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2013

ELEKTRONISCHE LEBENSASPEKTE Musik,Medien,Kultur&Selbstbeherrschung

NSA

Deine Daten sind Schweinedaten meine Daten sind feine Daten

PORNO

Wir halten den Twerkern die Normcore-Stange

VERLOSUNG

Leserpoll! Greift Preise ab! Wert: unbezahlbar!

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OMG DAFUQ VORBEI

COVER: MARY SCHERPE - LOTTA OTTA

RüCKBLICK

12.2013

Snowden, Cyrus, Merkel Wer wird die Supernase 2013?

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Unfassbar. Anfassbar. Das Multitouch-Display S24C770T LED. Aus welchem Blickwinkel Sie es auch betrachten – das Samsung S24C770T LED berührt in jeder Hinsicht. Schon das edle Design des schlanken Metallauch der stufenlos verstellbare Standfuß. Mit einem Neigungswinkel von bis zu 55° lässt sich der brillante 24-Zoll-LED-Monitor individuell einstellen. Die neueste Zehn-Finger-Multi-touch-Technologie ermöglicht nicht nur eine schnelle und intuitive Bedienung, sondern auch die gleichzeitige Interaktion mehrerer Anwender. Und von wo Sie auch auf das Display schauen – dank

das Multitouch-Display also ausgezeichnete Voraussetzungen, um den Spaß an Spielen und Videos mit Familie und Freunden zu teilen.

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178 — BUG1

LIEBE USERINNEN, LIEBE USER, das Jahr 2"13 neigt sich dem Ende zu, fällt vornüber und bleibt fett grinsend auf der Seite liegen. Hubschraubereinsatz! Von dort unten, ruft es uns zu, sieht eigentlich alles ganz dufte aus! Was für ein Jahr, auch für die DE:BUG. Thema des Jahres: Der Überwachungsskandal und seine Protagonisten. Vielleicht zum letzten Mal mussten wir uns fragen, wie das jetzt eigentlich weitergehen soll mit dem Internet. Sich solange selbstvermessen und selbstverbessern, bis wir

Bild: www.notesofberlin.com

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alle viel zu gut für dieses Netz sind? Bestimmt nicht. Und trotzdem, überall wurde Nabelschau betrieben, nicht nur in der Schwedter Straße (außer in Russland, da wäre das zu schwul und Piercing ist dort auch immer noch eher eine Foltermethode): Der Afrofuturismus von Janelle und Co, die Retro-Ut- und -Dystopien von Oneohtrix Point Never und James Ferraro, die überfällige Selbstkritik an sexistischen Strukturen in Musik, Medien und Politik, die Suche nach dem neuen Ding vor der Haustür, den Veränderungen in Bildung, Fotografie, Mode, dem Umgang mit der Computerwelt und sich selbst in sozialen Netzen, die Zeit allein mit sich und dem

Spielzeug... Und dann kehrte ja auch noch die Vergangenheit zurück: Boards of Canada gaben uns eines ihrer raren Interviews, der neue Papst verkaufte der Welt erfolgreich seine Genügsamkeit und ein Weltraumkammerspiel rettet das 3D-Kino. Was jetzt noch passieren kann: dass ein paar Uhren und smarte Kühlschränke im Gedenken an das Jahr 2""" pünktlich zur Neujahrsnacht den Geist aufgeben. Es wird Zeit, dass 2"14 passiert! Auf die Zukunft, Eure DE:BUG-Redaktion

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178 — INDEX

2013 IM RüCKBLICK

Unsere Chronik bringt die Fakten und Geschichten des Jahres in der richtigen Reihenfolge. Die wirklich wichtigen Phänomene - NSA, Normcore, Porno-Pop, große Gadgetlosigkeit und die Suche nach dem neuen Internet - bekommen natürlich eine Sonderbehandlung. Über 35 Seiten Fazit!

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44 JAMES FERRARO: KONSUMERISMUS, TOM CRUISE, VAPORWAVE Auf seiner neuen Platte montiert James Ferraro Buzzwords mit PR-Jingles und urbanen Klangfetzen zu einer düsteren Bestandsaufnahme. Im Gespräch erklärt er, was ihn antreibt.

50 NILS FRAHM: BLICK ZURÜCK

54 ANNA-SOPHIE BERGER: THEORIE ZUM ANZIEHEN

"Spaces", das siebte Album von Nils Frahm, ist eine Improvisations-Collage aus 30 Live-Aufnahmen. Ein Gespräch über seinen Gerätschaften-Fetisch, Muckertum und den von der Elektronikszene missverstandenen Erik Satie.

Die Designerin aus Wien druckt Politikerinnen auf Pullis und lässt Kleidungsstücke miteinander kommunizieren. Im Interview spricht sie über Bildkultur im Internet und das Wandern zwischen Kunst und Mode.

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INDEX STARTUP 03 − Bug One: Editorial

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24 SUPER SNOWDEN Er ist der Held des Jahres - der Nerd, der aus dem Dunkel des militärisch-industriellen Komplexes kam. Wir klären, warum Edward Snowden einen neuen Heldentypus darstellt, warum er der verkehrte und vor allem auch ein deutscher Held ist.

»WIR SIND DEUTSCHLAND 2#13: HALB IN EINER ZUKUNFT, VON DER NIEMAND WEISS, WIE SIE FUNKTIONIEREN SOLL, HALB IN DER STEINZEIT, DIE AUCH NICHT WIRKLICH BILLIGER WIRD.« (Sascha Kösch über die Null-Euro-Ökonomie, Seite 34)

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KRITIK Deutschland du Opfer gib Handy Chronik: Das Jahr in Häppchen NSA: Too Big To Fail Post-Post-Heroisch: Wer braucht neue Helden? Film des Jahres: Mutter, der Apparat ist da Keine Killergadgets: Fahrverbot für Google-Glass-Träger Die Rückkehr von VR und AR: Helme und Hilfsmittel Supergenres: 356 Tage klangliche Gleichschaltung Porno-Pop: Kühl, mechanisch, lustlos Null-Euro-Ökonomie: Halb Zukunft, halb Steinzeit Beautiful Rewind: Die Kassette wird 50 Normcore: Cool, uncool & wie man sich fühlt Wo ist das neue Internet: Utopisches Potential

LESERPOLL 42 − Unsere Goodies für eure Meinung zum Best of 2013

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MUSIK James Ferraro: Point of view, societymäßig Dekmantel: Generationenwechsel in Amsterdam Akkord: Natürliche Maschinenmusik Nils Frahm: Im Blick zurück entstehen die Dinge Deo & Z-Man: Die Hamburger House-Hopper-Mafia

MODE 54 − Anna-Sophie Berger: Kommunizierende Kleider 56 − Modestrecke: Schere, Körper, Papier

WARENKORB 60 − Buch: Brandlhuber+ 61 − Technik: Leap Motion Fingertracker & Sandisk Wi-Fi-Flash

MUSIKTECHNIK 62 − Korg & littleBits: Synthese als Kinderspiel 64 − Waldorf Pulse 2: Rücksturz in die 90er 66 − Arturia MicroBrute: Kleine graue Acidkiste

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SERVICE & REVIEWS Reviews: Neue Alben und 12“s Abo, Vorschau, Impressum DE:BUG präsentiert: Die besten Events im Dezember A Better Tomorrow: Unfuck the Future, unfuck your Life!

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DEUTSCHLAND DEUTSCHLAND

DU OPFER DU OPFER GIB HANDY DIE DE:BUG GIB HANDY CHRONIK 2"13

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178 Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) steht mit einem abhörsicheren Blackberry am 05.03.2013 am Stand von Secusmart beim Eröffnungsrundgang auf der weltweit größten Computermesse CeBIT in Hannover (Niedersachsen). Merkel soll ein neues Diensthandy bekommen - zur Auswahl steht ein Blackberry oder ein Samsung Smartphone. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

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#1

CHRONIK 2#13

#6.#1. DSCHUNGELCAMP Bild fragt den Schauspieler Helmut Berger zu Beginn der Show: "Haben Sie keine Angst, dass Sie jetzt hierbleiben müssen?" Er: "Mir ist alles scheißegal." #8.#1. HARLEM SHAKE Das quietschende Etwas des New Yorker Trap-Produzenten Baauer dümpelte schon ein gutes Jahr kaum gesehen durch das Netz, da zappeln der Internet-Komiker Filthy Frank und seine Spandex-Gang eine Runde dazu ab und entfachen eine virale Stichflamme, die die Verantwortlichen der Billboardcharts dazu veranlasst, von da an auch Youtube-Klicks mit in die Wertungen einzubeziehen. Con los terroristas! 12.#1. AARON SWARTZ Sir Tim Berners-Lee, Begründer des World Wide Web und HTML-Miterfinder, dichtet einen Tag nach dem Tod von Aaron Swartz in der W3.org-Mailingliste:

15.#1. MEIN LIEBER JUSTIN MySpace startet neu als Promo-Plattform für Justin Timberlakes Album. Tränen lügen nicht. Alle Facebook-Müden verbringen eine aufregende Woche damit, das von links nach rechts scrollende Layout und die Mix-Metapher nicht zu verstehen. Eine Viertelmilliarde Amateurband-Profile sterben den Social-Tod durch MySpaceHand. Justin Timberlake plant seitdem vermutlich MySpace gegen Patente von Zeitmaschinen einzutauschen. 16.#1. DONATIONWEAR IS THE NEW POOR CHIC Moozar erfindet den Donation-Link für Künstler neu. Schon wieder ein geiles frisches neues Geschäftsmodell für die darbenden Musikanten. Keiner nutzt ihn. Die Volxküchen in Neukölln strecken ihre Soljanka. Bonusdreingabe: Junkie-Kot. Bonuseffekt: Macht auch high.

21.#1. IPAD-DJ Mit Traktor DJ hat die Welt endlich eine passable Lösung für DJs, die nicht immer ihre 121"er in den Club schleppen wollen, wo ja oft genug eher Gurken als Plattenspieler rumstehen. CDJs lächeln hämisch und wedeln mit ihrem USB-Stick. Ipad-DJs können jetzt Wellenformen anfassen. Haptik wird sich nicht durchsetzen.

19.#1. SOUNDCLOUD GEHACKT Auf dem Music Hack Day in Stockholm wird aus Protest über das neue SoundcloudDesign eine Version von Soundcloud für das Terminal geschrieben. Grün auf Schwarz ist das neue Web 2." - zig solcher Retromaschinen fluten im Jahr das Netz, auch in Bernstein-Schwarz und KönigsblauPlotterpapierweiß.

24.#1. TWITTER GIFS Twitter will auch animierte GIFs. Macht Vine. Sechs Sekunden ruckeliges Video sind die neuen 14" Zeichen, die keiner liest. Und wenn sie an die Börse gehen, passen 3" Sekunden werbeträchtige Preroll vor das süße Schlabberlätzchen eures Sprösslings.

19.#1. GROSSKOTZWOLKE Kim Dotcom startet nach der MegauploadKatastrophe den Filehosting-Dienst "Mega". Mit Verschlüsselung der Daten und Bitcoin-Integration. Die angedachte Web-Adresse "me.ga" wird von der Regierung in Gabun verhindert. Eine Studie im Herbst kommt zum Schluss: Bei Mega wurden tatsächlich vor allem Raubkopien verbreitet. Faustregel: Je größer eine Datei, desto wahrscheinlicher ist sie raubkopiert.

24.#1. #AUFSCHREI Brüderle, der alte Suffkopp, beschert uns den dritten Frühling der AntisexismusDebatte. Alltagssexismus wird salonfähig. Bis heute strudeln die ekligen Geschichten übergriffiger alter Säcke (und solche die es werden wollen) durch unsere Twitterstreams. Und das Jahr hat seinen ersten Fokus. "Sexismus rulet" titeln wir.

Aaron is dead. Wanderers in this crazy world, we have lost a mentor, a wise elder. Hackers for right, we are one down, we have lost one of our own. Nurtures, careers, listeners, feeders, parents all, we have lost a child. Let us all weep. timbl

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Swartz - Programmierer, Autor und Aktivist - bringt sich im Alter von 26 Jahren, nach der Veröffentlichung hinter einer Bezahlschranke unzugänglich gemachter wissenschaftlicher Artikel und der anschließenden Strafverfolgung, aus nicht öffentlich gemachten Gründen um.

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#2

DE:BUG RüCKBLICK 2#13

#2.#2. LOVELESS REVISITED My Bloody Valentine veröffentlichen nach über 2' Jahren falscher Versprechungen endlich ihr Follow-Up zu "Loveless". Und es klingt wie My Bloody Valentine. Rockbands, die nicht altern. Auch eine neue Erfahrung.

26.#2. PRESSWUNDER OFM-Vinyl bietet jetzt Dumpingpressungen für Limited-Süchtige an. 51 Stück zum Preis eines Schuhs. Die Veröffentlichungszahlen schnellen deshalb nicht in die Höhe, sie sind eh schon auf Höchstniveau.

#4.#2. HOLOCAUSTLEUGNER IM WELTALL Ahmadinedschad will ins All. Als erster Iraner, versteht sich. Muslimische Astronauten haben eine kurze Halbwertszeit. Wird später abgewählt der Mann. Dafür aber schafft Marvel im Jahr noch die erste muslimische Superheldin. Fliegen kann sie auch.

28.#2. DIE MAUER MUSS BLEIBEN In Berlin rufen die Clubs zur Demo gegen Spree-Investoren auf. Die werden doch nur Ruhe wollen, wir weiter am Ufer unsere elektronischen Hippieträume feiern. Da kommt die Mauer grad Recht als Vorwand. Hoff ist auch da. Jedem sein Sternchen Glück von der Wiedervereinigung. Alles muss so bleiben wie es war.

14.#2. AMAZONSKLAVEN Die bundesdeutsche Arbeitswelt hat einen neuen Aufreger. Schleckerfrauen sind out, Amazonsklaven sind in. Und die Nazis dürfen auch eine Nebenrolle spielen. Die ARD-Doku zeigt uns das Elend der Südeuropäer auf dem boomenden Arbeitsmarkt Deutschland. Triple-Feature mit Foxconn-Sklaven und Legebatteriehennen-Snuff wird zum Dauerbrenner in den Off-Kinos. 16.#2. DUBSTEP KLASSIKADEL In Köln führt das WDR Rundfunkorchester seine erste Dubstep-Symphonie auf. Später rauscht Kompakt zum 5'sten mit Best-Of-Kompakt-meets-Klassik nach. Fördergeldertöpfe der Hochkultur beruhigen auch den letzten Kulturpessimisten. 19.#2. 3D-DADDEL Kickstarter hat ein neues Wunderkind. Den 3D-Maler. Eierige Wellenformen in wackeligen Konstrukten warten darauf, die Welt aus den flachen Zwängen der 2D-Stickies zu befreien. Bislang ist uns das Ding noch in keinem Kinderzimmer begegnet. 2#.#2. GOOGLE GOGGLES Google Glass ist endlich da! Die erste PornoApp ließ nur ein paar Tage auf sich warten. Augmented Reality für alle! Die Hipster haben endlich einen Grund, eine Brille zu tragen. Die gnadenlose Unsitte, Google before Dating, hat endlich ein Ende und Scoble einen neuen Auftrag. Die Killerapp hat Google Glass aber auch Ende des Jahres noch nicht gefunden. Dafür aber ist dann die Variante mit Sehschärfengläsern angekündigt worden.

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#3 #1.#3. R.I.P. MD "MiniDisc"? Frag mal bei Sony nach. Weil der japanische Technikkonzern noch immer nicht einsehen will, dass proprietäre Formate zwar User an die eigene Marke binden, sich aber eben darum auch nicht langfristig durchsetzen, wurde nun die hauseigene Disc im Kleinformat nach zwanzig Jahren eingestampft. Nostalgiert schließlich auch nicht so schön wie das Tape, Vinyl oder Knüpfteppiche. #7.#3. DROHNEN ALLEIN ZU HAUS USA! Ihr wollt also auch zu Hause die bösen Terroristen mit Drohnen von der Straße fegen? Wisst ihr denn nicht, was später im Jahr noch so alles an anderen Problemen auf euch zukommt? PS: Als Bonus wollen die Nordkoreaner dafür mal wieder mit Atombomben auf die USA schießen. Bislang hat es aber nur zum recyclen eines russischen PropagandaFilms aus den 7'ern und dem grandiosen Namen der Operation gereicht: Nodong. Jedenfalls in unserem Paralleluniversum. #8.#3. DER KLÜGSTE MENSCH IM FACEBOOK Statusmeldung aus Syrien:

Aboud Saeed wurde 1983 geboren und lebt gemeinsam mit seiner Mutter und sieben Geschwistern zusammen in einem Zimmer in einem kleinen Haus in der Kleinstadt Manbidsch in der Provinz von Aleppo. IRL arbeitet er in einer Werkstatt als Schweißer,

bei Facebook ist er ein Zigarettenrauchender Dandy, dessen nihilistische, alltägliche, teilsgeniale Statusmeldungen dem draußen herrschenden Krieg die kalte Schulter zeigen. Und seit diesem Jahr endlich auch übersetzt vorliegen. Sein Buch "Der klügste Mensch im Facebook" umfasst auf dem Smartphone circa 25' Seiten. 23.#3. TRAUMZAUBERBAUM Reinhard Lakomy verlässt uns. Traumzauberbaum, Kinder-LSD-Träumer und DDR-Synthpionier. Jetzt wissen wir endlich: es gab Synthesizerpioniere in der DDR. Und die waren genau so bekifft wie die in der BRD. 26.#3. DON'T FUCK Nach der erfolgreichen Aktion mit dem iPad führt die Urheberrechtsarmeefraktion eine Wiederbelebung der Loveparade unter dem Titel "Don't Fuck With Music" vor dem Bundestag auf. Die Lobbyisten zittern ob der monströsen Präsenz des Toyota-Pickups mit vier Verrückten in Faschingskostümen.

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!5 !1.!4. UND JETZT ALLE! VR-Ö. Stell dir vor, der GEMA-Tarif für DJs ist da und keiner zahlt ihn. So hatte sich die GEMA das wohl nicht vorgestellt.

Trotz All-you-canplay-Pauschale, Generalablass für Tracks vor dem 1. April, trotz hungern den Musikern im ganzen Land. Unsere 13 Cent bekommt ihr nicht. Sowieso nicht, selbst wenn wir sie zahlen würden. 2!.!4. ELEKTRONIKA WIRD VIRAL, #BOC Record Store Day. In New York taucht eine mysteriöse 12" auf, die sich schnell als das lang erwartete Lebenszeichen der Boards Of Canada entpuppt. Keine Musik, dafür bruchstückhafte Informationen, der Beginn einer Schnitzeljagd, die von den Fans des schottischen Duos gerne mitgespielt wird. Twitter, YouTube, Number Stations, eine Videoleinwand in Shibuya, ein Wohnwagen in der kalifornischen Wüste. Das Album "Tomorrow’s Harvest" erscheint schließlich am 1$. Juni. DE:BUG veröffentlicht eines der superraren Interviews mit der Band.

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!1.!5. BAR AUS HOLZ Am Holzmarkt, dem neuen Ort der Bar 25 ist Spatenstich. Die Kita da heißt bestimmt Keta. Bemerkenswert aber vor allem: die Ravehörnchen (Frisur) wurden wiederbelebt. Da verzeihen wir alles.

21.!4. LGBT PRÜGEL Auch in Georgien fällt den Christen nix besseres ein als ein paar sexuelle "Abweichler" von Gottes Penisfaltigkeit zu verprügeln. Schwule müssen dieses Jahr noch froh sein, wenn sie nur über die Straße gejagt werden und nicht, wie in Russland, von Nazipunk-Taskforces für ihre Snufffilme missbraucht werden.

!9.!5. PISTOLE AUS DEM 3D-DRUCKER GEHT OFFLINE Wenn man Post vom US-Außenministerium bekommt, wird es ernst. Cody Wilsons Firma “Defense Distributed” muss die Baupläne der "Liberator Pistol" aus dem Netz löschen. Der Vorwurf: Missachtung der Waffenexport-Gesetze. Wilson legalisiert sich darauf mit einer WaffenherstellerLizenz und denkt nun über die Zukunft nach. Mehr Waffen, ist ja klar. Die "Liberator Pistol" ist laut Wilson eine funktionsfähige Handfeuerwaffe, die - bis auf Patrone und Bolzen - mit jedem handelsüblichen 3D-Drucker hergestellt werden kann. Der Praxistest aber zeigt: Nach nur ein Mal Schießen ist das Plastik geschmolzen, die Pistole explodiert, das Vertrauen in Scherben. In der Hand halten wollte das Ding bislang eh noch niemand. Und die Patrone, das kinetische Herz aller Pistolen, kommt eh durch keinen Metallund Sprengstoffdetektor. 12.!5. "UND DAS CLUBSTERBEN?" "Ja, was ist damit? 1989 konnte man an einem Freitagabend ins Ufo auf der Großgörschenstraße gehen, dann gab es noch die Turbine Rosenheim und irgendwo anders eine kleine Party. Da waren dann vielleicht 15% Leute in Berlin unterwegs. Heute gibt es, behaupte ich jetzt mal, stattdessen 15% Läden. Ich kann es nicht mehr hören: Alles geht immer den Bach runter, das Clubsterben, das Waldsterben, alles stirbt immer. Und die Wahrheit ist: Es stirbt auch immer mal was. Aber wenn für jeden Club, der stirbt, fünf neue aufmachen, ist doch alles in Ordnung. Das Clubsterben gehört doch mittlerweile zur Folklore wie andere Prophezeiungen, dass das Ende nah ist." Westbam in der taz. Tolles Interview, das Berlin und seine historische Subkultur unterhaltsamer auf den Punkt bringt als die eine Millionen Bücher, die in 2$13 zur Erinnerung erschienen.

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ELECTRONIC B E AT S

NEWS RADIO & VIDEO

DOWNLOAD YO U R E B A P Ps NOW! F O R F R E E !* 12.#5. ALGORAVES Neuer Trend aus den USA: Raves, auf denen Algorithmen die Musik machen. Vielleicht auch einfach eine Zeitungsente. Oder Googles neuester Masterplan, die Welt zu erobern? Das Jahr der US-Verbrechen an elektronischer Tanzmusik soll am Ende mit der überfälligen Erschaffung von EDMdate. com mit eher humorvoller Note ausklingen. 23.#5. 17.#5. EVERYBODY CALLS ME GIORGIO "I wanted to do an album with the sound of the 5"s, the sound of the 6"s, of the 7"s and then have a sound of the future. And I said, 'Wait a second...I know the synthesizer – why don't I use the synthesizer which is the sound of the future?' And I didn't have any idea what to do, but I knew I needed a click so we put a click on the 24-track which then was synched to the Moog Modular. I knew that it could be a sound of the future but I didn't realize how much the impact it would be - My name is Giovanni Giorgio, but everybody calls me Giorgio." Die Spoken Words des Chefs als Höhepunkt des schönen und kontroversen vierten Studioalbums von Daft Punk, das sie offenbar ganz zum 2"12er-Thema Retromania produziert haben.

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DEUTSCHLAND IST DAS BELIEBTESTE LAND DER ERDE

READ THE LATEST NEWS. LISTEN TO EXCLUSIVE DJ MIXES. WATCH SLICES FEATURES AND LIVE CUTS.

Das ergibt eine Umfrage der BBC (bereits zum x-ten Mal). Am 16. September erklärt AfD-Chef Lucke bei Benjamin von Stuckrad-Barre:

"Der ideale Einwanderer ist freundlich, aufgeschlossen, dunkelhäutig, mit einem freundlichen Lachen."

* Available here: News App at Windows Phone Store, Radio App at Google play and iTunes Store, Video App at iTunes Store.

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Bild: Harry Griffin - Convention harrygriffin.com

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!6 !3.!6. PHARAONEN In Ägypten wird mit Mursi der erste demokratisch gewählte Pharao im ersten Twitter-Militärputsch für mehr Demokratie gestürzt. Obama hat gleich andere Sorgen. !6.!6. ÜBERWACHUNGSZEITALTER Die Snowden %%1 kommt raus. GatefoldSleeve, Prägedruck, Retro-PowerpointDesign.

Wir wechseln vom digitalen ins Überwachungszeitalter. Huch, 1984 ist auf einmal so kuschelig. Bis Ende des Jahres soll der Output der Snowden-Files ins Unendliche anwachsen. Bei derzeitigem Stand wird die letzte wohl in 26 Jahren geleakt.

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!9.!6. IAIN BANKS Der großherzigste der schottischen SciFiAutoren stirbt. Für immer überleben werden die Namen seiner Culture-Schiffe. No More Mr Nice Guy, So Much For Subtlety, Youthful Indiscretion, Very Little Gravitas Indeed, Size isn't everything, Unfortunate Conflict Of Evidence, Kiss my Ass. 1!.!6. EIN SKEUOMORPHISMUS FOLGT DEM ANDEREN Apple stellt die neue Version von iOS vor: Statt dreidimensionalen Details ist nun das User Interface in hin- und herflutschenden, rein- und rauszoomenden Schichten, in unsichtbare Walzen und strukturlose Oberflächen sortiert. Die Menschen denken: Das ist 2D, das ist "das Ende des Skeuomorphismus", aber die Menschen irren. Übrigens auch Ivy: Kurz nach Veröffentlichung ruderte sein Design-Team in vielen Details zurück, entfernte einige 3D-Überbleibsel und Billo-Rütteleffekte und zog Grenzen. Zeitgleich hat der Designer Vaclav Krejci den iOS7-Homescreen täuschend echt in Word nachgebaut - mit Zapfdingbats und Fake-Verläufen. Gnihihi. 13.!6. DAS ENDE DES ULTIMATIVEN TEXTES Als DRM-Maßnahme erfindet das Fraunhofer Institut für Sichere Informationstechnologie personalisierte E-Bücher, in denen der Texte für jeden Leser leicht anders ist. Twix statt Rider, ihr wisst schon. 1%%.%%% Germanisten verlieren ihre Habilitationsmöglichkeiten. Apropos, wer ist dieses Jahr eigentlich aus dem Bundestag geplaggt worden?

15.!6. VEGANER PHANTOMSCHMERZ "Ich trenne meinen Müll. Ich ernähre mich halb vegan, halb vegetarisch, esse aber auch mal ein Stück Huhn, wenn ich weiß, es ist bio. Aber zurück zu Angela Merkel: Sie tritt unscheinbar auf und trotzdem leuchtet sie. " Marusha - Die Welt

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18.!6. KARTON LEER 16:52 Uhr: Ein verdächtiger Gegenstand führt zur Räumung des Sony Centers in Berlin, nahe Obamas Hotel Ritz Carlton. Die Polizei gibt bald Entwarnung: Der Karton wurde überprüft, er sei leer gewesen.

#neuland

19.!6. KORONARE IRONIE Während der Sommerferien in Italien erliegt James Gandolfini einem Herzinfarkt. Mafia-Boss Anthony "Tony" Soprano Sr. im Gespräch mit seiner Therapeutin Dr. Melfi über Panikattacken und Probleme mit dem Herzen: "This isn't painful. Getting shot is painful. Getting stabbed in the ribs is painful. This ... isn't painful. It's empty. Dead."

ICH GLAUB SIE HATTE HASH GERAUCHT

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!7 !3.!7. HOODIE Zwei Justizbeamte betreten den Gerichtssaal von Sanford, Florida, in ihren Händen ein flacher, großer Kasten. Zwei Scheiben in Form eines Kreuzes sind in das Holz eingelassen, dazwischen: "Hooded Sweatshirt worn by Trayvon Martin".

Mit dem Freispruch von Neighborhoodwatchman Zimmermann avanciert der graue Hoodie rund um den Globus zum Emblem der Sympathisierung mit dem 17-Jährigen, dessen Pullover ihm nach dem Kauf einer Packung Fruchtdragees zum tödlichen Verhängnis wurde. Das 2$15 eröffnende "Smithsonian National Museum of African American History and Culture" in Washington, D.C. will Martins Hoodie künftig in seine Sammlung aufnehmen.

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!4.!7. #NEWRULES Jay Z setzt dank einem App-Deal mit Samsung schon vor der eigentlichen Veröffentlichung seines neuen Albums "Magna Carta Holy Grail" (leider nicht so geil) eine Millionen Einheiten ab. Sellout? Geschickte Kampfansage der Koreaner an Apple? "MCHG" geht jedenfalls instant Platin und wirbelt die Zählweise der Billboardcharts gehörig durcheinander.

17.!7. DER SCHWULE BALL Der DFB gibt eine Anleitung zum ComingOut für Profis und Gau-Ligen heraus. Die Olympiade findet trotzdem nur für Heteros statt. In Russland werden unterdessen weiter LGBT-Kids gefoltert, und im November nagelt der Performance-Künstler Pyotr Pavlensky "gegen Apathie, politische Indifferenz und Fatalismus" sein Gemächt auf den Roten Platz in Moskau.

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C T M 2 0 1 4 — F E S T I VA L F O R ADVENTUROUS MUSIC & ART

!1.!8. HEIMAT Edward Snowden erhält vorläufig Asyl in Russland. Für Putin ist das "ein unerwünschtes Weihnachtsgeschenk". !8.!8. TOTMANNEINRICHTUNG Wie wehrt man sich gegen staatliche Beeinflussung, wenn man nicht erwähnen darf, dass es einen Beeinflussungsversuch gab? Entweder gibt man harakirisch rechtzeitig den Betrieb auf - siehe Lavabit - oder man installiert eine so genannte Totmanneinrichtung: ein Knopf, den man ständig gedrückt hält, solange es einem gut geht. Sobald etwas passiert, etwa ein staatlicher Einmischungsversuch, hört man auf diesen Knopf zu drücken und alle Welt weiß: aufpassen!

Aber ist das legal? An solchen Gedanken sieht man: Mit dem Ende des Informationszeitalters ist nicht zu spaßen!

DIS CON T

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1 5 T H E D I T I O N 24 .1 . — 2 . 2 . 2 0 1 4 B E R L I N

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26.!8. WOLFGANG HERRNDORF "Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2#13 gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen." Das prangt seitdem ganz oben auf dem Blog "Arbeit und Struktur" (www.wolfgang-herrndorf.de), den der Schriftsteller zu schreiben begann, nachdem ihm im Februar 2"1" ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert wurde - just zu dem Zeitpunkt, als sein Roman "Tschick" zum Bestseller abhob und den zuvor immer armen Künstler zum reichen Mann machte. Herrndorf verarbeitete seine Krankheitsgeschichte praktisch in Echtzeit, in Einträgen, in eindringlichen kleinen, todtraurigen Texten. Das war etwas ganz anderes als Rainald Goetz das mit seinen bisherigen Blogformaten gemacht hatte. Die befreundete Autorin Kathrin Passig verkündet den Selbstmord am Ende via Twitter, Sascha Lobo postet auf Instagram ein Erinnerungsfoto aus Fuerteventura. Herrndorfs letzter Kommentar am 2"."8. um 14."" Uhr: "Almut." Der Name der eine Woche zuvor an Krebs gestorbenen Berliner Musikerin Almut Klotz.

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HAU HEBBEL AM UFER / BERGHAIN S TAT T B A D / K U N S T R A U M

12.!8.

DIE üBERWACHUNGSAFFäRE IST VORBEI Kanzleramtschef Pofalla erklärt nach einer Aussage im Parlamentarischen Kontrollgremium, dass die Vorwürfe einer flächendeckenden Ausspähung der Deutschen Bürger durch die USA und Großbritannien "vom Tisch" seien. Weil: USA und Großbritannien haben das so gesagt. Ein paar Wochen später rudert der Vize-Regierungssprecher für Pofalla zurück: Der Minister habe sich nur auf Teilaspekte, nämlich die konkreten Vorwürfe der massenhaften Überwachung deutscher Bürger bezogen. Na, dann.

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KREUZBERG/BETHANIEN / ASTRA AND MORE

W W W. C T M - F E S T I VA L . D E

GR AFIK ~ STUDIOGR AU.DE

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"9 1"."9. DROHNEN, SCHULD UND POPMUSIK "I have a capacity for war. I have a capacity for hate. I have a capacity for insanity. For anger. For lies. 525,6$$ minutes times 2, before I break into an explosion of thoughts, of insurgents and soft kills, and career moves. Capacity for destruction. Capacity for loss. Capacity for death, violence, nothingness. 24 months of pain and disgust. Actions of my hands accuse me. Guilty, charge. Unclear clear details and shaky intell, but still I pull the trigger. There’s a limit to madness. Gague clocks out at two years, but they serve up poison like entrees at Blueberry Hill. Crazy with a side of numb. It took 63.72$.$$$ seconds to go from me to somebody else." DroneOperatorin Lynn Hill auf "Holding It Down: The Veterans' Dreams Project" vonVijay Iyer & Mike Ladd.

21."9. PIRATENMARSCH Weil viele typische Piratenwähler keinen Festnetzanschluss hätten, orakelt Parteienforscher Jürgen Falter kurz vor der Bundestagswahl, seien sie unterrepräsentiert in Telefonumfragen zur Wahl. Die Piraten könnten bei der Auszählung ein blaues Wunder erleben, Sektflaschen Marsch! Aber Pustekuchen: Die Piraten wollte nicht etwa deswegen niemand wählen, weil sie sich selbst zerfleischten oder kein Wahlkapital aus der Überwachungsaffäre schöpften, sondern weil sie Teil des Problems und nicht der Lösung sind. Siehe: FDP.

1"."9.

"UNAPOLOGETICALLY PLASTIC" Der feingeistige Muskelmann Jony Ive, Chefdesigner von Apple, findet den Begriff für Smartphones aus Plastik, nach dem Samsung seit 1998 gesucht hat. 2"."9. FDP/AFD Das spannendste Duell der Bundestagswahl 2%13 ist das Limbo-Ringen der FDP und der AfD vor der Fünf-Prozent-Hürde. Die eine Partei als armselige Erinnerung an eine Zeit vor der Finanzkrise, die andere eine Warnung vor der Zeit danach. Beide marktfixiert, beide ulkig, weil nur mehr pseudorelevant. Platzhalterparteien. Siehe auch: Piraten.

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22."9. MUSIK, POLITIK, JUGEND "Es gibt für kein Land, für keine Gesellschaft, für unsere ganze Welt keine Zukunft, wenn wir nicht alle lernen, solidarischer zu sein. Solidarität also als Art und Weise, Geschichte zu gestalten, als Lebensraum, in dem Konflikte, Spannungen, ja auch die Gegensätze zu einer Harmonie gelangen, die Leben schafft. Darin, an diese Realität der Begegnung in der Krise denkend, bin ich bei den jungen Politikern auf eine andere Art des Politikverständnisses gestoßen. Ich sage nicht, eine bessere oder schlechtere Art, sondern eine andere Art. Sie reden anders, sie suchen… ihre Musik ist anders als unsere Musik. Haben wir keine Angst! Hören wir sie, sprechen wir mit ihnen. Wenn sie eine Intuition haben: öffnen wir uns für ihre Intuition. Es ist die Intuition des jungen Lebens. [...] Um uns bei der Begegnung zu helfen, wird es uns helfen, die Musik dieser jungen Politiker, 'Wissenschaftler', Denker anzuhören." Papst Franziskus in einer Ansprache zur "Begegnung mit der Welt der Kultur".

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27.#9. BARILLA GENUDELT

Gibt es LGBTfeindliche Nudeln? Ja. Barilla. Hätten wir vorher auch nicht geahnt.

Bild: Ana Bidart - Impractical data behance.net/anabidartstudio

24.#9. KANYE WEST UND DIE LEDERNEN JOGGINGHOSEN Schon im Frühjahr versucht Kanye West mit Hilfe seines genial-größenwahnsinnigen Wutanfalls "Yeezus" der Welt klarzumachen, er sei ihr Nabel, ja, sogar der Nukleus des Ganzen. Ein neuer Steve Jobs. Im Herbst holt er dann erneut zum revolutionären Rundumschlag aus. Und der inkludiert lederne Jogginhosen genau so wie dreidimensionale Musik, den Glitch aus Disneys "Wreck-it-Ralph"-Film, Kontrollmechanismen der Gesellschaft und das Grundrecht auf sauberes Wasser. Kanye West als denk- und zitierwürdiger NörgelNostradamus: "I'm a postmodernist, at best, as a career. I’m a futurist, mentally." 24.#9. "AN TAGEN WIE DIESEN" Die Toten Hosen verklagen die CDU nach einer nicht autorisierten Coverversion der Spitzenkandidaten am Wahlabend auf Schadenersatz auf einen zweistelligen Millionenbetrag. In einem Statement der Band heißt es: "Die Bilder vom Sonntag einer zu unserer Musik tanzenden und schunkelnden CDU-Führung haben unser Image als 'Punker-Combo' nachhaltig und dauerhaft beschädigt. Niemand wird uns das mehr abnehmen. Unser Verkauf von Tonträgern, Konzertkarten und Heizdecken mit unserem Logo ist seit Montag vollkommen zusammengebrochen. Und die Märkte erwarten keine Erholung."

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27.#9. SOAKIN' THIS IN! Farewell bei Microsoft - Applaus in Blau, Ballmer in Gelb: "My last song is one I've always wanted to use, but it always was deemed inappropriate. It's a great song! And I wanted to pick a song that is exactly perfect! A song that lets me say thank you. A song that looks back retrospectively, and a song that celebrates the future. It's from one of my favourite movies, one of my favourite songs. It's a song that comes at the very end of a movie where one of the actors gets on stage and talks about kind of how he likes to do things. I want to end with this song. Respectful, a song that talks about what you've meant for me and what you've done for me. You've made this the time of my ... time of my life!"

3#.#9. CALIFORNIAN BLUES Wir werden nicht mehr sterben. Google hilft uns dabei. Das Times Magazin erklärt in einer Titelgeschichte, dass Larry Page und Co nun offiziell an der Erforschung von Alterungsprozessen und deren Verhinderung arbeiten. Bereits die Investition in den GenomanalyseBringdienst 23andme zeugt von dem Interesse des Unternehmens am Bereich Biotechnologie und Genomforschung. Das neue Projekt heißt Calico: "California Life Company" und markiert den Wiedereinstieg Googles in den Gesundheitsmarkt, aber bedeutet auch eine ureigene Erinnerung an die kalifornische Ideologie und ihren Glauben, dass der technologische Fortschritt der Informationsgesellschaft unweigerlich auch zu einer besseren Gesellschaft führe. Mitte des Jahres hat auch Apple das Bedürfnis, seine kalifornischen Wurzeln zurück ins Gedächtnis der Konsumenten zu rufen. In den Werbeclips zur "Designed by Apple in California"-Kampagne werden feelige Bilder mit 1$4 Wörtern aus dem Off aufgefüllt, die eine Atmo-Lanze für minimalistisches Design und Menschlichkeit brechen, und ganz viel Vibe zwischen gutes Produkt und noch viel besseres Leben packen. Der Subtext allerdings heißt: Wir hier in Kalifornien sind viel originaler als die da (Samsung) in Asien. Die Werbung floppt.

Derweil in Deutschland: Dort nimmt man sich der Geburtsstunde, beziehungsweise dem Archiv der Kalifornischen Ideologie an. Eine - unter anderem von Poptheorethiker Diedrich Diederichsen kuratierte Ausstellung im Berliner HDKW präsentiert die Welt ausgehend vom zwischen 1968 und 1972 von Stewart Brand publizierten "Whole Earth Catalog": Der Katalog, der für viele eine Vorform heutiger Suchmaschinen darstellt, und bis heute die Bibel von IT-lern und Technohippies bedeutet, bringt eine wilde Sammlung an Dingen zusammen, die ein neues planetarisches Denken repräsentierten sollte, avancierte Technologie vorstellte und den Kommunaden im wilden Westen praktische Hilfe bot. In dem sehr lesenswerten Katalog zur Ausstellung kann

die amerikanische Umweltbewegung sowie aufsteigende Computerkultur der Bay Area in Kalifornien nachvollzogen werden, aus der später der digitale Netzwerkkapitalismus hervorgehen sollte - welcher wiederum die Globalisierungseuphorie der New Economy maßgeblich beeinflusste und heute zum großen Anthropozän führt. Der Katalog heißt: "The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen". Kalifornien 2$13 fühlt sich zunehmend bedrängt und flüchtet vom Außen nach Innen. Plus: Auch Google stellte dieses Jahr durch Motorola ein Telefon vor, das "can even be designed by you and will be made in the USA". Wer will da ans Sterben denken.

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1# #2.1#. SILK ROAD STECKER RAUS UND REIN Als The Dread Pirate Roberts, der Kopf hinter dem TOR-verschleierten DrogenAmazon Silk Road, von amerikanischen Beamten festgenommen wird, landen drei eng mit der Silk Road verhandelte Topoi auf der Schlachtbank: der Drogen-, der Bitcoin-beschleunigte Geld- und CryptoAnarcho-Kommunikations-Libertarismus. TOR als der Versuch eines alltagstauglichen Surfschutzes für die Internetaussteiger war da eh längst bankrott. Schon im August zeigte das FBI, dass es TOR unterwandert hatte und User identifizieren konnte ("Freedom Hosting"), die NSA hatte eine Hintertür im offiziellen TOR-Bundle untergebracht und überhaupt: Drogen im Internet bestellen? Gaga! Interessant:

Neun Prozent aller BitcoinUmsätze wurden bei Silk Road gemacht, trotzdem steigt der Bitcoin-Kurs nach dem Silk-Road-Fall massiv. Könnte aber auch daran liegen, dass das chinesische Netzwerk Baido jetzt Bitcoins akzeptiert. Oder dass das Silk-Road-Aus das Vertrauen in die Legitimität der neuen Währung usw usf. Ein paar Tage später sind diverse Silk-RoadAbkömmlinge wieder da, ein paar Wochen später ein waschechter Silk-Road-Klon. Drogen, Sex und freie Märkte, das sind auch nur nüchtern Widersprüche. #3.1#. FPÖ IS NOT ON THE GUESTLIST Auch in Österreich hat das Wahlvolk sie nicht mehr alle. Dank FPÖ-Rechtsruck im Land schließen mutige Clubs wie die Grelle Forelle und das Crazy im Flex die Pforten für Ausländerhasser. Exstasysüchtige Möchtegernnazis sind empört. 11.1#. HUFFPO THE HUFF Auch in Deutschland dürfen Blogger jetzt umsonst für die Münchner Verlage arbeiten. Die deutsche Huffington Post ist da!

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15.1#. HIPSTER MERKEL Die Social Media-Auftritte der großen Tageszeitungen entdecken das Meme für sich und posten jeden TumblrSchnellschuss ins Mittagstief. Kai Diekman umarmt erst das gesamte Silicon Valley und dann die Welt, Pofalla beendet Dinge und via Blitzretusche wird "Hipster Merkel" (sic!) mit den uralten Klischees zwischen Fensterglasbrille und Dreiecksfetisch zugekleistert.

Und alle so: yeaaah! 18.1#. LAMPEDUDADUDADU Während dieses Jahr vor Lampedusa mehr Flüchtlinge ertrunken sind, als USA-Drohnen Kinder gekillt haben (oops!), und auch das waren nicht wenig, räumt Hamburg schon mal auf mit den dunkelhäutigen Stromern rings um die Asyl-Kirchen. Dabei wird im Bundestag noch gar nicht scharf geschossen. 2#.1#. HIPSTERFALLEN IN CHICAGO Glaubt man den Popbitch-Spöttern, haben sich die Barkeeper Chicagos zu einer Runde Demütige-den-Hipster verabredet. Sie setzen gemeinsam das Gerücht in die Welt, es gebe einen neuen Cocktail und warten auf die Hipster, die unbedingt das neuste ausprobieren wollen. Im Oktober war das der Furball, eine furchtbare Mischung aus Zimtwhisky und Fernet Branca. Im Osten kennt man das schon länger als Becherovka. 22.1#.

SMART APPLIANCES In Russland tauchen Bügeleisen aus chinesischer Produktion auf, die werkfrisch mit Chips im Getriebe ausgeliefert werden, die zu offenen Funknetzwerken in der Umgebung Kontakt aufnehmen um sie zu infiltieren. Das ist der erste nennenswerte Echtweltfall von Smart Appliances (sprechender Kühlschrank, shoppende Mikrowelle) und ein Zeichen dafür, dass Informationskriminalität endgültig der Pornographie etwas voraus hat.

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23.1".

DEUTSCHLAND DU OPFER GIB HANDY 23.1". BODY-APPS: SELBSTVERMESSERER Die erste Serie des subkutanen SensorChips Circadia soll bereits in kurzer Zeit in Serie gehen und für 5$$ Dollar zu erwerben sein. Tim Cannon, Biopunk und Hacker, lässt sich den Smartphone-großen Chip einpflanzen und geht sehr wahrscheinlich mit diesem "Body-Modification-Schritt" in die Geschichte ein. Ab dem Moment der Einpflanzung kann Cannon seine Körpertemperatur, mit einem Blick aufs Handgelenk, dauerhaft im Auge behalten und bekommt im katastrophalen nicht zu vorhersehbaren Moment des Fiebers eine SMS mit einer Warnung an sein Handy geschickt. Ein blinkendes Licht macht sich unter seiner Haut bemerkbar. Können Apps in Zukunft die Wahrnehmung unseres körperlichen Zustandes ersetzen? Doch was geschieht wenn der Empfang nun mal gerade nicht so gut ist oder durch stundenlanges whatsappen, sharen, liken, subscriben, clouden, callen und posten der Akku leer ist? Update auf Circadia 1.1. 25.1". KIRCHE FÜR NETZNEUTRALITÄT Das Zentralkomitee der Katholiken fühlt sich unter dem neuen Papst ganz frei und widmet sich dem digitalen Nirvana. Freie Fahrt auf den Datenautobahnen für gläubige Bürger. Netzneutralität ist wie der heilige Geist. Unbezahlbar. 27.1". BRITNEY EVAKUIERT SOMALIA Superselfie-Delegierte Britney - "work bitch!" - setzt unlängst auch Standards in akustischer Kriegsführung: "It's so effective the ship’s security rarely needs to resort to firing guns. As soon as the pirates get a blast of Britney, they move on as quickly as they can", erzählt Offizierin Rachel Owens über den Kulturschock, mit dessen Hilfe millionenschwere Tanker unversehrt an der somalischen Küste vorbeigeführt werden. Haben wir nicht noch ne Ladung Bose QC 2$ abzugeben? 28.1". DER DIGITALE VERRAT Ranga Yogeshwar schreibt in der FAZ über das verwanzte Vollkornbrötchenfrühstück in der Studentenbutze seiner Tochter und fragt sich gegen Ende seines Überwachungsselbstversuches: "Wie

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lange wird es wohl noch dauern, bis kalte Algorithmen uns den Spiegel unserer eigenen Zukunft vorhalten? Wie lange wird es brauchen, bis wir den digitalen Porträts mehr vertrauen als den Menschen aus Fleisch und Blut, wie lange, bis die Mündigkeit des Bürgers von der Maschine aufgelöst wird?" 3".1". ZU SCHÖN UM BLUNT ZU SEIN: Als Außenseiter ins Rennen gestartet, erhält James Blake den Mercury Preis in der Kategorie bestes Album mit "Overgrown" und wird bei der Ausrufung des Gewinners schmerzhafterweise mit James Blunt verwechselt. 31.1". HALLOWEEN BLACKFACES Halloween dient längst als Freifahrtschein für rassistische Maskeraden. Mileys 1999-Lil-Kim-(inklusive-dicker-Lippen)Outfit ist gerade noch zu verkraften, aber Trayvon Martin-Hoodies mit Einschusslöchern und angemalten Blackfaces? Amazon bietet die skrupellose Verkleidung für's nächste Jahr: den Kopf des Kenianischen Premierministers (namenlos) in dunklem Latex.

www.monkeytownrecords.com

"Great way to spread a solemn up right atmosphere at any party. Realistic costume head mask great for parties, gag, Harlem Shake etc." Say what?!

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11 !4.11.

KEINE HEIMAT

Die Bundesregierung lehnt Asyl für Snowden ab. Lehnt Snowden die Bundesregierung ab? Den Enthüllungen, lernen wir, folgen Verhüllungen. Mit Ornamenten bleibt alles beim Alten.

!7.11. FJW / ES Franz-Josef Wagner beendet genialisch Edward Snowdens Leben: "Wie schön wäre es, wenn der Whistleblower glücklich in einem Bauernhaus lebt mit einer Freundin, die vielleicht schwanger wird. Und sie ein Kätzchen haben und alles gut wird." !8.11. KEHRTWENDE VORWÄRTS Wie reagiert Schwarz-Gelb auf die Überwachungsaffäre? In den Koalitionsverhandlungen fordert Innenminister Friedrichs Ressort einfach mehr Überwachung: Straßenverkehr, öffentliche W-Lans, mehr Überwachungskameras. Begründung, und das ist natürlich ein Schenkelklopfer: Dass der "Nationalsozialistische Untergrund" seine Verbrechensserie hatte begehen können (keine Rede von "Terrorismus") hätte die Mängel der Sicherheitsorgane der Länder offen gelegt. Wow. Friedrich zieht kurz darauf seine Verkehrsüberwachungspläne zurück. Weil Seehofer.

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Bild: Jonathan Zawada - O zawada.com

ALLES IST JETZT

2"13 war das Jahr des intellektuellen Stillstandes, heißt es einmal im Jahr 2"13. So fühlt sich also die Nachkrisezeit an: Erst ist da eine Krise, dann ist da keine Krise, dann ist. Ein doofes Gefühl, mitten im Weltuntergang zu stehen und nichts explodiert, sondern friert einfach nur langsam ein. Stillstand oder Kriechgang - auch egal! Derzeit gibt es für viele kein Morgen mehr, das man erwarten könnte. Stoische Plattheiten: Erdulden und bloß nichts erhoffen. Für die DE:BUG sind das natürlich tolle Zeiten. Denn wo sich niemand zu bewegen traut, hüpfen wir zielsicher über die Köpfe in alle Richtungen gleichzeitig. Die Zukunft ist in der Krise das Jetzt. Bloß wach sein und alles in sich aufsaugen. Denn solange man sich selbst bewegt - weißte, Relativität - bewegt sich ja alles andere in bunten Bahnen mit.

Foto: Nici Jost

Black Widow

Erika Stucky & Band koelner-philharmonie.de 0221 280 280

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NSA

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DER TOTALITÄRE STAAT ALS ERBE DES KALTEN KRIEGES

Der US-Geheimdienst NSA wurde dieses Jahr aus einem obskuren Randbereich ins Zentrum der globalen Aufmerksamkeit geschubst. Dort hat er sich ganz hurtig zum Kristallisationspunkt der Debatte um die ganz großen, grundlegenden Fragen gemausert: Welche Gesellschaftsordnung, welcher Lebensstil es denn nun sein soll, in der Ära nach dem Kalten Krieg? Dass ausgerechnet die auf Diskretion fixierten Schnüffler sich in dieser Rolle finden, beruht zwar zum Teil auf einem Missverständnis, ist aber trotzdem goldrichtig. Denn das Empörungspotential der NSA speist sich ganz offensichtlich aus dem Gefühl individueller Betroffenheit: Die lesen meine Mails! Dabei schert sich der Schnüffelapparat wohl tatsächlich einen feuchten Kehricht um meine und deine Mails, unmittelbar beschränkt die NSA höchstens die persönliche Reisefreiheit (in die USA) aber mangels Relevanz wohl kaum die Privatsphäre. Mittelbar untergräbt die Totalüberwachung der "Sicherheitsagentur" allerdings demokratische Institutionen und Bürgerrechte, und damit irgendwann auch wirklich die persönliche Privatsphäre. Warum die NSA den totalitären Staat herbeiüberwacht, erklärt sich unterdessen nur aus einer historischen Perspektive, die in der tagesaktuellen Aufregerberichterstattung höchstens am Rande vorkommt.

