im Studio stand. Glück gehabt, dass der noch da war. Marcos: Ich hatte meine Platten am Start, die ich Mijk pausenlos vorspielte und dabei sagte, "Mensch Mijk, hör' dir mal dieses und jenes an!" Meine Drum Machine R8 von Roland kam dabei nicht zum Einsatz. Oft hatte ich mit dieser R8 musikalische Skizzen direkt in den Sequenzer des Gerätes gehackt - bei Schöneberg aber eben nicht. Das Stück ist in einem magischen Flow entstanden. Mijk: Marcos und ich spielten das Stück vom DAT-Walkman das erste Mal bei unserem nächsten gemeinsamen Gig im Bunker. Der Sound war genau richtig und die Stimmung war klasse. Ein Hochgefühl. Marcos: Als DJ-Producer ist man seinen eigenen Produktionen im Club gegenüber sehr, sehr kritisch. Man kann den Track aufgrund seines verschobenen Intros kaum auf die 1 mischen, insofern verhaspelt sich fast jeder DJ bis heute dabei, ha ha. Und ja: Wenn ihn andere heute noch auf großen Partys auflegen, fliegen die Hüte wie anno 1993 und ich bin total gerührt: "Wow, das hast du gemacht? Gibt's doch gar nicht!". Die Nummer wird nächstes Jahr tatsächlich 20 Jahre!

Illustration: Nils Knoblich www.nilsknoblich.com

Marmion, Schöneberg, Berlin EP, Superstition 1993

Mijk van Dijk, soundcloud/mijk Marcos Lopez, c-tube.de, familienclip.de

marmion - schöneberg Geschichte eines Tracks Text Alexandra Dröner

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»Ursprünglich wollte ich das Stück erst "A Little Japanese Boy Having A Good Time While Sailing From A Sea Of Ecstacy Into The Peaceful Harbour Of Harmony" nennen. War natürlich viel zu lang.«

Mijk: Ich mochte und mag noch immer die Kombination aus einem tollen Beat ("Körper") und melodischer Tiefe ("Seele"). "Schöneberg" repräsentiert dieses Prinzip sehr schön. In den 90ern erschien uns elektronische Musik noch wie ein Mysterium. Man konnte nicht einfach ein Magazin aufschlagen und nachlesen, wie so was gemacht wird. Marcos: Ich habe den Track immer als etwas sehr Wertvolles gesehen, besonders als in den 90ern die GEMA-Zahlungen so üppig wurden, dass ich wie perplex auf die Abrechnung gestarrt habe. "Boahhh, ich wollte doch nur einen schönen Club-Track machen…" Zur Last wurde der Titel für die eigene Producer-Karriere, da viele Leute auf "Schöneberg 2" hofften und alles, was man zustande brachte, immer unter diesem Aspekt begutachtet wurde. Mijk: Mir missfiel, wie mit dem Stück in England umgegangen wurde. Dort wurde immer der sehr ravige "Marmion-Remix" von 1994 als das Original verkauft. Der war in UK erstmal viel erfolgreicher, weil er dort als Blueprint Track für "Nu Energy" galt. Das Stück wurde von einem Label zum anderen weiterlizenziert und entzog sich damit komplett unserer Kontrolle. Marcos: Ich für meinen Teil habe sicherlich nicht alles aus dem Erfolg für uns und für mich herausgeholt, ganz einfach aufgrund der Tatsache, dass mich Erfolg und Karriere, auch wenn das komisch klingt, nicht wirklich interessiert haben. Die 90er hatten auf jeden Fall ein irres Tempo und eine große Reichweite. Und ich war voll dabei.

165–97 20.08.2012 18:51:33 Uhr


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