Denn der Apparat, mit dem wir es heute zu tun haben, ist ein Relikt der Geschichte, wenn auch ein extrem gefährliches, das dummerweise beizeiten nicht entsorgt wurde und jetzt Amok läuft. 22

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Natural Born Lügner Der Urahn der NSA mit dem bezeichnenden Namen "Black Chamber" wurde gegen Ende des Ersten Weltkriegs als Fernaufklärungseinheit des US-Militärs gegründet und 1929 wieder dicht gemacht, nachdem Außenminister Henry Stimson zu seiner großen Empörung feststellen musste, dass auch die Regierungen befreundeter Nationen abgehört worden waren. Gegen den erklärten Willen der Politik wurde das Black Chamber aber nicht begraben, sondern rund ein Jahr später klammheimlich von der US-Army reanimiert. Der resultierende Signal Intelligence Service gilt dann auch amtlich als NSA-Vorläufer und erwies sich im Zweiten Weltkrieg als extrem nützlich - merke: Politiker verarschen zahlt sich aus. Die NSA in ihrer heutigen Monstrosität entwickelte sich anschließend im Kalten Krieg als Zwitterwesen zwischen ziviler Schnüffelei und militärischer Aufklärung, das an vorderster Front die westliche Freiheit gegen die heimtückischem Sowjets, denen jedes teuflische Mittel Recht war, verteidigte. Nun gilt unter Militärhistorikern als Binsenweisheit, dass kriegführende Parteien sich immer ähnlicher werden, je länger ein Konflikt andauert. Der Charakter des Gegners schreibt sich, verkürzt gesagt, in die eigene Identität ein. Das Resultat von 4% Jahren Kampf der Systeme auf Leben und Tod war im Fall der NSA ein Monstrum, das völlig von seiner eigenen Weltrettungsmission überzeugt und gleichzeitig von Lügen, Paranoia und Doppeldenke geprägt war. Neue Barbaren Eigentlich hätte man die NSA 199% abwickeln müssen, wahrscheinlich wäre dies sogar kurzzeitig möglich gewesen. Allein der erklärte Wille fehlte, und die Aufgabe war aus politischer Sicht schrecklich undankbar: 4%.%%% NSA-Mitarbeitern erklären, dass ihr Job erledigt ist und sie doch bitte schön ihren Laden dichtmachen können. Vielleicht war der Apparat aber auch schon zu groß für so ein vernünftiges Ansinnen. Das NSA-Hauptquartier umfasste bereits die halbe Stadt Fort Meade (bei Google Maps aufrufen: überall wo man das Street-View-Männchen nicht absetzen kann, ist NSA-Gebiet) und war für sämtliche Superspezialbedürfnisse ausgerüstet. Bis hin zur eigenen Recyclingfabrik, in der täglich 18 Tonnen Altpapier mehr oder weniger geheimen Inhalts bis hin zu Kantinenspeisezetteln in einem eigens entwickelten Verfahren zu Pizzaschachteln und Klopapier verarbeitet wurden. Nachvollziehbar, dass hier - ähnlich wie im gesamten, aufgeblähten Sicherheitsapparat die Beharrungskräfte siegten und die USA es in der Folge wie Rom nach dem Sieg über Karthago hielten. In "Das Reich und die neuen Barbaren" hat Christophe Rufin brereits 1992 diese historische Parallelfigur beschrieben, nach der sich die allein verbliebene Supermacht in einen asymmetrischen Konflikt gegen den Rest der Welt begibt, wobei Roms "Barbaren" verblüffend exakt die Rollen spielen, die heute "Terroristen" und "illegalen Einwanderern" zugedacht werden. War on Nerds Und so haben wir heute den NSA-Sicherheitssalat: eine im Kampf um Leben und Tod totalitär geprägte Organisation, die gewohnheitsmäßig weltweit alle Kommunikation abhört, die sich abhören lässt; für deren Zwecke jedes Mittel heilig ist, weil sie für das Gute kämpft, weshalb ihre Gegner automatisch die Bösen sind. Und zuletzt, ganz tief in ihrer Geschichte verankert: Geheimhaltung was das Zeug hält, auch gegenüber der eigenen, demokratisch gewählten Regierung. Bleibt die Frage, wie die Welt dieses übrig gebliebene Monstrum wieder loswerden kann? Indem es gnadenlos ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird, weshalb der Held des Jahres genau das richtige getan hat. Denn nichts wirkt so zersetzend auf totalitäre Geheimapparate wie ein gut ausgeleuchteter Platz auf dem Präsentierteller. Im Idealfall zerbricht der Apparat dort unter den ätzend nüchternen Blicken der Öffentlichkeit an seinen eigenen Widersprüchen, von denen auch die NSA reichlich zu bieten hat und die Edward Snowden prototypisch personifiziert. Die alles bestimmende Geheimhaltung führt nämlich zu einer fatalen Selbstvergessenheit. Denn wenn alles schrecklich geheim ist, kann man neue Mitarbeiter auch auf keinen Korpsgeist einschwören. Den braucht es aber, um den Laden innerlich zusammenzuhalten. Und Snowden ist glücklicherweise kein Einzelfall, sondern der typische Vertreter seiner Generation, wie Ex-NSA-Chef Michael Hayden neulich zerknirscht zugab. Sein Nachfolger Keith Alexander hat daher bereits den War on Nerds mit der Ankündigung eröffnet, man wolle die Zahl der Sysadmins um 9% Prozent reduzieren - das Monstrum ist in der Defensive, aber noch lange nicht tot.

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178 — RÜCKBLICK 2013 — TEXT FELIX KNOKE

POST-POSTHEROISCH WER BRAUCHT NEUE HELDEN?

Der Junge mit dem Bart, das ist ein Held. Vielleicht der erste Held, seitdem es keine Helden mehr gibt. Und das sollte zu denken geben. Wir leben in einer postheroischen Gesellschaft. Helden brauchte und wollte lange niemand mehr. Aber dieses Jahr, im Jahr der Krise, hat sich vieles geändert. Vor allem ein Gefühl: Amerika ist nicht mehr der Freund, Deutschland will nicht länger Opfer sein. Die Welt will nicht mehr anderer Leute Krieg führen, ständig und überall. Das individualistische Projekt weicht neuen Hoffnungen auf einen Kollektivismus. Wir gegen sie. Und dann kommt einer wie Snowden und führt uns zusammen - ein Befreiungsschlag. Was er enthüllte, war eine Demütigung: Amerika macht mit der Welt, wie es ihr gefällt. Selbst Angela Merkel war vor Obamas Häschern nicht sicher. Angela. Merkel!

Angelas Handy machte Snowden zum Helden der Deutschen. Das darf man bei aller Freude über den Whistleblower nicht vergessen. Fragt man den Politikwissenschaftler Herfried Münkler nach Snowden, ist die Sache klar: "Snowden ist eine geniale Figur, weil sich an ihm die Geister scheiden. Man kann kaum sagen, es interessiert mich nicht. Man ist entweder auf seiner Seite oder gegen ihn. In gewisser Weise hat er alle Heroisierungspotenziale, die man haben kann." Münkler ist der Verfechter der Postheroismus-These, wonach wir in einer Gesellschaft leben, in der man sich nicht für eine Sache aufopfert. In der man Krieg führen darf, solange niemand zu Schaden kommt. In der Drohnen chirurgische Angriffe fliegen, die ein Überwachungsapparat vorbereitet hat. Der Kollateralschaden dieser postheroischen Kriege sind auch wir, die Opfer der Massenüberwachung. Deutschland, du Drohnenopfer.

Aus dem Dunklen ins Licht Snowden ist eine neuartige Figur. Er kommt aus dem militärisch-industriellen Komplex. Im Krieg ein Hinterbänkler, zivil ein Streber, ein Nerd. Er arbeitet für die Zulieferer der Geheimdienste. Wie Chelsea Manning hat er sich mit Schuld beladen können - und packt jetzt aus. Jetzt, wo die Welt schon untergeht, zeigt er, wie übermächtig der Überwachungsapparat ist. Und wie vergeblich eine Flucht vor ihm. Snowden erklärte der Welt den Krieg: Wacht auf, ihr seid im Krieg und der Krieg ist unter euch. Dort, wo überwacht wird, ist Krieg. Leute wie ich führen Krieg gegen Leute wie euch. Zumindest nehmen wir euer Unheil in Kauf. Snowden ist aus diesem militärisch-industriellen Komplex herausgetreten und hat Wissen aus dem geheimen Raum, der den USA verbunden ist, in einen diffusen öffentlichen Raum gebracht. Er hat der Welt ermöglicht, über die USA zu urteilen. Münkler: "Es gibt einen neuen Heldentypus. Im 21. Jahrhundert hat sich der Raum des Kampfes wie auch die Art der Waffen verändert. Letale Waffen sind tendenziell bedeutungslos geworden, sie sind nicht mehr die Hauptwaffen. Der Raum ist nicht mehr Territorium, nicht mehr der feste Boden, der verteidigt wird. Der Raum ist im Prinzip die Kontrolle der Strahlen. In diesem Sinne sind die Helden nicht mehr diejenigen, die mit Waffen und äußerster Entschlossenheit daherkommen. Diese Helden sind häufig relativ klein, haben dicke Brillengläser und machen einen fast schüchternen Eindruck." Der Siegeszug des Nerds begann mit dem Militär und endet mit dem Militär. Snowden ist eine Verwechslung Snowden ist also ein ziviler Held, der aus dem Militärischen kommt. Das hat er mit Chelsea Manning gemein. Ansonsten trennt sie sehr viel. Manning wollte Verbrechen aufdecken, Snowden eine weltumspannende Struktur, die einer ethischen Neubewertung bedarf. Snowden wollte der amerikanischen Öffentlichkeit eine Diskussion über die Ethik der Überwachung aufzwingen. Die Weltöffentlichkeit war dafür sein Hebel. Also machten die Deutschen den Nerd zum Helden. Sie sind das Kollektiv, das in ihm einen Retter erkannt hat. Einen Bannerträger für die Deutsche Sache. Snowden nutzt den Deutschen. Aber seine rettende Tat, nach Münkler das wichtigste Kennzeichen eines Helden, sollte nicht dem deutschen, sondern dem amerikanischen Kollektiv dienen. Snowden ist der verkehrte Held, eine Verwechslung. Es wäre interessant, zu erfahren, wie Snowden über seine neuen Bewunderer denkt. Er macht bei all dem jedenfalls eine gute Figur. Er hat die Initiative und kann bestimmen, wer von ihm profitieren oder beschädigt werden kann. Darin ist er viel souveräner als der sich selbst zum Freiheitskämpfer stilisierte Assange oder die von Gewissensbissen und Identitätsproblemen gebeutelte Manning. "Das ist bei Snowden genau anders", sagt Heldenexperte Münkler: "Snowden ist eine sehr geeignete Projektionsfläche für unsere Erwartungen und Zuschreibungen." Dass Snowden 2"13 zum Helden wurde, das sollte also auch zu denken geben: Wer machte ihn zum Helden? Und wer braucht einen Helden? Das ist, neben der ganz praktischen Realität der Massenüberwachung, die zweite große Frage dieses Jahres.

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178 — RÜCKBLICK 2013 — TEXT CHRISTIAN BLUMBERG

FILM DES JAHRES MUTTER, DER APPARAT IST DA

Es hat gut gekracht in Hollywood in letzter Zeit. Man sagt, dieses Krachen solle vor allem den grassierenden Zuschauerschwund aufhalten oder ihn zumindest übertönen. Die Explosionen in Alfonso Cuaróns Gravity waren indes meist geräuschlos, sie ereignen sich ja auch im All. Die erste Hälfte dieses Films war wohl das visuell Eindrücklichste, was das Mainstream-Kino dieses Jahr zu bieten hatte: Eine endgültig entfesselte Kamera flottierte in idiosynkratisch gezogenen Bahnen rund um Sandra Bullock und George Clooney (der eigentlich keinen Astronauten, sondern bloß sich selbst spielte). Das war Metakino, aber auch filmästhetische Meditation. Am deutlichsten wurde dies an den Linsenreflexionen, die seit J.J. Abrams Star Trek-Filmen neo flares genannt werden – wobei an ihnen vor allem neu ist, dass sie sich nicht einfach mehr 'ereignen', sondern mit technischem Aufwand erzeugt werden. Während Abrams sich für den exzessiven Einsatz dieser Blendenflecken sogar schon entschuldigt hat, tauchten sie in Gravity konsequenterweise erst auf, wenn Bullock und Clooney im All vollständig auf sich allein gestellt sind. Die Anwesenheit eines optischen Apparates, welche die neo flares zwangsläufig suggerieren, schien deshalb tröstlicher und beruhigender als der Restsauerstoff, der Bullock und Clooney blieb. Das sagt ziemlich viel über Cuaróns Vertrauen in die Kraft des Kinos. Und wer weiß, vielleicht wollte der Regisseur in der für ihren regressiven Subtext (Frau = Mutter) vielgescholtenen Schlussszene nicht bloß die Wiedergeburt Sandra Bullocks als künftige Mutter aus irdischem Fruchtwasser andeuten, sondern gleich eine ganz neue Form des Blockbusters gebären.

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178 — RÜCKBLICK 2013 — TEXT SASCHA KÖSCH Bild: Henry Hargreaves - Deep Fried Gadgets henryhargreaves.com

Klar, da draußen gibt es immer noch Milliarden ohne Internet die mit Wetterballons versorgt werden können (wie Googles Project Loon), es gibt immer noch Milliarden die nicht in den zweifelhaften Genuss von mehr Anzeigen in ihrem Facebook-Stream gekommen sind. Aber hohe Gewinnmargen sind nicht zu holen, wenn das neueste Low-End-Lumia jetzt auch im Sweatshop in Bangladesh ein Renner ist - und schon gar keine Begeisterung für den nächsten digitalen Tinnef.

Die Flaute der Zukunft jetzt auch mitten unter den GadgetGläubigen? Ist das alles wirklich dem vorzeitigen Ausscheiden von Steve Jobs geschuldet? Niemand mehr, der uns klar macht warum ein neues Gadget ein Muss ist?

FAHRVERBOT FÜR GOOGLE-GLASS-TRÄGER DAS JAHR OHNE KILLERGADGET

Neues Smartphone? So what! Neues Tablet? Noch eins? Die Gadget-Industrie hat ein Problem. Die weltwirtschaftsankurbelnden neuen Produktkategorien haben Flaute. Das nächste Killergadget ist nicht in Sicht. Schwindelerregende Wachstumsraten flachen bei Smartphones und Tablets ab. Richtig Geld haben damit sowieso immer nur zwei gemacht. In der Zukunft steht das große Fragezeichen und droht mit einem Generalkollaps der Tech-Aktien. Ein schüchterner Ruf nach Smartwatches? Doch endlich die digitale Brille für alle? Nichts davon wollte dieses Jahr durchstarten.

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Und so sehr Android noch die Apple-Aufholjagd genießen kann, muss nächstes Jahr eine neue Gattung von Gadgets auf den Tisch, sonst sind nicht nur die Konsumenten Feature-müde, sondern eine ganze Industrie verliert ihre Perspektive.

Digitale Arts & Crafts Wir können es noch nicht einmal auf Snowden schieben, auf eine neue Vorsichtigkeit gegenüber allem was Daten sammelt. Denn die Zukunftsflaute hatte sich schon lange angekündigt: Fahrverbot für Google-Glass-Träger. Smartwatches ein Thema für Kickstarter. Unser Problem: Entweder haben wir schon alles, was wir im digitalen Alltag brauchen, oder aber der nächste Schritt ist einfach zu peinlich oder unheimlich. War bereits genug Future-Shock und wäre jetzt Zeit für die kleinen aber feinen Dinge des Lebens? Jegliche Überlegung in diese Richtung, auch der crowdgefundete Hardwareboom für die diversen Kleinstgeräte, Minineuerungen und Anti-allround-Technikhits helfen am Ende den Monstern der Industrie nicht. Sind das schon die Vorboten der globalen Dezentralisierung? Ist die Zeit, in der eine Handvoll Firmen die Welt regierten schon vorbei? Wird jetzt von Legebatterien der Zukunft umgeschaltet auf digitale Arts & Crafts? Klingt zu schön um wahr zu sein. Was es aber nicht sein wird, sind bessere Auflösungen, schnellere Prozessoren und dufteres Touchgefühl. Wir würden ja an die Brille glauben, wenn das Problem nicht im Detail läge. Nicht genug Batterie, zu schlechte Spracherkennung, zu teure und auf Download konzentrierte Konnektivität. Genau diese drei banalen Faktoren halten die Zukunft auf Eis, vergällen einem den Umstieg von Text-Zukunft auf Sprache, vom Knapsen zum Schwelgen im digitalen Überfluss, und vom Traum ungebundener Technologie ohne Laderettungsleine. Das Killergadget für 2"14? Noch ein Jahr durchhalten bis wirklich ein Durchbruch möglich wird.

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TEXT FELIX KNOKE

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BACK TO LIFE DIE RÜCKKEHR VON VIRTUAL- UND AUGMENTED REALITY

Was ein Computer ist, stand mal wieder zur Debatte: Nach der Smartphone-Wende sollten neue, unsichtbare Interfaces den Umgang mit materialisierter Rechenkraft verändern. Doch die Welt wartet zusammen mit uns noch auf wirklich interessante Smartwatches und -brillen, intelligente Assistenzsysteme, vertrauenswürdige Sprach- und Gestenerkennung und die Erfüllung all der Träume einer Big-Data-verwalteten Alltagskybernetik. Und selbst die neuen Spielkonsolen von Microsoft und Sony können keine Hoffnungen mehr schüren: sie sind einfach nur fortgesetzte Entwicklung, Meilen- und keine Stolpersteine. Dann regte sich doch noch etwas, und zwar ausgerechnet in den Indie-Bastelstuben: Virtual-RealityHelme (VR) und Augmented-Reality-Hilfsmittel (AR), und zwar diesmal wirklich!

Endlich können die 8$er- und 9$erJahre Hoffnungen auf wirklich immersives, transgressives Spielen wahr werden.

Verhinderten technische Probleme (geringauflösende und langsame Displays, ungenaue Bewegungserkennung, fehlende Rechenkraft) bislang die ja eigentlich konzeptionell sehr zahmen VR/AR-Ideen, ist die Technik jetzt soweit. Leuchtstarke und hochauflösende Minidisplays können in federleichten Helmchen untergebracht werden, Computern fällt es nicht mehr schwer, extrem schnell und mit sehr geringer Latenz zwei 3D-Bilder gleichzeitig zu berechnen. Fortschritte in der Bildverarbeitung und bei den hochpräzisen Beschleunigungssensoren erlauben Entwicklern endlich, Bilder der echten Welt mit computergenerierten Bildern zu verschmelzen. Die Konsequenz: Eine Vorabauflage der Oculus Rift Virtual-Reality-Brille zeigte, dass VR endlich funktioniert (bei Youtube sieht man diverse Probanden vom Stuhl kippen und Spiele-EntwicklerInnen OR-Support versprechen). Augmented-Reality-Spielchen, -Tools und -Kunstwerke geben den abgeschmackten Handys und Tablets ein wenig Zukunftsgeruch. Der geradezu LowtechAnsätze von CastAR vereint endlich die Bilderfusion von AR mit der Immersion von VR: Eine Brille projiziert zwei Teilbilder auf eine relektierende Oberfläche, die dadurch zum 3D-Display wird. Viel Bastelei, sicherlich nur der Anfang einer Entwicklung. Dass diese Hinterhof-Entwicklungen trotzdem ernst zu nehmen sind, demonstrierte dann Sony im Herbst: frühestens im nächsten Jahr soll es für die Playstation 4 eine eigene VR-Brille geben. Und da Oculus Rift so viele Entwickler fasziniert, dürften auch andere Hersteller schnell mit solchen Brillen aufwarten. Spätestens dann, mit der Eingliederung in den Massenmarkt, wird sich auch zeigen, ob VR und AR wirklich mehr sind, als eine machbare Hightech-Spielerei. Denn der letzte 3D-Trend, das 3D-Fernsehen, war ja auch nie mehr als das: ein Versprechen von Zukunft, das arg abgehangen wirkte. Gerade 2$13.

DE:BUG RüCKBLICK 2#13

Virtual-Reality-Systeme versuchen eine möglichst vollständige Simulation der Welt. Derzeit vor allem mit verdunkelten Helmen, in denen Displays direkt vor den Augen der VR-Besucher montiert sind und deren 3D-Bild auf die Kopfbewegungen reagieren. Augmented Reality ist die Überblendung von Bildern der echten Welt mit computergenerierten Bildern. Zusammen ergibt sich die aufgemotzte, die augmented Reality.

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178 — RÜCKBLICK 2013 Bild: Fabian Oefner - Iridient fabianoefner.com

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TEXT JAN WEHN

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SUPERGENRES 365 TAGE KLANGLICHE GLEICHSCHALTUNG

Mal ehrlich, weiß noch jemand, was Sea Punk eigentlich genau war? Nee? Ist eh superschwierig zu erklären. Balearic Pop? Nightcore? Chiptune? Trap Wave? Bei den Genre-Zuschreibungen, die in den letzten Jahren im Akkord in die vorbeiziehende Cloud geschossen wurden, verlor man irgendwann den Überblick. Aber die Labels (zwecks Vermarktung) und auch wir (zwecks Einordnung) haben fröhlich mitgemacht und uns dabei überschlagen, möglichst findige Bezeichnungen für die neuesten musikalischen Spielarten zu erdenken. Haben wir nicht alle die beschwipsten Bässe des Aquacrunk abgefeiert und uns vor Witch House gegruselt? Heute klingt diese Kategorisierungs-Competition bereits wie aus einer längst vergangenen Zeit. Der Tod regionaler Musik Das wirklich neue Ding wollte uns in diesem Jahr statt dessen nicht so richtig unterkommen - weder in der sonst so um Innovation bemühten Indie-Nische noch in der MainstreamMusik. Und das hat einen ganz einfachen Grund: Denn das ewige Ausloten der "Genre-Grenzen", der bedingungslos abgefeierte Eklektizismus der letzten Jahre hat sich selbst ein Schnippchen geschlagen. Schon 2"12 dachten findige Blogger über die "Brooklynization" und den damit einhergehenden Tod regionaler Musik nach. Die Idee: In den gentrifizierten Kiezen akkumulieren die Künste. Folglich strömen die mittellosen Musiker vom Lande ins Epizentrum der Coolness und vergessen auf dem Weg dorthin ihre Eigenständigkeit. Sie werden Teil einer klanglichen Gleichschaltung. Brooklyn steht dabei eigentlich nur synonym für das Internet. Heute hat jeder Dreikäsehoch das Samplen bei Dillas "Donuts" gelernt, will in Sachen Songwriting aber mehr so sein wie Frank Ocean. Was die Inszenierung angeht, schmeckt einem die gesichtslose Masche von Zomby ganz gut und Machinedrum setzt seine Drums doch so geil. Lass das auch mal probieren! So weit die Vorgehensweise bei den hip teens. Bei den ganz Großen läuft es aber nicht anders. David Guetta hübscht sich seinen Ekel-EDM mit MC-Gastbeiträgen von Spezis wie Flo Rida auf. Für Außenstehende findet die Freestyle-Cypher also fortan in der Großraumdisco statt. Trance-Heroen wie Avicii holen sich ihren alternativen Input aus der Folk-Ecke, HAIM spielen die Popkarte mit Roots-Rock-Unterbau, während Lorde auf dem Abschlussball und im urban radio gleichermaßen laufen. Irgendwie war von allem überall ein bisschen drin und das machte die Einordnung der Musik mindestens genau so schwierig, wie das Aufdröseln ebenjener in ihre Einzelteile.

Der state of the art im Staate Pop 2"13? Eine alles absorbierende Superspielart, für die stets bemühte Musikkritiker im Internet den Begriff des Monogenre auserkoren haben. Der exzessive, ungefilterte Popkulturkonsum, ohne Backlash und Backkatalog, ist vermutlich ein unabdingbares Phänomen unserer Zeit, der nächste logische Schritt in der evolutionären Entwicklung der heute Erwachsen-werdenden, wie man so schön sagt, Millennials. Notorious BIG, Madonna, Miley Cyrus, Dirty Dancing, Girls, Drake, Michael Jackson – das ist alles eins und alles geil. Kids werfen am Laptop ihre ganz persönlichen Coolness-Komponenten in das Set-Up-Füllhorn, schauen sich ein krudes Kunstgriffgemisch ab und verheddern sich dabei in der, diesem Überfluss geschuldeten Beliebigkeit. Dieses Statut zum Ende des Jahres soll aber weiß Gott kein kulturpessimistisches Pamphlet sein. Natürlich zogen wir 2"13 die 12" mit dem straighten Techno-Traditionalismus aus der Post und die rumpelnden Rap-Alben auf die Festplatte. Und Strategen wie James Ferraro bewiesen mit ihrem Vaporwave und der artifiziellen Abarbeitung am Zeitgeist, dass da noch Luft nach oben ist, bevor sich im postmodernen Wahn irgendwann alles in ein riesiges großes Nichts auflöst. Wobei wir ja zugegebenermaßen schon gerne wüssten, wie sie denn klingt, diese Post-Musik.

Mitten im Sound: DJs erzählen Vom Autor des Kultbuchs ›Verschwende deine Jugend‹

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178 — RÜCKBLICK 2013 — TEXT JAN WEHN

PORNOPOP KÜHL, MECHANISCH, LUSTLOS

Zwischen emanzipatorischer Selbstermächtigung und aufmerksamkeitsökonomischen Marketingmaßnahmen patriarchaler Popindustrie: SEx SEx SEx "So wie ich es sehe, darf man sich als Frau zwischen zwei Kategorien entscheiden: Sexobjekt oder Alien", schätzt Austra die Gender-Schieflage auf dem Dancefloor in unserer Titelgeschichte der Ausgabe #173 ein. Aber auch im Mainstream-Pop und seiner Rezeption lief einiges schief. Da wurde eine noch nie da gewesene Nabelschau betrieben. Moment, "Sex und Pop? Ex und Hopp", denkt ihr. Die mal mehr, mal weniger gelungene Koketterie mit der Kopulation ist doch eigentlich ein alter Hut beziehungsweise eh nie weg, weil praktisch Pop-DNA. Sei es nun Madonnas BDSM-Bekenntnis "Erotica", der Schrittgriff-Trademark des King of Pop oder Elvis the Pelvis' Hüftschwung. Aber die neue Nacktheit im Pop ist eine andere. Wir reden nicht von halbverhüllten Posen, harmloser Softerotik oder clever kodiertem explicit content.

Statt subtiler Sexualität wird jeder hinterletzte Winkel radikal ausgeleuchtet und offengelegt. Rein, raus – fertig! Die komplette Freizügigkeit, nicht nur im körperlichen, sondern auch im seelischen Sinne, begegnete uns in diesem Jahr überall. 32

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Zeit also, sich diesen Drahtseilakt zwischen emanzipatorischer Selbstermächtigung und aufmerksamkeitsökonomischen Marketingmaßnahmen der patriarchalen Popindustrie mal genauer anzusehen. Zum Beispiel Sky Ferreira. Nach zahllosen Versuchen, auf Biegen und Brechen berühmt zu werden, arbeitete die 21-Jährige mit dem Majorlabel im Rücken fleißig an ihrem standesgemäßen Auftritt als Bonvivant mit Hang zum Hedonismus. Folglich feierte Ferreira das Kaputtsein in allen denkbaren Spielarten. Hier ein bisschen heroin chique, da ein Hauch von Anorexie. Dazu passend: der Grunge-Boyfriend, in dessen Beisein man sich von der Polizei mit Pillen aufgabeln lässt. Der selbstverantwortete und anderweitig herbeigeführte Raubbau am eigenen Körper wurde zum Dreh- und Angelpunkt von Ferreiras Inszenierung. Das beste Beispiel hierfür war wohl das Cover ihres Debütalbums "Night Time, My Time". Da gibt das beschlagene Glas einer Duschkabine den Blick auf die nackte Ferreira frei. Die steht klatschnass vor dunkelgrünen Kacheln und schaut wie traumatisiert. Über ihr Kinn rinnt Wasser auf den geröteten Oberkörper hinab. Die Augen, umrandet von dunklen Schatten, die roten Lippen, geschwollen, wirft sie der Kamera einen scheuen Blick zu. Es ist das verstörende Bild einer scheinbar gebrochenen, jungen Frau. Intim, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Aber doch genau dort. Eine seltsame Form des Exhibitionismus. Fotografiert wurde Ferreira vom argentinischen Regisseur Gaspar Noé. Den kennt man seit "Enter The Void" als Spezialist auf dem Gebiet des gepflegten Film-Absturzes. Für die drogeninduzierten Kamerafahrten war seinerzeit Benoît Debie verantwortlich. Debie war es auch, der in diesem Jahr gemeinsam mit "Kids"-Drehbuchautor Harmony Korine Selena Gomez, Vanessa Hudgens, Ashley Benson und Avant-Tausendsassa James Franco für seinen Film "Spring Breakers" im adoleszenten Spannungsfeld zwischen kleinkindlicher Nostalgie und adoleszentem Aufbegehren platzierte. Spannend war mit anzusehen, wie der Film auf der Metaebene für die Jungdarsteller als emanzipatorischer Akt funktionierte. Die Selbstermächtigung ehemaliger Disney-Gewächse der zweiten Generation fand in diesem Jahr auch anderorts statt. Zum Beispiel bei den VMAs. Da hielt sich Miley Cyrus mit Knödelkopf im Bärenbody einen Schaumstofffinger in den Schritt und twerkte fleißig an der menschgewordenen Pole-Dance-Stange Robin Thicke auf und ab. Apropos Robin Thicke: mit "Blurred Lines" schmuggelte der Chef-Chauvi einen Song an die Spitze der Charts, der reiner Sexismus war und mit rape culture spielte. Die eindeutigen "Ich weiß, du willst es doch auch"-Zeilen des Songs wurden sogleich von der Kunstgruppe Project Unbreakable dekonstruiert und bald hielten Vergewaltigungsopfer die Thicke-Parolen in die Kamera.

Aber zurück zu Miley Cyrus. Die gab sich nach erfolgreicher VMA-Eskalation dem Spannerblick vom jüngst zum Perverso-Paparazzo ausgerufenen Terry Richardson hin, schwang sich in ihrem "Wrecking Ball"-Clip zum Abrissbirnenritt auf und ließ keine Möglichkeit der Aneignung afroamerikanischer Kultur aus. Im Zentrum der Erregung stand jedoch etwas anderes: Miley Cyrus’ Zunge, die sie mit Vehemenz in jede verfügbare Kamera hängen ließ. Selten, ja, vermutlich noch nie, wurde daraufhin in dieser Ausführlichkeit über einen Schleimhaut-überzogenen Muskel diskutiert. Sogar über den Belag der Cyrus-Zunge und daraus resultierende Krankheitsbilder zerriss man sich das Maul. Aber wofür stand der Dreh- und Angelpunkt der selbstermächtigten Neuerfindung des ehemaligen DisneyZöglings denn nun eigentlich. Für eine in ihrer sexuellen Symbolik unverkennbare OralsexOfferte? Für eine assoziierte Reaktion also unverhinderliche Begleiterscheinung zur eigentlich ausgeführten Performance in der Tradition von Michael Jordan oder KISS? Oder war die Zunge am Ende gar als ein Zeichen von Trotz, also die verbildlichte Universalpantomime zur Desavouierung des Gegenübers zu lesen. Albert Einstein, anyone? Mit einem Gemisch aus Pedanterie und Prüderie echauffierte sich bald jeder über Miley Cyrus und ihre Zunge. Im Feuilleton las man davon, dass der Popstar "in seiner oralen Phase" (ZEIT) doch nur "die Apartheid im Pop abschaffen" (WELT) wolle. Sinéad O’Connor wollte diese Theorie nicht so recht glauben, zückte umgehend das Briefpapier und machte ihrem Ärger über Mileys Status als Spielball der lüsternen Popindustrie Luft. Und während die Adressierte sich lieber über Sinéads geistige Verfassung lustig machte, ergriff Amanda Palmer das Wort und sprach wiederum Miley mit einem Schrieb den Mut und auch das Recht zu, sich und ihre Selbstinszenierung genau so voranzutreiben, wie sie es für richtig halte. Worüber sich abseits der ganzen Empörung wirklich streiten lässt, ist natürlich die Ästhetik dieser neuen Deutlichkeit. Es war verwunderlich zu sehen, wie wenig wirkliche Erotik in all den PornoPerformances vorkam. Über weite Strecken wirkten die Choreografien kühl und mechanisch, beinahe lustlos – eben wie in einem Hochglanz-Pornostreifen. Vielleicht ist diese neue Form der Darstellung von Sexualität die optische Entsprechung zum emotionalen Zustand einer nur über Bildhaftigkeit kommunizierenden Generation, deren Kindheit bereits von einer nie da gewesenen Deutlichkeit beherrscht wird.

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"Schwule Sau", Jakob Lena Knebl, 2013 Foto: Georg Petermichl

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178 — RÜCKBLICK 2013— TEXT SASCHA KÖSCH Bild: Alex Lukas Inventory #: LUKAS_2013_007 Untitled (Apologies to Ed Ruscha), 2013 alexlukas.com

NULL-EURO-ÖKONOMIE ZWISCHEN GEMA UND GRUNDEINKOMMEN Deutschland 2"13. Wir sind Exportweltmeister. Haben verschwindend geringe Rekordarbeitslosenzahlen und träumen von real-antisozialistischer Vollbeschäftigung. Wir ziehen den Euro aus dem Sumpf. Der DAX jubelt von einem Höhenflug zum nächsten. Der Republik geht es so gut wie nie. Deutschland 2"13. Die Verlage machen ihre Blätter dicht im Ramschverkauf, mit Leistungsschutzrecht und digitaler Dividende. 2,8 Millionen Arbeitslose aber sechs Millionen in Hartz IV. Antieuropäer bringen fast die Rechtsradikalen in den Bundestag. Meckern auf hohem Niveau? Und die Musik? EDM boomt, elektronische Musik ist so stark wie nie. Selbst Deephouse feiert in England schon wieder Charterfolge und ist heißer als Eminem. Und die Vinyl-Verkäufe sind Jahr für Jahr in stetigem Aufwind: Rekordzahlen, wie schon seit den 8"ern nicht mehr. Und die Musik? Die limitierte Auflage von 2"", 3"" Stück ist längst zum Dauerzustand geworden. Breakeven ist das neue Ziel. Mit Vinyl-Verkauf macht nun wirklich niemand mehr Geld. Ein Wunder, dass Vinyl aber dennoch seinen Hype hält, statt zur Ausbeutungsmaschine der Eitelkeit elektronischer Künstler geworden zu sein. Wir bluten gerne für die schwarze Kunst. Digitale Querfinanzierung? Nur in absoluten Ausnahmefällen. Die gute alte CD macht immer noch das Geld in Deutschland, der letzten Bastion

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der "haptischen" Silberware. Was die Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände (BDMV) frohlocken lässt, steht am Himmel der Zukunft wie die Drohung vor dem besonders tiefen Fall. Und dann auch noch Spotify, YouTube und wie sie alle heißen. Meterware Abrechnungen mit Pfennigbeträgen, die sich - man sieht gerne zehn Mal nach - doch zu nichts summieren. Zu nichts, außer vielleicht einem Fahrschein für die U-Bahn oder einer kaputten Ukulele auf dem Flohmarkt. Nahezu täglich meldet sich ein, zugegeben meistens alternder Künstler und vermeldet: Die Musikindustrie ist tot. Wir sind die Sklaven der Content-Industrie. Und die Industrie, Musikindustrie mit eingerechnet, freut sich derweil über steigende Streaming-Einnahmen, ist Shareholder immer neuer Firmen, die auf allen Kanälen Musik für fast lau rausblasen. "Scale wird's richten", beschwichtigen sie. Rings ums Streaming ist ein offener Krieg entfacht, in dem wir alle Verlierer sind, obwohl wir unser Abo zahlen und die wenigen Gewinner einen Markt der Zukunft mit Vorschussmillionen aufpumpen. Die ersten Musikergrößen melden sich jetzt erst mit: "Habe einen Hacker in der Crew, befreunde dich mit Technologie-Wizards!" Nicht Technik mit Inhalten beliefern, sondern selber Teilhaber von Technik und Technologien werden. Keine Frage, auch das kann sich nur leisten, wer erst einmal Kapital gesammelt hat. Den ersten Künstlern dämmert erst jetzt, dass ihre Verträge aus dem Zeitalter von Händlerabgabepreis (HAP) und Hartware stammen. Artists laufen auf Labelstrukturen auf, die sich kaum bewegt haben, sondern eher immer stringenter den letzten Tropfen Marketing aufsaugen. Alle liegen im Clinch mit der GEMA, die sich zusätzlich zur Wahrung der Interessen querstellt und das digitale Zeitalter freudig durch die steigenden Live- und Disco-Einnahmen ausbremsen kann, ohne ihr Gesicht zu verlieren - und dabei so tut, als wäre jeder neue Vertrag in Stein gemeißelt und müsste schon jetzt so toll sein, dass die Einnahmen alles aufwiegen. Wir vermuten, dass in Deutschland noch nicht ein Stream real an

die Künstler abgerechnet, sondern dank Einführungstarifen alles pauschal irgendwie gemauschelt worden ist. Wider die heilige Ehre der GEMA keine Pauschalabrechnungen machen zu wollen, sondern den einzelnen Urheber auf Heller und Pfennig für die Nutzung seiner Musik auszuzahlen (das ist ein Hauptgrund für die Nicht-Einigung mit YouTube), ist die ersten zwei Jahre für jeden Streamingdienst nicht nur billiger, sondern vor elegant pauschal abzurechnen. Wer da an ein Durchheizen von Geschäftsmodellen für die Kassen der wenigen Gutverdiener in der GEMA denkt, sei verflucht. Und der Geldsegen der Sperrkontenauflösungen? Auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Der Untergrund reagiert mit Tape-Labels, noch rareren Veröffentlichungen, Vinyl-only-Strategien, exklusiven Streams und dem sicheren Wissen darum, dass Hype eh alles ist und am Ende sowieso Geld mit dem Auflegen und sonstigen Gigs verdient wird. Noch-mehr-selber-Machen heißt es, lieber noch ein Label gründen, noch eine Partyreihe, Querfinanzierung durch Mami, Nebenjobs und so weiter. Die Hoffnung auf den nächsten Hunni von der BeatportDeep-House-Nr.1-Chartplatzierung ist nichts anderes, als ein Grund, noch ein Sternchen des Mosaiks der eigenen Welteroberung auf Facebook zu posten. Und unsere Medien? Blogs, selbstverständlich nebenher produziert, Podcasts, selbstverständlich zusätzlich gemacht, Praktikanten- und Marken-Webradios, VIP-Partys, auf denen selbstverständlich keiner Geld nimmt, keiner Geld bekommt, alle die Null-Euro-Ökonomie im Videostream für die glückliche Szene feiern, die sich mal wieder genüsslich im Chat über diesen Typ da in der Ecke mit dem komischen Tanzstil auslässt. Und da wir in Deutschland sind, jammern die Clubs natürlich über noch mehr GEMA (deren Einnahmen sowieso nie bei den gespielten Künstlern ankommen), die DJs etwas nonchalanter über einen GEMA-Tarif, den keiner versteht, niemand braucht und sowieso nie bei den gespielten Künstlern ankommt. Und über das Clubsterben, und dass früher sowieso alles besser war und und und. Wir wissen nicht mal mehr, was an der Generation Praktikum, an den Flexicutives, an all diesen Sensationsmeldungen der Ausbeutungen noch mal neu war. Es ist ein Wunder, dass wir bei all diesen durch und durch deprimierenden Wunden des globalen Kapitalismus, in die wir alle unsere Jugend (oder das Mittelalter) einschreiben, dennoch nicht den Willen verlieren, Woche für Woche neue Killertracks zu machen, die nächste oder letzte Party unseres Lebens zu feiern, wie selbstverständlich neue und alte Technologien als unsere Spielwiese zu betrachten und den Rest unseres Lebens wie einen Offenbarungseid freiwillig an Facebook zu verschenken. Es ist ein Wunder. Wir sind ein Wunder. Wir sind Deutschland 2"13: halb in einer Zukunft, von der niemand weiß wie sie funktionieren soll, halb in der Steinzeit, die nun auch nicht wirklich billiger wird. Und dabei natürlich mittendrin und jeden Tag aufs Neue voller Tatendrang. Wir sind die Null-Euro-Ökonomie. Das einzige, was uns fehlt, ist ein bedingungsloses Grundeinkommen. Nichts würde besser passen.

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TEXT WENZEL BURMEIER

BEAUTIFUL REWIND DIE KASSETTE WIRD 50

Vor einem halben Jahrhundert stellte Philips das revolutionäre Magnettonband im Kleinformat auf der 23. Funkausstellung in Berlin (West) vor. Sie könnte meine Mutter sein. Sie half mir bei den ersten, heute schamerfüllenden Rap-Aufnahmen und erlaubte mir, mich mit meiner persönlichen Selection abzuschotten. Das ging bis in die späten Neunziger, ehe ich mich von der CD verführen ließ; sie war einfach cooler, glänzender, total Hi-Fi. Und MP3s im darauf folgenden Jahrzehnt waren noch tausendmal praktischer. Ich nahm an, dass die gute alte Kassette es sich in der indischen Hitze gemütlich gemacht hatte und nun BollywoodSoundtracks auf sich vor- und zurückleiern ließ. Aber weit gefehlt, spätestens dieses Jahr wurde ich eines Besseren belehrt. "Im HipHop war sie nie wirklich weg, auch im Punk nicht", sagt Michael Aniser, Betreiber des Berliner Tape-Labels Noisekölln und eines Kassetten-Blogs. "Und gerade gibt es eben viel Lo-Fi-House und Noise-Geschichten auf Tape." Sie, die Kassette, hatte sich also nur einen lauschigen Platz in den hiesigen Nischen gesucht, dort wo sie noch artgerecht behandelt wird. Und von da aus verbreitet sie sich in letzter Zeit auch wieder ungemein - so sehr, dass die GEMA nun Anmeldungen von Tape-Releases verlangt, auch schon bei Auflagen von 5# Stück. Doch stopp, Rewind! Warum genau kommt jetzt wieder Musik auf Kassetten? "Das war in meinem Fall erstmal eine ökonomische Frage", sagt Tape-Fan Aniser. "Ich habe viele Shows in Berlin organisiert und wollte diese Bands auch releasen mit möglichst wenig finanziellem Aufwand. Vinyl war zu teuer und so ein Web-Label ist irgendwie langweilig. Trotzdem wollte ich etwas beim Konzert verkaufen und da lag das Tape nahe. Ich glaube, viele Leute hören sich die Tapes dann zwar gar nicht an, sondern stellen sie sich als schönes 'Ding' ins Regal. Die Musik laden sie sich dann eher herunter." Den Download-Code gibt's natürlich beim Kauf aufs Haus. Aber

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178 Bild: Alexis Malbert - Tapetronic alexismalbert.com

vom Hören mal ganz abgesehen, ein entscheidender Punkt liegt doch auf der Hand: Die Kassette lässt sich anfassen. Nicht nur das, wir können die Musik nach einem Auftritt mit nach Hause nehmen, sie passt perfekt in die Hand und auf dem Heimweg spielen wir dann mit der Plastikhülle, die beim Auf- und Zuklappen jenen unverwechselbar quietschigen Sound macht. Eben diese Haptik lässt das Tape in Zeiten digitaler Ungreifbarkeit so verdammt relevant erscheinen. Sie stillt unser Verlangen nach Fetisch-Objekten, die das Musikhören begleiten und gibt uns das Gefühl, die Musik auch wirklich zu besitzen. Ein total trügerisches Gefühl eigentlich, denn Schallwellen werden immer in der Luft bleiben, wir können sie auch mit dem Tape nicht greifen. Dasselbe Phänomen schien aber in den vergangenen Jahren auch den Vinyl-Absatz immer wieder anzukurbeln, wenn auch in homöopathischen Dosen. Also sind da plötzlich wieder Tape-Labels. Neben Noisekölln wäre das etwa Blackest Ever Black, mit ihren Releases zwischen "depressive acid" und "percussive psychedelia". Oder die zunehmend etablierten - und mittlerweile auch Vinyl produzierenden - Opal Tapes und Trilogy Tapes, mit ihren ruffen Sounds zwischen noisy Elektronika, Lo-Fi-House und düsterem IndustrialTechno von Künstlern wie Basic House, Huerco S., Madteo oder Kassem Mosse. Diese Labels haben mit ihren auf Band überspielten und in Kunststoffgehäuse eingeschlossenen Releases mit einer Auflage von 5# bis 2## Stück ein gemeinsames Alleinstellungsmerkmal auf dem Musikmarkt gefunden und lassen digitale Labels ziemlich alt aussehen. Denn lässt sich nicht gerade an diesen kleinen Tapes gut erkennen, dass wir uns in eine post-digitale Kultur bewegen? Wir scheinen nicht nur von der unmöglich zu bewältigenden, digitalen Musik-Flut gesättigt, auch die ständige Verfügbarkeit ist für uns quasi zur Natur geworden und hat die Musik längst von ihrem Wert als Gegenstand gelöst. Genau das vergegenwärtigt der Anachronismus des Magnetbandes.

Aber sind wir des fluiden Moments digitaler Formate wirklich so überdrüssig und finden die CD in ihrer RetroDigitalität schon so abscheulich (und noch nicht wieder cool), dass uns kein anderer Weg bleibt, als wieder zu den Bändern zu greifen? Bei genauem Hinhören erschließt sich uns auf Sound-ästhetischer Ebene noch eine ganz eigene Charakteristik, womöglich gar eine Aura, die auch über die physische Existenz hinaus reicht. "Tape hat etwas total direktes. Die Aufnahmen sind oft ziemlich rough und schnell produziert und haben dadurch auch einen direkten Bezug zu improvisierten Live-Momenten", sagt Michael Aniser über den DIYFaktor der Produktionen auf seinem Label. Bei ihm spielt auch der rauschende, unklare Lo-Fi-Sound des Tapes eine wichtige Rolle: "'IllWinds', die erste Band die ich heraus gebracht habe, ist ultra Lo-Fi. Das sind nur zwei Typen mit Gitarre, Bass und einer Drummachine. Und da gibt es ganz klar auch einen ästhetischen Grund für das Tape als Medium. Das gibt nämlich diesen Klang der Aufnahmen, die mit einer 4-Track-Bandmaschine gemacht wurden, am authentischsten wieder." Der Lo-Fi-Sound und das ewige Rauschen der Kassette, sie machen das Tape aber nicht nur ästhetisch einzigartig, vielmehr noch sind sie Nostalgie-Faktoren, die uns in eine Zeit zurückversetzen, weit entfernt von "störfreier" Klangästhetik. Clean und ausproduziert kann heute jeder.

Genau deswegen formuliert das Rauschen des Tapes unsere zeitgemäße Klage an allen Hi-Fi-Zwängen. Die wir ja auch in den Arbeiten eines Oneohtrix Point Never wiederfinden, dessen Sound nicht nur einem kleinen Kreis verspulter Tape-Fetischisten vorbehalten ist, sondern in diesem Jahr auch das Publikum von Sofia Coppolas Film "The Bling Ring" erreichte. Immer öfter begegnet uns dieser Tage das Rauschen, das von der CD einst abgeschafft werden sollte. Aber wir merken: wir brauchen dieses Rauschen. Hinfort mit der Angst vor dem unspezifischen Frequenzspektrum! Wir müssen nämlich nicht nur ein Stück Plastik in der Hand halten, sondern uns auch den nostalgierenden "Stör"-Frequenzen öffnen, um am Ende festzustellen: Musik besitzt eben immer einen total fluiden und fragilen Charakter, wir werden sie wohl niemals richtig greifen können. Herzlichen Glückwunsch!

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178 — RÜCKBLICK 2013 — TEXT TIMO FELDHAUS

THIS IS NORMCORE TRENDAGENTUR SCHAFFT DAS ALTER AB

K-HOLE ist irgendwo in dem weiten Feld zwischen echtem Consulting und Konzeptkunst gelagert. Für ihren vierten Trendreport, den die New Yorker Mittzwanziger erstmals gemeinsam mit einer großen brasilianischen Agentur geschrieben haben, und der wieder kostenfrei als PDF von ihrer Webseite zu laden ist, erfinden sie so geniale Beschreibungen wie "High-Res Decisions" oder "Youth Mode". Unter der Hand handelt die Prognose von ihrer eigenen Geschichte: Fünf Freunde sind völlig verstrickt in Hipster-Praxis. Aus der Not machen sie eine Tugend und erzählen der Welt, was sie zusammenhält. Und von einem Ausweg:

Es geht darum, dass Alter als Konzept überholt ist und wie man endlich von Mass Indie nach Normcore kommt – und zwar durch absolute Anschlussfähigkeit, in Überwindung der ewigen Sorge um die eigene Individualität. Denn, um es in ihren Worten zu sagen: "This is an HD problem." Hallo K-HOLE, was sind die News? Wir glauben, dass die Krise, etwas Besonderes darzustellen, nicht länger nur ein Problem junger Leute ist. Und das wiederum ist Teil einer größeren Frage, nämlich wie man einen neuen Rahmen für die Beschreibung von Generationen absteckt. Klare Definitionen wie Babyboomer, Generation X oder Millennials funktionieren nicht mehr, denn Demografie ist tot. Wir haben bei der Dekomprimierung der Millennials oder Digital Natives herausgefunden, dass es nicht mehr um Alter geht. Dass dieser einstmals so wesentliche Kategorie heute keinen Rahmen mehr bieten kann. Warum nicht? Zum Beispiel funktionieren die Narrative des 21. Jahrhunderts zur Beschreibung cooler Adoleszenz nicht mehr, wie sie etwa im Fänger im Roggen dargestellt sind: Du hast deine Wahrheit, dann wirst du missverstanden von Gesellschaft, Vater und Mutter, also musst du eine Authentizität beweisen, beziehungsweise die Gesellschaft stürzen und Künstler oder

Rebell werden. Dadurch entgehst du dem Drama, unverstanden zu sein. Dieses System ist heute irrelevant. Wir haben aber gemerkt, dass viele Leute allergisch darauf reagieren, gleichzeitig kreative Individuen und Konsumenten des Kapitalismus sein zu müssen. Für sie fühlt sich das seltsam an und als Reaktion erschaffen sie krass vereinfachte Versionen ihrer selbst, als entweder das eine oder das andere. Wäret ihr sauer, wenn man eure Arbeit als Konzeptkunst oder Literatur bezeichnet? Nein. Die Sprache eurer Texte ist sehr schön. Einerseits einnehmend und actionreich, andererseits fast schon wie eine Parodie auf den Stil von Trendberichten, in denen die Zukunft des Konsumverhaltens vorhergesagt werden soll. Was ist denn da beabsichtigt? Schon beides. Letztlich handelt es sich bei K-HOLE um ein Schreibprojekt. Es ist experimentell und kollaborativ - in der Literatur sehr selten, in der Corporate Culture und dem Marketing aber übliche Praxis. Viele von uns haben in diesem Bereich gearbeitet und von Anfang an diese Sprache sehr spannend gefunden; wenn etwa Emoticons in ernsthafte Texte zu Wirtschaftsthemen gesetzt werden. Im Gegensatz dazu ist Kunstkritik total langweilig. Das ist ein bisschen wie Popmusik: Wir mögen die Punchiness und Popiness und Bullshitiness von Corporate-Sprache - die ist so toll, bizarr und lustig zu lesen. Wir verstehen uns als Band: The Annoying Indie Band. Und ihr seid sehr gut produziert. Als was würdet ihr denn K-HOLE definieren? Als eine Trendagentur, die die Sphäre der Kunst genauso adressiert wie die des Marketings. Wir sind aber ebenso fünf Freunde, die Beobachtungen über die uns umgebende Welt anstellen und diese als Trendreports verbreiten. "Being in Youth Mode is about being youthfully present at any given age. Youth isn’t a process, aging is. In Youth Mode, you are infinite." Was genau meint ihr mit "unendlich"? Unendlich bedeutet hier, dass du die Grenzen deines Alters, deines Status und deiner Subjektivität nicht mehr identifizieren kannst. Denn diese Grenzen sind total porös geworden. Könnt ihr dem gewöhnlichen Hipster einen praktischen Tipp geben, wie der von euch beschriebene Zustand des Mass Indie überwunden werden kann? Der gewöhnliche Hipster möchte aller Voraussicht nach gar nicht über Mass Indie hinwegkommen.

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Bild: khole.net

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178 — RÜCKBLICK 2013

Bei unserem Vorschlag Normcore geht es darum, dass die Idee der Coolness durch Differenz zum Scheitern verurteilt, beziehungsweise an ihr Ende gekommen ist. Eine brauchbare Hilfestellung, um von Mass Indie in den neuen Zustand des Normcore zu wechseln, liegt auf der Hand: Bemühe dich nicht mehr darum, außergewöhnlich zu sein. Viel wichtiger ist, sich mit anderen in Beziehung zu setzen. 38

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"Mass Indie is what happens 45 minutes after Kurt Cobains death." Welche anderen Figuren der Popgeschichte repräsentieren Mass Indie, beziehungsweise sind mit der Massenbewegung verbunden? Kurt Cobain ist stark verknüpft mit der traditionellen Idee der Alternativkultur der Neunzigerjahre. Er ist also kein Beispiel für Mass Indie, sondern Mass Indie eine Antwort auf ihn beziehungsweise das, was nach Kurt kommen musste. Andere Figuren wären etwa Wes Anderson, Christopher Nolan, Arcade Fire, Opening Ceremony, Chloë Sevigny, Lena Dunham, Frank Ocean, Grimes. "To us, the reason there's a shift is that now the crisis of being special is everyone's crisis because of the internet and globalization." Wie hängt das konkret zusammen? Das Internet bietet ein Spielfeld, in dem jeder seine Individualität in mikroskopischen Nuancen ausdrücken kann. Trotzdem gibt es noch Beschränkungen: Die Plattformen, die User benutzen, bestimmen die Grenzen, in denen diese mikroskopische Ausdifferenzierung stattfindet. Es handelt sich um eine Krise, weil jeder versucht, einzigartig zu sein. Aber die Tools, die sie dafür benutzen, also das Internet, macht alles gleichzeitig zur ultimativen Ware. Irgendeine Idee wie es möglich wäre, sich permanent zwischen FOMO und DGAF zu bewegen und trotzdem get lucky? Du hast stets die Möglichkeit zum Glück. Glück liegt über deinen Zielen und Zwecken. Wenn ich Normcore richtig verstehe, glaubt ihr wirklich, dass in der Masse aufzugehen das neue Cool ist, ja? Normcore bedeutet nicht, sich zu verstecken. Es geht um Passing, also darum, mit seiner selbstgewählten Identität überall Anknüpfungspunkte zu finden. Es geht auch nicht um die Masse, sondern um Eins-zu-Eins-Beziehungen und Konversationen. Ein wichtiger Aspekt davon ist, dass man Normcore nur relativ zu einem bestimmten Publikum sein kann. Ganz ehrlich, ich glaube Normcore ist langweilig. IRL bedeutet Normcore mit uncoolen Leuten rumzuhängen und über uncoole Sachen zu sprechen. Was soll daran gut sein? Normcore bedeutet ganz sicher nicht, mit uncoolen Leuten rumzuhängen. Es bedeutet vielmehr mit jedem zusammen zu sein, ob cool oder uncool. Normcore zu sein bedeutet, eine gemeinsame Basis mit jedem zu haben, mit dem du zusammen bist, egal ob es deine Großmutter oder Rihanna ist. Was für große Trends erwartet ihr in 2"14? Das verraten wir noch nicht. "YOUTH MODE. A REPORT ON FREEDOM" BY K-HOLE AND BOX 1824 Download bei khole.net

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178 — RÜCKBLICK 2013 — TEXT FELIX KNOKE

UTOPISCHES POTENTIAL WO IST DAS NEUE INTERNET?

Wir brauchen ein neues Netz. Überwachungsskandal, Repression, Internetkriminalität, immer noch nicht eingelöste Heilsversprechen - und dann zieht ein Unterdrückungsregime nach dem anderen einfach noch den großen Internetstecker oder riegelt das Netz an der Staatsgrenze gegen den Rest der Welt ab. In diesem Jahr erklang erstmals nicht nur aus Hackerkreisen der Ruf nach Alternativen zum "Netz der Netze". Es ist kein Zufall, dass dieses Jahr solche Alternativen auch im Feld ausprobiert wurden. In Ägypten und Syrien wurden bereits Parallel-Netze mit Selbstmachermitteln über die Dächer gespannt. Die Hackerszene arbeitet an Bastelsets für Funkboxen, die AdhocVerbindungen aufbauen können. Und Konzepte von Sneakernetzen (ein gefüllter USBStick in der Hosentasche eines Reisenden ist auch eine Datenübertragung) und anderen weniger angreifbaren Varianten des Internets werden auf Hackertreffen ausprobiert und in Workshops weiterentwickelt. Nicht ohne Rückschläge: Die bislang ja eigentlich erfolgreichen Versuche, innerhalb des Internets so genannte Dunkle Netze zu errichten sind heuer spektakulär gescheitert. Dass das als sicher geltende TOR-Netzwerk längst von Polizei- und Geheimbehörden unterwandert war, war eine spektakuläre Offenbarung im Herbst diesen Jahres. Selbst dort, wo man sich sicher wähnte, ist man nicht sicher, also unbeobachtet. Rückgrat des Internet Es muss etwas Neues her. Aber wie? Die Idee besteht darin, möglichst dezentrale Netzwerkstrukturen aufzubauen, die nicht als Ganzes von einzelnen staatlichen und quasistaatlichen Institutionen kontrolliert werden können. Der Datenverkehr im derzeitigen Internet geht, trotz aller Dezentralitätsideen, ganz praktisch durch die Hände relativ

weniger Akteure: die Internetprovider, die großen Internet-Dienstleister, die Unterseekabelund Satellitenbetreiber. Die Sicherheits-Infrastruktur (SSL & Zertifikate, die großen Verschlüsselungsdienste wie BitLocker) ist konzeptuell und technisch löchrig, vor allem wegen der Zusammenarbeit von Software- und Hardware-Herstellern und den staatlichen Überwachungsorganen. Auch das war eine erwartete, trotzdem schockierende Einsicht 2"13. Wie wenig vertrauenswürdig SSL-Zertifikate sind, "das Rückgrat des Internet", zeigten die von Edward Snowden veröffentlichten Unterlagen eindrücklich. Die großen Anbieter reagieren mit der Verschlüsselung ihres internen Datenverkehrs, diese Möglichkeit haben Privatnutzer noch immer nicht - weil sie ihnen genommen wurde. Das Problem des derzeitigen Internets ist, dass es auf das Wohlwollen aller setzt. Dieses Wohlwollen auszunutzen ist ein erfolgreicher Ansatz vieler staatlicher Interventionen, sie gerieren sich einfach als besonders vertrauensvoll im Netz und ziehen so die gewünschten Daten an. Auch paranoide Internetnutzer haben wenig Chancen, sich dagegen zu wehren: Eine Schwachstelle in der langen Kette der DatenübertragungsProtokolle und -Hardware genügt, um Kommunikation kompromittieren zu können, sie also abzuhören oder zu manipulieren. Der Ruf nach neuen Netzen ist nun zum ersten Mal kein reines Hackerthema mehr; es bedarf keiner technischen Expertise mehr, um deren Notwendigkeit zu verstehen - oder zumindest die Notwendigkeit einer Diskussion. Der Vorzeigefall ist derzeit vor allem der Katastrophenschutz, die Überwindung von Kommunikationslöchern in oder vor Krisen, etwa um schnell in Erdbeben- oder Kriegsgebieten InformationsInfrastrukturen errichten zu können. Um auch nach dem Ausfall des Internets Daten

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178 Bild: Maico Akiba - 100 Years Later maicoakiba.com

über weite Strecken übertragen zu können, setzen manche Staaten etwa auf alternative, robustere Datenübertragungswege, zum Beispiel Langwelle; das Militär betreibt längst diverse Parallelnetze. Neue Netze alleine reichen nicht Die Krise, die es nun zu überwinden gilt, ist aber eine viel prinzipiellere: das Vertrauen in die elektronische Datenübertragung wurde massiv erschüttert. Ein neues Netz hätte einen Vertrauensvorschuss, so die Hoffnung. Mit ihm könnte es wieder eine anarchische, technisch "freie" Kommunikation geben. Eine wie auch immer geartete Dissidenz könnte zukünftig wieder besser über sie funktionieren. Zumindest vor den schlechter ausgestatteten Geheimdiensten wäre man zunächst sicher. Diesen Hoffnungen liegt der etwas verzweifelte Glaube zugrunde, dass durch technische Fortentwicklung neue Freiheitsgrade errungen werden können - und sei es, dass man technisch den Unterdrückungs- oder Überwachungsapparaten ein bisschen voraus ist. Doch wie der Sicherheitsexperte Bruce Schneier im Oktober im Atlantic erklärte: Der Kampf ums Internet ist längst für die Kleinen, die Mäuse, verloren. Ihnen brachte das frische Internet einen Vorsprung, sie konnten sich dessen Flexibilität und Schnelligkeit eher zunutze machen, als es die Großen, die konservativen Mächte vermochten. Doch dieser Vorsprung ist nun aufgebraucht und die Großen profitieren übermäßig stark vom Internet. Längst herrschen feudale Zustände, schreibt Schneier. Und die Leidtragenden, das seien all die, denen das technologische Wissen fehlt, sich gegen Regierungen, Firmen, Cyberkriminelle und Hackergruppen zu wehren oder sich Widerstandsbewegungen anzuschließen.

Ein neues Netz würde diese Entwicklung wohl nur von vorne beginnen lassen. Dass (zumindest die US-)Geheimdienst keine Mittel und Wege scheuen, um neuartige Kommunikationswege zu kontrollieren, ist eine weitere der großen Enthüllungen Snowdens: Den Aufwand, den die US-Behörden betrieben, um internationalen Datenverkehr abzuhören, ist extrem viel größer als erwartet. Noch zeigen die Finger der Bürgerrechtler nur auf die amerikanische NSA und die britischen GCHQ, doch ohne Zweifel wird sich der Überwachungsskandal noch ausweiten. Alles scheint jetzt ein wenig hoffnungslos. In diesem Licht war es dieses Jahr, in dem die Verschwörungstheoretiker recht behielten und ihre Befürchtungen von der Realität noch weit übertroffen wurden.

2"13 war damit ein ScienceFiction-Jahr, realgewordene Dystopie. Und es ist noch völlig unklar, was das für das utopische Potential des Internets und seiner Cousins und Cousinen bedeutet. Eine Zukunft ohne Netz? Sicherlich nicht. Aber mittlerweile muss man sagen: Lieber eine Zukunft ohne dieses Netz als eine mit.

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178 — MUSIK

JAMES FERRARO "EIN BUS, DER AN DIR VORBEIRAUSCHT, IST JA AUCH NICHT GEMASTERT"

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James Ferrao, NYC, Hell 3:00 AM, ist auf Hippos in Tanks erschienen.

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TEXT MAX LINK

Die Utopie klang nach freundlichen Telefonwarteschleifen, komplettverspiegelten Fahrstühlen, gesunder Ernährung und der Soundscape einer Shoppingmall. James Ferraro eröffnete spätestens 2"11 mit seinem Album “Far Side Virtual” einen ästhetischen Diskurs, der später Vaporwave genannt werden sollte. Die Ästhetik ist in ihrer emphatischen Haltung zu Kitsch und Marken bis heute auf irritierende Weise anziehend. In den Übertönen und Subbässen sucht Ferraros neuestes Werk "NYC, Hell 3:"" AM" noch das Gespräch mit diesem Stil, doch aus anderer Perspektive. Das Album beleuchtet die Entfremdung von Mensch und Technik und erforscht die dunkle, unsichtbare Seite des Fortschritts und des kapitalistischen Mainstreams und liefert außerdem die Soundkulisse zu einem Mix & Match diverser NYC-Dystopien. Auf "NYC, Hell 3:"" AM" hört man immer wieder geloopte und durch eine Computerstimme eingesprochene Worte, die auch in deinen Videos aufploppen: Money Lord, Botox, Coke, Cheek Bones, Swarovski, Airport. James, mir scheint, du wirst von bestimmten Begriffen verfolgt. Mich haben diese Begriffe wohl verfolgt, aber sie entsprangen auch einer ständigen Beobachtung: Point of View, so Society-mäßig. Das Album fängt mit dem kapitalistischen Mantra an: money. Ich wollte zeigen, dass money, gerade weil es so hyperpräsent ist, total abstrakt ist. Außerdem ist es doch die Allegorie für New York und die amerikanische Gesellschaft schlechthin. Bloß kommt man nicht mehr dahinter, weil es eben allgegenwärtig ist. Ich wollte damit einen ganz bestimmten Ausschnitt von New York und dem Leben dort einfangen. In dem Stück "Eternal Condition/Stuck 2" erwähnst du Tom Cruise. Wieso? Mir gefiel die Idee, dass ein Mime wie Tom Cruise das absolut anerkannteste Symbol für all diese Dinge ist: Konsumerismus, Schönheit, Fame, all das. Hast du diese Worte gesammelt? Sie kamen in einem einzigen Rausch zu mir. So ist auch das ganze Album entstanden, ich habe mir einen poetischeren Zugang zu meinen Gedanken erlaubt. In diesem Sinne war "NYC, Hell 3:"" AM" eine Ausgrabung, eine Aushöhlung meiner selbst. Ich war weniger kontrolliert, konzeptloser und freier, und erst am Ende habe ich gemerkt, dass sich am Horizont doch ein Konzept abzeichnete. Für mich handelt "NYC, Hell 3:"" AM" von sozialer Isolation. Die unerbittliche Präsenz dieser Dinge ist, glaube ich, ein quälendes

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»So geht es Menschen online: Sie bekommen eine Dosis Dopamin, wenn andere Menschen ihr Bild liken. Das ist ein Symbol dafür, in einem kleinen Rahmen äußerst zufrieden zu sein.«

Symptom von Vereinsamung in einem urbanen Umfeld. Du hast sicher das Video von Jon Rafman für Oneohtrix Point Never gesehen. Meinst du das Video mit dem HentaiPorn und den Furrys? Das Video geht das Thema für meinen Geschmack ein bisschen zu direkt an. Ich wollte auf meinem Album eher die Gefühle einfangen, die jemand hat, wenn er digital isoliert ist. Und ich meine damit nicht bloß jemanden, der den ganzen Tag auf einen Bildschirm starrt. Es geht mir um die Entfremdung, die Abgeschnittenheit von bestimmten Dingen. Ich rede immer wieder darüber, wie Bankomaten und Parkautomaten funktionieren. Ihre Fassade ist für mich auf seltsame Art menschlich. Das ist unheimlich und ich glaube, man macht diese Erfahrung mittlerweile auch von Mensch zu Mensch. Das andere Thema ist Isolation, weil man in New York ohne Geld absolut nichts machen kann. Freundschaften hängen in dieser Weise natürlich vom Geld ab. Ohne Geld wird man zu einem Schatten, ebenso wie man es ohne das hier (hebt sein iPhone vom Tisch) wird. Wie wirken sich diese Ideen auf deinen Sound aus? Im Gegensatz zu "Far Side Virtual" wollte ich "NYC, Hell 3:"" AM" nackt und roh klingen lassen, bis auf die Knochen entkleidet. Anstatt also alles überzuproduzieren und zu mastern, habe ich den Dingen ihre natürliche Klangfarbe gelassen. Ein Bus, der an dir vorbeirauscht, ist ja auch nicht gemastert. Welche Musik hast du gehört, als du das Album aufgenommen hast? Ich habe sehr viele Symphonien von George Rochberg, einem surrealistischen Komponisten aus New York, gehört. Und viele Disco-Sachen aus den 7"ern und frühen 8"ern. Diese Musik klingt nach reinem Money, nicht? Man hört sofort, dass bei diesen Produktionen viel Geld im Spiel war. Damit wurde mir auch klar: Mein Thema muss Geld und die damit verbundene teuflische Seite des Hedonismus sein. Disco war die Generation Money der Musikgeschichte. Und dann hatte ich außerdem diesen Aha-Moment: Da sind die, in ihren Studios, und hier bin ich, 4"

Jahre später, zu Hause in meinem Zimmer. Ich konnte diesen Unterschied wirklich wertschätzen. Das hat die Sache für mich in Perspektive gerückt. Ich habe kürzlich einen Film gesehen, der spielt zwar nicht in New York, sondern irgendwo an der Westküste, aber der hat mich an dich erinnert. Er heißt "They Live". Oh, der John Carpenter-Film! Den kenne ich natürlich, der hat eine fantastische Atmosphäre. Der Protagonist findet Brillen, mit denen er hinter die Fassade schauen kann. Er sieht das Werbeplakat einer Reisefirma und sobald er die Brille aufsetzt liest er die eigentliche Botschaft: "OBEY!" Natürlich ist das eine zweidimensionale Kapitalismuskritik aus den 8"ern. Ein anderer Film, an den ich oft denken musste, war "King Of New York". Christopher Walken als Drogenboss passt ja auch gut zu deinem Vibe. Alle Filme, die eine bestimmte Szene und Gemütslage der Stadt einfangen, sind für mich interessant. Das ist Teil meiner Identität: in New York aufgewachsen zu sein und die Mythologie der Stadt über Filme erzählt zu bekommen. Kennst du "Shame" von Steve McQueen? Seltsamerweise ist mir erst nach der Fertigstellung des Albums aufgefallen, dass ich genau das bespiegeln wollte, wovon der Film erzählt. Er handelt von einem erfolgreichen Geschäftsmann, der von Internetpornos abhängig ist. In der britischen Technik-Parodie-Serie "Black Mirror" gibt es eine Episode, in der die Menschen einen Chip im Kopf haben, der ihnen das Gedächtnis ersetzt. Zu Hause kann man sich das Erlebte auf dem Bildschirm anschauen. Die Menschen drehen durch, weil sie ihr Leben überanalysieren. Diese düsteren Aussichten finde ich merkwürdig: Man findet in ihnen auch immer so viel Hoffnung. Dich interessiert offensichtlich neue Technik. Wie sollte man sie nutzen? Ich verschließe mich vor nichts, aber versuche aufmerksam zu bleiben. Man muss sich darüber bewusst sein, dass das Leben in der Zukunft wohl von den unternehmerischen Vorstellungen sehr weniger Menschen bestimmt sein wird.

Aber warum in die Ferne schweifen: Nehmen wir zum Beispiel mal die Autokorrektur des Smartphones oder Siri. Diese Programme haben eine ganz bestimmte Vorstellung von Moral und projizieren sie auf dich. Stell dir mal vor, Siri wurde von jemandem programmiert, der keine homosexuellen Menschen mag. Ach, es ist schwer, eine Meinung zu haben! Finde ich auch. Menschen werden weiterhin das haben wollen, was sie schon immer haben wollten: Gesundheit und ewiges Leben. Wusstest du, dass Tom Cruise seinen eigenen Ernährungsberater hat, der ihm zu jeder Tageszeit sagt, welche Nahrung die nahrhafteste ist? Genau, anhand seines Blutzuckerspiegels. Aber genau so geht es doch auch Menschen online: Sie bekommen eine Dosis Dopamin, wenn andere Menschen ihr Bild liken. Das ist ein Symbol dafür, in einem kleinen Rahmen äußerst zufrieden zu sein. Das ist so eine bourgeoise Sache. Und dann gibt es aber auch Menschen, die bereit sind, einen Schritt weiter zu gehen und ihren Avatar auch im echten Leben fortführen. Können wir über Vaporwave reden? Das könnte noch ein paar Leute interessieren. Lustig, ich habe natürlich auch sehr viel darüber gelesen. Der Musikjournalist Adam Harper hat es mir im Interview ganz einleuchtend erklärt. Er meinte, das alles hätte seinen Ursprung in "Far Side Virtual" und der Musik von Oneohtrix Point Never gehabt. Mittlerweile ist daraus ja ein Diskurs entstanden - alles geklärt. Aber als ich "Far Side Virtual" gemacht habe, war es schwierig, das meinen Kollegen klar zu machen. Die dachten alle: Wow, der spinnt! Vielleicht war Dan Lopatins nostalgischer Ansatz noch allgemeinverständlicher. Wusstest du damals, was du vor hattest? Ich habe gelesen, du hattest das Konzept seit fünf Jahren im Kopf. Ich wollte dieses Album machen und in jedem Jahr, das ich gewartet habe, dachte ich, dass es ein wenig später doch sinnvoller sein würde. Hat der Sound seinen Ursprung in einer veränderten Ideologie? Ich weiß nicht. Wenn ich mir das jetzt anhöre, denke ich: das ist kommerzielle Fahrstuhlmusik.

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178 — MUSIK

DEKMANTEL GENERATIONENWECHSEL IN AMSTERDAM

»Seit Dekmantel zu so einer ernsthaften, international gewürdigten Geschichte geworden ist, werden wir weniger als Weirdos wahrgenommen.« Jordash

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TEXT SVEN VON THÜLEN

Erst Label gewordenen Partyreihe und seit diesem Jahr auch ein Festival mit großartigem Booking: Dekmantel aus Amsterdam hat sich in kürzester Zeit zu einem der Aushängeschilder der quirligen House- und Technoszene in Amsterdam gemausert. Wie das geht, erklären uns die Gründer. Am Anfang, vor sechs Jahren, waren die Partys: intimer Kreis, vielleicht 15# Leute, Schweiß tropfte auf die Rave-Schar. Sie wollte Musik hören, die es in Amsterdamer so lange nicht gab und taten das mit Genuss: die Partys wurden immer größer. Mittlerweile ziehen die Clubabende, die das DekmantelKollektiv in schöner Regelmäßigkeit in unterschiedlichen Locations in Amsterdam veranstalten, im Schnitt das Zehnfache des Publikums an. Und auch jenseits der holländischen Hauptstadt fällt der Name Dekmantel immer häufiger, wenn es um zeitlos gute Musik und um liebevoll inszenierte Partys geht. Als Thomas Martojo, Casper Tielrooij und einige ihrer Freunde Mitte der Nullerjahre von Den Haag nach Amsterdam zogen, waren Techno und House, wie sie es mochten, unterrepräsentiert. Zwischen Grachten und Rotlicht, Leidseplein und Rembrandtplein war kein Platz für Detroit, Chicago und New York. Verblüffenderweise, da die Liebe zum musikalischen Vermächtnis dieser Städte seit den späten Achtzigern und den Ausschweifungen in Läden wie dem legendären Roxy in Amsterdams Nachtleben eigentlich fest verankert war. Und es in dieser Stadt mit Labeln wie Delsin, M>O>S und natürlich Rush Hour damals keinen Mangel an Aktivposten gab, die eine ähnliche musikalische Ausrichtung hatten. Nichtsdestotrotz hieß es auf den Amsterdamer Dancefloors meist eher Minus statt Sound Signature und Get Physical statt M-Plant. Insofern stehen Dekmantel auch für einen Generationenwechsel in Amsterdam. Das Kollektiv hat es geschafft, Musikliebhabertum und Hedonismus auf eine Weise zusammen zu bringen, die es so in der Stadt lange nicht gegeben hat und die der Generation vor ihnen eher abging. Vielleicht liegt das auch daran, dass Tielrooij und Martojo vor allem DJs sind. Gemeinsam mit ihrem alten Schulfreund Jan van Kampen bilden sie das Dekmantel Soundsystem. "Uns ging es immer um die Party“, sagt Casper Tielrooij. Thomas Martojo ergänzt: "Wir wissen genau, was wir musikalisch gut finden. Früher waren wir da auch noch um einiges militanter als heute. Unser musikalischer Horizont hat sich noch einmal ein Stück erweitert.“ Den bisherigen Höhepunkt ihrer Party-Aktivitäten bezeichnete dann im Sommer diesen Jahres das erste dreitägige

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BILD LARS HAMMERSCHMIDT

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Dekmantel-Festival. Das Lineup las sich wie ein Who-is-Who der letzten zwanzig Jahre elektronische Tanzmusik: "Seit fünf Jahren wollten wir genau so ein Festival machen. Casper und ich sind ja eigentlich DJs und Musikliebhaber und keine Geschäftsmänner. Wir mussten erst einmal Erfahrungen sammeln, die richtigen Partner finden und ein Team zusammenstellen", erzählt Thomas Martojo. "Jetzt sind wir bei einem Festival mit 5"""er Kapazität angekommen. Unser Kernpublikum haben wir bei dieser Entwicklung nie verloren, das ist uns wichtig. Bei allem Wachstum kann man immer noch sehr genau nachvollziehen, wo wir herkommen." Wie als Partyveranstalter haben Martojo und Tielrooij auch als Labelbetreiber ein geschmackssicheres Händchen bewiesen. Was vor vier Jahr mit dem Debütalbum von Juju & Jordash wie mit einem Paukenschlag begann, hat sich zu einem wichtigen Label für geschichtsbewussten und vorwärtsgewandten House und Techno entwickelt. Ein Boutique-Label, das neben den beiden freigeistigen TechnoPsychedelikern Juju & Jordash ähnlich eigensinnige Produzenten wie San Proper, Vakula und Mark Du Mosch eine Heimat geworden ist. Auch das neueste Signing, der aus dem Umfeld von Levon Vincent und Jus-Ed kommende New Yorker Joey Anderson, fügt sich perfekt in das Bild eines Labels, dem es weniger um Funktionalismus als um eine musikalische Vision geht. "Es geht uns darum, dass jede Platte, die wir veröffentlichen, eigenständig ist. Ich würde es hassen, wenn jemand mal irgendwann zu mir sagen würde, dass bei uns nur jede dritte Platte wirklich gut ist“, meint Martojo. Auch wenn sie mittlerweile allerlei Demos zugeschickt bekommen, hätten sie bislang nur Platten von befreundeten Produzenten oder aus deren Umfeld veröffentlicht. "Levon Vincent hat uns immer wieder von Joey Andersom vorgeschwärmt, als der noch als Geheimtipp galt. Zum Glück kannte er das Label schon, als wir ihn angeschrieben haben. Wir haben ihn dann auf eine unserer Partys gebucht und gemerkt, dass wir auch persönlich auf derselben Wellenlänge sind“, sagt Tielrooij. Mit Anthony Naples steht nun schon der nächste House-Eigenbrötler auf der Liste für potenzielle Erweiterungen der Dekmantel-Familie. Bleibt die Frage, ob sich das mediale Interesse und all die Aufmerksamkeit, die Dekmantel in diesem Jahr zuteil wurde, mittlerweile auch auf die Künstler des Labels auswirkt? Jordan Czamanski alias Jordash: "Seit Dekmantel zu so einer ernsthaften, international gewürdigten Geschichte geworden ist, werden wir weniger als Weirdos wahrgenommen."

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178 — MUSIK

TEXT WENZEL BURMEIER

ΔKKORD GANZ NATüRLICHE

MASCHINENMUSIK

Neueste Erkenntnisse auf dem Gebiet der Post-BreakbeatWissenschaft: Der Goldene Schnitt im Amen Break. Zwei Jungs aus Manchester wissen alles über Mathe und viel über Maschinen. Und deswegen lassen sie Technik auch weitgehend weg. Am Anfang war die handgestempelte White Label. Δkkord""1. Ansonsten: Keine Infos, man kennt das Spiel. Irgendjemand verortete die Platte im Dunstkreis von Manchester, was am Sound gelegen haben mag. Die dunkle Fläche, dazu ein heruntergepitchtes Vocal: "There's something special about the drums ... it's a rhythmic foundation ... a responsability ... the capacity to create a mood." Eine brachiale Kick setzt ein, sie weiß das stoische Four-To-The-Floor-Schema zu umgehen. Im Zusammenspiel mit der verzerrten Percussion wird schnell klar: hier geht es um rhythmisches Feingefühl. Um eine bassschwangere Polyrhythmik,

die eine junge britische Generation um Label wie Hessle Audio prägt. Auch White Label Nummer Zwei treibt die Suche nach den Verantwortlichen nicht voran. In den Post-Whatever-Step-Foren freut man sich indes über einen neuen Gesichtslosen, Gerüchte ranken sich um die minimale Version, vielleicht gar den kleinen Bruder von Burial? Nun, knapp zwei Jahre nach dem ersten Release steht das Δkkord-Debüt an. Die eigene Distribution wurde dafür zurückgestellt, man veröffentlicht heuer auf Houndstooth, dem frisch gegründeten Fabric-Sublabel, das mit Paul Woolfords retrospektivem Jungle-Projekt "Special Request" schon ein Highlight des Jahres lieferte. In den Label-Strukturen verankert, gab man nun schließlich auch die eigene Identität preis: Synkro und Indigo heißen die beiden Musiker, die in der Tat aus dem Umland von Manchester stammen und sich nun auch in Interviews mitteilen. Unter ganz banalem Verzicht auf die Identitätslosigkeit, wie ich ernüchternd

feststelle. Geradezu unaufgeregt, als wäre nichts gewesen. Einfach nur zwei Dudes, die wohl gerade auf ihrer Couch fläzen und einen rauchen. Gute Freunde, die ehrlich gesagt eher wie Brüder wirken, so eingespielt wie sie einerseits antworten, und so häufig wie sie sich dabei aber auch ins Wort fallen. In aller Sachlichkeit erklären sie mir, dass die Anonymität eigentlich einen ganz praktischen Grund hatte: "Wir haben vorher unter unseren eigenen Namen und zusammen als Synkro & Indigo veröffentlicht. Dazu wollten wir nun keine direkte Assoziation herstellen, weil Akkord für einen ganz anderen Sound steht. Letzten Endes haben wir das aber aufgegeben, weil wir dazu gedrängt wurden. Die Anonymität wird an einem gewissen Punkt wichtiger als die Musik, die Menschen sind vollkommen verrückt danach! Und das widerspricht dann genau dem, was wir eigentlich beabsichtigt haben, nämlich die Musik in den Vordergrund zu rücken."

Versteckspiel vorbei Dann hake ich doch zumindest beim Namen noch mal nach, der klingt ja doch recht kryptisch. Dazu dann auch noch diese Kodierung in hippen, gespiegelten Diagrammen auf den Plattenlabels. Und wieder so eine trockene Antwort: "Das hatte vor allem ästhetische Gründe. Der Name klang irgendwie gut und sah auch noch schön aus", erzählt Indigo. Kollege Synkro lenkt ein: "Außerdem bedeutet das Wort ja, dass mehre Elemente eine Harmonie ergeben, das lässt sich auch auf unsere Zusammenarbeit übertragen." Im Sinne des stimmigen Ergebnisses, wohl aber kaum im musikalischen Sinne, möchte man ihnen entgegnen. Denn wonach man auf dem selbstbetitelten Album vergebens sucht, sind eben Harmonien. Auf dem epochalen Opener "Torr Vale" begrüßen einen dystopische Flächen und geisterhafte Synth-Schreie, nach der Hälfte des Tracks wird man schließlich von brachialen, unglaublich schwerfälligen und stampfenden Drums

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Δkkord, Akkord, ist auf Houndstooth erschienen.

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in einer leeren Lagerhalle in Empfang genommen. Später dann, in "Conveyor", begleiten einen Drones durchs Dunkel und in "3dOS" kommen kleine, fiese Bots vorbei geflogen, die einen metallenen BassSchweif hinter sich herziehen. Das hier ist nicht einfach nur düster und unharmonisch, nein, das hier ist Maschinenmusik, unmenschlich. Ich stelle mir die beiden britischen Geeks vor, wie sie eingepfercht in einem Raum voll monströser Modular-Synthies sitzen. Aber nein, es geht um zeitgenössische Maschinen, das Duo beschränkt sich in seiner Arbeit zu großen Teilen auf Ableton: "Wir arbeiten viel mit Fieldrecordings, die wir in perkussive Kleinstteile zerlegen, sodass du sie kaum wiedererkennst. Wir mixen gewissermaßen die Natur in der Maschine und das wäre in dieser Form ohne Rechner kaum möglich", sagt Synkro. Und Indigo wirft seine souveräne Betrachtung eines inflationären Hitech-Hypes hinterher: "Das ist ja mittlerweile schon fast wieder eine Bedingung, viel Hardware zu benutzen,

um ernst genommen zu werden. Ich glaube, analoge Geräte haben einen starken Nostalgie-Faktor, wegen ihres oft warmen und deepen Klangs. Das entspricht aber eben nicht unserem Soundbild". Ich hake nicht weiter nach, macht total Sinn, denn die Musik auf "Akkord" klingt in der Tat nicht nur maschinell, sondern auch nach Rechnern, nein, besser noch, nach Rechnen. Eine Menge Mathematik Die Arbeit zweier, die ihre Musik eher kalkulieren denn schreiben? Ich frage, ob sie sich im Mathematik-Studium kennengelernt haben. "Nein, unser Interesse daran hat sich mit der Arbeit an der Musik ergeben, schließlich steckt da eine Menge Mathematik drin, die man eher unterbewusst wahrnimmt. Wir spielen auch auf dem Album darauf an. Der sechste Track heißt "Hex AD", das ist der griechische Name für die Nummer Sechs. Und über den Track ziehen sich 3/4- und 6/8-Zählzeiten, das gesamte Stück ist

also in Triolen gegliedert, die sich immer nach genau sechs Takten wiederholen. Ein anderes Beispiel für Mathematik und Geometrie in der Musik ist der Goldene Schnitt, den du zum Beispiel im Amen Break findest." Apropos Amen Break, auch "Akkord" folgt der britischen Tradition des Breakbeat, allerdings auf seine ganz eigene Weise: "Wir benutzen nur kleine Referenzen, spielen die Breaks kurz an aber niemals aus, so wie auf 'Folded Edge'. Dadurch bleibst du beim Hören hängen und willst mehr." Akkord sind Schüler der Post-Breakbeat-Science, spielen mit der unglaublich komplexen Rhythmik kleinteiliger, versetzter, nie wirklich greifbarer Percussion. Die wiederum auf eine extrem minimalistische Instrumentierung trifft - eine diffuse Fläche, mal ein trockenes Rauschen, maximal eine pluckernde, eintönige Bassline, nie aber auch nur der Ansatz von dominierenden Lead-Synthies. Und eben dieser Kontrast des Komplexen und Minimalen baut über das Album so eine extreme Intensität auf,

die mich unweigerlich an Alfonso Cuaróns Film "Gravity" denken lässt. An diese Spannung, die Nähe zwischen Sandra und George auf der einen, und dieser Leere, dem friedlichen und gefährlichen Nichts, in dem sie herumschweben, auf der anderen Seite. Ob ihre Maschinenmusik von Science-Fiction-inspiriert sei, frage ich. "Also zumindest dystopische Gedanken spielen eine Rolle, bedingt durch das Hier und Jetzt. Gerade passiert so viel Scheiße. Es wird doch dieser Tage immer deutlicher, in was für einer düsteren Welt wir eigentlich leben...", sagt Synkro und sein Kollege fügt hinzu: "... die von Maschinen regiert wird. "Technik bestimmt das Leben eines jeden, also ist es nur konsequent, wenn wir diese Maschinen auch nutzen, um unsere Musik zu produzieren und diese dann am Ende auch wirklich so klingt." Die Verhüllung ist also längst dem Einswerden mit dem Computer gewichen. Akkord, das ist ein natürliches Phänomen. Die ganz gewöhnliche, musikgewordene Symbiose von Mensch und Maschine.

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178 — MUSIK

NILS FRAHM

IM BLICK ZURÜCK ENTSTEHEN DIE DINGE

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Nils Frahm, Spaces, ist bei Erased Tapes erschienen.

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TEXT JI-HUN KIM

Im Berliner Wedding, unweit des Leopoldplatz, befindet sich die Wohnung und zugleich das Studio von Nils Frahm. Zur Begrüßung gibt es einen Kaffee. Nils stemmt dafür seinen Oberkörper kräftig auf den Hebel der verchromten Espressomaschine, jeder Griff sieht gekonnt aus. In seinem Arbeitsraum steht ein Klavier, ein kleiner Flügel und viel alte Musiktechnik, teils aus der Zeit, wo Potis und Regler optisch noch denen aus U-Booten und Panzern ähnelten. Nils Frahm ist Traditionalist, ein sympathischer noch dazu. Mit kulturpessimistischem Duktus hat das nichts zu tun. Vielleicht waren früher viele Dinge auch einfach mal besser? Woher kommt dein Faible für die ganzen Gerätschaften hier? Das mache ich, seitdem ich zwölf bin. Ich kaufe Geräte, probiere sie aus, repariere sie und verkaufe sie wieder. Seitdem interessiere ich mich für alten Käse aus den USA, der DDR, Russland. So kann man auch erleben, was in der Geschichte der Technik alles passiert ist und man lernt sie zu verstehen. Mein Vater, mit dem ich als Kind schon ECMPlatten und Arvo Pärt gehört habe, schenkte mir damals ein Keyboard. Ein Kumpel von mir hatte aber später einen Fender Rhodes, als ich den durch den Gitarrenamp jagte, war es um mich geschehen. Ich wollte in Bands spielen. Es hätte auch eine Leidenschaft für Synth-Pop à la Jean-Michel Jarre werden können. Jean-Michel Jarre ist ja ganz geil, weil er in einer Zeit Musik gemacht hat, wo die Instrumente noch schön waren. Die 8"er

»Ich fände es am besten, wenn bei jedem Silvester ein Jahr zurück gedreht würde. Dann hätte ich in sechs Jahren kein iPhone mehr, in 20 Jahren keinen Computer und irgendwann besäße ich nur noch Stift und Papier.«

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waren ja schon ein bisschen weird, die Instrumente aus den 7"ern waren aber cool. Weather Report, Chick Corea, ... Du warst schon ein bisschen Mucker. Genau, aber auch "Bitches Brew" von Miles Davis und elektroakustische Musik haben mich interessiert. Irgendwann kam der Computer, da hat man dann nicht mehr auf Tape aufgenommen. So bin ich zur Elektronik gekommen. Loops geschnippelt, Matthew Herbert, Techno. Woher kam's? Ich wollte wissen, was man mit dem Computer machen kann. Diese Erkenntnis war krass: Was für eine mächtige Soundmaschine ein Computer sein kann; aber auch, was er nicht kann. Irgendwann wollte ich was für meine Mutter machen. Das war 2""7. Ein Musikgeschenk und sie steht nicht so auf Frickelelektronik. Da dachte ich, dann spiele ich ihr was auf dem Klavier. Zwei Tage saß ich am Piano und habe "Wintermusik", später mein erstes Release, aufgenommen. In Hamburg über Weihnachten habe ich die gebrannten CDs meiner Familie und Freunden geschenkt und hochgeladen. So ging alles los.

damals gemacht wurde. Dass sie von seinen Zeitgenossen verachtet wurde und dass sie ein Affront gegen die Kunstfertigkeit des Komponierens war. Irgendwann wurde es schöne Popmusik. Dann tauchte seine Musik in der Werbung auf. Das konnte er nicht absehen, da kann er auch nichts dafür; davor muss man ihn schützen. Ich bin nicht in dem Sinne ein Klassik-Musiker. Der Großteil meiner Plattensammlung besteht aus Jazz. Mich interessiert die Improvisation. Aber ich sehe auch die Tendenz, dass Klassik die nächsten zehn Jahre wieder eine stärkere Rolle spielen wird. Gerade ist es Haydn, den ich für mich entdecke. Das ist der Klassiker schlechthin. Beethoven nannte ihn schon Papa Haydn. Sich mit Klassik auseinanderzusetzen ist eine Lebensaufgabe.

Hast du da erst entdeckt, dass du Musiker sein willst? Nein, ich wusste vorher schon, dass ich Musik machen kann, habe mich aber immer eher als Steigbügelhalter gesehen. Ich war nicht sonderlich daran interessiert, auf der Bühne zu stehen. Ich wollte mich eher unersetzbar machen im Studiobereich und mit anderen Künstlern zusammenarbeiten. Mein Talent ist, so lange an Dingen herum zu schrauben, dass sie am Ende noch besser werden. Fehler finden, Bilder gerade hängen. Deshalb reizt mich die Arbeit als Masteringingenieur und Produzent so.

Bist du eigentlich altmodisch? Für mich ist das eine politische Frage. Ich finde vieles, was heute verkauft wird, totalen Schrott. Ich brauche ein Umfeld, das funktioniert. Viele denken, ein altes Auto geht ja immer kaputt. Aber Dinge, die 6" oder 7" Jahre alt sind, kann man, wenn man weiß, wie sie funktionieren, noch weitere 5" Jahre betreiben. Sachen von heute gehen einfach nach ein paar Jahren kaputt. Da habe ich keinen Bock drauf. Leider werden heutzutage Dinge nicht mehr so gebaut wie früher. Das liegt an der Wirtschaft, die das unterstützt. Da wird ein Chip in den Drucker verbaut, der das Gerät einfach nach ein paar Jahren kaputt gehen lässt. Das kann ich nicht unterschreiben. Das ist furchtbar und macht mich wütend auf die Menschheit. Am besten fände ich, wenn bei jedem Silvester ein Jahr zurück gedreht würde. Dann hätte ich in sechs Jahren kein iPhone mehr, in 2" Jahren keinen Computer und irgendwann besäße ich nur noch Stift und Papier.

Wie kann man besser leben, als Masteringingenieur und Tontechniker oder als Musiker? Klar kann man als Musiker mehr verdienen. Ich verstehe mich weniger als Künstler, denn als Handwerker. Für mich ist ein Gitarrenbauer auch ein Künstler. So gesehen sind die letzten 8"" Jahre Musikgeschichte für mich relevant. (lacht)

Was bedeutet Musik für dich? Es ist etwas, das mich im Kopf gesund und klar hält. Viele denken, dass ich der ruhige, besonnene Musiker bin. Aber ich hau auch mal gerne zu und nach Konzerten kann es durchaus passieren, dass das Klavier zum Fachmann muss, um wieder hergerichtet zu werden. Was andere beim Sport haben, kann man auch mit Musik erleben.

Da gab es vielleicht gerade mal Neumen. Mag sein. Aber ich kann musikhistorisch schwierig eine Epoche für mich ausschlaggebend machen. Ich kann nicht sagen: Satie ist mein Gott oder Debussy.

Darum ging es auch auf dem Live-Album. Ich wollte ein Dokument haben. Gute Signale aufnehmen. Wir haben die ganze Tour aufgenommen und wollten, dass der Aufnahmeprozess dabei so normal wie möglich ist.

Erik Satie wird von der Elektronikszene gerne falsch verstanden. Er war seinerzeit ein bitterböser Zyniker und stieß vielen Leuten vor den Kopf. Satie wird oftmals bemüht. Man sollte mehr über ihn reden, damit die Leute auch wissen, in welchem Kontext seine Musik

"Spaces" ist also nicht in der Tradition von "XY live at Madison Square Garden" produziert worden? Ich kann keine 9" Minuten lang alles auf den Punkt spielen. Ich hatte Aufnahmen von 3" Konzerten und habe mit dem Material

später gearbeitet. Wenn man live improvisiert und es geht etwas schief, dann ist es im Publikum schnell vergessen. Auf Platte können Fehler schnell nerven. Es war eine Reaktion darauf, dass Leute nach den Konzerten zum Merch-Stand kamen und fragten: Wo kann ich das hören, was du heute gespielt hast? Das hat mich irgendwann weichgeprügelt. Ein Konzert ist aber auch dynamisch. Es kann laut und leise sein. Das führt beim Hören zu Hause zu Problemen. Kritisierst du ein Stück weit die heutige Musik-Konsumkultur? Meine Fans sind ja teilweise größere Musikliebhaber als ich. Ich höre von jungen Menschen, die zwischen 18 und 2" sind, dass sie Listening Partys veranstalten. Die kommen nach dem Feiern nach Hause, hauen sich auf die Kissen, hören "Felt" und kiffen sich einen. Das spornt mich an. Ich habe diese romantische Vorstellung des nordschwedischen Dorfs, wo ein Junge die "Sgt. Pepper" hat und alle mit ihren Fahrrädern zu ihm hinfahren und das Album 8.""" Mal hören, auch weil es die einzige Platte weit und breit ist. Auf Soundcloud, YouTube und Spotify wird Musik nur noch verramscht. Wie kommen wir zu dem schwedischen Dorf zurück? Gar nicht, man kann die Uhr nicht zurück drehen. Man kann aber demütig anerkennen, dass eine goldene Ära des Musikhörens ausgelebt ist. Es gibt ja immer wieder erstaunlich gute Musik. Wenn ich mir The Gentleman Losers auf City Centre Offices anhöre, da gibt es so viel Tiefe, Schönheit und ganz fantastische Produktionen. Was kannst du, was andere nicht können? Es geht ja gar nicht um Technik oder Virtuosität. Wenn man fragt, was kann Thelonious Monk, was andere nicht können, dann ist die Antwort: das Falschspielen. Er könnte weder Mozart noch Rachmaninow spielen. Rachmaninow kann ich auch nicht, aber ich spiele meine Sachen so, wie ich sie spiele. Demnächst werde ich Noten veröffentlichen und dann wird man feststellen, dass jeder meine Musik anders erklingen lassen wird. Die Dinge zwischen den Zeilen. Da funktioniert jeder Körper anders und das reizt mich auch an akustischer Musik, dass man durch Körper sprechen kann.

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178 — MUSIK

TEXT SASCHA KÖSCH

DEO & Z-MAN MUSIK DIE KEINEN FLOOR BRAUCHT

Hamburger? Nicht ganz. HipHop Background. Klar. Brüder. Wirklich. Deo & Z-Man hatten in den letzten Jahren immer wieder mal einen überraschenden Ausnahme-Hit, der knapp an der Grenze zum klassischen House-Sound lag. Sie hatten immer wieder ein paar Beats mehr als alle anderen und doch hatte man das Gefühl, sie wollen auf mehr hinaus. Und Ihr Album "No Bullshit" ist genau das geworden: So ein nächster Schritt, Dancefloor jenseits von allem - oder auch nicht. Spaghetti-WesternSoundtrack, Killerelektro, HillbillyHop, Ausflüge in die Jazzklause, viel Vocodergesang, Scratches, ein augenzwinkerndes DubstepStück und ein Gute-Nacht-Lied. Musik die keinen Floor braucht, auch wenn man immer wieder unwillkürlich an ihn zurück denkt.

"No Bullshit" ist das Thema des Albums, das man nur verstehen kann, wenn man weiß, woher die beiden kommen: Skater, HipHop, Jugendzentren, Kleinstadt, ihr kennt die Szene. Jeder kennt jeden und alles hängt zusammen. Ein Mief, aus dem man herauswachsen kann. Wart ihr je eine ernsthafte HipHop -Band? Deo: Das war unsere erste aktive Phase. Dani (Z-Man) war der DJ, ich hab ein bisschen Beats gebaut und dann hatten wir noch einen Hauptrapper. Z-Man: Da haben wir aber auch noch Zuhause gewohnt. Deo: Das war ein Kleinstadtding. Im Norden. Wir haben jedes Kaff im Norden mit HipHop-Beats bespielt... Z-Man: ... und jedes Jugendzentrum. Warum hat sich das später gewandelt? Deo: Das hatte viele Gründe. Wir sind zum einen nicht so dogmatisch, dass wir

uns auf etwas festlegen und dann nur noch das abfeiern. Es war eine Phase. Es gab auch Phasen in der ich gerappt habe, dass ich Techno schwul finde. Z-Man: Das mit der Schwulenfeindlichkeit macht er aber nicht mehr. Irgendwann waren wir auch im Club-Alter. Deo: Da schwappte auch viel von anderen Leuten rüber. Es gab ja gar nicht so viel in der Kleinstadt, da musste man sich mit anderen Subkulturen schon beschäftigen. Rendsburg, da wo so viele DJs herkommen: Till von Sein, Phono, und was weiß ich, wer noch. Unser Rapper war auch immer sehr schreibfaul. Deshalb haben wir auch immer mehr Beats produziert, die instrumental funktionieren. Aus der Not heraus haben wir dann gesehen wie wir die Beats auch anders verwursteln können. Das hat viel in den Hörgewohnheiten verändert. Das Clubben und das Rapfaulwerden hängt auf vielen Ebenen zusammen.

Und dann kam Hamburg, Hafenklang, die Bars. Und der Pudel, wo sie seit acht Jahren einen eigenen Abend haben. In Hamburg stürzten sie sich das erst Mal voll in das völlig eigene Clubleben der Stadt. Deo: Kurz nach dem Millenium haben wir eine Zeitlang einen DJ-Jetset zwischen Rendsburg und Hamburg geführt, das war der Hammer. Mit der Nord-Ostsee-Bahn. Der Pudel ist, was das persönliche Feierinteresse angeht, unser Hauptspot und weil wir da schon so viele Jahre sind. Und trotzdem läuft Ralf Köster immer noch an uns vorbei und schnallt's nicht. Die Peilerei ist halt groß. Im Pudel wird ja sehr Chart-entfernt gespielt. Es gab Phasen, wo es verboten war, gerade Beats am Wochenende zu spielen. Aber es jetzt läuft viel Oldschool, House und Acid auf jeden Fall. Aber es gibt immer noch viele quere Abende, wo man jeden, der nicht auch nur im Ansatz ein wenig Musikenthusiast ist, sofort nach Hause schickt.

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DEO & Z-MAN, No Bullshit ist auf Hafenklang erschienen

Und nach dem Club sind die beiden wieder da wo sie herkamen. Oder besser: dahin gekommen, wohin sie die ganze Zeit schon wollten. Der innere Wildstyle. Ein Sound, der sich nicht festschreiben lässt, der pure Bewegung ist, aber doch alles transportiert was man die Jahre über mitgenommen hat. Deo: Wir haben zwar schon ein paar Tanz-Singles gemacht, und das ist auch gut und schön, aber irgendwie verlor sich der Spaß im Studio. Wir haben ja immer schon wild in den Genres produziert. Die Grundidee war, das zu machen, was Spaß bringt, was richtig schockt. Die Offenheit mit den Sachen. Z-Man: Wir kamen an einen Punkt, an dem wir einfach wieder Beats bauen wollten, mal wieder Funk-Platten absamplen. Das digitale Arbeiten hat uns auch genervt, das Produzieren vor dem Rechner.

Deo: Wir haben im neuen Studio auch mehr Space, und konnten alles neu verkabeln und uns beim Musikmachen bewegen. Nicht mehr auf dem Hocker in die Röhre starren, körperlich bleiben, Sein. Wir machen das jetzt 15 Jahre, haben eigentlich immer Wildstyle gemacht und waren das erste Mal unzufrieden, als wir uns auf ein Ding fokussiert haben. Eigentlich sind Deo & Z-Man mit "No Bullshit" mehr eine Band. Man möchte ihnen einen Gospelchor geben, ein Bläserensemble, Tänzer, Seilakt, Video-Show und alles was zu einem übertriebenen Megaauftritt im Stadion dazu gehört. Gastmusiker für eine Tour einladen ist aber nicht drin. Lieber Synths und Drummachines mitschleppen und versuchen, dem Album auf der Tour doch wieder etwas mehr Club-Gefühl einzuhauchen, auch wenn es Tempobreaks und wilde Passagen geben wird. Der

»Kurz nach dem Millenium haben wir eine Zeitlang einen DJ-Jetset zwischen Rendsburg und Hamburg geführt. Das war der Hammer.«

Tourbus mit Massage-Abteil wird noch eine Weile warten müssen. Aber die beiden haben schon jetzt einen Plan zur Welteroberung: Deo: Wir bauen einen KaugummiGimmick-Automaten, der alle zwei Wochen von Plattenladen zu Plattenladen ziehen soll. Den "No Bullshit"-O-Mat. Wir füllen den gerade: Ein Euro für etwas langweiliges wie Kaugummi oder Sticker, Bullshit halt. Aber man kann auch einen Albumgutschein ziehen, auch als Tape (das Tape-Release machen wir selbstverständlich selber). Du kannst halt was im Wert von bis zu 15 Euro gewinnen - oder Bullshit. Die Tour des "No Bullshit"-O-Mat in Hamburg wird wohl nicht so lange dauern. Mal sehen wie wir die Logistik im Rest der Welt hinbekommen. Es ist nämliche ein amtlicher Automat.

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178 — MODE

TEXT TIMO FELDHAUS

KOMMUNIZIERENDE KLEIDER ANNA-SOPHIE BERGER

Anna-Sophie Berger entwarf die meistgeklickte Debütkollektion des Jahres. Die 24-jährige Wienerin machte ihren Abschluss bei Bernhard Wilhelm, sie oszilliert gelassen zwischen Kunst und Mode. Berger präsentierte ihre Kleider letzten Monat in London, aktuell in Brüssel, nächsten Monat in Melbourne und im Januar in New York. Und alles nur, weil sie Angela Merkel großflächig auf ihre Theoriekleider druckt? Wir fragten bei ihr nach. Anna-Sophie, in deiner aktuellen Kollektion setzt du dich mit dem Thema Trend auseinander, bringst gar Roland Barthes ins Spiel. Du postulierst eigentlich den Tod des Trends. Wenn ich das nun einmal sagen darf: Ich finde deine Kleider allerdings sehr modisch und absolut trendsicher. Die Kollektion spürt den Dingen nach, die sich aktuell bei den gerade richtigen Designern beobachten lassen: einfaches, großflächiges Drucken von Slogans, Wörtern, Motiven, Logos, Zeichen auf Kleidung, Pop-Minimalismus, Colour Blocking, industriekritischer Diskurs über Mode, Kunst-Anschluss. Es sieht vor allem auch irgendwie sehr Internet aus. Ich befürchte also: Dem Trend lässt sich genauso wenig entfliehen wie der Mode selbst. Sie werden beide ewig leben. Ich postuliere nicht den Tod des Trends. Das ist für mich eine Unmöglichkeit, denn zeitgebundene Strömungen wird es immer geben und ich liebe diesen Aspekt der menschlichen Kultur. Ich würde meine Kollektion auf keinen Fall als Proklamation eines Endes sehen wollen. Es ist eine Reflexion. Das Prinzip des Neuen in Referenz auf das Alte, eine enge Hose, die auf eine weite Hose folgt. Die Kollektion spielt mit diesen grundlegenden ästhetischen Ausformungen des Trends. Sie ist eine Referenz auf Trend und Mode, wenn man so will, aber sie ist zu jedem Zeitpunkt auch ein Werk ihrer Zeit. Der starke Einfluss des Internets ist natürlich auch Teil davon. Die Kollektion spielt mit einer Vereinfachung und Minimalisierung von Formen – Basisröcke, Ballkleider – versucht dadurch aber nicht sozusagen den Tag Null der Mode heraufzubeschwören. Jede Gruppe der Kollektion besteht aus vier miteinander kommunizierenden Kleidungsstücken, die auf die verschiedene Weisen den Zeitgeist, den menschlichen Körper, Konsum oder aber auch einfach Kragenformen an einem T-Shirt hinterfragen.

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BILD MILICA BALUBDZIC

Warum druckst du großformatige Prints von Angela Merkel und Condoleezza Rice auf deine Kleider? Da ich mich sehr für Internetbenutzung, TumblrVerhalten und meinen Alltag am Computer interessiere,

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Die Luxusideologie der Fashionweeks trivialisiert die Bedeutung von Kleidung.

kamen Bildmaterialien aus der Google-Bildersuche ins Spiel. So gibt es in der Kollektion sowohl die 3D-Charakterprints, die Found Footage von einer DiätWebsite sind, sowie die Schals mit den Portraits. Ich fand es interessant, dass Angela Merkel als politische Figur das Internet als Bild überflutete. Als Frau in einer politischen Position ist sie sowohl machtvoll als auch unter ständiger Beobachtung. Jeder kennt die Kultur der Fanshirts oder Memorial-Scarfs aus dem HipHop. Ich wollte eine Person in meine Kollektion einbauen, die per se erst einmal nicht zur "Modewelt" gezählt wird. Dennoch, und das ist der springende Punkt, hat ihre Garderobe ikonischen Charakter und verstärkt damit meine These, dass Kleidung eine Bedeutung hat, die oft von der Luxusideologie der Fashionweeks trivialisiert wird. Es sind nun also "Fanschals" von Personen, die ich nicht zu Idolen erkläre, sondern als dominante Figuren des Internets herausgreife. Es gibt spätestens mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts eine stetige Verbindung zwischen Kunst und Mode. Wie hat sich diese durch das Internet verändert? Ich weiß nicht, inwiefern sich das Verhältnis Kunst und Mode dadurch verändert. Ich denke manchmal, die Dinge existieren mehr online als offline. Meine letzte Kollektion wurde niemals produziert und hatte eine unglaubliche Onlinepräsenz. Vor einigen Jahren wäre das nicht möglich gewesen, weil die Industrie stärker nach

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dem fertigen Produkt gefragt hätte. Aus einer Mischung von frei publizierenden Medien, Blogs und dem Tempo der Bildverbreitung durch Reblogmedien ergibt sich eine neue Machverteilung. Durch diese neuen Regeln und den Einfluss von Instanzen, die ohne konkrete wirtschaftliche Ziele Inhalte wild mischen, neukombinieren und verbreiten, ergeben sich Verschränkungen, die das Verhältnis und den Sinn von Design und Kunst, ja Kommerz und NichtKommerz stark verändern. Für das Magazin Tourist wurdest du um einen Beitrag gebeten. Du hast das legendäre Interview von Ayn Rand im Playboy von 1964 präsentiert. Warum? Ich halte die Werke von Ayn Rand sowie ihre Philosophie für sehr spannend. Namentliches Interview hatte mir ein sehr lieber Freund geschickt, auf ein Gespräch antwortend, das ich mit ihm hatte. Der Artikel hatte daher sowohl emotionalen wie inhaltlichen Wert. Ich kann jetzt nicht im Detail auf meine Haltung zu Rands Philosophie eingehen, aber ich finde es wichtig, ihr Werk gesondert des neoliberalen Stempels offen zu lesen. Das spanisch/italienische Label Shallowww hat diese Ansage auf ihrer Website stehen. Ich musste sofort an deine Sachen denken: "WEEE BUYYY GOLDDD talks about a fashion system that doesn’t exist anymore. The world changes and mass consumption has become an

unpredictable network where trends, brands and itgarments die before they hit the street. Since fighting against this system seems like a utopian mission, Shallowww has taken the opposite way and now presents the first items of a new project that adopts these chaotic, dystopian mechanisms, and transforms them into clothing. Instead of closed collections, open textile projects. As in a contemporary tumblr, the dynamic here is based on drag & drop system. Fashion becomes a free combinatory game where categories such as homewear, outerwear, underwear, nightwear or eveningwear become liquid and relative." Kannst du damit etwas anfangen? Inwiefern hat Internetkultur konkret Einfluss auf deine Arbeit? Mir gefällt das Zitat sehr gut. Ich liebe die Zeit, in der ich lebe. Während der Frieze in London war ich bei dem unglaublichen 89+-Marathon in der Serpentine Gallery, der sich mit ganz jungen Künstlern befasst hat. Es war wundervoll. Ich bin ein absoluter Internetfreak. Ich habe sehr oft Diskussionen mit Freunden, die sich in einer Art finsterer Dystopie verstricken, in der Annahme, alles würde schneller und damit schlechter, hätte weniger Qualität etc. Ich fand das Event unter anderem so toll, da es klar gezeigt hat, dass diese meine Generation nicht die Urteilsfähigkeit oder ihre Gefühle einbüßt, sondern dass sich einfach die Art und Weise, das zu äußern, radikal ändert. Was interessiert dich an der Arbeit mit Stoff, Kleidern, Mode grundsätzlich? Mich interessiert der Körper als Skulptur. Die gleichzeitige künstlerische Auseinandersetzung mit kommerziellen Produkten hat für mich eine spezifische Radikalität. Schließlich interessiert mich Kleidung als das zentrale, wichtigste ästhetische Resultat jedes Individuums – der bekleidete Körper – und die Kommunikation von Kleidung, Träger, Gesellschaft. Empfindest du es als schlimm, dass es alles bereits schon einmal gegeben hat? Absolut nicht. Um nicht mit Theologie zu antworten: Mathematisch ist alles immer eine Neukombination. Die Masse an Produziertem schüchtert mich nie ein. Sie motiviert mich.

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178 — MODE Orangefarbene Mütze: Irie Daily Blauer Sweater: Carhartt Kleine Turnschuhsohle: Puma Trinomic XT2 PLUS OG Schwarzer Sneaker: NEIGHBORHOOD for Converse

SCHERE KöRPER PAPIER

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COLLAGEN ANNE FELDKAMP (BLICA.NET)

178 In-Ear: Urbanears Kransen Tasche und Aufn채her: Irie Daily x Muschi Kreuzberg Jacke: Ethel Vaughn Orangefarbene Steppjacke: Carhartt Boxershorts: Cleptomanicx Sneaker: Puma Trinomic XT2 PLUS OG Overknees: Shallowww

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178 — MODE Jacke: Stone Island Ice Jacket Hose: Ethel Vaughn Schuhe: Pointer

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178 Telefon: Nokia Lumia 1020 SneakerBoot: Nike Lunar LDV Aufn채her: Irie Daily x Muschi Kreuzberg

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178 — WARENKORB

ARCHITEKTUR VON BRANDLHUBER+ ZEITGEMÄSS LEBEN Endlich diese Übersicht! Mit "Von der Stadt der Teile zur Stadt der Teilhabe" gibt der Neue Berliner Kunstverein so etwas wie einen Werkkatalog des Architekturbüros Brandlhuber+ heraus. Dort fragt man sich derzeit wie in kaum einem anderen Büro, wie Gebäude für ein zeitgemäßes Zusammenleben auszusehen haben. Ökologisch, nutzungsneutral und preiswert – die "As Found"-Ästhetik des Büros weiß die widersprüchlichen Anforderungen des Zeitgeistes immer wieder zu verbinden, ohne dabei soziale Neuordnung im negativen Sinne zu betreiben. Nehmen wir den schon repräsentativen Rohbetonbau "Brunnenstraße 9": Um die Nutzungsneutralität des Gebäudes zu wahren, ist die Treppe ausgelagert. Die Geschosshöhen der Nachbarhäuser wurden übernommen – falls eines Tages ein Durchbruch gewünscht wird –, woraus die springende Staffelung der Fassade resultiert. Und um den niedrigen Mietspiegel der Nachbarschaft nicht zu verzerren, entschied man sich für preiswerte Materialen und gegen aufwändige Innenausbauten. Oder die "Antivilla" im brandenburgischen Krampnitz: Brandlhuber kaufte preisgünstig ein zum Abriss freigegebenes Stofflager, setzte einen heizenden Saunaofen in die Mitte und zog darum Vorhänge aus transparenten PVC-Folien. Dadurch bilden sich verschiedene "Klimazonen", was die Nutzungsfläche, je nach Außentemperatur, erweitert oder verringert. Das zeigt: Gebäude stehen bei Brandlhuber+ nie für sich, sondern immer in Kontexten wie einer Welt mit endlichen Ressourcen oder einer Stadt mit problematischer Mietpolitik. Zudem zeigt sich Arno Brandlhuber in den beigefügten Interviews als ein begnadeter Dampfplauderer, was den Band zusätzlich aufwertet. Moritz Scheper Marius Babias (Hrsg.): Von der Stadt der Teile zur Stadt der Teilhabe. Berliner Projekte. Verlag der Buchhandlung Walther König.

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SANDISK WIRELESS FLASH DRIVE Zusätzlicher Flashspeicher in Tablets und auf Smartphones kostet gerne mal einen Hunni extra für 32GB. Blanker Horror, völliger Wahnsinn. Also lieber knapsen. Und was, wenn man vorher nicht weiß, auf welchem Gerät man welchen Film, welche Datei man nun eigentlich unterwegs braucht? In die Cloud laden und auf den Gott der schnellen Leitung vertrauen? Schluss damit, sagt SanDisk und bringt mit dem Wireless Flash Drive einen externen Speicher im USBStick-Format, den man über WiFi als ausgelagerte Festplatte für Smartphones und Tablets nutzen kann (Android und iOS). Das WiFi kann man dabei entweder als eigene Basisstation nutzen, oder als Bridge ins eigene Netzwerk einklinken, so dass man nicht auf Netz verzichten muss, wenn man zwischendurch mal eine Datei braucht. Erweiterbar ist es dank Verwendung austauschbarer microSD als Speicherformat obendrein. Filme, Musik und Daten lassen sich hin- und herkopieren, aber auch Streamen (an bis zu drei Geräte gleichzeitig). Das einzige Manko ist eigentlich, dass der Akku nach circa vier Stunden Nutzung leer ist; lädt man ihn am Rechner (statt über ein USBAufladegerät) auf, dann ist das Flashdrive nicht zu erreichen. Der perfekte Ersatz für Geh-LANs in allen Umgebungen, in denen zu viele Smart-Dingse herumliegen. Preis: ca. 6" Euro

LEAP MOTION AHA-MOMENT MIT FINGERTRACKER

Das hatten wir schon lange nicht mehr, einen echten Aha-Moment mit PC-Hardware: Leap Motion trackt berührungslos Fingerbewegungen, und zwar so präzise, dass man allein schon beim Herumspielen mit den Demo-Apps ganz neue Gefühle entwickelt. Das, was auf dem Bildschirm passiert, hat man tatsächlich in den Händen, man spürt den Bildschirm. Schon die Skelett-Klone der eigenen Hände, wie sie schwenken und sich biegen, so filigran und doch kräftig: Das ist eine neue Qualität von Interaktion mit dem Rechner. Dabei tut diese Demo-App nichts anderes, als das Bild, das sich Leap Motion von meinen Händen macht, darzustellen. Ein bisschen magisch ist das schon, zumal eine Latenz kaum spürbar ist. Auch der Funkenflug, den man mit Fingerspitzen durcheinanderbringt, die Musikinstrumente, die rudimentären Spiele - Leap Motion ist durch seine Unmittelbarkeit der großen Kinect-Konkurrenz um einiges voraus. Man spürt den Computer, ein ganz komisches Gefühl (und zweifellos eine Nerd-Wonne). Die Sache mit Leap Motion ist allerdings doch, wie mit all dem anderen Interface-Kram, mit dem derzeit so experimentiert wird: total spannend, aber wie soll das im Alltag funktionieren? Für was? Als Musikinstrument, lautet natürlich die DE:BUG-Antwort. Nicht zur Gestensteuerung, sondern als modernes Theremin, das gleitende Bewegungen in Computer-Absolutheiten übersetzt. Ob Leap Motion darüber hinaus eine Zukunft am Arbeitsplatz oder als Spielzeug hat, das wird sich mit der - hoffentlich - demnächst erscheinenden Fülle an Apps (über den angeschlossenen Appstore) zeigen. Wahrscheinlich ist Leap Motion erst in Kombination mit anderen Geräten eine spannende Option. Der Preis jedenfalls ist schon ein Argument für sich: Für circa 9" Euro bekommt man woanders nicht einmal eine Tastatur oder Maus. Kurzurteill also: Spannend, aber unschlüssig. Preis: circa 9" Euro.

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178 — MUSIKTECHNIK

TEXT & BILD PETER KIRN

Preis: 159 Dollar

KORG & LITTLEBITS SYNTH KIT SYNTHESE ALS KINDERSPIEL

Mit Lego zu spielen macht Spaß: einfach ein paar Steine zusammenstecken und schon entwickelt sich daraus nach und nach etwas Neues. Musiker haben schon lange auf etwas gewartet, das nach dem gleichen einfachen Prinzip funktioniert, sich dabei aber mit modularer Synthese beschäftigt. So kam es zu diversen Prototypen, die zum Teil tatsächlich auch Lego-Steine benutzten. LittleBits haben jetzt in Zusammenarbeit mit Korg das Konzept der zusammensteckbaren, spielzeugartigen Modularsynthese realisiert.

Das littleBits Synth Kit besteht aus einer Reihe von Modulen, die im Set für 159 Dollar (plus Versand) zu haben sind. In der Box befinden sich die Grundmodule die man für einen einfachen Synthesizer braucht, inklusive Oszillatoren, einer Hüllkurve, einem Filter, einem Delay, sowie einem Stepsequenzer und einem Keyboard. Das Synth Kit ist der erste Synthesizer von littleBits, aber nicht ihre erste Hardware. Das Startup aus New York hat bereits jede Menge Aufmerksamkeit für ihr Bemühen bekommen, Kindern das Basteln mit Elektronik mit ihren Modulen nahezubringen. Ähnlich wie beim Arduino lassen sich mit den littleBits Licht, Motoren, Sensoren und ähnliches zur eigenen Hardware kombinieren. Anders als beim Arduino müssen dafür allerdings keine Kabel verlegt und Widerstände eingebaut werden, alles läuft mit einer 9-Volt-Batterie und wird über kleine Magnete miteinander verbunden. Module zusammenbauen und Prototypen erstellen wird so tatsächlich mit schlichtem Zusammenstecken möglich.

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Auch mit dem Synth Kit geht das genauso einfach: einen Oszillator mit dem anderen verbinden, schon hat man Frequenzmodulation. Mit den "Split“- und "Mix“Modulen lassen sich zwei verstimmte Oszillatoren zusammen mischen. Eine Drummachine bekommt man durchs Zusammenstecken eines Noise-Oszillators mit dem Sequenzer. Der wiederum lässt sich auch vor einen anderen schalten, um zufällige Tonhöhenmodulationen im Sample&Hold-Stil zu erzeugen. Die Stärke des littleBit Synth Kits in Sachen Sound ist die Kollaboration mit Korg. Tadahiko Sakamaki, verantwortlich unter anderem für den KAOSSilator und die nanoSERIES, sowie Tatsuya Takahashi, maßgeblich für die Volcas und die Monotron-Serie verantwortlich, haben tatkräftig mitgearbeitet. Die Klang-DNA der Monotrons findet sich auch im Synth Kit wieder: sowohl der analoge Oszillator als auch das Delay stammen aus der MonotronSerie. Der Filter wiederum stammt aus dem MS-2" (die zweite, etwas cleanere Variante, nicht die aus dem MS-1"/ MS-2" von 1978). Dementsprechend macht das Synth Kit soundmässig viel Spaß. Das Delay hat den ganz bestimmten Monotron Delay-Sound, der Filter – ob selbstoszillierend oder beim Filter-Sweep - bringt reichlich MS-Charakter mit. Was man allerdings nicht erwarten kann, ist ein komplettes, ausgewachsenes Modularsystem für 159 Dollar. Das magnetische Design ist auf seine Weise genial, aber genau wie man kein richtiges Haus aus Lego bauen würde, löst sich die Magnetverbindung relativ einfach und führt zu Strom- und Sound-Aussetzern. Die Teile sind sehr klein, und im zusammengebauten Zustand zuweilen instabil, es gibt kein MIDI und der Rauschabstand ist nicht gerade das, was man High-Fidelity nennen könnte (auch wenn ein Teil des Charmes natürlich gerade durch den LoFi-Sound entsteht). Ein paar dieser Probleme dürften in Zukunft behoben werden: Laut littleBits soll es bald ein MIDI-Modul geben, vielleicht auch noch andere, falls das Synth Kit ein Erfolg wird. Außerdem gibt es einen zukaufbaren Plastikrahmen, der den zusammengesteckten Modulen mehr Halt gibt; wahlweise lassen die sich auch auf die eigene DIYKeytar kleben, wie littleBits in der Anleitung empfehlen. Dazu kommt natürlich noch das schlichte Problem, dass man bei nur zwölf Modulen schnell an die Grenzen der Erweiterbarkeit gerät. Mit nur einem Split- und einem MixModul und der begrenzten Zahl der anderen Module ist nur eine begrenzte Anzahl an Kombinationen gegeben. Wenn man das littleBits Synth Kit allerdings als eine Art Sound-Lego sieht, ist es durchaus sinnvoll. Um Kindern Synthese und Klangfluss nahezubringen, hat es bisher nichts ähnlich direktes gegeben. Auch Erwachsene können damit unglaublich einfach Hardware zusammen basteln. Gemeinsam mit ein paar anderen littleBits-Modulen,

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Verbinde zwei Oszillatoren, schon hast du Frequenzmodulation.

zum Beispiel LEDs, Motoren, Touchsensoren, SoundEingang und so weiter, lassen sich dann schnell aus einem Synth kinetische Skulpturen bauen oder mit neuen Eingabemöglichkeiten experimentieren. Wie bei Lego muss man aufgrund der Einfachheit auch Abstriche in Kauf nehmen: Wer selbst Instrumente bauen kann, kommt mit weniger Geld zu zuverlässigeren und besseren Ergebnissen. Aber auch Leute mit entsprechenden Kenntnissen dürften durchaus Gefallen finden an der spielzeugartigen Herangehensweise beim littleBits Synth Kit, besonders im Zusammenhang mit dem Korg-Sound.

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178 — MUSIKTECHNIK

TEXT & BILD BENJAMIN WEISS

Preis: 500 Euro Max-Editor für den Waldorf Pulse 2: filthyfilterz.com Preis: 6 Euro

WALDORF PULSE 2 RÜCKSTURZ IN DIE NEUNZIGER

Mit dem Pulse 2 hat Waldorf einen der einflussreichsten Synthesizer der späten Neunziger reaktiviert: den Pulse beziehungsweise Pulse +, der quer durch alle Genres in etlichen Releases dieser Zeit zu hören ist.

Der Waldorf Pulse 2 sitzt im gleichen Stahl-Desktop Gehäuse wie der Blofeld, kommt mit acht massiven Drehreglern und einer Bedienungsmatrixs, über die sich übersichtlich alle Funktionen finden lassen: links einen Button drücken, und schon liegen die entsprechenden Parameter auf den sechs Endlosdrehreglern. Das wäre mit dem verfügbaren Platz auch nicht anders möglich, ist aber tatsächlich sehr schnell und übersichtlich. Das große, beleuchtete Display zeigt in gigantischen Lettern die Nummer des Presets an, darunter steht dann klein auch der Name, was etwas kurios anmutet. Die weichen bei einigen wenigen Untermenüs (mehr als zwei Ebenen tiefer geht es nie) dann den entsprechenden Parametern; navigiert wird mit zwei Pfeiltasten und einem gerasterten Drehregler.

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Anschlussseitig gibt es neben MIDI In und MIDI Out (der auch sämtliche Noten des Arpeggiators und die Controllerdaten ausgeben kann) einen Stereoeingang für externe Signale zum Filtern, einen Stereoausgang und einen Kopfhörerausgang, dazu USB (mit MIDI) und Gateund CV-Out. Die CV/Gate-Implementation ist übrigens recht umfangreich und bietet neben Volt/Okt. und Hz/Volt auch Tuning für CV und wahlweise S-Trigger oder normales Triggerverhalten für Gate. Der Pulse 2 kann sämtliche Sounds des Pulse und Pulse + laden und reproduzieren, wofür es extra den Pulse Legacy Mode gibt, der dann auch nur die Parameter des Vorbildes hat. Oszillatoren und Filter Der Pulse 2 bietet drei digital gesteuerte analoge Oszillatoren, die die üblichen Wellenformen plus PWM und APW (eine PWM-Variation mit alternierender Pulswelle) haben können. Der dritte Oszillator kann darüber hinaus auch mit einem externen Signal oder dem Feedback-Signal gespeist werden. Im Unison-Modus gibt es außerdem die Möglichkeit, mit bis zu acht PWM-Oszillatoren Paraphonie zu erzeugen, also acht Stimmen gleichzeitig erklingen zu lassen, die sich dann aber den Filter teilen. Die Filtersektion bietet ein MultimodeFilter, bei dem nur der Tiefpass bis zu 24 dB Flankensteilheit hat: trotzdem packt er in allen Modi kräftig und ohne große Lautstärkesprünge zu. Modulation: LFOs und flotte Hüllkurven Zwei LFOs gibt es, die sich zusätzlich zur Hüllkurve auf insgesamt 25 verschiedene Modulationsziele lenken lassen. Die LFOs können wahlweise frei laufen oder schrittweise zum Tempo synchronisiert werden. Die Hüllkurven dürften zu den schnellsten in dieser Preisklasse gehören: zuschnappende Zaps, knackige Bassdrums und Percussion-Elemente lassen sich damit problemlos erzeugen.

Sound Der Pulse 2 hat, wie schon sein Vorgänger, einen sehr charakteristischen und vielseitigen, eigenen Sound: druckvolle, trockene Bässe mit schnellen Attacks, aber auch intensive Modulationen mit schmatzigen Filterfahrten, breite ausladende Pads, Noiseorgien und Ravepianos sind möglich. Dabei ist der Sound grundsätzlich ein wenig kühl und, anders als bei einem klassischen monophonen Analogsynthesizer, immer sehr präzise und detailliert, aber trotzdem sehr lebendig und auf seine ganz eigene Art organisch. Inoffiziell aber praktisch: Max-Editor Auch wenn der Pulse 2 mit 5$$ Speicherplätzen kommt, ist ein Editor eine praktische Sache, allein schon zum Sounds basteln. Ruben Hulzebosch hat einen ziemlich nützlichen in Max gebaut: der kann nicht nur unter OS X und Windows Standalone eingesetzt werden, sondern funktioniert auch als Max4Live-Patch und ist für sechs Euro zu haben. Da sämtliche Parameter via MIDI CCs und Sysex steuerbar sind, kann man sich natürlich relativ einfach auch selbst einen basteln. Der Pulse 2 ist eine gelungene Reinkarnation des Pulse, nur besser und bedienungsfreundlicher: Der ausgewachsene Arpeggiator erweitert seine Fähigkeiten deutlich und die Paraphonie (mehrere Oszillatoren, aber nur ein Filter) sorgt für breiteren, abwechslungsreicheren Sound. Demnächst soll wohl noch ein speziell auf den Pulse 2 ausgerichtetes Effektboard kommen, außerdem soll es in Zukunft per Firmware-Update möglich werden, den Pulse mit dem Pulse 2 zu kaskadieren, so dass man eine polyphone Version bekommt. Alle Fans der ersten Version dürften den Pulse 2 lieben. Der einzige Nachteil, im Vergleich zum Vorgänger, ist der fehlende CV/Gate-Eingang.

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178 — MUSIKTECHNIK

TEXT & BILD BENJAMIN WEISS

Preis: 329 Euro

ARTURIA MICROBRUTE KLEINE GRAUE ACIDKISTE

Mit viel Marketing hat Arturia den MicroBrute angekündigt: Noch bevor klar war, um was es überhaupt geht, gab es als Teaser jede Menge Endorsements von Künstlern wie Keith Shocklee und Chris Cross. Das hat erstaunlich gut geklappt und dem MicroBrute viel Aufmerksamkeit gesichert, zuweilen auch gepaart mit der "Sensationsnachricht", es gebe einen Analogsynthesizer für unter 300 Euro. Dass sich damit nicht unbedingt ein Blumentopf gewinnen lässt, ging erstmal im Marketinggetöse unter; gerade in dieser Geräteklasse - den günstigen, analogen, monophonen Synthesizern - gibt es ja eine interessante Auswahl wie noch nie. Ob der MicroBrute trotzdem überzeugen kann?

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Der MicroBrute kommt im stabilen Plastikgehäuse in DINA4-Größe mit zweioktavigem Minikeyboard mit festsitzenden, aber trotzdem angenehm spielbaren Tasten. Auf der linken Seite finden sich das Pitchbend- und Modulationsrad, darüber zwei Tasten zur Oktavwahl. Rechts daneben die Oszillatorsektion, dann der Filter, die Modulationsmatrix, Glide, ein LFO und die Hüllkurvensektion mit einer ADSR-Hüllkurve, schließlich noch die Sequenzersektion. Anschlussseitig gibt es auf der Rückseite neben der Buchse für das externe Netzteil einen MIDI-Eingang, einen USBAnschluss (für MIDI und den Software-Editor), einen regelbaren Audio-Eingang, Kopfhörerausgang, sowie Gate In, Gate Out und Pitch Out. Ein Oszillator mit Wellenform-Mixer Beim Oszillator wählt man nicht, wie sonst üblich, eine Wellenform aus, sondern mischt sie aus Dreieck und Metalizer, Rechteck mit Pulsweite und Sägezahn mit Ultrasaw zusammen. Das ist erstmal gewöhnungsbedürftig, zumal sich Rechteck und Dreieck in einem gewissen Bereich gegenseitig auslöschen, führt aber zu ziemlich interessanten Ergebnissen, die auch gern mal bratzelig klingen. Zu den drei Wellenformen und ihren Modifiern gibt es noch Overtone und Sub>Fifth, mit dem sich je nach Einstellung der Effekt einer Quinte oder eine Art Suboszillator hinzufügen lassen, um den Sound anzudicken. Sequencer Der Sequencer bietet acht Patterns, die sich lose angelehnt an das Prinzip des 3#3-Sequencers programmieren lassen: Im Record-Modus wird jede Note, die über die Tastatur gespielt wird als Step aufgezeichnet, mit der Tap/ Reset-Taste lassen sich leere Steps erzeugen. Die Patterns können dann über einen Drehknopf ausgewählt werden

und lassen sich via MIDI und die Tastatur in verschiedenen Tonhöhen spielen. Mit dem Software-Editor wird das Verhalten (Hold oder Start nach Notenbefehl) und die Quantisierung des Sequencers gesteuert, außerdem lassen sich die Sequenzen auf dem Rechner speichern. Mod Matrix, LFO & Verbindungen zur Außenwelt Schon die MIDI-Features des MicroBrute sind ausreichend, aber die Einbindung an die Analog- und Modularwelt ziemlich umfassend: neben Gate In und Out und Pitch Out auf der Rückseite gibt es noch die diversen Patchpunkte der Modulationsmatrix, mit der man den MicroBrute auch in der internen Verschaltung variieren kann. Als Modulationsquelle dienen dabei die ADSRHüllkurve und der LFO, Ziele sind Metalizer, Sägezahn, Suboszillator, Pitch, Filter und PWM, die natürlich auch von außen oder gemischt moduliert werden können. Insgesamt ist Arturia mit dem MicroBrute tatsächlich eine feine kleine Kiste gelungen, die nicht nur satt und vielfältig klingt, sondern sich durch einen eigenen Sound, die Patch-Möglichkeiten und den einfachen, aber effektiven Sequenzer von der monophonen Masse abheben kann. Mir gefällt der MicroBrute tatsächlich besser als der größere MiniBrute, denn er ist nicht nur billiger, sondern lässt sich mit seinem praktischen Formfaktor auch problemlos mitnehmen. Dabei wirken alle Details sehr durchdacht und auch die Parametrisierung der Wertebereiche ist gut gelungen. Einzig beim Filter sind die Sprünge in der Resonanz hier und da recht plötzlich, vor allem wenn der Brute Factor ins Spiel kommt. An das Mischen der Wellenformen des Oszillators muss man sich gewöhnen, aber auch das geht ziemlich schnell. Im Grunde ist er eine vielseitige, kleine Acidmaschine, die sowohl solo als auch mit anderen Instrumenten prima funktioniert.

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Axel Boman Family Vacation Studio Barnhus

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V.A. Use Of Weapons 6 Use Of Weapons

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V.A. 30 Years Of R&S Records R&S

04

Kim Brown Somewhere Else Is Going To Be Good Just Another Beat

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Brendon Moeller Tak Kimochi

06

V.A. New German Ethnic Music Karaoke Kalk

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V.A. Uprising Project Mooncircle

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Pink Skull Hitaloche My Favorite Robot Records

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Drexciya Journey Of The Deep Sea Dweller IV Clone Classic Cuts

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Mr. Beatnick The Synthetes Trilogy Don’t Be Afraid

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Artuu Passing Out Priviledges / UFO Funkin’ Royal Oak

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Crime Scene Jam The Box EP Crime City

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Black Asteroid Grind EP CLR

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Peter Grummich Take It EP Innerbird

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Andreas Gehm Watch Them Chiwax

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Lucretio pres. Monster Town Machine State

17

The Analog Roland Orchestra Made in Space EP Pastamusik

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Ital Tek Control Planet Mu

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Mathew Jonson Typerope / Magic Through Music Itiswhatitis Music

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Cassegrain & Tin Man High And Low Killekill

21

Will Azada Cliché CGI Records

22

Kallisti Arc Of Fire Norelation

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Mosca A Thousand Year’s Wait Ann Aimee

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Kisk Friends EP Apparel Music

AXEL BOMAN FAMILY VACATION [STUDIO BARNHUS]

V.A. USE OF WEAPONS 6 [USE OF WEAPONS]

facebook.com/studiobarnhus

www.cosmic-disco.com

House und South, Claps und Codein, Diazepam und Deepness - Bomans “Purple Drank”, der Titeltrack der über Kozes Pampa-Imprint veröffentlichten EP des Schweden montierte vor gut drei Jahren einen schönen Groove auf die neue Langsamkeit im Südstaaten-HipHop. Ähnlich slow geht Boman die Sache auf seinem Studio Barnhus-Debüt “Family Vacation” an. Die 13 Tracks strahlen eine unglaublich schöne und vollkommene Ruhe aus. Lauschig, wohlich, sanft und zärtlich – bei Boman fühlt man sich ganz und gar geborgen. Hier kann einem rein gar nichts passieren außer dem Sound. Schon diese kuscheligen Keys auf “Barcelona”! Und erst diese Wärme auf dem pumpenden Vierviertelbekenntnis “Hello”! Die superduperdeepe und warme Grundstimmung garniert Boman mit einer Handvoll Kunstgriffen aus der Trickkiste. "Family Vacation" lebt von einer beinahe minutiös variierenden Detailverliebtheit. Beatscience trifft auf Krautiges auf Italo Disco auf Dub auf HipHop. Hier hört man Afrobeat-Anleihen, dort Steel Band- Soundschnippsel und Loops aus der Library. “Fantastic Piano” leiert diffus verwaschene Klimpereien aus dem Flügel, in “Son Of A Plumber” sausen einem Sound-Segelflugzeuge um die Ohren und “Animals Lovers” schwingt die Reggea-Keule. Zu glasklaren Zitaten gesellen sich aber auch immer wieder solche gemischte Tüten wie “Can’t Find It”. Die Pads schweben auf und ab und ganz weit hinten, fiedeln sich die Geigentönchen in schwindelige Höhen, um dann, mit Klavierhäppchen garniert, zu einem riesengroßen glückseligen Gefühlsgroove anzuschwellen. Und genau das ist es, was “Family Vacation” zu einer so tollen Platte macht. Zu all der Entschleunigung und dem Eklektizismus gesellt sich in genau den richtigen Momenten das, was man sich von einem solchen Album wünscht: Euphorie, Enthusiasmus, Ekstase und Ehrlichkeit. Boman dekliniert die gesamte Befindlichkeitespalette einmal durch und lässt das Extrakt wohldosiert auf die Takte fallen. All das kreiert eine so besänftigende Stimmung, einen wunderschönen Anflug von Melancholie in mir, wie ich ihn so tatsächlich selten, ja, wenn überhaupt das erste und letzte Mal auf Jürgen Paapes “So weit wie noch nie” gehört habe. Axels Gespür für die richtigen Zutaten als gelernter Koch auf die Rezeptur seiner Musik umzumünzen, wäre eigentlich allzu bemüht. Aber ginge es nach der gustatorischen Wahrnehmung, dann hat Boman mit “Family Vacation” seinen purpurfarbenen, klebrigen Dirty South-Cocktail aus Hustensaft und Limonade von 2010 mit "Family Vacation" gegen ein feines Soundsüppchen eingetauscht, dass alle geschmacklichen Grundqualitäten bedient. Kann und sollte man aber nicht in einem Wegschlabbern, sondern lieber genüsslich einen Löffel nach dem anderen reinschlürfen und genießen. Dann wird's nach und nach ganz wohlig warm in einem, macht vielleicht sogar wieder gesund und bringt einen durch den Winter. Hmmm. JW

Detroit. Warum wir immer dahin zurückfinden, ist längst noch nicht geklärt. Wir werden uns wohl auch in Jahren immer wieder in diesen nicht zu kleinen Geheimzirkeln zusammenfinden und unsere ewige Treue zu Detroit schwören. Menschen in UR-Pullovern und ihr geheimer Handschlag. Es ist wie ein Passwort, eine Einladung zur Grenzüberschreitung. Ein Weg auf diesen Punkt zu kommen, an dem Musik weit über die Musik hinauswächst und eine weltumspannende Gemeinschaft schafft, deren Gesetze ständig neu geschrieben werden können, deren Einheit aber doch immer so klar scheint. Use Of Weapons ist das Label von Deep Space Orchestra, Chris Barker und Si Murray, die wir nicht selten hier schon abgefeiert haben, und diese Compilation bringt es die Huldigung an Detroit noch ein Mal anders auf den Punkt. Jeder Track hebt vom ersten Moment an ab. Such nach dieser unauffindbaren Zukunft, die in Detroit immer schon die zentrale Rolle gespielt hat. Nicht in neuen Sounds, nicht in einem Überschreiten von Grenzen, sondern in dieser Innerlichkeit, die das Innerste explodieren lässt und sich in der Konzentration auf diese Magie des Sounds über alles erhebt. Deep Space Orchestra, Haku, Other Worlds und 7 Citizens schaffen auf dem Album mit einer Leichtigkeit das, wonach andere gelegentlich eher in Ansätzen stöbern. Dieses Zentrum Detroit auszuleben. In all seinen Facetten, all seiner Mythologie, all seiner unwahrscheinlichen Nahbarkeit. Keiner der Tracks wirkt nach Elementen einer Zitatwelt, die nur richtig kombiniert werden muss, um am Ende etwas zu bedeuten. Alles ist aus einem Guss. Alles lebt in dieser Mischung aus Utopie und Dystopie, Verheissung und mit vollem Bewustsein angesteuertem Futurismus. Detroit heisst in so einem Fall immer auch: die Suche nach einer besseren Welt. Ob es Unterwasser ist, wie ein Adler über die breiten Flächen schwingt, ob es ins All geht oder darüber hinaus, ob es um die Zeit geht, oder das Schicksal. Detroit ist unsere große Erzählung, der Ort an dem unsere Götter leben. Der Ort aber, der nicht inszeniert wird, sondern ständig neu erfunden. Eine Transzendenz, die es schafft ihre Erreichbarkeit erlebbar zu machen, und bei aller Blässe und allen halbgaren Hoffnungen, die das so oft produziert, findet sich hier doch diese Geste die einem sagt: Detroit lebt. Detroit ist lebbar. Vielleicht ist es wirklich nur ein ästhetischer Traum, eine Suggestion, ein Ersatz. Aber in den Stücken dieses Album fühlt es sich einfach nicht so an. Es ist so unmissverständlich echt, so greifbar und mitgefühlt, so direkt und doch so entrückt dabei, dass wir ein Mal mehr verstehen was Detroit bedeutet und so den Mythos sicher noch Jahre weiter in unseren Herzen tragen werden. Wissen wir jetzt mehr, wissen wir nach diesen Tracks warum das unsere Heimat ist, auch wenn es eher ein Verweis auf eine andere Zeit bleibt? Nein, aber wenn wir die Augen schliessen wissen wir es doch. Und das ist kein Widerspruch sondern "The Culture". BLEED

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BRENDON MOELLER TAK [KIMOCHI]

KIM BROWN - SOMEWHERE ELSE IT'S GOING TO BE GOOD [JUST ANOTHER BEAT]

V.A. - 30 YEARS OF R&S RECORDS [R&S]

www.m50.net

www.justanotherbeat.com

www.randsrecords.com

Auf den letzten Metern des Jahres öffnen Kimochi ihre Schleusen und lassen in die Welt, was sich seit Frühjahr diverser Unbillen wegen aufgestaut hatte. Den Anfang macht Brendan Moeller, dessen Wege sich mit Labelowner Area ja schon öfter gekreuzt haben (unter anderem im gemeinsamen Projekt "Lightness"), zwei auf dem Fuße folgende SoloEP-Debutanten schicken außerdem je einen Remix voraus. Verhalten dubbig und auch nicht so zupackend technoid wie sein neues zeitgleiches Album als Echologist auf Prologue; auch der Modulareinsatz, inzwischen Eigenbau, drängt sich nicht auf. Die Tracks: Brendon Moeller hat den Fehler an der Antennenverkabelung des afrikanischen Spacelabs gefunden und macht sich entspannt und souverän an die Außenreparatur. Dabei sitzt er wie auf dem Präsentierteller für RDMAs Berliner Dub-Bass-Kanone, dort ist allerdings das sanfte, post-Detroite urbane Nachtleuchten schon zu hell für die Zielerfassung. Dann kommt Skookums Railgun um die Ecke, die ihrerseits irgendwelche Probleme mit dem Strom hat und einfach eine immer düsterer werdende Nachtseite lang lecker Löcher in den Käsemond schubbert, bis der Welthunger gestillt ist.. MULTIPARA

Bevor es Sommer wurde da ist das Berliner Duo Kim Brown nach Dänemark gefahren, hat dem Regen zugehört, die Rechner aufgeklappt, ein Album produziert. 'Somewhere Else It Is Going To Be Good' ist eines dieser raren HouseAlben, deren bittersüße Melancholie in jeder Sekunde zu betören weiß. Man ahnt das schon nach ein paar Sekunden, wenn sich gleich zu Beginn eine kleine klirrende Melodie aus dem synthetischen Nebel schält. Kim Brown sind nicht als Innovatoren angetreten, ihre Trackstrukturen sind von überschaubarer Komplexität, die Sounds sind klassisch, und zusätzlich mit dem Charme des Analogen bestäubt. Die Revolution mag also anderswo sein, aber hier spielt die Musik: Das nämlich machen Kim Brown vor allem: Stimmungen kanalisieren, einfach Musik machen. Und setzen dabei vor allem auf Melodien. Ihr Album verzichtet auf Clubtools, jeder Track funktioniert hier auch als Popstück. Die Arrangements sind nur selten reduziert, das Barocke ist Kim Brown offensichtlich lieber: Wer keine Strings mag, wird hier nicht glücklich (aber wer mag schon keine Strings?). Lauter große Momente, die dieser – im Hinblick auf Genregrenzen dann doch ziemlich unorthodoxen – Deephouse-Platte die Sexyness der Disco beibringen. BLUMBERG

V.A. NEW GERMAN ETHNIC MUSIC [KARAOKE KALK]

V.A. UPRISING [PROJECT MOONCIRCLE]

www.karaokekalk.de

www.mooncircle-project.de

Das Album hat sich vorgenommen für Bands von Migranten (oder Nachfolgern, oder einfach Deutschen, deren Eltern irgendwann mal nicht in Ostpreußen gewohnt haben) Remixe zu machen und dabei die Sounds verschiedenster ethnischer Herkünfte nicht selten in ihrer Interpretation mit wilden elektronischen Bearbeitungen zu ehren. Das klingt erst mal ein wenig beliebig, ist in der Umsetzung aber fast durchgehen großartig, weil die Remixer von Margaret Dygas, Symbiz Sound, Can Oral, Niobe, Mark Ernestus, Gudrun Gut, Guido Möbius uvm. in ihren Umsetzungen nie den Fehler begehen, da irgendwie "Ethno" draus machen zu wollen, sondern sehr locker mit den Samples und Sounds umgehen, sich den Grooves annähern, mal schüchtern, mal überwältigt, und manchmal auch einfach, so macht man das auch immer wieder mal bei Remixen, etwas ganz anderes machen. Soundscapes und Kicks in friedlichem Nebeneinander, Umgangsformen die gelernt werden wollen, aber doch natürlich sind, und am Ende vor allem Musik, die einen immer wieder in Welten entführt, die trotz ihrer weltumspannenden Herkunft und Referenz, irgendwie über eine Sprache zusammenfinden. Das einzige Problem vielleicht, man würde jetzt gerne die Originale auch hören. BLEED

Wer eine solche Posse hat, für den muss alles richtig laufen. Project Mooncircle macht eine Compilation mit 33 Tracks. Uff. Gordon Gieseking hat aus den scheinbar endlosen Talenten in seinem Umfeld so viele neue Acts mit brillianten Tracks herausgefischt, dass man gar nicht weiß wo man anfangen soll. Ein Fest brillianter Beats, smoother Sounds und Samples, frischer Ideen, perfekter Kleinode zwischen allen Stühlen. Egal ob es ambienter zugeht, ob klassischer "Leftfield"-HipHop anvisiert wird, klingelnde Breaks mit magischen Melodien, digitale Experimente oder auch mal der gelegentliche Clubtrack, man kann dieses Album von Anfang bis Ende hören und wird immer neue Facetten der Brillanz entdecken. Ein Album voller charmanter Lieblingshits für grundehrlich Verstörte, für Musikliebhaber quer durch alle Differenzierungen von Stilen, für jeden eigentlich. Wir würden behaupten, diese Compilation hat leicht den Status einer der Compilations des Jahres verdient. Und das nicht nur weil alles frisch und neu ist, sondern eben wegen der unmissverständlichen Qualität eines jeden einzelnene Tracks. Die Länge ist hier einfach ein Muss. Und Project Mooncircle dürfte auf dieser Basis von verheißenden Acts das nächste Jahr nahezu explodieren. BLEED

Was soll man über so eine Jubiläums-Compilation eines so geschichtsträchtigen Labels wie R&S schreiben? Was soll einer wie ich über so eine Compilation schreiben, der noch nicht mal so alt wie R&S selbst ist? Für wen soll so ein Review gut sein und was soll es leisten? Beim Versuch, letztere Frage zu beantworten, gelange ich zu einer weiteren: Für wen soll eigentlich diese Compilation gut sein und wer soll sie kaufen? Die Älteren unter uns haben die Platten wahrscheinlich ohnehin alle im Schrank. Also eine Geschichtsstunde für die Jüngeren? Aber auch die haben wohl immerhin die zweite, von London aus geführte Amtszeit von R&S auf dem Schirm beziehungsweise. in der Plattensammlung und haben Geschichte und Diskographie längst nachrecherchiert. Also Fakten zur Compilation: 30 Jahre, 30 Tracks. Logisch. Nach Künstlern alphabetisch und eben nicht chronologisch sortiert, als wolle R&S ganz bewusst dem Anschein einer Geschichtsstunde vorbeugen. So finden sich Airhead, Aphex Twin, Blawan, Joey Beltram, Model 500 und Space Dimension Controller einfach kommentarlos auf der Tracklist-Stange sitzen. Aber genau das gibt einen interessanten Effekt, wenn die Compilation tatsächlich von 69 bis Vondelpark durchgehört wird. Die Stücke entledigen sich ihres historischen Kontexts und werden zu zeitlosen Gestirnen am R&S-Himmel. Zeitlos waren sie zwar schon vorher, doch wurden sie immer im Würgegriff ihres Erscheinungsjahres gehalten. Nun rückt R&S als kompilierender Star, als Kurator der eigenen Geschichte in den Vordergrund und lässt die Tracks in einen größeren Gesamtzusammenhang treten, der Diskurse über Bezugsebenen im Keim zu ersticken versucht. Zuvor hätte man Blawan und Ken Ishii, Biosphere und Synkro oder Tessela und Joey Beltram wohl nicht in die selben Schubladen gesteckt. Insofern bringt die Compilation einen neuen Anreiz mit sich und man kann sich sparen über Dinge nachzudenken, wie die erste und zweite Inkarnation, die ehemalige Techno-AKlasse, den Ferrari der advancten Sounds, das ständige Neuerfinden, der gerade bestimmenden Klänge die den Floor regieren, die überraschend Bruchlose übergreifende Ästhetik der Wiederbelebung des Labels, all die Genres, die unter dem Firmament von R&S über die Jahre einfach zu einer grandiosen Einheit von Ausnahme-Künstlern wurden. Über ein paar unveröffentlichte Lockvögel hätte ich mich allerdings trotzdem gefreut CK

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ALBEN Perfume Advert - Tulpa [1080p] Der Tape-Landschaft könnte man anlässlich der ReleaseFlut eine eigene Kolumne widmen. Highlight aus dem November: Perfume Advert aus Middlesborough. Zwei Freunde, eingeschlossen in einem kleinen Zimmer eines noch viel kleineren Hauses. An ein paar viel zu heißen Tagen eines noch viel heißeren Sommers. Ob man da zwangsläufig auf Visionen von J.G. Ballard und H.P. Lovecraft stößt? Die jedenfalls scheinen die rohen 110 BPM-Skizzen der zwei Briten beeinflusst zu haben. Die Korg ESX-1 Sessions "The Drowned World" und "Sand Worm" z.B., die sich in ihrem Kassetten gerechten Lo-Fi-Sound jeglicher Schönheitschirurgie versagen und stattdessen die fragilen Momente von House und Techno feiern. Ohne dabei den Blick für forwärtsstampfende Grooves und cheesy Harmonien zu verlieren. Mehr Bänder bitte. wzl Rosie Lowe - Right Thing [37 Adventures/ADVENTURE010 - PIAS] Vier Songs. Eine E.P. Gleich mal aussortieren. Nein, gelogen, eine Medienlüge, denn es war anders: im Wohnzimmer eingelegt, gehört, angetan, festgestellt, dass das eine kurze E.P. ist, kurz vor dem Aussortieren gedacht, was das soll mit der Format-Gläubigkeit in Zeiten sich auflösender Formate, das muss ins Heft. Denn es geht doch um die Musik. Sollte es jedenfalls. Auch. Ob Pop oder Nicht-Pop, eigentlich geht es doch um Gefühle: Rosie Lowe berührt mich, ich kann ja nur für mich sprechen. I remember all the good things, I forgot them all. Kwes und Dave Okumu haben produziert. Rosie Lowe reiht sich ein, ohne kanonisch zu sein. Und sie liefert die nötigen Brüche und Wechsel, um nicht zu gefällig zu sein. Vier Songs genügen manchmal. Erstmal. Seufz. cj beedEEgEE - Sum/One [4AD - Indigo] Als das letzte Album von Gang Gang Dance im Kasten war, suchte Brian DeGraw ein passendes Artwork für den Cosmic-Disco-WorldPop-Hybriden seiner Band. Der New Yorker wurde beim polnischen Fotografen Miroslaw Swietek fündig, der Insekten aus nächster Nähe im Morgentau ablichtet. Für sein Debüt als bEEdEEgEE findet sich diese Passion auch auf dem Cover von "Sum/One“. Aber nicht nur bei der Optik hören die Parallelen auf. Was DeGraw auf gerade mal neun Tracks vollführt, ist die wahnwitzige Zusammenführung von neo-psychedelischen Electro-Experimenten, die sich sowohl im (Balearic) House, den unterschiedlichen Spielarten von Bass-Musik als auch in poppigen Gefilden Freunde erarbeiten dürfte. Neben Lovefoxxx (CSS) und seiner Hauptband-Kollegin Lizzi Bougatsos kommt das bekannteste Vocal-Feature von Alexis Taylor (Hot Chip). Für "(F.U.T.D.) Time Of Waste“ schickte Taylor ein A-CappellaFragment, das DeGraw zu einem siebminütigen Dance-PopKnaller bastelt. Die Single "Bricks“ weist Grime-Schattierungen auf, die jedoch weniger aus London, sondern aus der Karibik kommen könnten. "Quantum Poet Riddim“ ist ebenfalls ein recht freigeistiges Stück, das mit seiner semi-spacigen Uptempo-Attitüde unter Umständen an Santigold erinnern darf. Richtig, das ist hier alles recht bunt und wild. bEEdEEgEE tourt in der Heimat übrigens mit Animal Collective. Ihr wisst schon, New Weird Ameria. Das passt. www.4ad.com Weiß The KVB - Minus One [A Recordings/AUK109CD - Cargo] Bass und Drums sind schon arg, arg nah an Joy Division, den gothischen Post-Punk-Übervätern. Aber warum eigentlich nicht? Gibt Schlimmeres. Nicholas Wood und Kat Day aus London trauen sich an diese seltsame Sparte zwischen Dunkelheit, Krach, Verzweiflung und Auflehnung heran. Und machen das richtig gut. Denn schon nach einigen Takten des ersten Songs "Again & Again" kippt der Vorbehalt in Mitschwanken. Wippen. Lauter drehen. Richtig laut. Da geht noch was. Schon wieder so eine Band, die die minimalnihilistischen tollen Bands der Achtziger mit einer neuen Welle kreuzen und Entdeckungsarbeit für Jüngere leisten. Acht Songs lang. Mit verwaschenem Gesang, viel Hall und trockenstem Schlagzeug. In drunkenness we stumble. Trockeneis jetzt. Dieser Duft. Live or die. cj Majestic Casual - Chapter 1 [AEI Music] Majestic Casual ist der Urvater aller YouTube-Kanäle, auf denen Trap Wave-Remixware, Vierspur-Indieexperimente und Kunststudenten-Cloud Rap mit Tumblr-Stills zur Melancholia-Melange für die Millenials vermengt werden. Visuell und urheberrechtlich in der akustischen Grauzone. Für "Chapter 1" haben die Macher jetzt alle Start-Up-Musiker in ihren Kinderzimmern kontaktiert und eine Compilation zusammengetackert und so zumindest das Problem mit dem Playlisten-Gefrickel gelöst. Musikalisch gibt’s hippen Hip-

pie-Stuff von Summer Heart, Raumfahrt-Soundtracks von Nosaj Thing und Toro Y Moi, superslowe Schlafzimmer-Produktionen von stwo, aber eben auch jede Menge aufgebratzte Totalausfälle. Alles in allem: Schwierig. Vielleicht doch lieber wieder online hören? jw Evol - Something Inflatable [Alku/Alku 129 - A-Musik] Roc Jiménez de Cisneros und Stephen Sharp nehmen sich in ihrer Rave-Dekonstruktions-Serie erneut einen Klassiker vor, und landen mit ihrer Verarbeitung der FußballGabba-Hymne "Poing!", mit dem Rotterdam Termination Source 1992 glatt die Spitze diverser nationaler Charts eroberten, bei einer unerwartet unterhaltsamen Platte. Ihr Abgesang auf den Hoover-Sound auf "Rave Slime" noch vor allem als ermüdend in Erinnerung, hier die Beschränkung auf ganze zwei Sounds, das Original sowieso stumpfst: keine vielversprechende Ausgangsbasis. In der halben Stunde, die sie sich auf diesem Vinyl Zeit nehmen, ist man sich nie ganz sicher, ob sie grade ziellos auf dem Keyboard herumdrücken, ob sie sich's ausgedacht haben und sequenziert, oder ob ein Algorithmus läuft – und irgendwie hält genau das bei der Stange. Tüpfelchen auf dem i, oder springender Punkt (wir denken an die Coverabbildung auf dem Original): dass sie Steenbergen/Scholtes Poing durch ihren eigenen ersetzen, der einen Tick weniger albern daherkommt, und der ihnen dadurch Spielraum verschafft. Eigentlich weder Computermusik noch Free Rave, aber im Alku-Universum eine richtiger Party-Hit. alkualkualkualkualkualkualkualkualkualku.org multipara Laraaji - Celestial Music 1978-2011 [All Saints/WAST036CD - Rough Trade] Laraaji ist der Mann mit der elektrischen Zither. Von Brian Eno damals unter seinem bürgerlichen Namen Edward Larry Gordon in New York entdeckt, wurde ihm die Ehre zuteil, als einziger Künstler (außer Eno) ein Soloalbum zu dessen AmbientReihe beizusteuern. "Celestial Music 1978-2011", auf Brian Enos Label All Saints erschienen, gibt einen Überblick über das musikalische Schaffen Gordons, der zudem als Lachtherapeut arbeitet. Ganz so esoterisch, wie die Sache auf dem Papier wirken mag, klingt Laraajis Musik allerdings nicht. Seine frühe "Lotus Collage" enthält sogar einige ziemlich raue Klänge. Andere Stücke heben durchgehend ab, schwirren in ganz eigene Obertonregionen davon. Ein sehr schöner Einblick in einen wieder zu entdeckenden Solitär. Nur schade, dass der irre Trip "All Pervading" von Gordons Debütalbum "Celestial Vibration" auf fünf Minuten verkürzt wurde. tcb Harold Budd - Wind In Lonely Fences 1970-2011 [All Saints/WAST042CD - Rough Trade] Die freundlich-ruhigen Klänge auf dieser Harold-BuddWerkschau aus über 40 Jahren, der ersten ihrer Art überhaupt, könnten darüber hinwegtäuschen, was für ein radikaler Komponist dieser "ProtoAmbient"-Musiker in Wirklichkeit ist. Nach seinen Anfängen als Avantgardist reduzierte er seine Musik zunächst so stark, dass er für einige Zeit ganz mit dem Komponieren aufhörte. In der Popwelt bekannt wurde er dann durch seine Zusammenarbeit mit Brian Eno (u.a. auf "The Pearl"), als Ambientmusiker hat sich Budd selbst jedoch nie betrachtet. Es ist vielmehr ein sanfter, gleichwohl unnachgiebiger Minimalismus, der die meisten seiner Stücke kennzeichnet, auch dann, wenn er Aufnahmen mit Popmusikern wie John Foxx oder Cocteau Twins macht. Irgendetwas klingt, bei aller Harmonie und Melodie, die man bei Budd findet, rätselhaft. Auf hintergründige Weise behalten diese scheinbar naiven Kompositionen stets eine undurchdringliche Ebene, der die Musik ein gut Teil ihrer Faszination verdankt. tcb Henry Vega - Stream Machines [ARTEksounds/ART002 - A-Musik] Auch im Minimalismus gibt es neue Entwicklungen: Der New Yorker Komponist Henry Vega, seit einigen Jahren in Den Haag zu Hause, kombiniert elektronische Klänge, "Mikro-Minimalisms" genannt, mit konventionellen Orchester- bzw. Barockinstrumenten wie Cembalo und Viola da Gamba zu einer höchst idiosynkratischen "process music". In Vegas Herangehensweise gibt es keinen stoisch-gleichförmigen Fluss der Patterns, vielmehr scheinen sich die verschiedenen Elemente stetig aneinander zu reiben, gegeneinander anzutreten, ohne vollends unversöhnlich zu klingen. Es ist eher wie ein wechselseitiges Sich-Eingraben in die Strukturen des Kontrahenten, aus dem dann Neues entsteht, ohne dass es zu einer völligen Verschmelzung kommt. Hier passiert etwas. www.arteksounds.com tcb

Julien Dyne - December [BBE/BBE222 - Alive] Das dritte Werk des Neuseeländers zeigt Dyne auf der Höhe der Zeit, seine vertrackten Rhythmen wären auch beim Berliner Label Project Mooncircle gut aufgehoben. Als Partner ins Boot geholt hat er sich bei zwei Tunes seinen Kollegen Parks, der sich als Produzent von Neuseelands Hiphop-Queen Ladi 6 einen Namen machen konnte. Mara T.K. von Electric Wire Hustle unterstützt "Dirtcrystal“ am Mikro und gibt dem Track ein wenig mehr Soul. Dyne macht es den Hörern nicht unbedingt leicht, manche Tempiwechsel irritieren. Am spannendsten wird diese Form der Musik in der Liveaufführung, gemütlich dazu abhängen ist eher schwierig, dafür ist sie zu unruhig. Man muss sich schon drauf einlassen können, für Freunde progressiver Beats ist das hier aber definitiv eine spannende Angelegenheit. www.bbemusic.com tobi Sumie - Sumie [Bella Union/BellaCD413 - PIAS/Cooperative] Wow. Die junge Schwedin genügt sich mit akustischer Gitarre, ihrer verhallten Stimme und ein paar sehr zarten Extras. Reduktion galore. In stürmischen Zeiten voller proletischer Wutbürger, die in den Zug drängen, bevor du ausgestiegen bist, die dich im Klinikum beim Warten sofort mit Meckereien überschütten und dich erinnern lassen, dass du selbst der ruhende Pol sein musst, ey Mann, fünf Gänge runterschalten, es gibt Schlimmeres, da tut Sumie einfach nur gut. Das ist gleichwohl keine Esoterik, sondern die Macht der Gelassenheit, der wahrlich melancholischen, versteht sich. Da bewegt sie sich schon eher im Umfeld von Mazzy Star, einem puren Nick Drake oder ihrem Mentor Nils Frahm, in dessen Studio das Album auch aufgenommen wurde. Nächster Sommer oder Madeira-Trip können kommen. Die Tage werden wieder länger - und nicht zwingend glücklicher. www.bellaunion.com cj Museum of Bellas Artes - Pieces [Best Fit Recordings/BESTFIT012] Balearic Beats aus Schweden waren vor ein paar Jahren mal sehr angesagt. Ganz vorne mit dabei waren damals schon Museum of Bellas Artes mit ihrem aufgebretzelten Disco-Hitchen "Who Do You Love?". In diesem Jahr liefern die drei Damen und Herren von Museum of Bellas Artes ein zeitgemäßies Update der mediterranen Musik aus dem hohen Norden. "Pieces" klingt mit seinem sphärisch-süßlichen Loops und dem feenhaften Gesang auf 909-Basis um einiges verkiffter als die bisherigen Releases. Gegen Ende verlässt das Trio die folkigen Pfade aber wieder in Richtung gewohnter Gefilde und garniert die letzten tanzbaren Tracks mit ganz und gar schönem Kitsch aus Sternenstaub und Engelsgesang. www.bestfitrecordings.com jw Ulrich Schnauss & Mark Peters - Tomorrow Is Another Day [Bureau B/BB148 - Indigo] Drum'n'Bass- und dann Electronica-Mastermind Ulrich Schnauss, der zuletzt ja immer wieder erfreulich konzentriert in gitarrige Shoegazing-Flächenschichtungen abgedriftet war, hat sich mit Mark Peters, dem Gitarristen der britischen Engineers zusammengetan und ein faszinierendes - tja, was eigentlich? - Album aufgenommen. Hier schwebt vieles, und doch sind klare Strukturen vorhanden. Hier findet eine bemerkenswerte Second Order Easyness statt, ohne gleich in der Lounge zu landen. Das sind keine Soundtracks, das ist nicht Robin Guthrie, das ist nur auf den ersten Höreindruck und naiv aufmerksam plätschernd. Denn bei einem fokussierten Innehalten eröffnen sich beinahe wundersame Welten: Schon lange nicht mehr ein derart unaufgeregt spektakuläres Album gehört. Und, noch besser, dass ich mal den Namen Mike Oldfield benutzen kann. Schnauss und Peters sind für in der Tat sowas wie Oldfield der frühen und mittleren Phase goes Indie. Obwohl, nein, sie sind besser. Viel weiter draußen und somit drinnen im kognitiven Apparat. www.bureau-b.com cj Conrad Schnitzler - Gold/Silber [Bureau B/BB150/149 - Indigo] Die Größe eines Musikers zeigt sich mitunter daran, dass er seine Hörer wiederholt überraschen kann. Conrad Schnitzlers "Gold"-Album ist so ein Fall. Die Aufnahmen aus der Zeit von 1976-78 pluckern nicht einfach, wie auf einigen seiner zahllosen Platten, verschroben durch die Ebene, sondern ziehen einen klar definierten, erstaunlich tiefen Raum auf, in dem bemerkenswert helle Klänge einander abwechseln. Manche Sounds klingen fast wie digitale Samples von Streichern, was aber, sofern die Aufnahmedaten stimmen, historisch nicht möglich gewesen wäre. Manchmal kommt dann wieder der Schnitzler-typische abstrakte Synthiepop-Minimalismus in Ansätzen zur Geltung, um im nächsten Moment

wieder ins scheinbar Amorphe zu entschwinden. Ein wenig früher, zwischen 1974 und 1975, entstand "Silber", und der Kontrast zu "Gold" könnte kaum größer sein. Hier ist alles rhythmisch strukturiert, dezent melodisch, wie instrumentaler Pop, der sich jedoch mit keiner herrschenden Form von Synthiepop gemein machen möchte. Vielleicht kann man am ehesten noch die "Zuckerzeit"-Phase von Cluster und Asmus Tietchens' frühe Sky-Alben als Vergleiche heranziehen. Schnitzlers Kosmos ist aber dunkler und bei allem freien Spiel rigider, insistierender. Und noch lange nicht erschlossen. www.bureau-b.com tcb Conforce - Kinetic Image [Delsin/102 - Rushhour] Keine Frage, Conforce ist ein Großer. Das Album ist wuchtig. Geht vom ersten Moment an mit so breiten Bässen los, dass man das Gefühl nicht loswird, er möchte sich jetzt mal wirklich freischaufeln von allem. Dabei ist immer noch Platz für diese weitläufigen Grooves spartanischster Art, diese sphärischen Sounds und galaktischen Exkursionen, den verkaterten Funk von in sich verschliffenen Melodien, die wirken, als wäre ihre Stabilität nur halluziniert und auch für den zerrissen darken Funk, der wie aus dem Sturzflug immer neue Beute reißt. Definitiv ein Album, das in seiner Masse nicht selten in Soundscapes der abenteuerlichen Art stürzt, aber immer wieder zur rechten Zeit den massiven Groove zurückfindet. Nach 10 Tracks ist man dann wirklich geläutert und im Universum von Conforce so gefangen, dass man am liebsten gleich wieder zurück möchte, denn mehr klassischen, aber dennoch mitreißend unerwarteten SciFi in Sound hat man schon lange nicht mehr gehört. www.delsinrecords.com bleed Selaxon Lutberg - Simboli Accidentali [Denovali - Cargo] Solange Labels wie Denovali Records trotz des ernüchternden Status quo der Industrie über- und weiterleben, ist Tristesse fehl am Platz. Kaum ein Label versteht es, Musik nicht nur als Hörerfahrung, sondern auch als visuelles Konzept anzubieten. Jeder, der schon mal eine Vinyl des Labels in den Händen gehalten hat, weiß wovon ich spreche. Als universelles Zuhause für nicht-universelle Musik finden sich hier düstere, experimentelle Sounds – zwischen Drone, Dark-Jazz oder Streicher-getragenen Kompositionen. Nun veröffentlicht der Italiener Andrea Penso bereits sein drittes Album als Selaxon Lutberg auf Denovali. Denjenigen, die die Schnittstelle zwischen Drone und Ambient sowieso nicht erkennen wollen, oder aber diese Musik gänzlich als unspektakulär diffamieren, wird ein Durchgang angeraten. Angelehnt an einen Ausspruch des Filmemachers Andrej Tarkovsky (sinngemäß: Die Kindheit entscheidet über die gesamte kreative Zukunft) exemplifiziert "Simboli Accidentali“, dass Eindrücke der Kindheit immer noch am tiefsten wurzeln. Pensos Musik ist warm und kalt zugleich, denn bloße Melancholie klingt anders. Vielmehr wollen sich die acht Untitled-Stücke als Monolith gegen den Alltags-Tohuwabohu positionieren. Zum Einsatz kommen billige Orgeln, Loops aus brüchigen Tapes und Schallplatten, selbst stark entfremdete Gitarren werden mit Delay versehen, sodass einzelne Töne eher als Silhouetten hervortreten. Die von Miles Whittaker (Demdike Stare) gemasterte Platte ist in ihrer unaufdringlichen Wucht eine kurzweilige Meditation über die Zurückgezogenheit – des Seins und der persönlichen Gedanken. Es heißt, als Kind sei jeder ein Künstler. Die Schwierigkeit läge nur darin, als Erwachsener einer zu bleiben. Chapeau, Andrea Penso. www.denovali.com Weiß I am Poet - Cypress [Detector - Digedo] Von einem Soloprojekt des Mannheimers Maximiliam Hohenstatt zu einer Band mit vier Mitgliedern hat es ein wenig Zeit gebraucht, doch jetzt ist das Debütalbum da und die Besetzung steht auch. Piano und melancholische Vocals stehen mal alleine da, werden über die lange Strecke meist von Elektronik und Gitarre unterstützt. Es braucht mitunter ein paar Anläufe, dann kann einen die Musik der Vier aber auch in ihrer düsteren Schönheit gefangen nehmen. Keine Musik, um aus der Herbstdepression raus zu kommen und nichts für die Radioredakteure, die auf immer die gleichen, schlecht gemachten Popsongs setzen. Diese Band muss man entdecken, dann entwickelt sich die Größe von ganz allein. Es muss einem ja nicht immer mit dem Holzhammer eingeprügelt werden, was man musikalisch sagen möchte. Diese Jungs kommen erst mal bescheiden daher, haben dann aber doch eine Menge mitzuteilen. tobi V.A. - Evolution Of The Giraffe [Diffrent/DIFF020] Ich bin kein großer Freund des Compilation-Konzepts, was ich an anderer Stelle bereits etwas ausführlicher bekanntgab. Was ich aber sehr gerne mag, sind die kleinen Labels, die voll Inbrunst an ihren Sound-Entwürfen arbeiten und dabei immer wieder neue Talente auf die Genre-Landkarte

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ALBEN setzen. Diffrent gehört definitiv dazu, auch wenn ich mich von dem pink geprägten Design etwas abgestoßen fühle und ein etwas zwiespältiges Verhältnis zu der jedes Cover schmückenden Giraffe Leonard – sie heißt tatsächlich so – habe, da mir ihre Absichten nicht ganz klar sind. Dennoch lehnt Leonard Scheuklappen per se ab und pflückt auch die kryptischsten Drum & Bass-Fantasien von den Bäumen, um sie auf Vinyl zu bügeln. Die "Evolution Of The Giraffe"LP ist nun voll gepackt mit wild verschachtelten Drum- und Percussion-Patterns, die die Half-Time mit Löffeln gefressen haben und somit immer Raum für individuelle Abstraktion lassen. Alle sind von einer gewissen Einfachheit geprägt, dabei aber nicht naiv, sondern viel eher erhaben. Jekyll bei "Garrisson Dogs" in zorniger Subbass-Gestalt und mit dicken Beat-Eiern, Arkaik & Coma mit der "Gain VIP" wesentlich technoider und introvertierter auf den Spuren des Dub, Dominic Ridgway stolpert mit "Siren" im bis auf die Knochen reduziertem Staccato-Gewand an der Norm vorbei und Kolectiv legt mit "Slow" ein theatralisch und leicht plockernden Liquid-Entwurf mit zarter Männerstimme hin. Das Ganze hat so den Anschein eines Starterkits für den abstrakten Drum & Bass-DJ, dient aber auch dem Erfahrenen als Schatztruhe voll von schöner 170-BPM-Deepness. ck Mr. Beatnick - The Synthetes Trilogy [Don't Be Afraid - Clone] Was für ein Album. Beatnick hat den Bogen raus, wie man aus lockeren Beats einen Killerhousegroove macht und dabei in den Sounds so trällernd und glücklich bleibt, ohne beliebig zu werden. Eins der optimistischsten House-Alben des Jahres. Immer wieder funky, kantig, nur am Rande oldschoolig, aber doch so perfekt in den Samples, Sounds und allem Rest. Irgendwie klingt das Album so, als wäre Beatnick eigentlich ein HipHop Produzent, der sich nur zufällig in die wundervollen Welten von House verirrt hat, dabei aber sofort weiß, was geht, was kickt und das kein Mensch braucht. Ein Hit jagt den nächsten und wer seine EPs kennt, dem dürfte der Sound von Mr. Beatnick eh schon vertraut sein. Alle anderen dürfen sich auf eine Entdeckung freuen. bleed Kelpe - Fourth: The Golden Eagle Remixed [DRUT] Aus dem Bauch raus würde ich sagen, tut mir das nicht an. Nicht Kelpe remixen. Ist alleine schon zu gut. Aber irgendwie hat diese Sammlung es geschafft mit Mike Slott, Fulgeance, Débruit, Chesslo Junior, Morgan Hislop und einigen anderen dennoch vom ersten Moment an brilliante Tracks aus den Sounds von Kelpe zu machen, die zwar nicht ganz so zusammenhalten, nicht wirklich diese eine Vision rüberbringen, aber dennoch in ihrer Eleganz, den Grooves, den Schönheiten und lockeren Beats immer wieder zu überzeugen. Wir betrachten das mal als Ehrbezeugung der Posse. Und sie machen Kelpe wirklich fast immer alle Ehre. bleed Jim O'Rourke - Old News #9 [Editions Mego/OLD NEWS #9 - A-Musik] Gute-Nacht-Musik ist dann am schönsten, wenn man sie am nächsten Morgen auf einem Plattenteller liegend vorfindet – kein anderes Medium teilt den Einschlafvorgang mit vergleichbarer Präsenz. Nach einem Jahr und mittlerweile neun Bandcamp-only-Releases diesen Sommer meldet sich O'Rourke endlich auf "Old News" zurück: Für diese vier "Four Endings" benannten, allesamt neuen Stücke ist Vinyl einfach wie geschaffen. Die verwaschen schimmernden Ambient-Kompositionen, desorientierend driftend und mit langen, sanften Ausklängen versehen, sind Meisterwerke der Verführung (und vielleicht der Konsens-Hit der Serie). Nach einem kurzen, noch relativ konkreten Intro im ersten Stück, in dem sogar die letzten Töne einer Band aufleuchten, verflüssigen sich Mal um Mal verunschärfte Fieldrecordings – Möwen am Strand, Kinder beim Sporttraining, vielleicht auch Straßen- oder Gartenszenen, Wind und Wetter, man kann es kaum wirklich ausmachen – in Drones, die irisieren, rascheln, flackern, schwingen, flirren, die wie Windspiele klimpern und sirren, um in friedlichen Wellenbewegungen auszurollen, die dabei die Aufmerksamkeit und das Zeitgefühl vexieren und ganz wunderbar beruhigen. www.editionsmego.com multipara Compound Eye - Journey From Anywhere [Editions Mego/eMEGO 181 - A-Musik] Reisen ist keine Frage der Geschwindigkeit. Zumindest nicht für den früheren Coil-Mitstreiter Drew McDowell und seinen Kollegen Tres Warren von den Psychic Ills. Als Compound Eye haben sie eine "Journey From Anywhere" vorgelegt, in der man fast unmerklich langsam voranschreitet. Offen bleibt auch, wohin es geht – "Journey Into Anywhere" heißt das Zentralstück, dessen Drones sich im Tempo von tektoni-

schen Platten übereinander zu schieben scheinen. Töne wie von einer Shrutibox oder einem Harmonium vermischen sich mit flirrenden Generatorenklängen, auch an anderer Stelle wird nie so recht klar, mit welchen Mitteln hier genau Musik gemacht wird. Es ist Psychedelik in Zeitlupe, auf die introvertiertesten Gesten verknappt. Und eine Reise durch melancholisch eingetrübte, gelegentlich verschattete Regionen – der Psyche der Herren McDowell und Warren? Wenn man lange genug einfach nur hinhört, stellt sich die Frage nicht mehr, denn dann ist man selbst schon längst irgendwohin unterwegs. www.editionsmego.com tcb Rival Consoles - Odyssey [Erased Tapes/ERATP052 - Indigo] Neben dem tollen Re-release von Peter Broderick (der hier auf dem hauntologischen "Soul" gastiert) und dem neuen, wundervollen, pianolastigen Album von Nils Frahm (mit dem Rival Consoles bei der Londoner Performance-Reihe "The Hydra" auftrat) hat mich diesen Monat die vorliegende E.P. ganz schön mit Begeisterung belegt. Fünf nicht allzu lange Tracks genügen Ryan Lee West aka Rival Consoles vollends. West hat anscheinend alle bisherigen elektronischen Sounds und Ideen aufgesogen, New Wave, Synthie Pop, Electronica, Minimal, Techno und noch kleinere Genres und Stilistiken finden sich allesamt in fünf Dingern wieder, die melancholisch wiederhallen. Kein Wunder, dass der Typ auch schon Nico Muhly und Jon Hopkins rückgemischt hat. Der Brite schenkt uns eine intelligente und trotzdem absolut bewegende Variante elektronischer Lebensaspekte. Lebendig eben. "Odyssey" says it all. Ganz, ganz toll. www.erasedtapes.com cj Perera Elsewhere - Everlast [FoF - !K7/Alive] Überraschend. Hängen geblieben. Im Ohr. Doch wieder aufgelegt. Nachgehört. Perera Elsewhere ist Sascha Perera, die sonst als Sängerin und Songschreiberin von Jahcoozi verantwortlich zeichnet. Nach einer EP liefert die Wahl-Berlinerin nunmehr ihr volles Debüt ab. Und, siehe oben, das erregt Aufmerksamkeit, und zwar ganz von alleine und ohne jedes NameDropping. Durchaus traditionell und akustisch beginnt sie. Erinnert an selige TripHop-Zeiten im komplett unpeinlichen Sinn. Du musst schon ein wenig aufpassen, nicht gleich in die Vergleiche-Ecke abzurutschen. Denn dafür ist Pereras Sound und Stimmung denn doch zu eigenständig. Dafür stehen auch junge Kooperateure wie Gonjasufi und Springintgut. Aber Namen weg, Sounds rein in Ohr und Körper. Weniger verkifft, vielmehr beinahe weltmusikalisch. cj Gelbart - Vermin [Gagarin/GR2029 - Indigo] Durch die Weiten des Alls ist unsre kleine Wunderdose gewirbelt, hat an Siliziumschrott und Zauberstaub alles aufgeputzt was nicht am Firmament festgenagelt war – fünfzehn lange Jahre lang. Fast hätte sie es nicht mehr nach Hause geschafft. Nach kurzem Tank-Stopp auf Mond Apolkalypso senkt sie sich nun endlich auf Gagarin herab: Die kosmischen Stürme haben sie blankgeschliffen, selbst ihr Bart leuchtet scharlach in der Sonne; erwachsen ist sie geworden. Einen Film soll sie im Gepäck haben, die Musik dringt schon an unser Ohr, aber noch bleibt die Luke zu. Sie blinkt, wir sehen sie jedenfalls blinken, vielleicht hören wir es auch nur und glauben ihr den Rest. Großes kündigt sich an. Ist das Pappschlagzeug noch am Leben? Die einsame Kuh? Leitern werden ausgefahren, was für Leitern sind das, sie schlängeln sich ruckelnd in alle Richtungen, hinein in den Bart und wieder hervor, wie elektrisch. Da steht Messiaen auf der obersten Stufe, wiedergeboren als Phoenix, und winkt. Er winkt uns zu. Wir trinken die Radiofrequenzen, wir trinken und trinken sie weg, das ganze Jahrhundert bis hinaus zum Neptun. www.gagarinrecords.com multipara Toy - Join The Dots [Heavenly/HVNLP102CD - Cooperative Music] Warum Toy mit einer so doofen Band wie Placebo touren, wir wissen es nicht. Hauptsache, es bringt diese Band weiter, die mit ihrem zweiten Album jedenfalls nicht schlecht liegt. Liegen im Sinne von Passen, Grooven, Anklang-Finden. "Join The Dots" beginnt krautig mit "Conductor". Dazu gesellen sich psychedelische Anleihen. Kennt noch irgendjemand Bands wie Loop oder F/I? Die Faszination des Stoischen und irgendwann macht es 'klick', schon beim kleinsten Ausbruch oder der geringsten Verschiebung. Toy sind spacig, ja, aber auf die trockene Art, niemals schweinerockig oder rockistisch. Toy mischen das danach mit Indie, Folk und ein ganz klein wenig Art School Pop. Und 60er- und 70er-Referenzen. Und - ja, natürlich, ob gewollt oder gehört - Velvet Underground. R.I.P. Lou. Der hätte nur weniger gejault auf der Gitarre. cj

Jason Grier - Unbekannte [Human Ear Music/HEMK0033 - Cargo] Jason Grier gelingt auf "Unbekannte" ein eigentümliches Kunststück: blockhaften Arrangements studioexperimenteller Versuchsanordnungen und perkussiver Texturen, geschichteter Instrumentalmotive und lastender Pausen, einsamer Gitarrentöne und markerschütternde Bässe und nicht zuletzt tastend voranschreitender Vocals, aus denen im Verlauf des Albums die Melodien als letztes verschwinden, den Charakter und Ausdruck eines Songalbums zu verleihen. Eine lyrische, konzentrierte Strenge hält alles zusammen, große Kunst des Weglassens verschmilzt poetische Intimität mit drückender Physis, warm und ernst die Worte, die sich Grier und Lucrecia Dalt auf englisch, spanisch und deutsch teilen. Letztere nicht von ungefähr im Boot: Ihr jüngstes Album, auf demselben Label erschienen, das Grier seit 2006 betreibt, zuerst in Los Angeles, jetzt in Berlin, trägt eine verwandte Handschrift; hier kommt eine monolithische Wucht und geheimnisvolle Transparenz hinzu, die Pathos geschickt umschifft, nie monströs wird. Stark. www.humanearmusic.de multipara Iancu Dumitrescu - Pierres Sacrées / Hazard and Tectonics [Ideologic Organ/SOMA003 - Anost] Die Musik des rumänischen Komponisten Iancu Dumitrescu, Schüler Sergiu Celibidaches, basiert auf einem phänomenologischen Ansatz, zurückgehend auf die Philosophie Edmund Husserls. Die beiden Stücke, die dieses Vinyl kombiniert, sind herausragende Beispiele seiner akusmatischen Methode (und Schule), der sogenannten "Spektralen Musik", die die Klangverfremdung vor allem als Klangentfaltung begreift. Damit kommt er zu musikalischen Ergebnissen, die ähnlich radikal und überraschend, wenn auch ganz anders gelagert sind, wie etwa bei Mark Fell (auch jener ein Husserlianer). "Pierres Sacrées" von 1989-90 bricht die Klänge eines Klaviers auf, mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems der Mikrofonierung (und von Metallplatten und anderen Objekten) in seinem Innern; weder mit Reinhold Friedl noch mit Daniel Menche (und schon gar nicht mit John Cage oder Hauschka) kann man sich wirklich darauf vorbereiten, welche Dimensionen kräuselig vibrierender Geräusch-Halos Dumitrescu damit erschließt. Weniger sublim, aber noch seltsamer: die timestretch-artige Superkristallisierung dieses Sounds in Hazard and Tectonics, uraufgeführt dieses Jahr in Glasgow, mit zusätzlichen (nicht explizit gemachten) Instrumenten, und natürlich mit Computereinsatz. editionsmego.com/ideologic-organ multipara Breach - DJ Kicks [!K7 - Alive] Ben Westbeech ist die personifizierte Falsifikation für diejenigen, die noch an die Stadt-sozialisiert-Mensch-These glauben. Bloß weil der Knabe aus Bristol stammt, somit im Schmelztiegel zwischen Massive Attack und Portishead aufwuchs, ist der Weg zum No-Genre Trip-Hop noch keine logische Konklusion. Neo-Soul, Downtempo, Future Jazz – das sind die Eckkoordinaten, die der Sänger und Cellist/Pianist mit seinem richtigen Namen abdeckt. Mit seinem Alter Ego Breach zieht es den 32-Jährigen mehr Richtung Dancefloor, wie bereits die Single "Jack“ zeigen sollte. Sein Beitrag für die DJ-Kicks-Reihe ist Bens Hommage an House. 15 beinahe ausschließlich tanzbare Tracks versammelt der Brite – angefangen bei Innercity über Fred P und Will Sauls Close-Projekt bis hin zu Detroit Swindle und Sabre. Eben, keine Klassiker oder Hymnen, sondern eher die entspannten Perlen, die seine eigene Passion widerspiegeln: hüpfende Basslines, schwelgerische bis romantisch-freudsame Melodien und natürlich Vocals. Breachs Exklusive "Beroving“ kommt aus der deeperen Ecke und turnt mit Stöhn-Loops (weiblich und männlich) eher ab – sowieso leicht ungünstig positioniert vor Cassio Kohls Soul-infizierten Hit "Broken“. Gäbe es eine Tabelle aller 47 DJ-Kicks-Mixes, Breachs Beitrag würde irgendwo zwischen Platz 20 – 23 liegen. Ist doch klar. www.k7.com Weiß Bonobo - Late Night Tales [Late Night Tales - EMI] Was soll im Hause der Lounge-Experten schon auf ein frisches Repress der erfolgreichen Four Tet Ausgabe folgen? Bonobo natürlich. Gute Idee. Und gute Selection. Die hier deutlich im Vordergrund steht, so unspektakulär wie Simon Green mixt. Aber wir wollten nicht meckern, also zur Auswahl: Der cheesy Brite kompiliert seine Wohnzimmer-Lieblinge der letzten 15-20 Jahre. Da läuft, was hätten wir auch anderes erwartet, jede Menge Soul. Aus alten Tagen von der mysteriösen Leider-Nur-Ein-Album-Legende Darondo und von Nina Simone; aus jüngeren, Bläser-lastigen Tagen von der Menahan Street Band und dem Hypnotic Brass Ensemble. Darauf folgen Fieldrecording-Geklimper von Shlohmo und Lapalux, zu Unrecht vergessene Tracks von Floating Points und Airhead, sowie gefälliger aber schöner Jazz von Badbadnot-

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ALBEN setzen. Diffrent gehört definitiv dazu, auch wenn ich mich von dem pink geprägten Design etwas abgestoßen fühle und ein etwas zwiespältiges Verhältnis zu der jedes Cover schmückenden Giraffe Leonard – sie heißt tatsächlich so – habe, da mir ihre Absichten nicht ganz klar sind. Dennoch lehnt Leonard Scheuklappen per se ab und pflückt auch die kryptischsten Drum & Bass-Fantasien von den Bäumen, um sie auf Vinyl zu bügeln. Die "Evolution Of The Giraffe"LP ist nun voll gepackt mit wild verschachtelten Drum- und Percussion-Patterns, die die Half-Time mit Löffeln gefressen haben und somit immer Raum für individuelle Abstraktion lassen. Alle sind von einer gewissen Einfachheit geprägt, dabei aber nicht naiv, sondern viel eher erhaben. Jekyll bei "Garrisson Dogs" in zorniger Subbass-Gestalt und mit dicken Beat-Eiern, Arkaik & Coma mit der "Gain VIP" wesentlich technoider und introvertierter auf den Spuren des Dub, Dominic Ridgway stolpert mit "Siren" im bis auf die Knochen reduziertem Staccato-Gewand an der Norm vorbei und Kolectiv legt mit "Slow" ein theatralisch und leicht plockernden Liquid-Entwurf mit zarter Männerstimme hin. Das Ganze hat so den Anschein eines Starterkits für den abstrakten Drum & Bass-DJ, dient aber auch dem Erfahrenen als Schatztruhe voll von schöner 170-BPM-Deepness. ck Mr. Beatnick - The Synthetes Trilogy [Don't Be Afraid - Clone] Was für ein Album. Beatnick hat den Bogen raus, wie man aus lockeren Beats einen Killerhousegroove macht und dabei in den Sounds so trällernd und glücklich bleibt, ohne beliebig zu werden. Eins der optimistischsten House-Alben des Jahres. Immer wieder funky, kantig, nur am Rande oldschoolig, aber doch so perfekt in den Samples, Sounds und allem Rest. Irgendwie klingt das Album so, als wäre Beatnick eigentlich ein HipHop Produzent, der sich nur zufällig in die wundervollen Welten von House verirrt hat, dabei aber sofort weiß, was geht, was kickt und das kein Mensch braucht. Ein Hit jagt den nächsten und wer seine EPs kennt, dem dürfte der Sound von Mr. Beatnick eh schon vertraut sein. Alle anderen dürfen sich auf eine Entdeckung freuen. bleed Kelpe - Fourth: The Golden Eagle Remixed [DRUT] Aus dem Bauch raus würde ich sagen, tut mir das nicht an. Nicht Kelpe remixen. Ist alleine schon zu gut. Aber irgendwie hat diese Sammlung es geschafft mit Mike Slott, Fulgeance, Débruit, Chesslo Junior, Morgan Hislop und einigen anderen dennoch vom ersten Moment an brilliante Tracks aus den Sounds von Kelpe zu machen, die zwar nicht ganz so zusammenhalten, nicht wirklich diese eine Vision rüberbringen, aber dennoch in ihrer Eleganz, den Grooves, den Schönheiten und lockeren Beats immer wieder zu überzeugen. Wir betrachten das mal als Ehrbezeugung der Posse. Und sie machen Kelpe wirklich fast immer alle Ehre. bleed Jim O'Rourke - Old News #9 [Editions Mego/OLD NEWS #9 - A-Musik] Gute-Nacht-Musik ist dann am schönsten, wenn man sie am nächsten Morgen auf einem Plattenteller liegend vorfindet – kein anderes Medium teilt den Einschlafvorgang mit vergleichbarer Präsenz. Nach einem Jahr und mittlerweile neun Bandcamp-only-Releases diesen Sommer meldet sich O'Rourke endlich auf "Old News" zurück: Für diese vier "Four Endings" benannten, allesamt neuen Stücke ist Vinyl einfach wie geschaffen. Die verwaschen schimmernden Ambient-Kompositionen, desorientierend driftend und mit langen, sanften Ausklängen versehen, sind Meisterwerke der Verführung (und vielleicht der Konsens-Hit der Serie). Nach einem kurzen, noch relativ konkreten Intro im ersten Stück, in dem sogar die letzten Töne einer Band aufleuchten, verflüssigen sich Mal um Mal verunschärfte Fieldrecordings – Möwen am Strand, Kinder beim Sporttraining, vielleicht auch Straßen- oder Gartenszenen, Wind und Wetter, man kann es kaum wirklich ausmachen – in Drones, die irisieren, rascheln, flackern, schwingen, flirren, die wie Windspiele klimpern und sirren, um in friedlichen Wellenbewegungen auszurollen, die dabei die Aufmerksamkeit und das Zeitgefühl vexieren und ganz wunderbar beruhigen. www.editionsmego.com multipara Compound Eye - Journey From Anywhere [Editions Mego/eMEGO 181 - A-Musik] Reisen ist keine Frage der Geschwindigkeit. Zumindest nicht für den früheren Coil-Mitstreiter Drew McDowell und seinen Kollegen Tres Warren von den Psychic Ills. Als Compound Eye haben sie eine "Journey From Anywhere" vorgelegt, in der man fast unmerklich langsam voranschreitet. Offen bleibt auch, wohin es geht – "Journey Into Anywhere" heißt das Zentralstück, dessen Drones sich im Tempo von tektoni-

schen Platten übereinander zu schieben scheinen. Töne wie von einer Shrutibox oder einem Harmonium vermischen sich mit flirrenden Generatorenklängen, auch an anderer Stelle wird nie so recht klar, mit welchen Mitteln hier genau Musik gemacht wird. Es ist Psychedelik in Zeitlupe, auf die introvertiertesten Gesten verknappt. Und eine Reise durch melancholisch eingetrübte, gelegentlich verschattete Regionen – der Psyche der Herren McDowell und Warren? Wenn man lange genug einfach nur hinhört, stellt sich die Frage nicht mehr, denn dann ist man selbst schon längst irgendwohin unterwegs. www.editionsmego.com tcb Rival Consoles - Odyssey [Erased Tapes/ERATP052 - Indigo] Neben dem tollen Re-release von Peter Broderick (der hier auf dem hauntologischen "Soul" gastiert) und dem neuen, wundervollen, pianolastigen Album von Nils Frahm (mit dem Rival Consoles bei der Londoner Performance-Reihe "The Hydra" auftrat) hat mich diesen Monat die vorliegende E.P. ganz schön mit Begeisterung belegt. Fünf nicht allzu lange Tracks genügen Ryan Lee West aka Rival Consoles vollends. West hat anscheinend alle bisherigen elektronischen Sounds und Ideen aufgesogen, New Wave, Synthie Pop, Electronica, Minimal, Techno und noch kleinere Genres und Stilistiken finden sich allesamt in fünf Dingern wieder, die melancholisch wiederhallen. Kein Wunder, dass der Typ auch schon Nico Muhly und Jon Hopkins rückgemischt hat. Der Brite schenkt uns eine intelligente und trotzdem absolut bewegende Variante elektronischer Lebensaspekte. Lebendig eben. "Odyssey" says it all. Ganz, ganz toll. www.erasedtapes.com cj Perera Elsewhere - Everlast [FoF - !K7/Alive] Überraschend. Hängen geblieben. Im Ohr. Doch wieder aufgelegt. Nachgehört. Perera Elsewhere ist Sascha Perera, die sonst als Sängerin und Songschreiberin von Jahcoozi verantwortlich zeichnet. Nach einer EP liefert die Wahl-Berlinerin nunmehr ihr volles Debüt ab. Und, siehe oben, das erregt Aufmerksamkeit, und zwar ganz von alleine und ohne jedes NameDropping. Durchaus traditionell und akustisch beginnt sie. Erinnert an selige TripHop-Zeiten im komplett unpeinlichen Sinn. Du musst schon ein wenig aufpassen, nicht gleich in die Vergleiche-Ecke abzurutschen. Denn dafür ist Pereras Sound und Stimmung denn doch zu eigenständig. Dafür stehen auch junge Kooperateure wie Gonjasufi und Springintgut. Aber Namen weg, Sounds rein in Ohr und Körper. Weniger verkifft, vielmehr beinahe weltmusikalisch. cj Gelbart - Vermin [Gagarin/GR2029 - Indigo] Durch die Weiten des Alls ist unsre kleine Wunderdose gewirbelt, hat an Siliziumschrott und Zauberstaub alles aufgeputzt was nicht am Firmament festgenagelt war – fünfzehn lange Jahre lang. Fast hätte sie es nicht mehr nach Hause geschafft. Nach kurzem Tank-Stopp auf Mond Apolkalypso senkt sie sich nun endlich auf Gagarin herab: Die kosmischen Stürme haben sie blankgeschliffen, selbst ihr Bart leuchtet scharlach in der Sonne; erwachsen ist sie geworden. Einen Film soll sie im Gepäck haben, die Musik dringt schon an unser Ohr, aber noch bleibt die Luke zu. Sie blinkt, wir sehen sie jedenfalls blinken, vielleicht hören wir es auch nur und glauben ihr den Rest. Großes kündigt sich an. Ist das Pappschlagzeug noch am Leben? Die einsame Kuh? Leitern werden ausgefahren, was für Leitern sind das, sie schlängeln sich ruckelnd in alle Richtungen, hinein in den Bart und wieder hervor, wie elektrisch. Da steht Messiaen auf der obersten Stufe, wiedergeboren als Phoenix, und winkt. Er winkt uns zu. Wir trinken die Radiofrequenzen, wir trinken und trinken sie weg, das ganze Jahrhundert bis hinaus zum Neptun. www.gagarinrecords.com multipara Toy - Join The Dots [Heavenly/HVNLP102CD - Cooperative Music] Warum Toy mit einer so doofen Band wie Placebo touren, wir wissen es nicht. Hauptsache, es bringt diese Band weiter, die mit ihrem zweiten Album jedenfalls nicht schlecht liegt. Liegen im Sinne von Passen, Grooven, Anklang-Finden. "Join The Dots" beginnt krautig mit "Conductor". Dazu gesellen sich psychedelische Anleihen. Kennt noch irgendjemand Bands wie Loop oder F/I? Die Faszination des Stoischen und irgendwann macht es 'klick', schon beim kleinsten Ausbruch oder der geringsten Verschiebung. Toy sind spacig, ja, aber auf die trockene Art, niemals schweinerockig oder rockistisch. Toy mischen das danach mit Indie, Folk und ein ganz klein wenig Art School Pop. Und 60er- und 70er-Referenzen. Und - ja, natürlich, ob gewollt oder gehört - Velvet Underground. R.I.P. Lou. Der hätte nur weniger gejault auf der Gitarre. cj

Jason Grier - Unbekannte [Human Ear Music/HEMK0033 - Cargo] Jason Grier gelingt auf "Unbekannte" ein eigentümliches Kunststück: blockhaften Arrangements studioexperimenteller Versuchsanordnungen und perkussiver Texturen, geschichteter Instrumentalmotive und lastender Pausen, einsamer Gitarrentöne und markerschütternde Bässe und nicht zuletzt tastend voranschreitender Vocals, aus denen im Verlauf des Albums die Melodien als letztes verschwinden, den Charakter und Ausdruck eines Songalbums zu verleihen. Eine lyrische, konzentrierte Strenge hält alles zusammen, große Kunst des Weglassens verschmilzt poetische Intimität mit drückender Physis, warm und ernst die Worte, die sich Grier und Lucrecia Dalt auf englisch, spanisch und deutsch teilen. Letztere nicht von ungefähr im Boot: Ihr jüngstes Album, auf demselben Label erschienen, das Grier seit 2006 betreibt, zuerst in Los Angeles, jetzt in Berlin, trägt eine verwandte Handschrift; hier kommt eine monolithische Wucht und geheimnisvolle Transparenz hinzu, die Pathos geschickt umschifft, nie monströs wird. Stark. www.humanearmusic.de multipara Iancu Dumitrescu - Pierres Sacrées / Hazard and Tectonics [Ideologic Organ/SOMA003 - Anost] Die Musik des rumänischen Komponisten Iancu Dumitrescu, Schüler Sergiu Celibidaches, basiert auf einem phänomenologischen Ansatz, zurückgehend auf die Philosophie Edmund Husserls. Die beiden Stücke, die dieses Vinyl kombiniert, sind herausragende Beispiele seiner akusmatischen Methode (und Schule), der sogenannten "Spektralen Musik", die die Klangverfremdung vor allem als Klangentfaltung begreift. Damit kommt er zu musikalischen Ergebnissen, die ähnlich radikal und überraschend, wenn auch ganz anders gelagert sind, wie etwa bei Mark Fell (auch jener ein Husserlianer). "Pierres Sacrées" von 1989-90 bricht die Klänge eines Klaviers auf, mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems der Mikrofonierung (und von Metallplatten und anderen Objekten) in seinem Innern; weder mit Reinhold Friedl noch mit Daniel Menche (und schon gar nicht mit John Cage oder Hauschka) kann man sich wirklich darauf vorbereiten, welche Dimensionen kräuselig vibrierender Geräusch-Halos Dumitrescu damit erschließt. Weniger sublim, aber noch seltsamer: die timestretch-artige Superkristallisierung dieses Sounds in Hazard and Tectonics, uraufgeführt dieses Jahr in Glasgow, mit zusätzlichen (nicht explizit gemachten) Instrumenten, und natürlich mit Computereinsatz. editionsmego.com/ideologic-organ multipara Breach - DJ Kicks [!K7 - Alive] Ben Westbeech ist die personifizierte Falsifikation für diejenigen, die noch an die Stadt-sozialisiert-Mensch-These glauben. Bloß weil der Knabe aus Bristol stammt, somit im Schmelztiegel zwischen Massive Attack und Portishead aufwuchs, ist der Weg zum No-Genre Trip-Hop noch keine logische Konklusion. Neo-Soul, Downtempo, Future Jazz – das sind die Eckkoordinaten, die der Sänger und Cellist/Pianist mit seinem richtigen Namen abdeckt. Mit seinem Alter Ego Breach zieht es den 32-Jährigen mehr Richtung Dancefloor, wie bereits die Single "Jack“ zeigen sollte. Sein Beitrag für die DJ-Kicks-Reihe ist Bens Hommage an House. 15 beinahe ausschließlich tanzbare Tracks versammelt der Brite – angefangen bei Innercity über Fred P und Will Sauls Close-Projekt bis hin zu Detroit Swindle und Sabre. Eben, keine Klassiker oder Hymnen, sondern eher die entspannten Perlen, die seine eigene Passion widerspiegeln: hüpfende Basslines, schwelgerische bis romantisch-freudsame Melodien und natürlich Vocals. Breachs Exklusive "Beroving“ kommt aus der deeperen Ecke und turnt mit Stöhn-Loops (weiblich und männlich) eher ab – sowieso leicht ungünstig positioniert vor Cassio Kohls Soul-infizierten Hit "Broken“. Gäbe es eine Tabelle aller 47 DJ-Kicks-Mixes, Breachs Beitrag würde irgendwo zwischen Platz 20 – 23 liegen. Ist doch klar. www.k7.com Weiß Bonobo - Late Night Tales [Late Night Tales - EMI] Was soll im Hause der Lounge-Experten schon auf ein frisches Repress der erfolgreichen Four Tet Ausgabe folgen? Bonobo natürlich. Gute Idee. Und gute Selection. Die hier deutlich im Vordergrund steht, so unspektakulär wie Simon Green mixt. Aber wir wollten nicht meckern, also zur Auswahl: Der cheesy Brite kompiliert seine Wohnzimmer-Lieblinge der letzten 15-20 Jahre. Da läuft, was hätten wir auch anderes erwartet, jede Menge Soul. Aus alten Tagen von der mysteriösen Leider-Nur-Ein-Album-Legende Darondo und von Nina Simone; aus jüngeren, Bläser-lastigen Tagen von der Menahan Street Band und dem Hypnotic Brass Ensemble. Darauf folgen Fieldrecording-Geklimper von Shlohmo und Lapalux, zu Unrecht vergessene Tracks von Floating Points und Airhead, sowie gefälliger aber schöner Jazz von Badbadnot-

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ALBEN good, Dorothy Ashby und Bill Evans. Simon Green weiß, wie man unbescholten durch die Nacht segelt. www.latenighttales.co.uk wzl Mental Overdrive - CYCLS [Love OD Communications/LoD1307 - ePM] Per Martinsen, der irre Typ, hat im letzten Jahr, als alle Welt ob dem von den Maya ausgerufenen Weltende in Schockstarre verharrten, Musik gemacht. Den akustischen Adventskalender lud er damals von Norwegen aus auf Bandcamp, ein gutes Jahr später gibt es pünktlich zur Weihnachtszeit alle Tracks gebündelt in der Wiederauflage. Zehn an der Zahl, für jeden zweiten Dezembertag einen. Das schreit ja förmlich nach einem 2013er-Update des Maya-Countdowns zwischen düsterer Apokalypse und flotter Elektronikeraufarbeitung in den eigenen vier Wänden. www.loveod.com jw Tony Lionni - Just a Little More [Madhouse Records/KCTDL627] Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so ein klassisches House-Album gehört habe, das einerseits glatt gebügelt ist wie frisch gemangelte Bettwäche und dabei noch die Reinheit besitzt, als ob der Weiße Riese seine Händchen im Spiel hatte. Doch bei Tony Lionni macht das Glatte viel Spaß und wirkt flauschig, wattig angenehm im neu bezogenen House-Bett nach. Das mit Maria Marcials besungene "do you believe" passt perfekt in diese Stimmung mit funkelnden Sternschnuppen auf Milchstraßenflächen oder auch "black orchid", das ebenso nur ohne Vocals funktioniert und einer dieser Tracks ist, die man zwei Stunden im Dauer-Repeat anhören kann, ohne dass sie an Intensität abnehmen. Zwischendurch hätte der Tausendsassa aber doch ein wenig mehr Experimentierfreude auch hinsichtlich der Stilfacetten bringen können. Das kann er und hat es auch oft genug bewiesen. Zur Versöhnung schickt sich das letzte Stück "positive vibration" an. Mit treibendem Arpeggio geht es von New York in die Motorcity zurück. Sehr schön und ein insgesamt gutes Album. bth Charles-Eric Charrier - C 6 Gig [Monotype/mono 059 - A-Musik] Ob Monotype die neuen Editions Mego seien, fragte Kollege Thaddi letzten Monat noch, angesichts der brachialen Releaseflut, mit der die Warschauer diesen Herbst antreten. Das können wir getrost verneinen, denn deren Markanz geht ihnen eher ab. Im besten Fall stellen sie Zwischentöne scharf, zuweilen wird's aber auch einfach verhuscht. Regelrecht blutarm kommt allerdings dieses dreiviertelstündige Stück Charles-Eric Charriers aus den Boxen, trotz massivem Magenbass-Einsatz, zwischen den sich Percussion-Partikel, vor allem Becken und ein fieser, gläsernder Plinker verstreuen. Offenbar am Rechner arrangiert und dort mit feinen Schnitten und Bearbeitungen versehen, die den akustischen Illusionsraum konterkarieren und einer spirituellen Art der Rezeption, in Charriers Sinne, tatsächlich die Luft zum Atmen raubt. Von der packenden Dichte der Americana-Psychedelik seines Vorgängers auf Experimedia (von wo er wie auch Piiptsjilling herübergewandert kommt) ist hier jedenfalls nichts mehr übrig. Akkordeon, Viola da Gamba, Fieldrecordings wehen dann noch nach einer halben Stunde warm durch die virtuelle Ödnis, aber da ist man schon vor Hunger eingeschlafen. www.monotyperecords.com multipara Mia Zabelka, Zahra Mani & Lydia Lunch - Medusa's Bed [Monotype/mono067 - A-Musik] Lydia Lunch nun wieder als spoken word mit ambient-experimentellen Sounds. In dem wunderbaren Dokumentarfilm "Autoluminescent" zum 2009 leider verstorbenen Rowland S. Howard (Boys Next Door, Birthday Party, Crime & The City Solution, These Immortal Souls) ist Frau Lunch neben Helden wie Thurston Moore, Kevin Shields oder Nick Cave eine der wenigen Frauen, die zu Worte kommen und damit mächtig Eindruck hinterlassen. Niemand sagt glaubwürdiger "fucking MTV" und verurteilt deren Ignoranz gegenüber spannenden Nischen-Musiken und -Bands. "Medusa's Bed" ist mehr Transmediale als Mainstream-Musikfernsehen, mehr Madeiradig als Berlin Music Week. Krachig, düster, Industriehallen-Ambient von Zabelka und Mani, inmitten darin diese lakonisch kommentierende Stimme. Man denkt fast ein wenig an Throbbing Gristle oder frühe SPK und Laibach. Puh. Ich bin dabei. Was für ein morbides Hörbuch. www.monotyperecords.com cj

Fulgeance - Cubes [Musique Large/ML013] Selten ein Album gehört in der letzten Zeit, das mit so eigenen Breaks so fulminant einsteigt, das rasante jazzige Tempo selbst in den Chords halten kann und dabei doch so locker losrockt. Fulgeance schafft es selbst freiere Passagen klingen zu lassen, als hätte sie sich eine Band beim Jammen aus dem Ärmel geschüttelt, lässt die Bässe heisslaufen, die Synths im dritten Himmel der besten Fusion abdriften und kann dazwischen auch mal ganz elegisch die U-Bahn von HipHop zu Disco in der Kurzstrecke nehmen, oder einfach einen abstrakten Groove in voller Perfektion zusammenzaubern. Sehr vielseitig sowohl in den Grooves als auch dem Sound, den Stilen durch die "Cubes" flattert, wie auch den Gefühlen die die Musik letztendlich vermittelt. Gross sind sie alle. www.myspace.com/musiquelarge bleed Preghost - Ghost Story [n5MD/MD220 - Cargo] Kosuke Anamize alias Moshimoss ist bekannt für gemütvolle Klangkonstrukte. Folglich fließen auf "Ghost Story" auf beinahe filmische Weise die Töne ineinander. Der Geist, also dieser philosophische und theologische Platzhalter, wird in den neun Preghost-Tracks mit Ideen bespielt. "Seeker" startet mit unendlich gedehnten Keys, die anschließend mit geisterhaften Stimmen bespielt werden und schließlich unter einer durch monotone Saxophonloops losgetretenen Lawine aus Percussions begraben werden. Da ist man erst mal platt. So geht es einem eigentlich mit allen Stücken hier. Jedem wohnt eine unergründliche Magie, beinahe schon ein hypnotisches Moment inne. "Cliff Edge Ghost" etwa holt einen ganz nah an die Klippe heran. So nah, dass man sich vielleicht kurz traut, über den Rand zu luschern, aber von dort wehen einem so heftige Briesen entgegen, dass einem ganz anders wird – auf eine gute Art, wohlgemerkt. www.n5md.com jw Graze - Edges [New Kanada/nk47 - Clone] Fast jeder Track hier ist wirklich gut, klingt auch gut, und für DJ's ist dieses Album sicher eine Fundgrube. Aber dieses willkürliche Skippen von zeitgemäßen Klangentwürfen in schroffe Warehousegefilde, von dort in die 90er Warp-Schule und wieder zurück ins Post-Bass-Universum, das entbehrt jeder Form der Narration. Warum nicht einfach Maxis machen? Auf Albumlänge fühlt man sich jedenfalls verloren. Und wo man sich verloren fühlt, da bleibt man nicht allzu lange. Schade drum. www.newkanada.com blumberg Kallisti - Arc Of Fire [Norelation/002] Eine Oldschool-Breakbeat Platte durch und durch. Halbgar geloopte Breaks, nicht die große Kunst der Zerstückelung später Tage, funky Zerrissenheit, große Pianos, großer Kitsch, übereuphorisch mit wummerndem Hintergrund, immer gleich alles wollen, Musik als Moment diese Mauer zu durchbrechen, die man immer wieder schnell von der nächsten Seite angeht. Albern, aber doch irgendwie sehr putzig und voller Aufrichtigkeit knattert das kleine Album mit der Seele eines Breakbeatteenagers los und macht uns schichtweg glücklich und süchtig, auch wenn wir ca. 90% der Samples immer noch aus diesen Tagen auswendig kennen. bleed Ital Tek - Control [Planet Mu/ZIQ344 - Cargo] Auch bei Planet Mu kommt es zuweilen vor, dass das Artwork einer Platte ihr zugrundeliegende Dimensionen auf eine Weise verstärkt und überhöht, dass die gesamte Wahrnehmung davon geprägt bleibt. Die acht kompakten, wie immer perkussiv getriebenen Tracks auf Ital Teks neuem Minialbum scheinen in so einer kristallinen, megalopolen Sci-FiKunstwelt zu existieren, liefern den Soundtrack zu einer alternativen Gegenwart. Am deutlichsten in Track 4, das den stillen virtuellen Glitzer von Art of Noises "Moments in Love" wie grafisch abstrahiert spiegelt, aber auch in der Selbstverständlichkeit, mit der lupenreine 90er Jungle- und Drum&Bass-Etuden sich mit Trap-Beats, Arpeggien-Monstern und Detroiter Sehnsuchtstönen austauschen, als hätten sie jemals in der gleichen Zeit am gleichen Ort existiert. Nun, diese Zeit ist eben jetzt: Ital-Teks Kunst des Stilmixes, in dem Vergangenheit und Zukunft zusammenfallen, hat nichts hauntologisches, sondern eine bestechende, luftige Klarheit, ohne dadurch an Atmosphäre einzubüßen. www.planet.mu multipara

Niton - Niton [Pulver und Asche Records] Wird hier dem Meeresgott Neptun gehuldigt? In der Schweiz heißt Neptun anscheinend auch Niton, und so nennt sich ebenfalls ein italienisches Projekt, dessen selbstbetiteltes Album auf dem Tessiner Label Pulver und Asche erschienen ist. Als "Fluss aus Zeit und Klang" wird die Musik angekündigt, was als Beschreibung in seiner Allgemeinheit sicherlich einigermaßen zutreffend ist. Anscheinend in Echtzeit eingespielt, wälzt sich die Musik dieses Trios durch Regionen zwischen konkreten Klängen und Abstraktionen. Zum Inventar gehören Saiteninstrumente und Elektronik, mit dem das Ensemble manchmal dichte Momente heraufbeschwört, an anderer Stelle laviert man sich eher durch improvisierende Beliebigkeit. Das ist dann leider auch der Eindruck, der am Ende bleibt. www.pulverundasche.com tcb Ryoji Ikeda - Supercodex [Raster-Noton/r-n 150 - Kompakt] Die zwanzig schlicht durchnumerierten Stücke auf "Supercodex" schließen Ikedas DatamaticsTrilogie auf Raster-Noton ab. Vor zwei Jahren sollte die CD bereits erscheinen; konzeptuell schien das Thema der Sonifizierung von Datenströmen und der Exploration ihres musikalischen Potentials eigentlich ausgeschöpft, die CDs ohnehin nur ein Baustein des audiovisuellen Großprojekt. Inzwischen blüht bereits das nächste, die Quasi-Oper "Superposition", inspiriert von der Mathematik der Quantenmechanik. Ikeda hat das Richtige gemacht und sich Zeit gelassen für freies Spielen mit dem erarbeiteten Material, bis ein Album fertig war, das so leicht und erzählerisch wirkt wie nur wenige in seinem Werk. Zwischen dem Pseudo-Morsecode zum Einstieg und dem zittrig sprudelnden Wellendrone zum Ausgang reihen sich Klangskizzen zwischen auskomponierte Tracks, die erst zaghaft rocken (05), mit Riffs (08, 09) und Phrasen (19) spielen, aus den Filtern gekrochen kommend geradezu auf den Dancefloor ziehen (10), oder auch einfach chaotisch ballern (17). Apropos: Der oft gefürchtete Brutalismus seines Sounds hat sich über die Jahre zu einem samtig aufgerauhten Klangkörper verfeinert, der noch nie so lecker brummen, sirren und knattern durfte wie hier. Ultrahochauflösende Bauchmusik. www.raster-noton.net multipara Gardland - Syndrome Syndrome [RVNG INTL/RVNGNL24 - Cargo] Sehr trocken. Sehr elektronisch. Sehr hart auf eine eigene Art. das erfordert kurze Sätze. Es rauscht, dann pumpt es. Irgendwo ganz hinten leuchten Basic Channel und Co. auf. Wird gedubbt marschiert. Kleine Restspuren von Techno und Industrial, aber minimal, falls man dieses Wort mal wieder benutzen darf. Wäre mal wieder Zeit für ein Auflegen in einer Industriehalle, nur nicht so einfach in der Stadt, in der diese Zeilen gerade geschrieben werden. Beyond versucht das. Dubstep hin oder her, auch dort würden Gardland wunderbar dunkel passen. Alex Murray und Mark Smith (nein, nicht der Herr von The Fall) liefern den Soundtrack. Nahezu perfekt. Obwohl sie im positiven Sinn ähnlich kriminell, rückwärtig und unzugänglich wirken. Sie verschwinden als Typen nämlich hinter ihren tollen Sounds. Irgendwie bekannt und doch auch anders. Immer wieder. cj UNMAP - Pressures [Sinnbus - Rough Trade] Die künstlerische Symbiose aus Klang und Performance sind Alex Stolze und Mariechen Danz schon vor dem gemeinsamen Unmap-Projekt eingegangen. Produziert wurden die zehn Stücke auf "Pressures" von PC Nackt und Marco Haas. Herausgekommen ist ein grandios geheimnisvolles Album. Hintenherum rollen schicken Grooves aus der Maschine rein, dann legt sich ein Mantel aus Streicherarrangements über die kräftigen Drums. Dazu erzählen Danzes dunkle Stimmen von Schuld, Sühne und auch schönen Dingen. Alles greift hier in alles, kommt überall her. Wo ein Sich-nicht-festlegen sonst als Schwäche ausgelegt werden kann, ist es hier definitiv als Stärke zu werten. Tolle Platte! www.sinnbus.de jw STL - At Disconnected Moments [Smallville/LP008 - WAS] Auf einer Doppel-EP (auch genannt Album) weitet sich Stephan Laubner in seinen rauschend glucksenden Sounds des Albums in voller Größe aus. Mit mittlerweile endlosen Releases auf Something gehört STL zu diesen Projekten, die sich immer wieder einen Hauch verschieben, die ihre Liebe zur Musik einfach ausdampfen lassen. Und das ist auf dem neuen Album nicht anders. Weite dubbige Sounds, sanfte Hintergründe, zarte und dennoch immer noch halb greifbare Stimmungen, eine Welt, in der jeder noch so kleine Sound seinen Platz in der Beschreibung eines Zustands findet, der

voller Bewegung und voller Ruhe zugleich ist. Eins dieser Dubalben, ist man versucht zu sagen, in denen der Moment, in dem man es hört, genau so wichtig ist wie die Musik, diese Vorwegnahme eines Ortes, an dem die Musik sich einnisten kann, ihr Leben, ihre Wunder, ihre krabbelnde Unbestimmtheit entfachen kann. Und wenn das Album es tut, dann will man nichts weiter, als den eigenen Ohren folgen. Wohin auch immer sie einen treiben. www.smallville-records.com bleed Sin Cos Tan - Afterlife [Solina/SOl-030 - Cargo] Synthie Pop mit ganz viel Seele, sprich Soul, das war auf dem selbstbetitelten Debüt schon angesagt, aber noch nicht so deutlich zu vernehmen wie nun. Jori Hulkkonen und Juho Paalosmaa aus Finnland haben sich u.a. Casey Spooner von Fisherspooner aus naheliegenden Gründen zur Hilfe genommen: Sin Cos Tan erkunden Tanzmusik mit zahlreichen Referenzen auf die Achtziger und werden dafür sorgen, dass junge Fans sich alte Platten - ob nun real oder virtuell - von Blancmange, Fiction Factory, OMD, Ultravox oder (deren ExSänger) John Foxx ausgraben. Nostalgisch sind Sin Cos Tan freilich nicht. Sie diggen, um dann weiter zu verarbeiten. Sie sind nicht so mechanisch-androgyn wie andere der genannten Musiker. Sie sind wärmer, das hat eine gewisse Stärke und auch Distanzierung von den ganz maschinistischen Vertretern von damals. Vielleicht ein Stückchen näher an den Pet Shop Boys. cj Messer - Die Unsichtbaren [This Charming Man - Cargo] Sie beginnen mit der Ansage, dass sie mit dem Stück "Angeschossen" beginnen. Angekränkelt zum Anfang. Und doch voller Energie. Back to the future. Ohne Lächerlichkeit. Nüchtern torkeln. Auf Hollywood geschissen. Geschossen. Und dennoch wissend. Deutschland halt’s Maul. Auf deutsch. Sprache jonglierend. Gejagt. Jagend. Geister. Der Bass bollert. Noch ein Stück weit weiter entfernt vom Hardcore und Punk zum Post Punk. Im Grunde sind Messer Post Post Punk deluxe. Wenn es nicht so dämlich klingen würde. Als Kategorie. Nicht als Klang. Pennys und nicht Cents gegen die Wand schmeißen. Selten so hoch motivierte, kraftvolle Trostlosigkeit voller Hoffnung gehört. Messer sind nach dem tollen Debüt "Im Schwindel" nunmehr noch dunkler und gleichzeitig schillernder geworden. Größer. Bollernd. Treibend. Ja, sie treiben, sie hetzen dich vor ihnen her, bis sie dich bellend einholen und umarmen. Alles wird gut in dieser schlechten Zeit. Mit Messer. Bist Du schon auf'm Trip? www.thischarmingmanrecords.com cj Wooden Shijps - Back To Land [Thrill Jockey/Thrill 351 - Rough Trade] Superschönes Artwork. Was aus einer doofen CD so alles gemacht werden kann. Liebevoll. Psychedelisch. Wobei nun nicht gedacht werden sollte, dass die Wooden Shijps balladesk oder kräutertempelig geworden sind. Dann schon fast ein kleines Stückchen rockiger. Wobei die Kombination aus Orgelsounds, repetitiven Feedbackschlaufen, Hall und stoischen Drums seit Spacemen 3 und Luna nicht mehr so poppig geklungen hat. Sweet, sweet Heroine, unsere Heldin. Die Shijps sind sowohl minimaler als auch heller geworden. Was keinesfalls bedeutet, dass hier Fröhlichkeit angeboten wird. Dann schon eher in Lederjacke und mit Sonnenbrille durch die kalifornische Sonne. Ich liebe das. Coolness ist so wichtig und hot. Direkt zwischen den ebenso tollen Crystal Stilts und Lost Rivers einsortieren. www.thrilljockey.com cj Peshay - Generation [Truthoughts/TruCD285 - Groove Attack] So langsam entwickelt sich Truthoughts zum Auffangbecken für ehemalige Drum'n'Bass-Produzenten. Nach Drumagicks Single ist jetzt auch Peshay in Brighton zu Gast. Sein Album hat aber mit seinen früheren Produktionen wenig zu tun. Eine jazzige Komponente spielt immer mit rein, aber Generation ist vor allem stark von Latin, House und Disco geprägt. Entstanden sind spannende Hybride, die sich jeglicher Zuordnung verweigern. Paul Pesce ist der bürgerliche Name des Mannes, der hohes Ansehen in der Drum'n'Bass- Szene genießt. Nicht alle der insgesamt zwölf Tracks treffen voll ins Schwarze, aber eine Nummer wie " idnight Express" schütteln auch Kollegen wie Mr. Scruff nicht unbedingt leichtfertig aus dem Ärmel. Hits für die Tanzflächen kann Peshay jedenfalls immer noch, nur sind es jetzt einfach andere Clubs, in denen seine Tunes laufen werden. Die Freestyle-Szene kann sich über diesen Zuwachs jedenfalls ordentlich freuen. www.tru-thoughts.co.uk tobi Reinaldo Laddaga (ed.) / V.A. - Things that a Mutant needs to know: more short and amazing stories [Unsounds/38U - Rough Trade] Die "kurzen, unglaublichen Geschichten", die der argentinische Autor Reinaldo Laddaga hier zusammengestellt

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ALBEN hat, sind eine Hommage an seine Landsmänner Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares, die 1956 eine so benannte Anthologie herausbrachten. Ganz in deren Geist setzt er sie hier fort, mit 55 kuriosen Erzählungen und Beschreibungen, vom Bellum Gallicum zu Daniil Charms, von Oscar Wilde oder R.L. Stevenson, nicht zuletzt aus volkstümlichen Überlieferungen aus aller Welt. Der besondere Twist: Jeder Text hat hier seinen eigenen Soundtrack. Yannis Kyriakides (mit mikrotonalem Piano), Silvia Borzelli (perkussive Texturen), Justin Bennett (Küste), Christine Abdelnour (Sax), Laddaga selbst (Vocals, Arto-Lindsay-Schule) und eine ganze Schar weiterer bekannter und unbekannter Namen schaffen in der Summe mit ihren oft obskur-archaischen Miniaturen einen fantastischen Bilderwechsel, die der Rätselhaftigkeit der Geschichten noch den Reiz des Nachspürens beigeben, wie Musik und Text zusammengehen. Auf jeden Fall sehr gut. Nie drängt sich die Hörebene in den Vordergrund, und bringt doch so viel Charakter mit, dass sie ohne die Texte bestehen könnte – zum Erlebnis wird aber beides zusammen. Bei Unsounds hat dieses Buch mit Doppel-CD ein perfektes Zuhause gefunden: In seiner Verbindung von Lesetext und Musik schließt es nicht nur an Labelvorgänger wie Kyriakides "Dreams"-DVD an, auch Hausgestalterin Isabelle Vigier macht aus dieser Formatkombi ein echtes Meisterstück. www.unsounds.com multipara Jaakko Eino Kalevi - Dream Zone [Weird World/WEIRD038 - Rough Trade] Wovon träumen Straßenbahnfahrer? Beim Finnen Jaakko Eino Kalevi darf man vermuten, dass es einigermaßen sanft zugeht, auch psychedelisch kann es schon mal werden. Seine Debüt-EP setzt auf dem Domino-Sublabel Weird World jedenfalls einen unverbindlich exzentrischen Akzent. Kalevi macht elektronischen Dream-Pop mit allen Zutaten, die in den Achtzigern zum guten Ton gehörten, verdudeltes Saxofon-Solo inbegriffen. Doch sein dunkler Gesang bewahrt die Songs davor, in allzu seichtes Traumland abzudriften. www.weirdworldrecordco.com/ tcb App - Appiness [Wet Yourself Recordings] Ich hätte es lieben wollen, das Album von App. Die EPs zuvor waren grandios. Hier begehen sie leider auf zu vielen Tracks den Fehler, nicht selber zu singen. Das können sie besser als die geladenen Gäste. Dennoch finden sich mittendrin ein paar Stücke, die so voller unglaublicher Ideen stecken, dass man seinen Frieden damit schließt, dass dieses nicht eins der Alben des Jahres daraus geworden ist. "Magic" z.B. Was für ein Track. Trocken und ganz auf den Ausklängen basierend, mächtig melodische Bassline, trockendst abgehalfterter Funk und dabei doch so ultradeep, dass der ganze Körper mitsummt. Oder auch das völlig verdrehte "Paper Tiger" mit seinen trudelnd heldenhaften Melodien oder das sprunghafte Tanzschulendiscostück "Soma", das verrückte Synthmelodram "Inter". Nur ihre frühere Spezialität, perfekte Housepopsongs mit Gesang, entgleitet ihnen hier immer wieder. bleed Minor Alps - Get There [Ye Olde/The Orchard/YOR011CD - Alive] Matthew Caws von Nada Surf und Juliana Hatfield von u.a. den Blake Babies und Some Girls haben sich musikalisch zusammengetan. Drumherum lassen sich einige alte Bekannte aus verschiedenen Sektoren des großen Indie-Pop wie u.a. Mitglieder von Antony & The Johnsons, Jeff Buckley, Solange, Computer Magik oder Two Dollar Guitar (der wohl kafkaeskesten Indie-Rock-Band aller Zeiten) entdecken. Dennoch ist das hier ganz klar ein tolles, rockiges Album von Hatfield und Caws. Irgendwie schlägt hier der Sound of Hoboken durch. Insbesondere die Mini-Hits wie "I Don't Know What To Do With My Hands" lassen aufhorchen. Altgediente schrauben sich neu ins Ohr. Sehr, sehr fein. cj Deep 88 vs. Melchior Santana - Yo House / Track3 [12 Records/12R08 - DNP] Die beiden waren schon auf ihrer letzten EP ein gutes Team, jetzt haben sie definitiv zu ihrem Sound gefunden. Slammen-

de Housegrooves mit massiven Pianos, und dunkle deepe Housemomente in solcher Wucht, dass man sich wundert, wie sie es hinbekommen, dabei dennoch so smooth zu bleiben. Kickend massive Bassdrums, leicht angezerrt und flapsig, deuten den Discohintergrund an, die Melodien sind so ausgelassen, dass sie fast kitschig sind, aber dennoch hält alles in dieser stringverliebt dunklen Deepness zusammen. bleed Chesus - Decisions [4Lux] Schon einfach überragend, wie diese Platte hier mit einem Sample einsteigt und das so viel Euphorie übermitteln kann, wie sonst kaum eine ganze EP. Dann ab in den stampfigsten Housegroove, als gelte es alles noch ein mal ganz von vorne zu erleben, und die Auflösung lässt auch so lange nicht auf sich warten. Brilliantes Stück. Und die ganze EP ist so voller klassischer Housemonster der ersten Stunde, so freizügig in ihren Filtern, so überdreht in ihrem Funk, so spielerisch und leicht in den Grooves und so gerecht in den Vocals, dass es immer wieder eine reine Freude ist. Killer EP. bleed Cosmin TRG - Remixes [50 Weapons/50WEAPONSRMX08 - Rough Trade] Legowelt schnappt sich "Terminus Abrupt" und zündet vom ersten Moment an ein solches Gewitter zwischen schillernden Melodien und nebeligen Gassen an, dass man sich als Superheld gleich mit durch Metropolis schwingen möchte, um die Welt vor egal was zu retten. Mittendrin dann dieses unnachahmliche Ravemoment, das Legowelt immer häufiger anbringt und zerfaserte Breaks in breiten Delays. Der "Miles Against The Grein"-Remix von "Noise Code" ist eine darkere Angelegenheit, die sich immer tiefer hinabfallen lässt zwischen den darken Basslines und dem kaputt gedichteten Sound. Eine Apokalypse für Tiefgänger mit den schrägsten Flächen der Saison, auf denen unsere Ohren beinahe in den Hörsturz ausgerutscht sind. Kaputte Musik für eine kaputte Welt. Stimmt doch alles so. www.50weapons.com bleed Sebastien San - Lunar Dance [Ab Initio/AB04 - Decks] Die Serie der immer sehr schönen Releases von Sebastien San auf Ab Initio setzt sich hier mit einem steppenderen Sound fort. "Lunar Dance" ist ein klassischer Detroittrack mit wirbelnden Sequenzen und etwas statischem Groove, "Crash Course" geht etwas deeper in den Sound, bleibt aber sehr geradlinig und mit "Asphalt" rundet er die EP mit einem trockenen Glockenklang und mehr Funk ab. bleed Elec Pt. 1 - A Groove EP [Abstract Acid/AACID006 - D&P] Der Titeltrack ist erst mal ein bis aufs Letzte reduzierter AcidTrack der klassischsten Art. Beats, Bassline, Stimme. Und dennoch ist das Ding so ungeheuer funky, dass man gleich wieder zur nächsten Acidrevival-Party laufen möchte und hoffen, irgendwer bringe das so auf den Floor, wie man es wirklich braucht. Monothematisch ist die Platte aber nun wirklich nicht, denn im weiteren gibt es auf der A-Seite abenteuerliche Soundkonstruktionen, wilde flatternde Beats, und Acid in einer Vielseitigkeit, wie man es selten hört. Die Rückseite widmet sich dann aber wieder ganz in drei Tracks den Konstruktionen rings um die 303 und genießt diesen Sound, als wäre er gestern erst erfunden worden. bleed DMX Krew - Micro Life [Abstract Forms/AFS_0.16 - D&P] DMX Crew ist nach wie vor eine der unnachahmlichen Größen in Electro. Auf dem Album für Abstract Forms klingen die Tracks vielleicht noch ein wenig spartanischer als sonst, analoger noch, trockener aber dennoch von einer ernsthaften Quirligkeit durchzogen. Der Sound geht nicht so sehr auf die galaktischen Weiten oder auf die Referenzen der Prä-Techno-Zeiten von Electro ein, sondern ist eher dem klassischen Sound von Electro, wie er in Detroit formuliert wurde, verschrieben. Klar, gelegentlich kommen auch hier schwärmerische Klassiksynths, aber die Tracks wirken selten überladen, denn der Funk der Basslines und Grooves überwiegt fast immer. bleed

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Adalberto - Let Love Come Home [Acidicted/1.1 - Decks] Zwei eher elegisch in den Oldschoolflächen suhlende Tracks mit souliger Zitterstimme und klassischen Spoken Words, in denen Acid eher im Hintergrund als satte Bassline funktioniert. Ein Klassiker irgendwie, leicht überdreht in den Synths, die manchmal etwas beliebig durch ihre Melodien schwingen, aber gerade dieses Unperfekte macht den Track so charmant. Musik, die auch genau so vor weit über 20 Jahren hätte entstehen können. bleed Titonton - Provocative EP [aDepthaudio/009 - D&P] Titonton! Viel zu lange her, dass ich eine EP von ihm gehört habe. Diese quietschig glücklichen Melodien, die langsamen Detroitflächen, die alles umrunden, die elegischen, aber manchmal eben auch ruffen Beats, das Sprunghafte seiner Grooves und die Konzentration auf diese Momente, in denen aus dem deepesten flausigsten Gewusel, ein Killertrack voller Optimismus wird. Sehr unterschiedlich im Sound wirken die Tracks, als kämen sie aus den verschiedensten Zeiten seiner Produktion, aber spiegeln dennoch immer wieder den weltumspannend zuckersüßen Sound wieder, für den Titonton bei aller Quirligkeit immer stand. bleed Håkon Stene - Bone Alphabet [Ahornfelder/AH26 - A-Musik] Zwei weitere Einspielungen zeitgenössischer Musik aus der Hand von Håkon Stene, die genauso viel Spaß machen wie die vier auf dem gleichzeitig erscheinenden Album. In Brian Ferneyhoughs "Bone Alphabet" zimmert sich ein Katakombenflügel ein Modell seiner selbst, nach einem Runen-Bauplan, dessen Entzifferung umso schwieriger wird, je weiter die Konstruktion fortschreitet, weil er auf dem knöchernen Baumaterial selbst eingezeichnet wurde… Sie verstehen? Also, so etwa die Anmutung der Partitur. Und als wär es die Bastard-Dub-Rückseite davon: "Wizard & OS" von Sir Duperman, also Jørgen Træen, und schon (bzw. endlich) sind wir da angekommen, wo sich zeitgenössische Komposition und Noise-Avantgarde treffen, in der Domäne des leider etwas stumm gewordenen +3db-Labels, auf dem Træen mit den Golden Serenades den Zeiger ins Infrarote verbog. Es wird dann nicht so abseitig wie bei Øyvind Skarbø, aber vor dem Filter-Strudel, in dem hier Stenes Selbstklinger langsam versinken, um dann in elektronischen Farben zu sprossen, werden natürlich alle Pläne zu eitlem Menschenwerk und ich zum Fan. www.ahornfelder.de multipara Evol - Something Inflatable [ALKU/Alku129 - A-Musik] Das 1992 von der "Rotterdam Termination Source" für alle Zeit als enervierende Klangvokabel im fröhlichen Hardcore-Kontinuum verankerte "Poing" wird hier einer humorvollen, ungefähr halbstündigen Dekonstruktion unterzogen. Ohne Ende hysterische Poings in allen Variationen, dazu gelegentlicher Einsatz von Gabber-Bassdrums. Das hinterlässt zerplatze Köpfe und fühlt sich ungefähr so an wie die Sichtung einer Ryan-Trecartin-Retrospektive. Wer mit Evol bzw. Alku, bzw. deren Arbeiten vertraut ist, weiß, dass sich dabei tatsächlich um Klanginstallation handelt, wobei die Pressung auf Vinyl das Ergebnis auf seltsame Weise umcodiert und genau das Element unterstreicht, das Evol (aka Roc Jiménez de Cisneros & Stephen Sharp) selbst "annoying hooliganism" nennen. "Something Inflatable" verwirrt die Sinne, hat verheerende Folgen fürs sogenannte Nervenkostüm, reinigt jedoch die Ohren. alkualkualkualkualkualkualkualkualkualku.org blumberg Housemeister - Whiteout [All You Can Beat/022] Housemeister ist schon eine Weile wieder zurück mit seinem All You Can Beat Label und jetzt können wir nicht anders. Der Titeltrack ist einfach so eine goldig dreiste Acidnudel, dass man ihn bis ins letzte schnarren der 303 abfeiern muss. Auch die albernen Computerstimmchen zwischendruch. Ach. So herzig und doch so funky und überdreht. Und die kurzen Reverbaufdreher erst mal. Das rockt ohne Ende. Die Rückseite trommelt sich dann um ein paar Nackenwirbel und will es offensichtlich mit den Schranzkönigen dieser Welt

aufnehmen, nur, wir wissen ja, im Land der Blinden (keine Schranzkönige mehr da) kann es nur einen geben: Housemeister. bleed Physical Therapy - Non-Drowsy [Allergy Season/001] Sehr gedämpft beginnt die Platte wie eine kaputte Housenummer auf Abwegen, schwingt sich durch die gedämpften Sounds und merkwürdigen Stimmen die klingen wie durch ein Megaphon eingesprochen, voguet auf den brummigen Bässen und hat einem am Ende in einem unglaublichen Groove gefangen. Diese Mischung aus ruffen Samples die sehr direkt sein können und ruhigen Hintergründen, die dennoch aufwiegeln zieht sich durch die ganze EP, die von Track zu Track phantastischer wird und immer mehr auf eine Dosendisco zudriftet, die voller kleiner Schnitte und Microeinwürfe ist. Große Platte. Und das perfekte Debut um sich auf den Housefloors dieser Tage ganz nach vorne zu drängeln ohne auch nur ein Mal den Oldschoolsound in den Mund zu nehmen. bleed Dakpa - First Division [Amam/AMAMEXTRA020] Dakpa kommt aus Mallorca und macht, nein, keinen sonnendurchfluteten Trancesound, sondern deep reduzierten Minimal mit der für Amam typischen Dichte und dem Hang zu Subbässen. Swingend und mit sehr eleganten Grooves ist die EP eine dieser Minimalplatten, denen man Zeit geben muss, damit sie ihren leicht jazzig nuancierten Charme entfalten können, dann aber wirkt es einfach verzaubernd. www.am-am.org bleed Setaoc Masss - Nicmos EP [Animal Farm Records/003 - Decks] Durchgehend gewaltig schwergewichtige Technotracks mit bollernden Bassdrums und schwelenden Synths, die wie Gewitterstürme über die Tracks ziehen, eingepeitscht von Snares und dem Knattern der Hihats. Der Jonas-KoppRemix wirkt schon fast dezent dagegen. bleed AnD - Ard Core Crew [Ann Aimee - Rush Hour] Was für ein böser Tracks. Früher, bevor Drum and Bass so richtig geschlüpft war, nannte man das Hard Core. 'ard Core für alle Jamaicaner, die das mit dem H nicht so drauf haben. Darauf bezieht sich die EP und das mit einer solchen Wucht und so bollernden Ravebreaks früher AphexZeiten, dass man am liebsten einen Panzer mit Subwoofern ausstatten möchte, damit auch das Soundsystem dazu passt. Von Breakbeats ist hier nicht zu hören, aber dafür Bremsspuren länger und tiefer als der Grand Canyon, und Beatsalven so kaputt wie eine Kalashnikov aus vierter Hand. www.delsin.com bleed Mosca - A Thousand Year's Wait [Ann Aimee - Rush Hour] "It's not what it looks like" will uns sagen, dass wir uns in ihm täuschen. Dass wir aufs Glatteis gehen. Auf das polternd ruffe Technoeis der slammenden Zeit von Warehouses und Strobes. Warum? Weil es doch zielgenau auf eine breite Fläche zuläuft, auf diesen Moment der Aufhebung, der Erlösung, nicht durch eine zirkuläre Wendung des Sounds, sondern Erlösung durch Öffnung hin zu einer anderen Welt. Die ist auch nicht was sie zu sein scheint, weil sie sich einfach doch nicht erreichen lässt, nur sehen. Platonischer Techno. Klar. Warum nicht. "Kneecap" ist wie vermutet böser und wirbelt zum ähnlichen Technosound dann ein paar klingelnde Sequenzen hinzu, die klingen wie ein Roboter der ein paar Jazz-Coctails zu viel hatte. "Press Up" verliert dann die Zweideutigkeit der anderen Tracks und bewegt sich tief in die Tunneltechnowelten hinein. www.delsin.com bleed Synkro - Lost Here EP [Apollo/AMB1320 - Alive] Ach, wie emphatisch diese Tracks von Synkro doch immer wieder sind. Als wollten sie sich deiner Probleme annehmen, dich in ein weiches Daunenkissen der Melancholie einbetten, dich trösten. So zart knisternd hoppelt die in ein wohltuendes Pad-Bad getauchte Percussion unaufdringlich durch deine Seele und versucht ihr auf sanften Bass-Wogen

BUTCH MADMOTORMIQUEL MARTIN BUTTRICH JAN BLOMQVIST RODRIGUEZ JR. BUNTE BUMMLER 12.11.13 12:44 15:07 20.11.13


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ALBEN hat, sind eine Hommage an seine Landsmänner Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares, die 1956 eine so benannte Anthologie herausbrachten. Ganz in deren Geist setzt er sie hier fort, mit 55 kuriosen Erzählungen und Beschreibungen, vom Bellum Gallicum zu Daniil Charms, von Oscar Wilde oder R.L. Stevenson, nicht zuletzt aus volkstümlichen Überlieferungen aus aller Welt. Der besondere Twist: Jeder Text hat hier seinen eigenen Soundtrack. Yannis Kyriakides (mit mikrotonalem Piano), Silvia Borzelli (perkussive Texturen), Justin Bennett (Küste), Christine Abdelnour (Sax), Laddaga selbst (Vocals, Arto-Lindsay-Schule) und eine ganze Schar weiterer bekannter und unbekannter Namen schaffen in der Summe mit ihren oft obskur-archaischen Miniaturen einen fantastischen Bilderwechsel, die der Rätselhaftigkeit der Geschichten noch den Reiz des Nachspürens beigeben, wie Musik und Text zusammengehen. Auf jeden Fall sehr gut. Nie drängt sich die Hörebene in den Vordergrund, und bringt doch so viel Charakter mit, dass sie ohne die Texte bestehen könnte – zum Erlebnis wird aber beides zusammen. Bei Unsounds hat dieses Buch mit Doppel-CD ein perfektes Zuhause gefunden: In seiner Verbindung von Lesetext und Musik schließt es nicht nur an Labelvorgänger wie Kyriakides "Dreams"-DVD an, auch Hausgestalterin Isabelle Vigier macht aus dieser Formatkombi ein echtes Meisterstück. www.unsounds.com multipara Jaakko Eino Kalevi - Dream Zone [Weird World/WEIRD038 - Rough Trade] Wovon träumen Straßenbahnfahrer? Beim Finnen Jaakko Eino Kalevi darf man vermuten, dass es einigermaßen sanft zugeht, auch psychedelisch kann es schon mal werden. Seine Debüt-EP setzt auf dem Domino-Sublabel Weird World jedenfalls einen unverbindlich exzentrischen Akzent. Kalevi macht elektronischen Dream-Pop mit allen Zutaten, die in den Achtzigern zum guten Ton gehörten, verdudeltes Saxofon-Solo inbegriffen. Doch sein dunkler Gesang bewahrt die Songs davor, in allzu seichtes Traumland abzudriften. www.weirdworldrecordco.com/ tcb App - Appiness [Wet Yourself Recordings] Ich hätte es lieben wollen, das Album von App. Die EPs zuvor waren grandios. Hier begehen sie leider auf zu vielen Tracks den Fehler, nicht selber zu singen. Das können sie besser als die geladenen Gäste. Dennoch finden sich mittendrin ein paar Stücke, die so voller unglaublicher Ideen stecken, dass man seinen Frieden damit schließt, dass dieses nicht eins der Alben des Jahres daraus geworden ist. "Magic" z.B. Was für ein Track. Trocken und ganz auf den Ausklängen basierend, mächtig melodische Bassline, trockendst abgehalfterter Funk und dabei doch so ultradeep, dass der ganze Körper mitsummt. Oder auch das völlig verdrehte "Paper Tiger" mit seinen trudelnd heldenhaften Melodien oder das sprunghafte Tanzschulendiscostück "Soma", das verrückte Synthmelodram "Inter". Nur ihre frühere Spezialität, perfekte Housepopsongs mit Gesang, entgleitet ihnen hier immer wieder. bleed Minor Alps - Get There [Ye Olde/The Orchard/YOR011CD - Alive] Matthew Caws von Nada Surf und Juliana Hatfield von u.a. den Blake Babies und Some Girls haben sich musikalisch zusammengetan. Drumherum lassen sich einige alte Bekannte aus verschiedenen Sektoren des großen Indie-Pop wie u.a. Mitglieder von Antony & The Johnsons, Jeff Buckley, Solange, Computer Magik oder Two Dollar Guitar (der wohl kafkaeskesten Indie-Rock-Band aller Zeiten) entdecken. Dennoch ist das hier ganz klar ein tolles, rockiges Album von Hatfield und Caws. Irgendwie schlägt hier der Sound of Hoboken durch. Insbesondere die Mini-Hits wie "I Don't Know What To Do With My Hands" lassen aufhorchen. Altgediente schrauben sich neu ins Ohr. Sehr, sehr fein. cj Deep 88 vs. Melchior Santana - Yo House / Track3 [12 Records/12R08 - DNP] Die beiden waren schon auf ihrer letzten EP ein gutes Team, jetzt haben sie definitiv zu ihrem Sound gefunden. Slammen-

de Housegrooves mit massiven Pianos, und dunkle deepe Housemomente in solcher Wucht, dass man sich wundert, wie sie es hinbekommen, dabei dennoch so smooth zu bleiben. Kickend massive Bassdrums, leicht angezerrt und flapsig, deuten den Discohintergrund an, die Melodien sind so ausgelassen, dass sie fast kitschig sind, aber dennoch hält alles in dieser stringverliebt dunklen Deepness zusammen. bleed Chesus - Decisions [4Lux] Schon einfach überragend, wie diese Platte hier mit einem Sample einsteigt und das so viel Euphorie übermitteln kann, wie sonst kaum eine ganze EP. Dann ab in den stampfigsten Housegroove, als gelte es alles noch ein mal ganz von vorne zu erleben, und die Auflösung lässt auch so lange nicht auf sich warten. Brilliantes Stück. Und die ganze EP ist so voller klassischer Housemonster der ersten Stunde, so freizügig in ihren Filtern, so überdreht in ihrem Funk, so spielerisch und leicht in den Grooves und so gerecht in den Vocals, dass es immer wieder eine reine Freude ist. Killer EP. bleed Cosmin TRG - Remixes [50 Weapons/50WEAPONSRMX08 - Rough Trade] Legowelt schnappt sich "Terminus Abrupt" und zündet vom ersten Moment an ein solches Gewitter zwischen schillernden Melodien und nebeligen Gassen an, dass man sich als Superheld gleich mit durch Metropolis schwingen möchte, um die Welt vor egal was zu retten. Mittendrin dann dieses unnachahmliche Ravemoment, das Legowelt immer häufiger anbringt und zerfaserte Breaks in breiten Delays. Der "Miles Against The Grein"-Remix von "Noise Code" ist eine darkere Angelegenheit, die sich immer tiefer hinabfallen lässt zwischen den darken Basslines und dem kaputt gedichteten Sound. Eine Apokalypse für Tiefgänger mit den schrägsten Flächen der Saison, auf denen unsere Ohren beinahe in den Hörsturz ausgerutscht sind. Kaputte Musik für eine kaputte Welt. Stimmt doch alles so. www.50weapons.com bleed Sebastien San - Lunar Dance [Ab Initio/AB04 - Decks] Die Serie der immer sehr schönen Releases von Sebastien San auf Ab Initio setzt sich hier mit einem steppenderen Sound fort. "Lunar Dance" ist ein klassischer Detroittrack mit wirbelnden Sequenzen und etwas statischem Groove, "Crash Course" geht etwas deeper in den Sound, bleibt aber sehr geradlinig und mit "Asphalt" rundet er die EP mit einem trockenen Glockenklang und mehr Funk ab. bleed Elec Pt. 1 - A Groove EP [Abstract Acid/AACID006 - D&P] Der Titeltrack ist erst mal ein bis aufs Letzte reduzierter AcidTrack der klassischsten Art. Beats, Bassline, Stimme. Und dennoch ist das Ding so ungeheuer funky, dass man gleich wieder zur nächsten Acidrevival-Party laufen möchte und hoffen, irgendwer bringe das so auf den Floor, wie man es wirklich braucht. Monothematisch ist die Platte aber nun wirklich nicht, denn im weiteren gibt es auf der A-Seite abenteuerliche Soundkonstruktionen, wilde flatternde Beats, und Acid in einer Vielseitigkeit, wie man es selten hört. Die Rückseite widmet sich dann aber wieder ganz in drei Tracks den Konstruktionen rings um die 303 und genießt diesen Sound, als wäre er gestern erst erfunden worden. bleed DMX Krew - Micro Life [Abstract Forms/AFS_0.16 - D&P] DMX Crew ist nach wie vor eine der unnachahmlichen Größen in Electro. Auf dem Album für Abstract Forms klingen die Tracks vielleicht noch ein wenig spartanischer als sonst, analoger noch, trockener aber dennoch von einer ernsthaften Quirligkeit durchzogen. Der Sound geht nicht so sehr auf die galaktischen Weiten oder auf die Referenzen der Prä-Techno-Zeiten von Electro ein, sondern ist eher dem klassischen Sound von Electro, wie er in Detroit formuliert wurde, verschrieben. Klar, gelegentlich kommen auch hier schwärmerische Klassiksynths, aber die Tracks wirken selten überladen, denn der Funk der Basslines und Grooves überwiegt fast immer. bleed

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aufnehmen, nur, wir wissen ja, im Land der Blinden (keine Schranzkönige mehr da) kann es nur einen geben: Housemeister. bleed Physical Therapy - Non-Drowsy [Allergy Season/001] Sehr gedämpft beginnt die Platte wie eine kaputte Housenummer auf Abwegen, schwingt sich durch die gedämpften Sounds und merkwürdigen Stimmen die klingen wie durch ein Megaphon eingesprochen, voguet auf den brummigen Bässen und hat einem am Ende in einem unglaublichen Groove gefangen. Diese Mischung aus ruffen Samples die sehr direkt sein können und ruhigen Hintergründen, die dennoch aufwiegeln zieht sich durch die ganze EP, die von Track zu Track phantastischer wird und immer mehr auf eine Dosendisco zudriftet, die voller kleiner Schnitte und Microeinwürfe ist. Große Platte. Und das perfekte Debut um sich auf den Housefloors dieser Tage ganz nach vorne zu drängeln ohne auch nur ein Mal den Oldschoolsound in den Mund zu nehmen. bleed Dakpa - First Division [Amam/AMAMEXTRA020] Dakpa kommt aus Mallorca und macht, nein, keinen sonnendurchfluteten Trancesound, sondern deep reduzierten Minimal mit der für Amam typischen Dichte und dem Hang zu Subbässen. Swingend und mit sehr eleganten Grooves ist die EP eine dieser Minimalplatten, denen man Zeit geben muss, damit sie ihren leicht jazzig nuancierten Charme entfalten können, dann aber wirkt es einfach verzaubernd. www.am-am.org bleed Setaoc Masss - Nicmos EP [Animal Farm Records/003 - Decks] Durchgehend gewaltig schwergewichtige Technotracks mit bollernden Bassdrums und schwelenden Synths, die wie Gewitterstürme über die Tracks ziehen, eingepeitscht von Snares und dem Knattern der Hihats. Der Jonas-KoppRemix wirkt schon fast dezent dagegen. bleed AnD - Ard Core Crew [Ann Aimee - Rush Hour] Was für ein böser Tracks. Früher, bevor Drum and Bass so richtig geschlüpft war, nannte man das Hard Core. 'ard Core für alle Jamaicaner, die das mit dem H nicht so drauf haben. Darauf bezieht sich die EP und das mit einer solchen Wucht und so bollernden Ravebreaks früher AphexZeiten, dass man am liebsten einen Panzer mit Subwoofern ausstatten möchte, damit auch das Soundsystem dazu passt. Von Breakbeats ist hier nicht zu hören, aber dafür Bremsspuren länger und tiefer als der Grand Canyon, und Beatsalven so kaputt wie eine Kalashnikov aus vierter Hand. www.delsin.com bleed Mosca - A Thousand Year's Wait [Ann Aimee - Rush Hour] "It's not what it looks like" will uns sagen, dass wir uns in ihm täuschen. Dass wir aufs Glatteis gehen. Auf das polternd ruffe Technoeis der slammenden Zeit von Warehouses und Strobes. Warum? Weil es doch zielgenau auf eine breite Fläche zuläuft, auf diesen Moment der Aufhebung, der Erlösung, nicht durch eine zirkuläre Wendung des Sounds, sondern Erlösung durch Öffnung hin zu einer anderen Welt. Die ist auch nicht was sie zu sein scheint, weil sie sich einfach doch nicht erreichen lässt, nur sehen. Platonischer Techno. Klar. Warum nicht. "Kneecap" ist wie vermutet böser und wirbelt zum ähnlichen Technosound dann ein paar klingelnde Sequenzen hinzu, die klingen wie ein Roboter der ein paar Jazz-Coctails zu viel hatte. "Press Up" verliert dann die Zweideutigkeit der anderen Tracks und bewegt sich tief in die Tunneltechnowelten hinein. www.delsin.com bleed Synkro - Lost Here EP [Apollo/AMB1320 - Alive] Ach, wie emphatisch diese Tracks von Synkro doch immer wieder sind. Als wollten sie sich deiner Probleme annehmen, dich in ein weiches Daunenkissen der Melancholie einbetten, dich trösten. So zart knisternd hoppelt die in ein wohltuendes Pad-Bad getauchte Percussion unaufdringlich durch deine Seele und versucht ihr auf sanften Bass-Wogen

BUTCH MADMOTORMIQUEL MARTIN BUTTRICH JAN BLOMQVIST RODRIGUEZ JR. BUNTE BUMMLER 12.11.13 12:51 15:07 19.11.13


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SINGLES reitend den Weltschmerz auszutreiben. Mit der "zart aber maskulin"-Vocal-Karte, die doch so häufig in diesen Tagen einlullend für die 170 BPM herhalten muss, rutscht diese Empathie bei zwei Stücken der "Lost Here"-EP allerdings etwas zu sehr ins Plakative ab, ist etwas zu viel des Guten und weist dieses Stilmittel gewissermaßen in seine Schranken. Sonst aber wie immer eine feinfühlige Komposition aus liquidem Drum & Bass, pathetischem Dub und verspieltem Elektronika, die sich wunderbar in die Apollo-Thematik einfügt. apollorecordings.tumblr.com ck Imami - Madhouse [Apothecary Compositions/APCO002] Druid Cloak hat auf seinem neuen Label den Imami mit seinem Debüt untergebracht, der auch bei Lucky Me in Kürze veröffentlichen wird. Eine Zuordnung in ein Genre verbietet sich hier einmal mehr, Hybride zwischen Electro, UK Bass und House lassen sich nun mal schwer kategorisieren. Der Titeltune zeigt den Einfallsreichtum, der mitunter auch richtig anstrengend werden kann, wenn sich Schnelligkeit und Stil in einem überstrapazierten Maße ändern. "Melted Love" konzentriert sich dann etwas mehr und räumt die Housetanzflächen auf, "Skellies" hingegen ist ein düsteres Etwas, das einen quasi überrollt. "Meat Grinder" nimmt das Thema des vorigen Tunes wieder auf, bewegt sich aber auf ruhigeren Pfaden. SCNTST darf an "Madhouse" ran und macht den Tune für den Club brauchbar, während Visionist in seiner Bearbeitung des Titeltracks eher im unteren Beatbereich agiert. tobi Kisk - Friends EP [Apparel Music - WAS] Die Sounds von Kisk werden immer softer, das zerschmilzt langsam wie Butter in den Ohren. Was für ein wundersames Stück. Groove satt und swingend, Sounds wirbeln langsam immer weiter hinauf in die Höhe und mittendrin natürlich auch noch irgendwie ein kleines Kind, das die Arme in die Luft wirft. Die beiden Versionen von Kisk sind selbstverliebt, zurecht und Anton Kubikov steuert auch noch einen extrem nah am Original flausenden Mix bei, der die Stimmung der EP perfekt bewahrt. Freunde, was ist das? Diese Musik sagt, das was einem so gut tut. www.apparelmusic.com bleed V.A. - Hidden Constellations [Appian Sounds/004 - Decks] Was für ein Monster, dieser Track von Ethyl & Flori. Definitiv ihr bester Track überhaupt. Zuckelnde Sequenzen im Hintergrund, eine leicht zerrige Melodie, ein wuchtiger Groove, sehr unheimlich quer gestellte Harmonieflächen im Hintergrund, und schon ist einer der besten Detroit-Tracks des Monats, in den sich sogar noch eine Acidline schlängeln darf, fertig. Slowburn folgt dann mit dem sehr zitternd lodernden "Amber", Ivano Tetelepta & Steven Siwalette mit einer etwas zurückfallenden lockeren Dubnummer, und dann folgt noch Imugem Orihasam mit einem gewaltigen Stück steppend gebrochener Beats und scheppernd massiver Euphorie. Definitiv einer Killer EP, die auf ganz verschiedenen Ebenen mit Tracks überzeugt, die einem den Atem verschlagen. bleed Studio 1 - Gelb/Lila [Assemble Music/AS006 - D&P] Wie kommt es wohl dazu, dass jemand eine Studio 1 wiederveröffentlicht. Bei Kompakt würden wir das ja verstehen. Dennoch. Wir lieben diesen Sound eh immer noch. Dubbige Basslines, kurze knappe präzise funkige Dubs in den Sounds, stoisch und zeitlos durchgezogen und dennoch voller Groove. In voller Breite gepresst und mit allen Kicks und Nuancen, die solche Tracks auch verlangen, ist auch bei der Produktion der Platte alles richtig gelaufen. Massive Platte immer noch. bleed Qik - AM 05 [Aula Magna/AMR005 - Decks] Enrique Casals wirkt auf der EP irgendwie unentschlossen, ob er nun harsche Technomonster mit kühl industriellem Hintergrund machen soll, oder doch lieber deepe Soundscapes, die er, wie wir finden, weitaus intensiver beherrscht. Dennoch gefällt uns dieses dampfend dubbige Pathos von "Cyclo" auf dem diese beiden Elemente perfekt zusammenkommen, am besten. Musik für diese Momente, in denen alles in einem breiten dubbigen Voguen aufgegangen ist und die Musik wie die Vorahnung eines großen Gewitters im Raum hängt. bleed

Sei A - Make It Work EP [Aus Music/1354 - WAS] Knochentrocken der Groove, dunkle Vocals, schleppend und voller darker Nuancen, ist es nahezu ein Wunder, wie Sei A es schafft, da ein billig klassisches Ravepiano einzufügen, das dem Track mit seinem Resonatorensound irgendwie doch noch den nötigen Swing gibt, den Floor zum Zittern zu bringen. Sanft, aber doch voller innerer Euphorie. "I'll Take You There" bleibt auf andere Weise oldschoolig mit seinem souligen Gesang, den präzisen Dubs auf den kurzen Stimmen, dem sinnlich gequälten, aber doch ultraklar in Szene gesetzten Soul und der überklassisch melodischen Bassline. Eine Phantasie in Rave, diese EP. Auf der Rückseite ein Remix von Breach, der ganz anders als Sei A, der ja eher alle Auswege nimmt, um trotzdem zu raven, zielgenau auf dem Floor einfliegt und dabei vielleicht etwas zu selbstüberzeugt auf dem Piano hängen bleibt. www.ausmusic.co.uk bleed Sable Sheep - Caarl EP [Be As One/BAO043 - WAS] Auch hier bestimmen die klassischen Orgeln die shuffelnden Grooves und der sanfte Funk die EP, aber Sable Sheep hat irgendwie einen sehr guten Hintergrund aus Chicagosounds im Kopf und spielt mit diesen Referenzen perfekt. Mal eine tänzelnd jazzige Bassline, mal ein flockiger Barjazzmoment, mal Soul, was immer sich auf den Swing der Tracks einlässt, wird perfekt integriert und rollt mit einer so beständigen Ausgelassenheit, dass man die Tracks einfach genießt, vor allem, weil sie sich so elegant zurückhalten und dabei irgendwie auch noch sanft bleiben. Musik, die einen auf dem Floor eher anschiebt, rumdrückt, wegkurbelt, als einen auf Konfrontation zu stimmen. Sweet. www.beasoneimprint.com bleed

rechtigkeit. Mr. Statik mit "Bitchin' not Snitchin" ist aber auch nicht ohne. Rimshots flattern durch den Raum der breiten Subbasswellen, die den Boden aushöhlen, dazu Stimmen aus dem Äther und immer verschrobenere Synths im Alleingang auf Kollisionskurs. Shinedoe mit Christina Wheeler ist ein ravendes Monster ohnegleichen, als wäre die Platte nicht eh schon überragend genug. Und Kiki darf dann noch besinnlich ins Piano hauen. www.bpitchcontrol.de bleed Dana Ruh - Mavan [Brouquade/BQD031] Dana Ruh klingta auf "Mavan" wie eine vergessene Chicagodiva. Killerswing, perfekt loopende Soulsamples, Sprechgesang, endloser Aufbau und dann merkt man, es ist einfach einer dieser schleichenden Jazzkiller für den Floor, die überhaupt keinen Druck brauchen, weil sich alles über die Bassline definiert. "Blue Moon" ist die eher typisch deepe Housenummer der EP, die mit sanften Bleeps und glitzernd bebenden Hintergründen perfekt in die Momente bodenlosen Grooves passt. Der Remix von Fred P ist leider etwas überblumig geworden. bleed Cesar Merveille - DEA/Kraftone [Cadenza/091 - WAS] Ungewöhnliche Platte für Cadenza, weil es hier mal in von Anfang an klar gestellter Deepness um die Wandlungen einer detroitigen Hookline geht, die in ihren langsamen Harmonieverschiebungen immer noch eine Ecke phantastischer klingt und dann mittendrin mit trompetenhaftem Synthsound auch noch zu einer unerwartet souligen Tiefe ausholt. Der knuffigere Minimalsound von "Kraftone" mit seinem verkürzten Swingschlagzeug und den breiten Basslines ist ein ebenso klassisches Monster. Sehr schön und definitiv eine Platte, die nie altern wird. www.cadenzarecords.com bleed

Dukes of Chutney - Domino [Beats in Space] Vibrierende Bassbetten, dreamy Singsang, schnurgerade Taktung. Die fünf Tracks fühlen sich an wie ein Fiebertraum. Oder ein Ausflug in den Regenwald. Die schwüle Dichte der Tracks macht einen ganz schummrig im Kopf. "The Smiling Cheshire" ist mehr noch für die Tanzfläche gedacht, danach geht es mit "Jan’s Bellski" und dem Titeltrack "Domino" raus auf die frisch gemähte Wiese zum An-die-Hände-fassen und Barfußlaufen. Herrlich verträumt und hazy. jw

Andre Kronert - Shock Leader EP [Catch & Release/CAR002 - Decks] Höchst denkwürdige Covergestaltung mit Fischen und Anglerfreuden, die natürlich nichts mit den wuchtig massiven Tracks von Kronert zu tun haben, der sich hier auf zwei Seiten, dem schon eine Weile aus ihm immer wieder hervorbrechend massiven technoiden Sound widmet, der ganz konzentriert auf den Groove mit kleinen Dubeskapaden seinen Weg zurück zu fundamentaleren Technowelten sucht. Sehr massiv, klassisch, stoisch und doch voller Charme. bleed

Leaves & Iron Curtis - Hello Ada! [Black Key Records/BKR008] Schimmernd smoother Housetrack mit elegantem Jazzbreak, vielen schimmernden Saxophonen und einem satten Oldschoolsound. Sehr schön und tiefgründig, und dann? Warum will man von solchen Tracks eigentlich immer mehr? Irgendwie? Warum erübrigt sich diese Frage eigentlich immer wieder aufs neue? Warum hilft kein Rückzug auf "schön ist es", obwohl er einem schon reichen könnte. Auch der Youandewan Remix ist so. Ich könnte ihn ständig hören, auch wenn ich finde dass der Jazz dem Original etwas mehr steht, aber auch hier, steckt man nicht drin, geht man nicht ganz in dem Sound auf, was für so viele Tracks gilt, wird es schwer zu verstehen sein, warum man ein Teil davon sein möchte. bleed

Martin Heyder - Looking At You EP [Cellaa Music/011] Abgehackter Funk, stichelnde Hihats, kurze Vocals, schleifende Sounds, "Things Happen That Way" schleppt sich gerade zu über die Ziellinie und genießt es dabei auch noch mächtig. Ein kaputter Track, der seine Auflösung in durcheinanderwirbelnden Sounds aus politischen Stimmen, Bootyreferenzen und Jazz sucht. Und das kollabiert fast, hält sich aber durch die leicht verschroben störrische Groovestruktur doch immer aufrecht. Der zweite Track, "Looking At You", will auf ähnliches hinaus, ist aber nicht ganz so wagemutig. bleed

Sepp - Iamul Notae [Blue Ciel/001 - Decks] Eine sich auf ihren Subbässen dahinschlängelnde EP voller magischer Dubs, die mal plätschernd verwuschelt, mal sehr abstrakt und konkret zugleich sein können. Reduziert bis ins Letzte, bleibt neben dem Groove und der Konzentration auf dieses langsame Eiern der Effekte nicht viel, aber genau das macht die Faszination der Platte auch aus. Definitiv hat das Label schon mit dem ersten Release seinen ganz eigenen Dubsound gefunden und das in einer Welt, in der Dubtechno nun wirklich nicht gerade ein undefiniertes Feld ist. Wir sind gespannt. bleed V.A. - Vinyl Only Edits 2 [Bpitch Control/279 - Rough Trade] Skinnerboxs "The Alphabet" mit Aerea Negrot ist ein Killer. Die Lyrics klar und gerecht, sie erzählen, was alles in der Welt so falsch läuft, und dazu flattern die Acidbasslines in einer solchen Ausgelassenheit durch den Raum, dass man erst mal gar nicht checkt, wie sehr man sich in den Groove schon eingeschwungen hat. Magische Nummer, die sich immer wieder selbst überschlägt mit ihrem Groove voller Ge-

Will Azada - Cliché [CGI Records/003] "Cliché House" heisst das zentrale Sample. Das wummert mit aller Wucht der Oldschool. Macht sich über sich selbst lustig, aber verliert dennoch nichts an Druck und Macht. Ein Killertrack der in welcher Form auch immer alle Bedingungen erfüllt und doch viel mehr ist. Eine Befreiung irgendwie. Aber doch House. Fundamental und unbeirrbar. "The Machalski Theme" ist ein detroitigerer Track mit sehr lässig ausladenden Synthbögen und einem erhabenen Swing und "Unintentional Sadistic (The Whip)" slammt am Ende noch unnachgiebig seine ruffen Drums wie ein kurzes Freischütteln von den Zwängen der Tracks bis zum Kollaps. bleed Andreas Gehm - Watch Them [Chiwax/011 - DBH] Andreas Gehm gehört ja schon eine Weile zu den deutschen Acidgrößen. Mit dieser EP hier legt er zunächst mal alles auf die dunkle schwärmerische Elegie breiter Synths und holt überraschenderweise auf "Le Mejor de dos mundos" auch noch gewaltig swingende und perfekt integrierte Breakbeats raus, die dem Track noch mehr Tiefe verleihen. Ein hymnisches Monster in dem man regelrecht von Emotionen überflutet wird, und das nichts ans massiver aber dabei ultracharmanter Gewalt der Überflutung auslässt. "Fade To Spring" steigert sich in einen rasanten Traum von clippenden Det-

roitmelodien hinein, der so upliftend eine Welt wiederauferstehen lässt, die tief in unser Mark geprägt ist, dass wir es kaum aushalten, und der Titeltrack geht dann noch ein Mal ganz tief in sich, bevor die EP elegisch ausklingt. Mehr Euphorie auf 4 Tracks ist kaum zu haben. Unglaublich. bleed Boo Williams - Technical EP [Chiwax Classic Edition/CCE009 - DBH] Eine Neuauflage einer EP, die 1997 schon mal - unwahrscheinlicherweise - auf Formaldehyd erschienen ist. Grandiose, weitläufige, schwärmerische Tracks, die nichts von ihrem scharf geschnittenen Swing, von ihrer harmonischen Breite und dem weltumarmenden Gefühl verloren haben. Purer Chicagosound in Reinstform, vom endlosen "T.C. 2000" voller Euphorie für die utopische Zukunft, dem Glöckchenfunk von "Planet House", dem zuckersüßen "The Firmament" bis hin zum leicht verschroben klingelnden "Space Patrol", das voller Einsamkeit die Weiten des Raums untersucht. Brilliante EP und mehr als willkommene Reissue. bleed Nehuen & Nick Hook How Y'all Feelin / Work This Pussy [Classicworks/CWS004] Ich weiss, eigentlich wären die beiden Hits hier von Interesse. Ich bleibe aber beim Cardopusher Remix von "How Y'all Feelin" hängen, denn der nennt sich nicht nur "Rave 93" Mix, sondern klingt auch so. Hooversamples, lockere Breakbeats, gedämpfte Hands-In-The-Air-Stimmung mit leicht dark nostalgischer Nuance. Da darf sogar als Peaktimemoment der Amen losschmettern. Was für ein Track. Das Original ist fast schon Gabba, nur dafür auf Krücken, und auch der rappelnde Pussy-Track hämmert besinnungslos los. bleed Literon - Knob Exploitation [Clone Basement/015] Wuchtig polternde Technotracks von denen mir vor allem das laszig grollen explodierende "Freak Funktion" gefällt, weil es sich in diesen dampfenden Sounds legt und dann trotzdem mit den blitzenden Synthsequenzen immer wieder ausbricht. Eine Meisterleistung in Zurückhaltung und über die Strenge schlagen. Explosive Mischung. Der discoidere Track "Knob Exploitation" mit seinen Soulschleifen funktioniert zwar ähnlich, wird aber durch die Houseelemente eher zurückgehalten. bleed Drexciya Journey Of The Deep Sea Dweller IV [Clone Classic Cuts] Das hat langsam schon Star Wars Qualitäten die Serie. Es gibt keinen schlechten, es gibt nicht mal einen nicht sensationellen Drexciya Track, sagt der Fan, ich, und deshalb liebe ich jeden Part dieser Serie von Rereleases der klassischen Tracks wie die Platten die eigentlich hier auch im Schrank stehen. Wer nicht spätestens bei "Depressurization" völlig von dem blubbernden Unterwassersound aufgesaugt ist, der sollte es gar nicht erst versuchen und muss sich Sorgen machen. Wen kümmerts. Ich glaube mit Drexciya an Atlantis, an die Welt zwischen den Zeilen, den Blick durch das Offensichtlichste hinweg auf eine Welt, die es zu dechiffrieren gilt, an die Welt in der wir alle Wasser atmen, in jeder Form die die große Flosse uns zu bieten hat und würde am liebsten einen ganzen Tag in der Woche für den Sound von Drexciya und diese andere eigene Welt einplanen. Killer. www.clone.nl bleed

Black Asteroid - Grind EP [CLR/071 - WAS] Fast hätte ich mich verschluckt. Die EP beginnt mit einem brummig wummernd digitalen Bass, der langsam immer weiter ausufert, holzige Bassdrum, Spacesounds, die nicht das blumige All, sondern eine kalte eisige Welt voller Strahlung versprechen und ein so wankelnder Technosound, dass man sich schon nach ein paar Minuten den Strobos ergeben möchte. Massiv und gewaltig und in seiner Konsequenz so gut und erfrischend, dass man sich freut, dass es auf der Rückseite genau so weiter geht. Musik, die klingt als wäre F.U.S.E. durch den Sägezahnreißwolf gedreht, aber mal nicht Tempo als Vorwand genommen worden, sondern das Ganze in einer beständig drückenden Langsamkeit nur noch intensiver herausgekratzt worden. Brilliant. www.clr.net bleed

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SINGLES Garry Todd feat. Mike Dunn - Bring Me Down [Contemporary Scarecrow] Klar gibt es von diesem Track zwei Mixe zu viel. Das Original ist nämlich schon so ein Killer. Übertrieben hitzig mit trockenen Beats klingt der Track wie ein Stück Techno auf Abwegen in die Oldschool und wummert mit seiner Paukenästhetik und den stellenweise fast jaulenden Vocals von Mike Dunn immer irgendwie gegesätzlich. Soul? Brechstange? Passt beides. Geht so gut zusammen wie schon lange nicht mehr. bleed Crime Scene - Jam The Box EP [Crime City/CC004 - Decks] Auch die neue EP auf Crime City ist ein Killer. "Jam The Box" zu öft gehört? Egal. Die trashen das perfekt zusammen. Stakkatovocals, ruffe Basslines, Beats aus dem Trümmerhaufen der Geschichte und alles so voller berstender Energie, dass der Funke sofort überspringt. Ein kämpferischer Track, Oldschool als Waffe. Das Thema der Platte durch und durch, und selbst wenn die Synths manchmal locker durch den Raum säuseln, bleibt der rockende Aspekt der Basslines immer im Zentrum und katapultiert die Tracks auf einen ganz eigenen explodierend wilden Floor. bleed Mathew Johnson - Blurry Remixes [Crosstown Rebels/CRM118 - Alive] Dixon, Tale Of Us und Akufen. Sehr schöne Wahl der Remixer. Dixon lässt es sich auf dem "Level 7" Remix mit diesen klassisch langsam reingefadeten Orgelstakkatos gutgehen, die eigentlich immer ein Hit sind und hier langsam einem klassischen Breakdown und Höhepunkt aus nur noch mehr Orgel zustreben. Flow über alles. Tale Of Us bringen "Kissing Your Eyes" (nein, nicht die japanische Praxis, die vielen Augenärzten einen Sonderurlaub beschert hat) zum summen, singen, jubilieren. Ein Stück voller Liebe und eine Ode sowohl an Johnson als auch an den Kuss an sich. Mit einem ulkig unerwarteten Percussion-Dub-Track rundet Akufen den Reigen ab und lässt sich einfach mal in funkigen Grooves gehen. www.crosstownrebels.com bleed V.A. - Above The City Vol. 3 [Culprit/CPVA003] Eine entspannte Angelegenheit, diese Compilation. Die Tracks sind durchweg sehr elegisch, deep und auf Harmonie ausgerichtet, und gleiten auch manchmal ein wenig ins kitschige ab. Nicht selten so, wenn man eine House-Compilation macht, die irgendwie etwas mit der Stadt zu tun hat. Urban ist ja immer auch dort wo der Stöckelschuh noch hinkommt. Dennoch sind ein paar sehr schöne und kickende Tracks dabei, Lorenzo Dadas "Don't Be Rude", Special Cases "Call4". Hymnen für die Nacht, die den Ausgleich zwischen einfach nur Tanzen gehn und sich auf etwas wirklich deepes einlassen sehr gut kennen. bleed Anaxander - You Saved My Soul [Dame-Music/023] Wisst ihr was, ich kenne diesen Track. Diese hohlen SciFiMelodien im Hintergrund, dieser klassische Elektrobass, diese krabbelnden heimlichtuenden Blubbersounds. Alles an diesem Track ist irgendwie bekannt, auch die ravig smoothen Orgelchords. Ändert das etwas daran, dass man es immer wieder hören kann, so wie man einen Film, hat er einen ein Mal gepackt, gerne immer wieder sieht, bis man ihn auswendig kennt? Nein. Der Remix von Innerspace Halflife ist wilder und aufwiegelnder, aber dabei doch am Ende voller willen die Bassdrums wie eine Rutsche auf dem Spielplatz Detroit zu nehmen. bleed Lauhaus & Rik Woldring - Context [Danse Club Black Series - WAS] Die Tracks der beiden konzentrieren sich ganz auf den jazzigen Swing der Basslines. Elegant und voller Melodien am Rande trudeln die Tracks mit einer sehr ausgelassen smoothen Stimmung durch den Raum, manchmal aber driften sie auch leicht aus dem Ruder. Der Boris-Werner-Remix von "Context" schafft es nicht ganz, an das unhinterfragte Highlight der EP heranzukommen. bleed

Der Dritte Raum - Mokka [DDR/DDR009 - WAS] Zwei Tracks des flockig brillianten Albums und zwei neue lassen die EP zu einem Fest werden. Tänzelnd swingende Grooves sind ja schon längst sein Markenzeichen geworden, hier ausgelassener denn je und mit einer so lässig jazzigen Nuance, dass man selbst in den deeperen Tracks spürt, dass für Andreas Krüger dieses Tänzeln, dieses Flatterhafte, das erst den wahren Sound aufscheinen lässt, so zentral geworden ist, dass er einfach nur noch die Tracks macht, die ihm wirklich ans Herz gehen. Perfekter Ausklang dann mit dem dampfend süßlichen "Derwisch". Eine schnuckelig, treibend, ausgelassene Platte, die einen immer wieder auf unerwartetem Parkett einfängt. bleed Denizo / Alex W - Detroit Techno Archive 1 [Detroit Techno Archive/DTA001] Und was für eine grandiose Platte. Denizo eröffnet die EP mit dem unwiderstehlichen "Rising Light" das in seinen direkten Latinmelodien und dem kompromislos rockenden Groove an die besten Momente von Rolando herankommt, auch wenn es hier nicht ganz so ruff im Sound ist, sondern irgendwie geschliffen und voller Wehmut. "Redirection" rollt das Thema dann noch ein Mal von unten aus auf, mit brachialerer Bassline und klassischeren Strings und auf "Firelife" überschlägt sich der hymnische Charakter seiner Tracks nahezu. Auf der Rückseite kommen dann auch noch drei vor Energie berstende Tracks von Alex W, die dieses sommerliche berstende Gefühl perfekt weiter treiben. Eine der Platten des Monats. bleed Dhaze - Office Situations [District Raw/019] Weitestgehend klingt die EP so, wie jemand der verkatert nachts im Büro sitzt und seine deepesten Minimal-Erfahrungen in den Rechner programmiert. Funky und dark, aber doch ein wenig zu clean an manchen Stellen um einen wirklich zu ergreifen. Der Fabio Gianelli Remix mit seinem federnden DrummachineBreakbeat und den in diesem Kontext perfekt verruchten Vocals und Pianos ist allerdings ein Killer. bleed Ron Trent - Human League / Future Shock [Electric Blue/EB002 - DBH-Music] Vom ersten Moment an ist klar, dass Ron Trent hier ganz tief in die Sounds einsteigt, eher in epischer Breite erzählen will. Getrieben von klassischen Drumgrooves bewegt sich "Human League" in Wellen, die immer wieder neue Momente von Jazz oder Chords aufwirbeln, die Tiefe irgendwie umzirkeln und dabei Stück für Stück zu einem wirklichen Monster an Deepness aufsteigen lassen. Und das in seinen Stimmen funkiger angelegte "Future Shock" ist am Ende dennoch im Stil ähnlich und so voller Soul und aufblitzend magischer Momente, dass man einfach in purer Ehrfurcht auf dem Floor die Gnade erkennt. Ach. Wir sind Fan. bleed Andrey Pushkarev / Paolo Tocci - Before The End / Intrigue In Lausanne [Endless/004 - Decks] Auf der Pushkarev-Seite schön spartanischer Dubtechno mit viel Freiraum für die Echos und verhallenden Weiten, natürlich nach der Mitte Platz für ein paar warme Chords, aber so wirklich herausragend ist das ebensowenig wie der leicht mit Discostreuseln überzogene Deephousetrack auf der Reise in die Galaxis. bleed Emmanuel - Limits [Enemy Records/LTD012 - Decks] Wummernd schliddernde Technotracks, die doch gerne in breiten Flächen aufgehen und so klassische Slammer sein wollen, manchmal geht mit ihm aber das Pathos durch, und man fühlt sich so, als würde der DJ, der die Tracks auflegt, in den Breaks selber noch mitschreien müssen, was die typische Hands-In-TheAir-DJ-Pose auf dem Label auch noch unterstreicht. Großraum-Techno. bleed George P. - Start And Stop EP [Enough! Music/007 - Decks] Zwei bollernd störrische stampfende Tracks, die auf mich einen Hauch zu direkt wirken, aber irgendwie nicht so ganz aus der Energie, die in ihnen steckt, alles herausholen. Die Remixe von Danilo Schneider und Edgar Jack schaffen es auch nicht so recht, die Tracks jenseits eines stabil kickenden Flows irgendwie überragend wirken zu lassen. bleed

Yuyuke Yamamoto - Yellow Edge [Eyepatch/EPV2013004 - Decks] Wie nicht anders zu erwarten sehr perkussiv konzentrierte, wuchtig melodische Oldschooltracks. Alles sehr klassisch, stellenweise einen Hauch überfrachtet in der Bassline und mit etwas zu bekannten Samples. Ja, so eine alberne Nuance wie ein Bass, der alles etwas wegdrängt, kann schon mal diese eine Nuance zu viel sein, die aus einem swingend eleganten Housestück eine etwas zu dicht getriebene Nummer macht, die im Hintergrund mehr wirkt wie Techno, als wie ein soulig smoother Groove. bleed IVVVO - Light Moving [Fourth Wave/4TH013] Der Titeltrack ist eine höchst abenteuerliche Verwirklichung von Ambientrave mit klassischen Hooversamples und politischen Stimmen vor dem Hintergrund breiter aber digital verwaschener Strings, dann geht eine Tür auf und im Hintergrund tobt die Technoparty vergangener Zeiten und dann: Endrauschen. Der Rest der EP ist ebenso merkwürdig. Leicht kaputte Sounds überall, alles ein wenig aus dem Ruder gelaufen, irre Ravemomente, aber eher völlig kaputt geschredderte Beats und dieser Lieblingszuckelsound in jedem einzelnen Track. Da hat jemand aber ordentlich Depressionen, will in eine Zeit zurück, die für ewig verschlossen scheint und kennt nur einen Schlüssel. soundcloud.com/fourth-wave bleed Vaghe Stelle - H.O.P.E. [Gang Of Ducks/GOD003] Ganz schön überdreht. Vaghe Stelle sucht das Heil in stellenweise absurd feuernden Tracks, Momenten ruhiger Stimmungen, kaputten Beats und überschwänglichen Melodien, dem Feuer der Begeisterung in den Sounds, den Figuren von Sound, die sich selber aus den Angeln heben, und das gelingt mit den eigenwilligsten Methoden, egal ob "japanese Bitches" im Gesang zu Trommelwirbeln aus einer Parallelwelt oder bei verwunschenen Szenerien von Musik, die nie wirklich greifbar scheinen. Große Platte, die sich auf nichts außer das Aussergewöhnliche einigen kann. bleed Marc Romboy - Midi Chains Vol. 1 [Gruuv/GRU028] Marc Romboy haut ja seit geraumer Zeit Oldskool-angelehnte Hits heraus und ist sozusagen der Mensch-maschinelle ManufaktumKatalog. Es gibt sie eben noch – die guten alten Dinge. Auf der einen Seite ist das natürlich unheimlich spannend, wieder sein Gedächtnis mit Ratetrainings zwanzig Jahre alter Samples aufzufrischen, auf der anderen Seite... Ach vielleicht gibt es derzeit auch keine Alternative dazu. Handwerklich perfekt und auch wie Sau groovend nehmen sich die beiden Versionen von "Ghetto what" das frühe Hardcore-Kontinuum vor, um das pumpend housig klarzumachen. "Set Me Free" in der doppelten Ausprägung wirkt durch seine Kuhglocken-Glückseligkeit immer weiter fort und dreckige Basslines/HiHats, ab und an mit Breaks unterfüttert, setzen der Schwarzwälder-Kirsch-Freiheit das Sahnehäubchen auf. Sehr schön. www.gruuv.net/ bth He/aT A Terrible Misunderstanding [He/aT/HT001] Irgendwie verstehe ich das. Raus aus der Deepnesshölle in der immer alles gleich gut ist, hinein ins Stahlbad von Techno. Nur wenn man es genau nimmt, und das tut He/aT durch und durch, dann landet man im gleichen Retro. Vielleicht mit anderen Vorzeichen, aber genau so durchästhetisiert. Hämmert, kickt, wirft um sich mit schliddernd geißelnden Sounds aber wagt nie den Sprung aus dem Genre. bleed Chris Wood & Meat Clash E.P. [Housewax Limited/003 - DBH] Im Hintergrund bleibt diese Platte mit ihren Sounds gerne sehr jazzig im klassischen Housesinn, die perkussiven Elemente und die Dubs überfluten den Titeltrack dann aber doch und lassen ihn eher einen Hauch zu fluffig erscheinen. Auf der Rückseite konzentrieren sich die beiden mehr auf den Funk des Grooves und tendieren mit ihrem Breakbeat Stück für Stück mehr in Richtung Soul. Als Abschluss gibt es dann noch einen technoideren wühlenderen Track. Eine EP, die etwas auseinander fällt in ihren Stilen und nicht immer 100%ig überzeugt, wenn, dann aber mächtig. bleed

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SINGLES Garry Todd feat. Mike Dunn - Bring Me Down [Contemporary Scarecrow] Klar gibt es von diesem Track zwei Mixe zu viel. Das Original ist nämlich schon so ein Killer. Übertrieben hitzig mit trockenen Beats klingt der Track wie ein Stück Techno auf Abwegen in die Oldschool und wummert mit seiner Paukenästhetik und den stellenweise fast jaulenden Vocals von Mike Dunn immer irgendwie gegesätzlich. Soul? Brechstange? Passt beides. Geht so gut zusammen wie schon lange nicht mehr. bleed Crime Scene - Jam The Box EP [Crime City/CC004 - Decks] Auch die neue EP auf Crime City ist ein Killer. "Jam The Box" zu öft gehört? Egal. Die trashen das perfekt zusammen. Stakkatovocals, ruffe Basslines, Beats aus dem Trümmerhaufen der Geschichte und alles so voller berstender Energie, dass der Funke sofort überspringt. Ein kämpferischer Track, Oldschool als Waffe. Das Thema der Platte durch und durch, und selbst wenn die Synths manchmal locker durch den Raum säuseln, bleibt der rockende Aspekt der Basslines immer im Zentrum und katapultiert die Tracks auf einen ganz eigenen explodierend wilden Floor. bleed Mathew Johnson - Blurry Remixes [Crosstown Rebels/CRM118 - Alive] Dixon, Tale Of Us und Akufen. Sehr schöne Wahl der Remixer. Dixon lässt es sich auf dem "Level 7" Remix mit diesen klassisch langsam reingefadeten Orgelstakkatos gutgehen, die eigentlich immer ein Hit sind und hier langsam einem klassischen Breakdown und Höhepunkt aus nur noch mehr Orgel zustreben. Flow über alles. Tale Of Us bringen "Kissing Your Eyes" (nein, nicht die japanische Praxis, die vielen Augenärzten einen Sonderurlaub beschert hat) zum summen, singen, jubilieren. Ein Stück voller Liebe und eine Ode sowohl an Johnson als auch an den Kuss an sich. Mit einem ulkig unerwarteten Percussion-Dub-Track rundet Akufen den Reigen ab und lässt sich einfach mal in funkigen Grooves gehen. www.crosstownrebels.com bleed V.A. - Above The City Vol. 3 [Culprit/CPVA003] Eine entspannte Angelegenheit, diese Compilation. Die Tracks sind durchweg sehr elegisch, deep und auf Harmonie ausgerichtet, und gleiten auch manchmal ein wenig ins kitschige ab. Nicht selten so, wenn man eine House-Compilation macht, die irgendwie etwas mit der Stadt zu tun hat. Urban ist ja immer auch dort wo der Stöckelschuh noch hinkommt. Dennoch sind ein paar sehr schöne und kickende Tracks dabei, Lorenzo Dadas "Don't Be Rude", Special Cases "Call4". Hymnen für die Nacht, die den Ausgleich zwischen einfach nur Tanzen gehn und sich auf etwas wirklich deepes einlassen sehr gut kennen. bleed Anaxander - You Saved My Soul [Dame-Music/023] Wisst ihr was, ich kenne diesen Track. Diese hohlen SciFiMelodien im Hintergrund, dieser klassische Elektrobass, diese krabbelnden heimlichtuenden Blubbersounds. Alles an diesem Track ist irgendwie bekannt, auch die ravig smoothen Orgelchords. Ändert das etwas daran, dass man es immer wieder hören kann, so wie man einen Film, hat er einen ein Mal gepackt, gerne immer wieder sieht, bis man ihn auswendig kennt? Nein. Der Remix von Innerspace Halflife ist wilder und aufwiegelnder, aber dabei doch am Ende voller willen die Bassdrums wie eine Rutsche auf dem Spielplatz Detroit zu nehmen. bleed Lauhaus & Rik Woldring - Context [Danse Club Black Series - WAS] Die Tracks der beiden konzentrieren sich ganz auf den jazzigen Swing der Basslines. Elegant und voller Melodien am Rande trudeln die Tracks mit einer sehr ausgelassen smoothen Stimmung durch den Raum, manchmal aber driften sie auch leicht aus dem Ruder. Der Boris-Werner-Remix von "Context" schafft es nicht ganz, an das unhinterfragte Highlight der EP heranzukommen. bleed

Der Dritte Raum - Mokka [DDR/DDR009 - WAS] Zwei Tracks des flockig brillianten Albums und zwei neue lassen die EP zu einem Fest werden. Tänzelnd swingende Grooves sind ja schon längst sein Markenzeichen geworden, hier ausgelassener denn je und mit einer so lässig jazzigen Nuance, dass man selbst in den deeperen Tracks spürt, dass für Andreas Krüger dieses Tänzeln, dieses Flatterhafte, das erst den wahren Sound aufscheinen lässt, so zentral geworden ist, dass er einfach nur noch die Tracks macht, die ihm wirklich ans Herz gehen. Perfekter Ausklang dann mit dem dampfend süßlichen "Derwisch". Eine schnuckelig, treibend, ausgelassene Platte, die einen immer wieder auf unerwartetem Parkett einfängt. bleed Denizo / Alex W - Detroit Techno Archive 1 [Detroit Techno Archive/DTA001] Und was für eine grandiose Platte. Denizo eröffnet die EP mit dem unwiderstehlichen "Rising Light" das in seinen direkten Latinmelodien und dem kompromislos rockenden Groove an die besten Momente von Rolando herankommt, auch wenn es hier nicht ganz so ruff im Sound ist, sondern irgendwie geschliffen und voller Wehmut. "Redirection" rollt das Thema dann noch ein Mal von unten aus auf, mit brachialerer Bassline und klassischeren Strings und auf "Firelife" überschlägt sich der hymnische Charakter seiner Tracks nahezu. Auf der Rückseite kommen dann auch noch drei vor Energie berstende Tracks von Alex W, die dieses sommerliche berstende Gefühl perfekt weiter treiben. Eine der Platten des Monats. bleed Dhaze - Office Situations [District Raw/019] Weitestgehend klingt die EP so, wie jemand der verkatert nachts im Büro sitzt und seine deepesten Minimal-Erfahrungen in den Rechner programmiert. Funky und dark, aber doch ein wenig zu clean an manchen Stellen um einen wirklich zu ergreifen. Der Fabio Gianelli Remix mit seinem federnden DrummachineBreakbeat und den in diesem Kontext perfekt verruchten Vocals und Pianos ist allerdings ein Killer. bleed Ron Trent - Human League / Future Shock [Electric Blue/EB002 - DBH-Music] Vom ersten Moment an ist klar, dass Ron Trent hier ganz tief in die Sounds einsteigt, eher in epischer Breite erzählen will. Getrieben von klassischen Drumgrooves bewegt sich "Human League" in Wellen, die immer wieder neue Momente von Jazz oder Chords aufwirbeln, die Tiefe irgendwie umzirkeln und dabei Stück für Stück zu einem wirklichen Monster an Deepness aufsteigen lassen. Und das in seinen Stimmen funkiger angelegte "Future Shock" ist am Ende dennoch im Stil ähnlich und so voller Soul und aufblitzend magischer Momente, dass man einfach in purer Ehrfurcht auf dem Floor die Gnade erkennt. Ach. Wir sind Fan. bleed Andrey Pushkarev / Paolo Tocci - Before The End / Intrigue In Lausanne [Endless/004 - Decks] Auf der Pushkarev-Seite schön spartanischer Dubtechno mit viel Freiraum für die Echos und verhallenden Weiten, natürlich nach der Mitte Platz für ein paar warme Chords, aber so wirklich herausragend ist das ebensowenig wie der leicht mit Discostreuseln überzogene Deephousetrack auf der Reise in die Galaxis. bleed Emmanuel - Limits [Enemy Records/LTD012 - Decks] Wummernd schliddernde Technotracks, die doch gerne in breiten Flächen aufgehen und so klassische Slammer sein wollen, manchmal geht mit ihm aber das Pathos durch, und man fühlt sich so, als würde der DJ, der die Tracks auflegt, in den Breaks selber noch mitschreien müssen, was die typische Hands-In-TheAir-DJ-Pose auf dem Label auch noch unterstreicht. Großraum-Techno. bleed George P. - Start And Stop EP [Enough! Music/007 - Decks] Zwei bollernd störrische stampfende Tracks, die auf mich einen Hauch zu direkt wirken, aber irgendwie nicht so ganz aus der Energie, die in ihnen steckt, alles herausholen. Die Remixe von Danilo Schneider und Edgar Jack schaffen es auch nicht so recht, die Tracks jenseits eines stabil kickenden Flows irgendwie überragend wirken zu lassen. bleed

Yuyuke Yamamoto - Yellow Edge [Eyepatch/EPV2013004 - Decks] Wie nicht anders zu erwarten sehr perkussiv konzentrierte, wuchtig melodische Oldschooltracks. Alles sehr klassisch, stellenweise einen Hauch überfrachtet in der Bassline und mit etwas zu bekannten Samples. Ja, so eine alberne Nuance wie ein Bass, der alles etwas wegdrängt, kann schon mal diese eine Nuance zu viel sein, die aus einem swingend eleganten Housestück eine etwas zu dicht getriebene Nummer macht, die im Hintergrund mehr wirkt wie Techno, als wie ein soulig smoother Groove. bleed IVVVO - Light Moving [Fourth Wave/4TH013] Der Titeltrack ist eine höchst abenteuerliche Verwirklichung von Ambientrave mit klassischen Hooversamples und politischen Stimmen vor dem Hintergrund breiter aber digital verwaschener Strings, dann geht eine Tür auf und im Hintergrund tobt die Technoparty vergangener Zeiten und dann: Endrauschen. Der Rest der EP ist ebenso merkwürdig. Leicht kaputte Sounds überall, alles ein wenig aus dem Ruder gelaufen, irre Ravemomente, aber eher völlig kaputt geschredderte Beats und dieser Lieblingszuckelsound in jedem einzelnen Track. Da hat jemand aber ordentlich Depressionen, will in eine Zeit zurück, die für ewig verschlossen scheint und kennt nur einen Schlüssel. soundcloud.com/fourth-wave bleed Vaghe Stelle - H.O.P.E. [Gang Of Ducks/GOD003] Ganz schön überdreht. Vaghe Stelle sucht das Heil in stellenweise absurd feuernden Tracks, Momenten ruhiger Stimmungen, kaputten Beats und überschwänglichen Melodien, dem Feuer der Begeisterung in den Sounds, den Figuren von Sound, die sich selber aus den Angeln heben, und das gelingt mit den eigenwilligsten Methoden, egal ob "japanese Bitches" im Gesang zu Trommelwirbeln aus einer Parallelwelt oder bei verwunschenen Szenerien von Musik, die nie wirklich greifbar scheinen. Große Platte, die sich auf nichts außer das Aussergewöhnliche einigen kann. bleed Marc Romboy - Midi Chains Vol. 1 [Gruuv/GRU028] Marc Romboy haut ja seit geraumer Zeit Oldskool-angelehnte Hits heraus und ist sozusagen der Mensch-maschinelle ManufaktumKatalog. Es gibt sie eben noch – die guten alten Dinge. Auf der einen Seite ist das natürlich unheimlich spannend, wieder sein Gedächtnis mit Ratetrainings zwanzig Jahre alter Samples aufzufrischen, auf der anderen Seite... Ach vielleicht gibt es derzeit auch keine Alternative dazu. Handwerklich perfekt und auch wie Sau groovend nehmen sich die beiden Versionen von "Ghetto what" das frühe Hardcore-Kontinuum vor, um das pumpend housig klarzumachen. "Set Me Free" in der doppelten Ausprägung wirkt durch seine Kuhglocken-Glückseligkeit immer weiter fort und dreckige Basslines/HiHats, ab und an mit Breaks unterfüttert, setzen der Schwarzwälder-Kirsch-Freiheit das Sahnehäubchen auf. Sehr schön. www.gruuv.net/ bth He/aT A Terrible Misunderstanding [He/aT/HT001] Irgendwie verstehe ich das. Raus aus der Deepnesshölle in der immer alles gleich gut ist, hinein ins Stahlbad von Techno. Nur wenn man es genau nimmt, und das tut He/aT durch und durch, dann landet man im gleichen Retro. Vielleicht mit anderen Vorzeichen, aber genau so durchästhetisiert. Hämmert, kickt, wirft um sich mit schliddernd geißelnden Sounds aber wagt nie den Sprung aus dem Genre. bleed Chris Wood & Meat Clash E.P. [Housewax Limited/003 - DBH] Im Hintergrund bleibt diese Platte mit ihren Sounds gerne sehr jazzig im klassischen Housesinn, die perkussiven Elemente und die Dubs überfluten den Titeltrack dann aber doch und lassen ihn eher einen Hauch zu fluffig erscheinen. Auf der Rückseite konzentrieren sich die beiden mehr auf den Funk des Grooves und tendieren mit ihrem Breakbeat Stück für Stück mehr in Richtung Soul. Als Abschluss gibt es dann noch einen technoideren wühlenderen Track. Eine EP, die etwas auseinander fällt in ihren Stilen und nicht immer 100%ig überzeugt, wenn, dann aber mächtig. bleed

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SINGLES Chronophone feat. Mike Anderson - White Chocolate [Houseworx/HW012] Ein sehr komprimierter pumpend darker Track im Original, der langsam die Glocken einfadet, die dunkle Stimme kalte Verzweiflung der Ewigkeit ausdrücken lässt und immer mächtiger langsam in ein Chordgewitter purer Detroiteuphorie auswuchert. Ein Klassiker schon jetzt. Der "Unbroken Dub" verlegt alles in fast schon panisch ruhige Stimmung, die die Vocals auf Eis legt. Der Chris-Bailey-Remix ist reduzierter und lässt den Track schwärmerischer und einen Hauch albern erscheinen, mit einer verwirrten galaktischen Sexyness im Rücken, während der "Detroit 8. A.M. Mix" den Track noch mal in ein Warehousemonster verwandelt. Killerversionen alle. bleed Dario Zenker - Alto Fragments [Ilian Tape/IT021] Dario Zenker legt gerne direkt los. Slammende holzige Bassdrums, kurze Sequenzen, stechend, voller zurückhaltender Energie, die viel Raum für die Auflösung lässt, martialisch, aber doch voller Subtilität, Techno, kurz gesagt, für die Massen, die sich an die ersten Momente noch gut erinnern können, an die losgelöste Gewalt, oder die, die das zum ersten Mal erfahren. Eine Erfahrung ist diese Platte. Vom klassischen Slammer über den versteckten Breakbeat-Anklang, die glücklich ravenden gedämpften Pianos bis hin zum Stomper auf Kriegspfad. Wuchtig, analog und immer mehr hier auch mit einem unnachahmlichen Hang, das Ganze in die perfekte Ravestimmung zu drehen. bleed Peter Grummich - Take It EP [Innerbird/004 - D&P] Und auch die vierte Innerbird geht auf "Techyes" einen ganz eigenen Weg. Die zentrale Sequenz ist so voller unschlagbarer Erhabenheit, dass sie wie ein silberner Strom über den ganzen Track hinweg glitzert, und unbeirrbar ihre massive Größe und Eleganz ausleben kann, im Hintergrund dann langsam eingefädelte Nuancen im Groove, die dem ravigen Sound nur noch mehr Tiefe verleihen und irgendwann weiß man gar nicht mehr, warum das überhaupt je aufhören soll. "Hypnotica Del Mare" ist ein verwuselter, eher auf die Grooves konzentrierter Track, in dem es an allen Ecken wild blubbert und von einem Strandurlaub träumt, den es sich selbst erfüllt mit allem, was an verschrobenen Überraschungen und Entdeckungen dazu gehört. bleed Mathew Jonson - Typerope / Magic Through Music [Itiswhatitis Music/IIWII007] Rerelease des Monats. Was für ein Klassiker. "Typerope". Da bebt heute noch alles. Diese sanft ausbrechenden Synths, das hintergründige Acidgefühl, diese über alles hinwegwedelnden Melodien, dieser Glücksmoment in dem aus den einzelnen Elementen eines Tracks dieses Stück Geschichte wird, das völlig in seinem Flow aufgeht und sich langsam immer breiter aufstellt um einem zu sagen: das ist es. Danach haben wir die ganze Zeit gesucht. Und "Magic Through Music" ist genau das was es sagt. In der Tat ist es aber nicht einfach eine Neuveröffentlichung, sondern die Tracks wurden komplett und phantastisch neu gemastert von Stefan Betke und klingen so detailreich wie nie. bleed Fix - From The Ghetto / Here We Are [JD Records/005 - WAS] Fix war damals, eine Legende. Und diese beiden Tracks von 1994 haben es verdient wiederaufleben zu dürfen. (Auf Discogs ist man bestimmt schon sauer). Sehr rasant und voller unterschwelliger Discofilter kicken die beiden Stücke beständig und treibend mit einem unnachahmlich blitzenden Swing auf den Floor. Der Remix von Baldo ist mit aber etwas zu flapsig und nur Clip! schafft es für "Here We Are" einen echten unerwartet monströsen Basslinemonstertrack herauszukitzeln, der einen komplett mitreißt und vergessen lässt, dass es hier um ein Rerelease geht. House kickt heute wie damals immer noch mehr. bleed DJ Kaos - Swoop [Jolly Jams/013 - WAS] Die Tracks von DJ Kaos sind immer wieder eine Freude. Voller sattem Funk und spielerischer Percussion rockt "Swoop" vom ersten Moment an auf so sicherer Basis los, dass man schon ahnt, es geht hier weniger um House, als vielmehr um diese Zeit, als Disco noch offen für alles war. Gitarren, falsche Trompeten, leicht kitschiger Latinswing. Eine gefährliche Vorlage für Remixe, die dann aus dem trotz seiner

manchmal etwas beliebig wirkenden Referenzen lässigen Track, irgendwie auch eine Art Abziehbild vergangener Fusiontage machen. bleed Colo - Holidays [Ki Records/KI010 - Kompakt] Colo sind ein Produzentenduo aus London, das sich von ihren 140-BPM-Pfaden abgewandt hat, um mit "Holidays" einen seicht vor sich hin plätschernden Down-Tempo-Track zu basteln, der eine leicht verschwommene Post-Dubstep-Ästhetik irgendwo zwischen Mount Kimbie und Sepalcure auf die geraden 90 BPM übersetzt. Doch während der Track so vor sich hin trabt, muss er sich wohl eingestehen, dass der Christian-Löffler-Remix das eigentliche Highlight dieser Single ist. So nebelig wie ein Wald in der Morgendämmerung, hat Löffler das Original in sein vor wohltuender Melancholie strotzendes Deep-Techno-Trademark überführt, das eine verspulte Nacht so wunderbar sachte ausklingen lassen kann. Schwofende Bässe, schimmernde Pads, funkelnde Synthies. Wesentlich introvertierter und langatmiger als das Original und in diesem Zuge - so könnte man meinen - irgendwie bedeutungsschwerer. www.ki-records.com ck Cassegrain & Tin Man - High And Low [Killekill/015] Einer dieser magischen Acidtracks die von ganz fern hereinslidend und sich dann mit dieser zentralen Hookline über den Floor ausbreiten, wie der Duft der Vergangenheit, dieser leichte Trigger der Sensorik, der einen von einem Moment auf den anderen in eine andere Welt führt. Ihre Madeleine sozusagen. Einziger Nachteil, ich hätte den Track auch mehr als zehneinhalb Minuten haben wollen. Da muss mal jemand eine Oper draus machen. Die beiden anderen Acidtracks stellen sich da zu Recht in den Hintergrund, denn bei aller Macht erblassen sie gegen den Titeltrack ein wenig. bleed Hitsafe - Serious Jaw-Work [Killekill House Trax/KHT005] Huch? Eine Funkplatte auf Killekill? Warum nicht. Rockt. Ziemlich überdreht mit wilden Lyrics und einem unmissverständlich klassischen Funksound, der einfach blind druchrast durch seine Energie. Die Remixe hier von Lopazz und Casino Jack sind vermutlich "spielbarer" (man hauch mich für so eine Bermerkung), aber irgendwie wünscht man sich dennoch das Original zurück. Muss man also ausblenden wenn man auf dem Floor in den Genuss der geremixten Killertracks kommen will. bleed Samuel L Session - Air Blast EP [Klap Klap/019 - Decks] Ach, diese Technobasslinetriolen. Die werden wiederkommen. Das hört man überall. Samuel L Session reitet mit und hoppelt auf dem Wummermonster "Air Blast" ganz ausgelassen auf das etwas einfache Pathos zu. Die galoppierenden Snares und Bassdrums in "Broken Containment" sind ein weiteres Beispiel für diese elegante, aber doch etwas auf die leichte Schulter genommene Rückwendung zu den großen Zeiten von Techno. "Rhodes Ampy" ist dann der melodisch dubbige Burner der EP, und "Spoked Metal" der panische Ausklang. Weniger wäre hier mehr gewesen. bleed Jonsson & Alter - En Melodi [Kontra Musik/031] Keine Frage, "En Melodi" ist ein wunderschönes Stück. Von Anfang an ruhig und auf die Melodien konzentriert weiten sich mittendrin glasklare Pianos wie Schwäne über den See aus und wenn ihr jetzt denkt, Märchen, doch, das ist so. Ist auch kitschig. Ist aber dennoch irre schön. "Tribunen" hingegen ist eher ein treibend deeper Pianotrack mit Stringhintergründen und einfach nur schön. Und damit es nicht zu besinnlich wird, steuert Frak noch einen brachialen Bassdrumhämmermix hinzu, der aber einfach um die sanft getragene Melodie und ihre Wirkung nicht herum kommt. bleed Ken Karter - Synaptic [Kript Synapse/05] Na was wohl? Genau. Darke industrielle Welten aus ultraverzerrtem Technosound, der dennoch in die Tiefe geht, nicht hämmert, auch wenn die Ästhetik eigentlich nur einen Hauch vom Hämmern entfernt ist, sondern eher summt, wie ein Öltanker den eine atomverseuchte Riesenbiene bestäuben möchte. Musik die so tief in dunklen Dub getaucht ist, dass mit jedem Auftauchen aus dem Meer des Sounds ein Tsunami losgeht. bleed

Sakro - Real Deal E.P. [Lake Placid/LP005 - DBH] Drei neue Tracks des Mexikaners Edgardo Alonso Garcia und ein Remix von Andrade. Klassische Deephouse-Stepper mit dunklen Vocals, extrem lockerem Swing, warmen Rhodes und einem perfekten Gefühl für die unnachahmlich süßliche Deepness der Harmonien. Feine gebogene Chords, extrem lässiges Flair durch und durch, gerne auch mal ein Saxophon als Sample, das ohne Kitsch einzusetzen große Kunst erfordert, und so wenig diese Platte neues liefert, am Ende ist man doch völlig von den magischen Welten der Klassik ergriffen und hat nicht ein Mal das Gefühl in Nostalgie zu schwelgen, weil die Euphorie einfach wie von selbst überspringt. Der Andrade-Remix ist einen Hauch abstrakter und zurückgenommener und kommt für mich an das Original nicht wirklich ran. bleed Liss C. - Wild / Wet [LC Series/003] Liss Casaro scheint auch aus Berlin zu kommen. Die Stücke hören sich eher so an als wären sie aus dem Rom der großen Acidzeiten entstanden. Dark, versponnen, immer eine Bassline vorraus aber doch so voller innerem Pathos, dass man sich gerne auf einen Tanz in Lack und Leder einlässt. Der Plantworker Remix ist etwas zu dark und schnodderig in seinen Dubs, aber das Highlight hier ist definitiv der Sleeparchive Remix, der uns ein Mal mehr daran erinnert, dass der damals von Sähkö losgetretene Sound aus puren glitzernden elektronischen Innereien immer noch ein unnachahmlicher Killer auf dem Floor sein kann, der seine Silberfischästhetik bis in die letzten Winkel des inneren Raumes der Selle schleichen lässt. bleed Kensuke Fukushima [Leap Records/004 - Decks] Leap ist einfach ein grandioses Label. Das Release des Japaners Kensuke Fukushima passt perfekt. Auf der A-Seite ein endloser warmer Dub, der seinem Titel "Summertime We'd Go" durch und durch gerecht wird, auf der Rückseite funkiger und mit dieser Art, hängengebliebene Stimmen in den Groove einzusticken, die in perfekt deepen Housetracks endet, deren Spannung von ganz unten in einer dunklen und sehr mächtigen Stimmung auflebt. Sanft, swingend und voller Intensität. bleed Arts The Beatdoctor - Lazy Thunder EP [Lowrider Recordings/015] Knisternd und voller Spannung beginnt die EP im Regen mit einem plinkernden Billigsynth, der sich langsam zu einem pathetischen Walzer aus Beats, Breaks und Komplexität aufplustert und am Ende wie eine Phantasie um drei Ecken voller wuseliger Geheimnisse schimmert. "Moebius Travels" ist ein kaputterer Track mit zerrupften Saiteninstrumenten unhinterfragbarer Herkunft und Basslines straight aus der Hölle des eckigsten Grooves während "Little Brother" mit der Stimme von Ella (who?) die Platte ins klassische Geschichtenerzählen mit Slowmotion zurückholt. "Ghost In The Mashine" ist ein weiterer dieser auseinanderperlenden Discohiphopslashermonster, das gelegentlich in arabische Harmonien driftet. Dazu noch zwei perfekt abgestimmt Remixe von fLako und Sam a la Barnalot. Wundervolle Platte. bleed Lucknow [Lucknow/LCKN01 - Decks] Irgendwie erinnern mich diese Tracks ein klein wenig an die rufferen Seiten von Panasonic. Treibend dunkle monothematische, ganz auf die Bässe ausgerichtete Technotracks für Experimentierfreudige. Brummig, kellerhaft, sehr elektronisch und manchmal auch einen Hauch statisch aufgeladen, wuchten die 4 Stücke in ihrer ganz eigenen ästhetischen Welt mächtig herum. Wir sind gespannt, was sich daraus entwickelt und hoffen, der gelegentlich etwas industrielle Nachgeschmack wird noch einen Hauch mehr gedämpft. bleed

The Von Duesz - It's All [M=MAXIMAL/MAX0015 - Kompakt] "It’s All" kommt direkt so muckelig und warm reingeschwebt, wie man es von The Von Duesz gewohnt ist: dezente Club-Spielereien nach dem "weniger ist mehr"-Prinzip und warme Flächen mit Mut zur Lücke. In den seltensten Fällen klingt leise so geil wie bei den drei Herren aus Bielefeld. "Alert Me" brummt sich für den Dancefloor warm, während "The Eye" sich mehr der Melodramatik verschrieben hat. Der Titeltrack kommt auf der B-Seite gleich mit dreifacher Bearbeitung daher. EGOKIND zerbröseln das Stück in seine Einzelteile und weben diese in einen rauschenden Tanzteppich, die Gebrüder Teichmann geben "It’s All" eine neue Weitsicht und M.O.R.A . schaltet eine Extraportion Funk dazu. Macht Spaß! www.m-maximal.com jw Lucretio pres. - Monster Town [Machine State/004 - D&P] Ruffer in den Basslines als bislang rempelt sich die EP hier mit "Beta Snake" in grollenden Basstiefen und schnarrenden Acidline nach vorne auf den Floor und kickt sich nach und nach in besinnungslose Deepness. "Bakunawa" wirbelt eher den Staub vergessener Soul- und Funkzeiten auf, der in störrischem Housestakkato vor statischer Energie nur so zittert. "Dangerous Love" bringt dann die wummernden Bassdrums und den Soul in eine so intime Lovestory, dass einem schwarz vor Augen wird, und "Andromeda" zirpt am Ende dann verliebt von der Reise in die Welten der detroitigen Zukunft im All. bleed Mia Dora - You In The Future EP [MadTech/KCMTDL017] Ein stolzer Track, vor allem im Extended Edit. Metallische Synthhooklines, ravig oldschooliger Bass, swingender Groove, mittendrin dieses sichere Zurückfallen auf die Aussage: "so many years", die klar macht, das jemand einfach nicht raus will, kann, braucht, sondern in diesem Sound überleben kann. Ein Stück, das irgendwie mit einen Hauch von Sound noch an der Zeit der großen Raves klebt, dabei aber doch völlig solide und deep durchgroovt. "After The Dog" ist im Sound durchaus ähnlich, aber einen Hauch pathetischer und mit weniger resolut funkig straighter Basis. bleed Dief & Baker - Hours [MadTech Records/MTDL17] Eine dunkle nächtliche Stimmung, sanfte Bleeps, slappende Grooves, wehende Flächen die manchmal bis zur Explosion ausgeweitet werden und dann ein Sturz in die wild pulsierende Bassline. "Hours" ist ein Stück in dem man gut aufgehoben ist. Sich im Glück nahezu suhlen kann und irgendwie auch noch ein Aufblitzen früher Elektroniksounds aus den 70ern findet. SciFi-Funk der cleanen Art. "Light Year" ist mal wieder einer dieser Tracks mit tiefergelegten Vocals, einem Duett und funktioniert in seiner hintergründig panischen Stimmung perfekt als Aufbruch dieses Moments an dem man alles noch ein Mal von ganz vorne machen möchte. Sehr schöne EP. bleed Vester Koza [Maslo/Maslo03 - D&P] Die dritte der Serie beginnt mit sanft rauschenden, deep dubbigen Sounds, in denen sogar das Knistern durch den Raum fliegt. Detroitig im Background der Sounds, aber doch mit einer so wehend breiten Ästhetik, dass man sich fühlt, als würde man auf den Sounds schwimmen. So leichtfüßig die A-Seite ist, so dark und

Floorplan - Phobia [M-Plant/M.PM17] Immer wieder ein Klassiker. Floorplans "Phobia" arbeitet mit den gleichen langsamen Verschiebungen der Sounds und Sequenzen, die den Floor seit nun mehr als zwanzig Jahren erschüttern, wenn es um Techno geht. Und darum geht es Robert Hood hier einmal mehr deutlich. Auch "Glory B" slammt vom ersten Moment an und ist sich nicht zu schade einen Preacher aus der Versenkung zu holen und die große Ravesirene. Wie genau es der etwas für leere Hallen Produzierte Ben Sim Mix auf die EP geschafft hat ist uns nicht klar. www.mplantmusic.com bleed

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SINGLES knarrend geht es auf der Rückseite zu, die in ihrer Methode ähnlich sein mag, im Effekt aber eher einen Hauch Industrialität mit einer unwahrscheinlichen Sanftheit verbindet. Wuchtige Platte, die trotzdem sehr zart ist. bleed Hazylujah - How Can You Hide From What Never Goes Away? [Meda Fury] Gute Frage. Geht nicht? Oder geht immer bringt aber nichts? Oder nur so findet man heraus wer man ist? Alles richtige Antworten. Die Tracks von Hazylujah sind voller Geister, Gespenster, kleiner Stimmen, Tierchen, trudelnden Melodien im Einklang mit den Schönheiten der Chords als ein Konzert das weit draußen stattfindet, in einem Jungle aus Klängen in denen man die Begeisterung wie ein Feuerwerk abfackelt. Hazylujah will ins Paradis. In die Tropen. Diese inneren Tropen. Diese globalen Tropen vielleicht auch. Diese Zukunft in der alles wirkt wie gemalt, aber doch klar ist, dass man an jeder Stelle einen Garten Eden findet in den man ein paar Spaten Sound hacken kann. bleed V.A. - Ten Years After EP [Mindtours/015 - Decks] Ist die erste Mindtours wirklich schon 10 Jahre her? Steevio, Tom Ellis und Leif scheinen es jedenfalls zu genießen. Flatternd flausige Sounds, sehr ausufernd in ihrer Art, ultrasanft am Ende dann doch die weltumarmende Harmonie aus Melodien und verruchtem Jazz findend, spannungsvoll und voller Geheimnisse. Eine der ruhigsten Mindtours, die das Thema als Anlass zur Besinnung zu nehmen scheint. Musik, die in ihrer inneren Schönheit vor den halluzinierend synästhetischen Momenten in ungreifbaren Formen aufstrahlt und vergeht, um an Ende mit Steevios Livetrack "Dringfa" doch noch den Floor in eine zeitlose Bewegung zu versetzen. Sehr schöne Platte, die einen entspannten Blick auf unser Treiben wirft und einem diesen Effekt der Endlosigkeit elektronischer Musik mit einer Geste des immer wiederkehrenden Geschenks vermittelt. bleed Pfirter - Tide [Mindtrip/005 - Decks] Vier Tracks, die voller schnittig digitaler Gewalt stecken. Bissig, zitternd, oft nicht weit entfernt von industriellen Soundscapes, ungewohnt ruhig und mit einem langsamen Aufbau. Musik, die einen von einer Welt träumen lässt, in der doch alles voller Strom, Chips, Silber und Blitzen ist. Auf der Rückseite findet das alles dann wieder konkreter zum Floor, gewinnt hier aber eher durch die reduziert schmetternde Art. Pfirter scheint sich langsam immer mehr auf die Entschleunigung von Techno einzustimmen, und wir sind wirklich gespannt, wo das noch ankommen mag, denn wenn es in diesem in sich vergrabenen Sound so weiter geht, dann wären wir froh irgendwann die subtilste Art von Slomo-Schranz darin zu entdecken. bleed Alejandro Mosso - Arrecife / Islote [Mosso/005 - Decks] Musik von Alejandro Mosso ist immer so leichtfüßig. Tänzelnd. Perkussiv bestimmt und doch völlig in den Melodien aufgehend. Sanft und doch voller Druck. "Arrecife" ist ein perfektes Beispiel dafür. Bestimmt klingelnd, voller Untertöne, innerlich voller Spannung, aber doch so elegisch dabei. Da können die Orgeltöne schon mal minutenlang stehen bleiben und dennoch ist alles gesagt. Ein Track, der so beständig an einem nuckelt wie die snaften Wellen am warmen Sommerstrand. Ähnlich ruhig und voller Sanftheit auch die Rückseite der EP, die einem erst gegen Ende durch die Finger rinnt, wie ein kurzes Aufblitzen von Quecksilber in einer Welt aus Farn. bleed Pink Skull - Hitaloche [My Favorite Robot Records/MFR094V] Das ist definitiv meine Lieblings Platte auf My Favorite Robots seit langem. Pink Skull ist ein merkwürdiges Phänomen. Undefiniertbar im Sound voller quietschiger Synths, voller eigentümlicher Breaks als Groove, immer ein wenig abseitig, dystopisch, leicht kaputt aber nicht kaputt zu krie-

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gen, verkatert aber doch immer irgendwie noch aufrecht. Gelegentlich wirk das wie eine Hardcore-Band die Elektronik entdeckt, als wenn das heutzutage noch möglich wäre. Musik die eher in den Schuhen eines Synthsounds der frühen 80er steht, selbst wenn sie gelegentlich ein paar housebasierte Tracks machen. Oder auch schon mal fast Acid sind. Musik die von Stück zu Stück mehr Felder aufgreift und immer mehr zu sagen hat. bleed Cally Escape EP [Neostrictly/006 - DBH] Sehr abstrakt um die Ecke groovend steigt die EP mit "Escape" ein und erzeugt ein flatterndes Flair zwischen Dub und hintergründigem Latingroove das von Sekunde zu Sekunde spannender wird. Auch "Afterglow" basiert irgendwie auf dieser Ruhe und dem internen Swing, der alles bestimmt, aber im Hintergrund dennoch eine sehr langsam duftende Deepness entstehen lässt. Eine sanfte, aber pulsierende Platte, die mit ihrer warmen Art eines zurückgenommenen Charmes Stück für Stück immer mehr überzeugt. bleed Infinite Loops - Design Principles EP [Nightime Drama/NTD001] Eine EP, die in ihrem Sound ganz in dem Tänzeln zwischen Sequenzen und Groove gefangen ist und es dabei schafft irgendwie einen Dubtechno-Effekt erster Stunde zu erzeugen, ohne irgendwie auf die üblichen Methoden zurückzugreifen. Das trudelt auf "Design Principles" perfekt und ausgelassen mit dennoch stechend kickenden Momenten in dem Gewusel aus Groove, und die Rückseite legt mit ihren flüsternden Hintergründen aus Vögeln und Rauschen mit den knallig rockenden Synths, die mich an frühe Basic-ChannelMomente erinnern, noch einen drauf. Dabei ist es ist auch hier nicht etwa das Abbild eines Sounds, sondern eine sehr eigene und immer grandiose Umdeutung, ein völlig neuer Rahmen, um den es geht und in dem brilliante musikalische Spielereien ebenso ihren Platz haben wie die zeitlose Tiefe der wuchtigen Grooves. bleed Doc Daneeka - Walk On In [Nmbrs/NMBRS31] "Trife Life Pt. II" rockt mit diesem typischen Subbass voller innerer Harmonie und den einfachen Dubchords zu rockender OldschoolDrummachine. Effektiv und nur mit einem Hauch Modulation versetzt, kickt das dennoch ohne Ende und erinnert von den Sounds natürlich an die ravigsten UK-Zeiten als Breakbeat noch wer war. Der Hit der Platte ist aber der Track mit Ratcatcher, "Walk On In", auf dem die beiden sich langsam in den soulig glücklichen Ort schaukeln, der ein Hitsample, das immer wiederholt wird, trotzdem aussergewöhnlich machen kann, weil ein Mantra ist ein Mantra ist ein Mantra. Auf dem Floor um so mehr. bleed Eduardo De La Calle - The Supreme [Non Series/009 - Decks] Brilliant legt die Platte mit diesen gesampleten Detroitchords los und swingt sich nach und nach auf einen untergründig berstenden Sound ein, der so voller Geheimnisse ist, dass man sich von ihm gerne in der eigenwilligen Schwingung zwischen digitalem Sound und analogen Referenzen auf den Weg in die Ursprünge von Detroit treiben lässt. Ich weiß, immer überstrapaziert, dieses Detroit, vor allem wenn nie klar ist, worum es nun eigentlich gehen könnte, aber als Abkürzung verstehen wir uns doch, hoffe ich. Musik, die sich zurücknimmt, nie an die Grenzen geht, ein sanftes Licht auf alles wirft, viel Raum lässt, für das, was die Ohren an Phantasie erzeugen können, selbst wenn sie bis aufs Letze konzentriert und dabei dennoch so voller innerer Hitze ist. Die ausgereiftesten Tracks von De La Calle bislang und dabei so charmant zurückgenommen. bleed Chevel - Air Is Freedom [Non Series/010 - Decks] Wenn ich überlegt wie depressiv eine Aussage wie "Air is Freedom" eigentlich ist, dann brauche ich schnell ein paar innere Formwandler, die mir sagen, nein, nicht die einzige,

letzte, traurige Freiheit, sondern das Wesen der Freiheit ist gemeint. Luftig. Ungreifbar. Nicht einzufangen. Immer in Bewegung obwohl man es nicht sieht. Hoffen wir, dass es darum geht und suchen die Hoffung in diesen tiefen dunklen Dubwelten, die klingelnden Momente einer zerstörten Hoffnung auf Detroit die gelegentlich durchschimmert, aber doch nicht totzutreten ist, die tief analogen Blitzer in den Sounds, die immer klingen, als würden sie ihren eigenen Überlebensraum gleich mitbringen, das böse Knistern, das unter der Oberfläche doch immer mehr vermuten lässt, man muss es nur mit den Ohren suchen. Am Ende kommt mit dem Titeltrack der Ausklang dieser Welt, die doch überraschend hoffnungsvoll stimmt. bleed Hudson Mohawke - HUD MO 100 [Not on label - Rush Hour] Unser aller liebster Glitchy-Wischi-Itsy-Bitsy-Teenie-Weenie Hudson Mohawke schüttelt zwischen Arbeiten für die G.O.O.D.-Bagage und Aufleg-Jobs bei den oberen Zehntausend mal schnell dieses kleine Präsent für 100.000 Faceboook-Likes aus dem Ärmel. Macht man ja heutzutage so. Auf "HUD MO 100" finden sich vier, den mixaffinen Zuhörern schon bekannte Edits, im Zip-Ordner. Die Three 6 Mafia bekommt einen Bassboost von Ambient-Afficiando Tycho, Chris Brown tobt sich auf konsolenartigen Klängen von Mammal aus. Das Geschwurbel mit Usher, mit Hell Interface und Midnightstar skippen wir lieber (klingt so wie es sich liest) und konzentrieren uns auf das Gipfeltreffen zwischen Ciara und RJD2: high definition-R’n’B trifft auf frickelige Beatscience. Insgesamt trotzdem eher was zum schnellen Weghören in der Mittagspause. jw Glass Gang - Set It All [Not On Label - Rush Hour] Bisher gab es von den Boys aus Brooklyn eher ambientartige Tracks zu hören. "Set It All" streckt seine Fühler mehr in Richtung Drone und der Gniedelgitarren entledigten PostRockismen aus. Obendrüber gibt es Geistergesang und Nightcore-Gefiepse. Alles schön zusammengehalten von hektischen Snare-Rolls. jw Recycle Culture - No Note [Not On Label - Rush Hour] Schon die "In Transit"-EP lieferte in ihrem muckeligen Grundton im letzten Frühjahr einen schnieken Ohrenwärmer für die kalten Tage. Und tönte ganz anders als das bisherige Remix-Trancegeboller. "No Note" treibt die Reduktion auf das Minimum noch weiter voran. Will heißen: Auf endlos ineinanderfließende Ambientmeere tröpfeln hier und da ein paar Klavierakkorde. Das macht einen ganz selig, fast ein wenig zu selig. Funktioniert leider nicht mal als zeitgemäßes I-DoserUpdate. jw Saviero Celestri - Otherground E.P. [Nothingwithx/NWX003 - DBH] Sehr smooth beginnt die EP auf dem Titeltrack mit einem orgelig lässigen Housetrack, der sich im Break mit einer dunklen Stimme sehr offensichtlich von allem frei machen will und dabei voller Genuss die im Hintergrund atmosphärisch perfekt eingelagerte Stimmung genießt. Sehr klassisch, aber auch unwidersprochen ultraschön. Auf der Rückseite geht es dann genau in dieser Stimmung leicht in sich gestrudelter Deephouseszenerien weiter und bleibt bis zum Ende perfekt. bleed Tyon - flaw_18 EP [NSYDE/007 - D&P] Tief in sich es geht. Wir wissen auch nicht wer Tyon ist. Musik, die sich selbst in ihren Sequenzen verknotet, eine Stimmung andeutet, um sie wie ein zerbrochenes Bild zu genießen. Eine sanft hinabdriftende Idee, vom ersten Moment an losgelöst von den typischen Strukturen und doch so klar. "flaw_18" ist einer dieser Tracks, die wie Kino wirken, ihre Geschichte in voller Breite ausweiten müssen, deren Stimmung einen an jeder Ecke gefangen nimmt in ihrer Unausweichlichkeit und dabei dennoch eher befreiend als dark wirkt. Die Rückseite ist dann noch mehr in die Soundscapes am Rande des Grooves verstrickt, die Experimentation zwischen detroitigen Erinnerungen von Strings und Phasereskapaden auf den Hihats, und ja, man möchte diese Platte hören, wie das Summen eines Motors eines Spaceships in unbekannte Welten. Und das ist leicht. bleed Infiniti Game One (The Cult Revisions) [Opilec Music/OPM12070 - DNP] Infinitys "Game One", das Juan Atkins mit Orlando Voorn 1994 releaste, erinnert wieder daran, wie funky Techno sein

kann, ohne die Detroit-Sehnsucht der verfallenden Industriemetropole preiszugeben. Dass man diesen Klassiker besser mit Samthandschuhen anfasst und nicht in einen billig-zeitgeistigen 2013er-Remix zerhackt, weiß auch I-Robots, der das original um Nuancen in seinem Sinne editiert und auch neben dem Original eine gute Figur macht. Santiago Salazar fügt dem Klassiker eine leichte 303 mitsamt Elektro-Beat hinzu und garantiert damit die space journey. Voorn selbst greift da mehr in die Vollen – der darf das – und verdubbt das Stück einem Antiquitätenschleier gleich. Sehr gelungen und wem das Original fehlt – zugreifen. www.opilecmusic.com bth Infinity The Cult Revisions [Opilec Music/OPCM112070 - DNP] Drei Mixe des Infinity-Klassikers "Game One" der, wie so gerne auf Opilec, hier in erst mal in einem eher editartigen Konstrukt wiederbelebt wird. Dass ist natürlich dann gerne nah am Original, und da wir das Original eh über alles lieben, ist das mehr als willkommen. Die beiden anderen Mixe widmen sich eher dem schwärmerischen und dubbigen Aspekt, den damals ja auch Moritz von Oswald schon angedeutet hatte. Sehr elegante und irgendwie immer willkommene Auseinandersetzung mit den Sternstunden von Juan. www.opilecmusic.com bleed DJ Koze - Amygdala Remixes 1 [Pampa Records/018 - WAS] Herbert. Keine Frage, das passt. Und für Koze gibt er sich wirklich auch Mühe, alles so dicht und wuchernd einzuleiten, dass man vom ersten Moment an ahnt, Herbert zaubert sich da einen ganz eigenen Hit zusammen. Mit den Vocals von Rahel macht er einen ultraschimmernd smoothen Househit aus dem Original, den man so nicht hätte erwarten können. Eins dieser Stücke, die man am Ende des Abends aus voller Seele mitsingt und einem einen Schauer nach dem anderen den Rücken runterjagen. Musik, die in einer Weise Gefühl atmet, dass man sich nicht selten mitten in einer dieser bewegenden 60s-Hymnen wähnt. Perfekter Blumenkindsound. Die Rückseite von Efdemin ist viel konzentrierter auf den Groove, die klassischen deepen Technoelemente, den digital knuffigen und spannungsvollen Sound, der erst langsam seine jazzig deepe Bestimmung entstehen lässt. Smooth, aber gegenüber dem Hit von Herbert auch leicht zu übersehen. bleed Aspect [Parity Records] Vier dichte, dampfend schleppend swingende Tracks voller feiner Dubhintergründe, perkussiver Einschleusungen, breiter Harmonien, die in ihrer Fläche fast vergehen und Slowmotioneskapaden, die einen an die besten Zeiten von Chain Reaction erinnern. Definitiv eine der Dubtechno-Platten des Monats mit ihrem gepresst komprimierten Sound, der dennoch viel Luft für die eleganten Melodien lässt. bleed The Analog Roland Orchestra - Made in Space EP [Pastamusik/PAM17 - D&P] "Romina Space Journey" ist der kürzlich verstorbenen Katze Romina gewidmet, die von Michal Matlak die Musik für ihre letzte Reise bekommen hat. Ganz Munich-like wird sie auf ihrer space journey mit einem behaglich-warmen und langsamen Space-Disco-Shuttle in ihr zweites Leben befördert. Dass das genügend Raum braucht, versteht sich von selbst. Zwölf Minuten taucht man ins Jenseits ein und wünscht ihr noch ganz viele Abenteuer, während sie friedlich schnurrend dahingleitet. Auf der B-Seite des Vinyls hat sie ihr neues Heim gefunden, ein Platz, der liebevoll ist wie das Haus von Oma Kuschel, der Katzenhüterin, aus der Zeichentrickserie Dr. Snuggles. So klingt "Vertigo" wie eine Space Disco, Sound of Munich-Party mit der Kosmokatze als DJ. Nebenbei ist das der fröhlichste Song von TARO und zeigt einmal mehr, wie facettenreich die alten Rolands klingen können, vorausgesetzt man hat das Talent, sie so uplifting zu klingen lassen. Killermelodie und eine Stimmung wie sie sonst nur Legowelt hinbekommt. Grandiose EP und meine Platte des Monats. bth

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SINGLES Fumiya Tanaka - Dark Pad [Perlon/098 - WAS] Wie bitte. Perlon wird gleich hundert? Wir gehen schon mal in Deckung. Doch erst, vier feine glucksig klappernde Tracks von Fumiya Tanaka, die immer zwischen den Zeilen zu hören sind. Musik, deren Zwischenräume mehr Raum zu haben scheinen, als die Musik selbst, und dennoch ist eine Menge los. Und alles so perfekt ausgelotet. Assoziativ gestrickt wirken die Tracks, aber doch voller Konsequenz in ihrem Aufbau. Klar geht hier alles rings um den einmal gefundenen Groove in Zirkeln der Konzentration vor sich, aber diese Grooves sind nicht nur Beats, sondern geschliffen aus Sounds, die nicht selten auch mal eine Gitarre oder Ähnliches in sich bergen. Swing und Abstraktion in perfekter Vereinigung, ohne dass man merkt, dass sich der Sound irgendwie sehr weit von allem, was klassischer House wäre, entfernt hat. bleed Karsten Koehnemann [Playful Art Music/002 - Decks] Die zweite EP des Labels beginnt mit einem leicht kitschig trällernden elegischen Stück, dass mit einfachem Elektrogroove vor allem seine Melodien in den Vordergrund drängt und irgendwie etwas nach Heimunterhalter klingt. Die Rückseite ist etwas clubbiger und mit einem Hauch mehr Funk, segelt aber ebenso an der Grenze von Kitsch, und gegen Ende kommt dann noch ein dunkles Dubtechnostück hinzu. Noch nicht so wirklich ausgereift in den Sounds, würden wir sagen. bleed Marc Philipp & Nils Weimann - Lost EP [Pleasure Zone/PLZ011 - DBH] Sehr wuchtig slammende Beats, knuspriger Funk in den Details, zerrissen und doch sehr locker auf dem Thema herumjammend, beginnt die EP mit einem scheinbar endlosen Track, der seinen Groove so konsequent auslebt, dass man nach und nach immer tiefer in die allerkleinsten Details hineingezogen wird. Und auch auf der Rückseite gibt es diese sehr behutsame Herangehensweise voller untergründiger Energie, die sich hier noch stärker über die Subbässe auslebt und in den Obertönen weitaus jazziger und knisterner ist. Am Ende dann ein sehr reduzierter dubbiger Track, in dem hinter dem sehr präsenten Groove alles im Hintergrund verschoben und bewegt wird. Eine Platte, die in ihrer Reduktion einiges von einem fordert, aber dafür auch extrem viel interne Spannung und Funk liefert. bleed V.A. - 4 Steps [Polynom/005 - Decks] Jamy Wing, Daniel Schwarz, Daniel Hauser und Thomas Stieler teilen sich die EP mit mal technoid funkig schrillen Sounds, mal ruhigeren Momenten, einem verschrobenen Detroitstück und einem eher lässig dahinfloatenden Technosynthtrack. Nett, aber nicht wirklich überragend. bleed Brendon Moeller - Reconcile [Pomelo/035 - D&P] Irgendwie spröde Tracks, deren Sound leicht verstummt klingt. Wie jemand der sich leise zu Wort meldet. Was nie heißt, dass er weniger zu sagen hat. Die EP steigt mit dem Titeltrack detroitig ein, diese schnellen Sequenzen, leicht melodisch aber doch angriffslustig, nur liegt über all dem eine Art Schleier im Sound, man bekommt diese Stimmung eher durch einen alles bestimmenden Filter mit, und genau diese Art gedämpfter Sound ist selbst bei den technoideren Momenten der EP zentral und löst sich erst auf dem letzten Stück, "Loudness, Sustain, Decay", mit seinen zirpenden Jazzsounds vom roten Planeten so langsam ein wenig auf. Eine EP die klingt als wolle Brendon Moeller eine langsame Wandlung durchmachen. Wohin ist noch nicht so ganz klar. bleed KRTS - The Foreigner [Project Mooncircle/PMC123 - HHV] Kurtis hat inzwischen ein Visum für Deutschland erhalten und schaut sich das Leben hier als Fremder an, was gleich den Titel dieser EP erklärt. Die schleppenden Beats kombiniert er mit freundlich stimmenden Melodien, die ihn von der melancholisch geprägten Art seiner Labelkollegen abgrenzen. Für Plattenliebhaber kommt die Scheibe in klarem Vinyl, die Freunde von digitalen Formaten werden mit einem Remix von Sieren geködert, der schön abwechslungsreich nach vorne geht. Zurück zu den Originalen: Das Tempo ist nicht

allzu schnell, doch Langeweile kommt niemals auf. Wer die Chance bekommt, den Mann hier live zu erleben, sollte das unbedingt tun. www.projectmooncircle.com tobi Conquest One - Subjected [Prosthetic Pressings/PP040 - DBH] Ein solide schrubbender deeper Technohit, der bei aller Gewalt, die die gedoppelten Bassdrums und die schnittig peitschenden Sounds suggerieren, doch immer die Tiefe genau im Blick hat und dabei den Floor mit einer böse grollenden Stimmung doch aus den Angeln hebt. Auf der Rückseite ein noch panischerer Track mit etwas mehr Ruhe im Hintergrund, der einem das Fürchten beibringen kann und ein höchst ungewöhnlich harscher Tuff-City-Kids-Remix, der sich vor schnellem Funk beinahe überschlägt und sich immer tiefer in die schnurrenden Acidlines stürzt. Mächtige, grabbelnd böse, aber doch extrem coole EP. bleed Skyboy pres. Cut & Past / Vana & Franconeri [Puas Puas/003 - Decks] Zunächst mal eine übertrieben slammende Discoplatte ganz hart am Hitedit, die dennoch irgendwie Spaß macht in ihrer unverschämten Art die Samples auszukosten, dann auf der Rückseite besinnlicher und mit einem Flair von swingend detroitigem Flächengroove mit leichter Latinattitude. Das passt nicht so ganz zusammen, außer in der Frische, mit der die Tracks unbekümmert losflattern. Sympathisch. bleed Mattia Trani - Over The Future EP [Pushmaster/PM006 - Decks] Auch wieder so eine EP, die klingt, als wäre gerade der erste Sommer in Detroit ausgebrochen. Mal massiv slammende Technohits mit einer ungeahnten Tiefe, dann breite und schnelle Acidstringmonster, plötzlich wieder so wummernde Bässe, dass ganze Hallen am liebsten auseinanderplatzen möchten und dann ein Stück galaktischer Ambient. Es ist schon merkwürdig, wie der Geist dieser frühen Stunden nicht einfach immer wiederbelebt wird, sondern so frisch und neu erfunden, dass man das Gefühl bekommt, Zeit sei wirklich überschätzt. Killer EP. bleed Romansoff - Raw Tools 3 [Raw Tools/RWT003 - DBH] Tools ist hier definitiv ein Understatement, denn die 4 Tracks der EP sind ausgefeilte Deephousemonster der schillerndsten Art. Swingend, mächtig, sich überschlagend in dem komprimiert federnden Sound, tief einsteigend aber dennoch mit einer gewissen Leichtigkeit, voller überspringend euphorisierender Momente und immer mit genau der richtigen Balance aus resolutem Kick und schwärmerischen Sounds. Am Ende sogar noch mit einem fast albern funkigen "Roll This" ein sanfter Seitenblick, der dennoch in ein himmlisches Detroitmoment ausufern kann. bleed Neil Landstrumm - Like A Sultan EP [Rawax Limited/003 - DBH] Neil Landstrumm ist immer wieder für eine Überraschung gut. Hier präsentiert er 5 klassische Killertracks mit ruffen Drummachines und brummig knuffigen Basslines, die von gut gelaunten Samples in leicht acidartigem Stakkato überflutet werden und dabei dennoch genüsslich langsam vor sich hin stapfen. Manchmal schwärmerisch mit flausigen Synths, dann leicht discoid mit Elektroeinschlag, manchmal mit perfekt daddeligen Chicagoexperimenten und am Ende auch noch mit einer Hymne für die elegischen Oldschooler nebst Flüsterstimmchen. Vielseitig, immer klassisch, immer kickend und so voller unbestimmbarem Optimismus, dass man die Tracks einfach sofort auf den Floor schicken möchte, um die Crowd mit einer wilderen Oldschool wieder auf den richtigen Weg zu bringen. bleed Artuu - Passing Out Priviledges / UFO Funkin' [Royal Oak - Clone] Stoppt die Pressen. Die neue Artuu ist da! Schlägt wieder alles. "Passing Out Priviledges" mit Jerry The Cat hebt den Floor mit seiner Gleichheit, Freiheit und Oldschool aus den Angeln und lässt den Funk aus einer solchen Klarheit heraus dennoch so übermächtig voranschreiten, dass man schon bei der ersten Bassline weiß: Der Track wird uns den ganzen Winter hindurch auf dem Floor begleiten. Und das darkere "UFO Funkin'" ist mindestens ebenso mächtig. Trockeneis Acid für alle, die es immer schon wussten. Was? Egal. Denn der Floor rulet. www.clone.nl bleed Chino - Duch [S1 Warsaw/S1WWA002] Sehr smoothe Tracks zwischen Electro und deepen Housenuancen von dem frischen Warschauer Label, das sich damit definitiv schon einen Platz in den Herzen der Oldschoolposse gesichert hat. Perlend und leichtfüßig, aber nie zu banal, ist es hier aber dennoch der Remix von Murphy Jax, der mit seinem klassischen Chicagosound alles schlägt. Und auch der völlig verkaterte Detroitmumpfmix von XAMIGA ist

nicht ohne. Wir sind gespannt, wie das Label sich entwickeln wird. bleed Billion One - Kowl [Samplefreunde/SAFR033 - Digital] Der Oldenburger lässt sich auf seiner zweiten Veröffentlichung bei den Samplefreunden nicht lumpen, Abwechslungsreichtum wird bei ihm groß geschrieben. Dabei verzettelt er sich Gott sei Dank nicht und überlädt die Produktionen nicht, wie leider mancher Kollege im Progressive-Beats-Bereich. Zwei der sieben Tunes sind in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Kirrin Island, manchem vielleicht auch als Comiczeichner Haina ein Begriff, entstanden. Auf "Dazed" singt er und bei "The Emerald Forest " steuert er die Drums bei. Als Bonus zu den sechs Originalen ist hier noch der Remix zu einem Stück von Yourck mit dabei www.athousandvows.com tobi Indigo - The Storm EP [Samurai Red Seal/REDSEAL022] Des Dub werde ich wohl nie überdrüssig. Er gibt dem Beat Pathos, eine in sich ruhende Erhabenheit, dass selbst unter ADHS leidende Jungle-Patterns ihre innere Mitte finden. Umso schöner, dass zeitgenössische 170-BPM-Musik seit geraumer Zeit wieder verstärkt unter dem schützenden Firmament des Dub produziert wird. Inzwischen fast schon wieder inflationär, wenn es nicht eben Dub wäre. Auf der "The Storm"EP des aus Manchester stammenden Indigo ist Dub ein weiteres mal allgegenwärtig und kabbelt sich liebevoll mit schleppend progressiven Drum-Patterns, knarrenden Basslines und wildgewordenen Amen-Breaks, deren Liebesspiel mit Freude zuzuhören ist. Der Titel-Track "Storm" besticht dazu noch mit einem entschleunigenden Moment der Stille, das im Rahmen vollendeter Reduktion Geduld zu lehren versucht. Mit "Condition" folgt noch ein träge aber bestimmt vor sich hin groovender Dub-Techno-Entwurf, der die Verwandtschaft einst weit entfernt geglaubter Genre-Ästhetiken auf den Punkt bringt. www.surus.co.uk/samurai-music ck Francis Harris - You Can Always Leave [Scissor & Thread/SAT014] "You Can Always Leave", die erste und einzige Single-Auskopplung des kommenden FrancisHarris-Albums, greift die soundästhetische Thematik von "Lostfound" wieder auf, als wollte der Amerikaner sein Erfolgskonzept seines letzten Albums "Leland" wieder ins Gedächtnis rufen. Wäre zwar nicht nötig gewesen, da das selbige noch immer zu den von mir meist empfohlenen Alben gehört, kann bei der wehmütigen Schönheit aber auch kein Kritikpunkt sein. Erneut arbeitet Harris mit Gry Bagøien, deren skandinavische, sanft kratzende Stimme mit den Seele schmeichelnden, fortschreitenden Deep-House-Loops und der unprätentiös gespielten Trompete von Greg Paulus zu verschmelzen scheint. Es funktioniert erneut, klingt wie ich mir Ambrosia im Geschmack vorstelle. Einmal gekostet möchte man das Stück einfach nicht enden lassen, sich ihm für immer hingeben und dem Zusammenspiel psychedelischer Loops, sich sanft fortentwickelnder Melodie- und Percussion-Stränge und Gesang lauschen. Doch der nächste Track wird kommen. So ist das nunmal. Aber bei Francis Harris kann man sich recht sicher sein, dass der das dann genauso macht und bis zum Schluss einlullen wird. ck Downtown Party Network - Space Me Out [Silence Music/018] Kennt ihr diese Frauenstimmen, die so ein wenig flüsternd sind, einwenig so klingen, als hätten sie den Mund noch von den Sonntagsnachmittagsknödeln voll? Meist sind das Isländerinnen. Eglė Sirvydytė ist aber natürlich aus Litauen. Und verleiht dem Stück hier die melancholisch grandiose Popästhetik, die einem unter die Haut geht. Da wirkt der Track dazu fast wie Nebensache. Dafür aber gibt es den brillianten Mario Basanov Remix, der sich in der Melodie charmant um die Stimme rankt und dem Groove etwas mehr Gewicht verleiht. Aber auch Hannes Fischer ist ganz ergriffen von den Vocals und nur Musik erlaubt sich hier ein paar Albernheiten mit den Samples. bleed RVDS - Moon On Milky Way [Smallville/036 - WAS] Schon der Titel deutet an, dass es hier um ein Phantasma geht. Um eine Gutenachtgeschichte. Um diese sanft blinkenden Sterne am so tief blauen Himmel, dass er auch schwarz sein könnte. Klingelnd säuselt der Track in dieser Stimmung vom ersten Moment in Schichten von langsam verschobenen Glöckchen und spartanischem Groove, während im Hintergrund langsam immer mehr plappernd alberne Sounds dominieren, die einen denken lassen, doch, auf diesem Planeten lebt auch alles. Dichter noch im Sound, die lethar-

gisch säuselnde Morgenwind-Acidsause auf "Monday Rain". Rauschig, blumig, sich streckend bis Detroit und doch so voller kleiner alberner Ideen. Musik, die auch eine Decke aus Federn sein könnte. "Winter Mooness" ist dann die dunklere Acid-Seite für den Floor, die aber dennoch auf die Momente konzentriert bleibt, in denen die Tiefe in den Subbereich wandert, in denen alle so in sich gehen, dass sie mit der Musik verschmelzen, und genau da holt der Track einen perfekt ab. www.smallville-records.com bleed D-Knox & Spiritman - So Sexy [Sonic Mind Records/SM032] Die dürfen das. Sich sexy finden. Oder Tracks "Fornicate" nennen. Und sind dabei so analog verspult, dass man sowieso den Titel schnell vergessen hat. Ein Track der sich bis ins All hochspult und blubbert mit allem was man an funkig verschrobenen Detroitflair so auffahren kann, dazu eine albern ravige Stimme, die immer wieder betont: "you are going to like this". Ja. Klar. Was sonst. Dampfend, smooth, fast unheimlich zurückhaltend aber doch so deep. Und der Titeltrack erzählt uns von den Dingen, die sich nie ändern, ist mir aber in den Vocals doch etwas zu pseudolasziv. bleed V.A. - Planetary Resources Vol. 1 [Space - Decks] Eine Compilation mit Aubrey, D'Funk, Myles Sergé und Mattia Trani. In sehr turbulent technoiden Tracks auf transparentem Vinyl zaubert die EP sehr schnell eine sehr eigene Stimmung von fortgeschrittenene Monstern in subtilster Laune an den Himmel, und egal, wie borstig und komprimiert die Bässe und Synths hier klingen mögen, es bleibt immer ein Gefühl von Weite zurück. Musik, die nicht auf klassische Methoden aus ist, dabei aber doch um so klassischer wirkt, weil das Experiment hier im Vordergrund steht und keine Angst vor den spröde klirrenden Momenten entsteht. Vier sehr verschiedene Tracks, denen alle der Wagemut früher Technotage gemein ist, der einen vom ersten Moment an verzaubert. bleed Funn City - All-Night People [Startree - WAS] Darshan Jesrani lässt sich mitten in die klassische Disco fallen, mit allem was das an Sounds und Melodieüberschwang bedeutet und dazu wird in einer so albernen Früh-80er-Art gesungen, dass man am Ende wirklich nicht mehr weiß, ob das eine neue Platte ist, oder ein unerwartet ausgegrabener Klassiker. Mir ist die Präsenz der Gitarre und die viel zu nah an den Originalen gehaltenen Synths aber auch schnell zuviel, und selbst im Dub Mix wirkt es etwas überpoppig. Disco-Afficionados dürften das anders sehen. bleed Pär Grindvik - The Planets [Stockholm LTD/029 ] Auf der A-Seite geht es in einem so ausgiebigdie Weite genießenden, friedlich durch die Sterne eiernden Sound los, dass man noch extra mal nachsieht, ob man wirklich auf einer Stockholm Ltd. ist. Grandioses Stück, das weit mehr ist als ein Intro für das folgende Gewitter. Irgendwie mag ich nach und nach diese fast ambienten Stücke von Grindvik, der ja wirklich herausragend loshämmern kann, doch lieber. Auf der Rückseite dann perfekt konstruierte Technomonster der reduzierteren Art, die natürlich viel von der abstrakten Eleganz früher Robert-Hood-Tracks haben, und ein weitläufiges Detroitstück findet sich am Ende auch noch ein. Sehr schöne EP, die sich ihr weißes Vinyl mehr als verdient hat. bleed Baldo - Choosing Time [Subwax E-X-C/1204 - WAS] Elegische Housetracks mit ultrabreiten Synths, sehr klassischen Drumsounds, lethargischen Stimmen, flausigen Melodien und diesem über allem hängenden Gefühl, dass man Housemusik manchmal einfach bei aller Oldschool zu einem großen Kino werden lassen muss. Denn es wird hier nicht kantig, ruff oder irgendwie komprimiert gearbeitet, sondern sehr ausufernd schwelgerisch in den Sounds genüsslich alles fließen gelassen. Eine EP, die einem die Ohren so voll säuselt, dass man am Ende ganz butterweich in den Knien vom Sonnenuntergang in Atlantis in den Great Lakes träumt. bleed tINI - 4th Street [Supplement Facts/SFR040 - WAS] Unerwartet konzentriert auf den polternden Groove geht diese EP hier an den Start. Es vergeht viel Zeit, bis überhaupt mal etwas neben dem Groove passiert und wenn, ist es eher im Hintergrund, so dass man ständig das Gefühl hat, es komme noch was, es müsse noch etwas kommen oder vielleicht auch, dass die Tür zum Studio ein wenig zu weit offen stand oder irgendein Filter nie geschlossen wurde. Eigentümliche Spannung. bleed V.A. - Polyrhythmic Series #3 [SVS Recordings/SVS003] Dunkle plockernde Tracks, die klingen wie das Blut einem in den Adern rauscht. Knistig, aber doch abgeschliffen wuchern die Tracks in ihrer eigenen Physis und wandeln über abenteuerliche Grooves die nicht immer nur Techno sein

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SINGLES müssen, sondern auch mal klingen können wie eine Freejazzband auf Kreuzfahrt. Kantige Musik, die ihre avisierte Polyrhythmic eher wie ein Stolpern absolviert, dabei aber immer überzeugen kann. bleed Headless Ghost - Out EP [Tamed Musiq/005 - Clone] Ist tatsächlich, nicht nur weil ein Track namens "Africa" drauf ist, etwas, hm, wie sagt man, Rufer in der Wüste mässiger. "OUT" ruft lange. Das ist das Intro. Dann geht es aber smooth rockend mit deepem Houseflair weiter. "Africa" bezieht sich vermutlich auf die uhuhuhu-Vocals, denn ansonsten ist es ein brummiger Track, der vor allem von seiner irre breiten Bassline lebt hinter der die knuffigen Holzinstumenteloops irgendwie zurückstehen und erst im Break klar wird wie grandios verworren das ganze eigentlich laufen kann, wenn man ihm endlich Auslauf lässt. "Roller" ist dann der offensichtlich souligste Housetrack, der aber doch mit einer Killerbassline kommt, die dem Track einen Hauch von Detroitinstinkt vermittelt. bleed Van Bonn - Baumgärtner [Telrae/019 - Decks] Zwei extrem zurückgenommene Dubtracks, deren Dichte vom ersten Moment an in ganz eigenen Dimensionen digitaler Klarheit schimmert. Musik, die einen auf einen Ozean von Ruhe entführt, der unter der Oberfläche brummt und blitzt. Musik, die ganz und gar von ihren leichten Verschiebungen, von ihrem inneren Atem, von ihren Geheimnissen unter der eigenen Spannung lebt. Eine dieser Dubplatten, die danach schreit, das nächste Gewitter einzuleiten und mittendrin die eigene Seele mit der Naturgewalt in Einklang zu bringen. www.salz-music.com bleed Teengirl Fantasy - Nun [This Is Music/THISIM045] Mit ihrem zweiten Album "Tracer" schaffen Nick Weiss und Logan Takahashi den Sprung vom auf der Brust recht schwachen, schwurbeligen Hobby-Projekt hin zum ambitionierter Eigenständigkeit, für die man nicht mehr auf Samples zurückgriff, sondern eine Reihe namenhafter Stimmenprominenz um sich scharte. Die neue EP "Nun" kommt gänzlich ohne Vocals aus. Stattdessen hat sich das Duo komplett auf schickes Sounddesign konzentriert. "Eric" schimmert dezent vor sich hin, während der Titeltrack flatternde Synthies, ratternde Snare-Rolls und atonals Glockespiel verein. Die beiden Bonus-Beats hätte man sich bei dem schwachen Leftover-Niveau allerdings sparen können, jw V.A. No Dough, Just Cookies Part 2 [Times Are Ruff/004 - Decks] Pete Bandit, Awanto 3, Junktion und Times Are Ruff liefern hier ein funkiges Fest nach dem anderen. Mal housig soulig und voller knatternder Energie in ihrem inneren Stakkato,

mal mit eher deepen aber ebenso knalligen Nuancen auf das Fundamentale beschränkt, mal unverblümt in den 70ern ein Slomobad nehmend und mal einfach die Grooves genießend. Locker und sehr klassisch, aber mit einem ungebrochenen Gefühl für den kickenden Killersound in House. bleed Black Loops - Rollin' EP [Toytonics/014] Immer wieder extrem funky, kickt auch diese Toytonics vom ersten Moment an so erfrischend swingend und mit allen Oldschoolmomenten, die man so braucht. Deepe Stimme, etwas anrüchig und dreist, flatternd lockere Beats, die perfekte Rimshotbreaks genau so kennen wie stampfige Hooklines aus Orgeln und Subbass. Drei perfekte Tracks irgendwo im Universum zwischen Garage und House, das hier vor Funk nur so überquillt. Dazu zwei passende Remixe von S.K.A.M. und Gropina. Hits. Ach. Solche Hits. bleed Bodin & Jacob Action E.P. [Traffic/002 - DBH] Sehr schöne EP, die auf dem Titeltrack mit einer erhabenen kurzen Frauenstimme, die immer wieder "Action" sagt, den Raum eröffnet für eine Chicagostimmung, die in gewisser Weise abgehoben bodenlos schwebend bleibt, aber doch einen sehr subtilen Funk verströmt. Zart und voller Geheimnisse setzt sich die EP fort mit einem Sound, der mich ein wenig an die frühe Rework-Ästhetik erinnert. Jammend, swingend, abstrakt und immer mit sehr losgelösten Stimmen. Eine EP voller feinfühligem Funk und lässigster Deepness. bleed Rick Wade - Night Logic [Unclear/008 - Decks] Sehr vollmundig sind die neuen Tracks von Rick Wade. Satte vielschichtige Housetracks mit einer Dichte an Samples, die dennoch ganz geschlossen wirkt. Smooth im Funk und klassisch in ihrem Soul, sind die Stücke immer irgendwie bezaubernd und so viel stärker von den 70ern beeinflusst, als vieles, was man heutzutage als House hört, so dass man sie einfach lieben muss. Die Remixer sind blumig, aber im Sound völlig anders als die klassischen Grooves von Wade. Eigenwillige Mischung, bei der man ein wenig die Vermutung hat, die Verehrung der Italiener für Rick Wade fußt auf einer Art gutwilligem Misverständnis. bleed Alland Byallo - Crepuscular [Upon You/UY077 - WAS] Urlaub von Bad Animal? Die beiden Tracks sind, wie bei dem Titel nicht anders zu erwarten, sehr stimmungsvoll, eher ruhig lodernd, als auf Angriff getrimmt und wirken trotz ihres gedämpft nuschelnden Sounds genau so, wie man sich die Dämmerung vorstellt. Als ein mächtig schiebendes Ungeheuer, das doch so nah bleibt. Dave Aju schnappt sich den Track für eine sinnlich explodierende Nummer, die für ihn fast untypisch nicht auf dem Funk, sondern auf der Breite der Sounds beruht und dabei den Geheimnissen des Originals gerecht wird. Sehr deep und unerwartet detroitig für Upon You bislang. Auf der Rückseite geht Byallo dann aber doch mit einem trompetenartigen Pathos auf "Blindsided" ins Rennen und landet überraschenderweise mittendrin plötzlich im jazzigen Swing vertrackter Housepianos, die hier wirken, als würde doch noch mal Jazz als Urahne von Techno beschwört. Marco Resmann remixt das etwas entkernter,

aber bewahrt dennoch dieses die ganze EP bestimmende fiebrige Swingen der Hihats. Eine Platte, die man genießen muss. bleed Pittsburgh Track Authority - Haywire EP [Work Them Records/010] Keine Frage, die gehen authoritativ ran. Vom ersten Moment an hat diese Platte etwas balearisch swingendes, auch wenn das Tempo nicht ganz so relaxt ist, die Tracks haben eine innere Spannung, strahlen in ihren breit aufgefächerten Synthsounds, lassen die Grooves eher im Hintergrund wirken und erzählen immer eine Geschichte mit ihren Hooklines, die sich ständig in den Vordergrund drängeln wollen. Merkwürdigerweise ist der Titeltrack eher ein Drumworkout. Eine Hymne an Oldschool-Tools. bleed

Nerk_Kirn - Remnant Hugo [V Records/020] Die beiden verlegen sich schon mit den ersten Tönen auf die dunkleren Stimmungen ihrer Synth und knabbern genüsslich an den Sounds herum, lassen es in einer Stimmung die eher plastillin wirkt zu einem Gären der Klänge kommen, sich von ihnen leicht treiben und wirken am Ende doch, bei aller Nähe, nicht wirklich minimal, nicht wirklich experimentell, aber voller knuffiger Energie. bleed Avatism - Adamant Remixes [Vakant - WAS] Lake People, Mind Against, Alex Smoke und Sons Of Tiki scheinen die Tracks von Avatism sehr zu genießen. Der blumig weitläufige glockenhafte Remix von Mind Against für "Mastodon" steigt perfekt ein und lässt einen auf trancigen Pfaden langsam auf eine gewaltige Interpretation der perlenden Basslines von Avatism zulaufen, der fast schon zur Ravehymne wird. Lake People inszenieren eine breitwandige Oldschoolelegie aus "Not Everything Is Lost" und kicken bei aller Besinnung immens, Alex Smoke knuffelt sich durch die Sounds von "Behind The Hourglass" mit einem abstrakt shuffelnden Swing, und Sons Of Tiki runden die EP ab mit einer straight swingenden Housevariation von "Blackened". Brilliante Tracks durch und durch. www.vakant.net bleed Herbie. and Thieves - Paramour EP [Van Liebling Recordings] Irgendwie immer gut, diese ausgehölt schlauchig klingenden Synths in tragischen Melodien. "Always The Same" verzweifelt nicht an sich selbst, sondern schwingt sich die eigene Größe schnippisch wie einen Schal aus Wolken um den Hals und stolziert in die Nacht. Ein Stück dem man folgen möchte. Muss. Das

einen an die Hand nimmt und die Nacht über nicht mehr loslässt. Ein Freund. Auch einer wie wir. Das im Sound verspieltere "And There Ain't" wirkt dagegen trotz aller samtigen Sounds schon fast aufrührerisch. Schöne Platte durch und durch. bleed Marco Resmann - Life About To Change Ep [Watergate Records/014 - WAS] Stimmungsvoll eingeorgelt, ist der Titeltrack wieder ein Mal der Versuch, die Deephousewelt auf einen Hit zu bringen. Mit den Vocals von RAD ist uns das einen Hauch zu eindeutig, und wir hätten uns von dem schön schleppend smooth detroitigen Track wirklich auch noch ein Instrumental gewünscht, denn der Popeffekt macht hier doch etwas von der Subtilität der Sounds kaputt. "Thursdate" zeigt dann weit mehr, wohin Resmann eigentlich will. Auf diesen Nullpunkt der Houseklassiker zu. Dort, wo Ame und Dixon gelegentlich weilen. Und das gelingt ihm bis in den überragend kitschig trancigen Break über der Welt brummiger Bässe und Orgeln eigentlich auch perfekt. Etwas tragisch vielleicht. Auf der Rückseite ein Remix von Steve Bug, der dem Track natürlich etwas mehr direkten Funk einhaucht und aus den Oldschoolmomenten seiner Grooves etwas mehr Gewalt herausholt, die mir aber doch einen Hauch zu gewollt wirkt. www.water-gate.de bleed Mike Broers Freex [Virgo Rising/VR-003 - DBH] Rasanter technoider Funk, der mich an die frühen Zeiten von Detroit erinnert, als alles, was später so als klassisches Genre fixiert wurde, noch völlig im Fluss war. "Freex" kontert mit galaktischen Synths, Breakbeats und einem niederschmetternd wuchtigen Killerinstinkt, der auf "Klankii" noch von einem ratternden Maschinengewehracidsound voller unerwarteter Breaks flankiert wird und alles in einen Sog purer Technourgesteinsphantasien verwandelt. Der MrskRemix ist etwas zurückgezogener, aber auf "Rushnfm" geht es mit dem rasanten Feuer von Broers wieder weiter. Banger durch und durch. bleed V.A. [Waterkant Souvenirs/WS 002 - Decks] Der Track von Albee, "Yeah Ollie!", segelt in einer extrem relaxten Erhabenheit vor sich hin, der mich einen Hauch an frühe ozeanische Drum-and-Bass-Tracks erinnert, auch wenn der Groove hier natürlich voll und ganz Begleitautomatikhouse ist. Sehr schöne poppige Melodien, gehauchte Stimmen, eine Atmosphäre, die voller spielerischer Momente dennoch sehr deep bleibt und in ihrem Tänzeln zwischen Popmusik und Deepness eine perfekte Balance findet. Einer dieser Ausnahmetracks, die man von den popsüchtigen Kölnern in ihren Hochzeiten erwartet hätte. Die Rückseite bleibt ebenso wundervoll und subtil und zeigt auf zwei sehr smoothen dicht dampfenden Tracks, dass Waterkant Souvenirs eins der ganz großen Labels Hamburgs werden sollte. bleed

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IM PRESSUM 178 DE:BUG Magazin für elektronische Lebensaspekte Schwedter Straße 8-9, Haus 9a, 10119 Berlin E-Mail Redaktion: debug@de-bug.de Tel: 030.28384458 Fax: 030.28384459 V.i.S.d.P: Sascha Kösch Redaktion: Timo Feldhaus (feldhaus@de-bug.de), Jan Wehn (jan.wehn@de-bug.de), Felix Knoke (felix.knoke@de-bug.de), Sascha Kösch (sascha.koesch@de-bug.de) Bildredaktion: Lars Hammerschmidt (lars.hammerschmidt@de-bug.de) Review-Lektorat: Tilman Beilfuss

Redaktions-Praktikanten: Wenzel Burmeier (wenzel.b@gmx.net), Raphael Hofman (dj-bloom@live.de) Redaktion Games: Florian Brauer (budjonny@de-bug.de) Texte: Anton Waldt (anton.waldt@de-bug.de), Sascha Kösch (sascha.koesch@de-bug.de), Timo Feldhaus (feldhaus@de-bug.de), Jan Wehn (jan.wehn@de-bug.de), Felix Knoke (felix.knoke@de-bug.de), Benjamin Weiss (nerk@de-bug.de), Wenzel Burmeier (wenzel.b@gmx.net), Christian Blumberg (christian.blumberg@yahoo.de), Max Link (maxx.link@gmail.com), Sven von Thülen (sven@de-bug.de), Ji-Hun Kim (ji-hun@de-bug.de), Moritz Scheper (moritzscheper@gmx.de), Peter Kirn (peter@createdigitalmedia.net)

Fotos: Julian Stratenschulte/dpa , Benjamin Weiss, Peter Kirn, Lars Hammerschmidt, Harry Griffin, Ana Bidart, Russell Hobbs, Henry Hargreaves, Fabian Oefner, Georg Petermichl, Maico Akiba

Artdirektion: Lars Hammerschmidt (lars.hammerschmidt@de-bug.de) Axel Springer Vertriebsservice GmbH Tel. 040.34724041

Aboservice: Bianca Heuser E-Mail: abo@de-bug.de

Illustrationen: Anna Feldkamp /Blica, Harthorst, Mike Pelletier, Alex Lukas, Alexis Malbert, Jonathan Zawada

Druck: Frank GmbH & Co. KG, 24211 Preetz

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Marketing, Anzeigenleitung: Mari Lippok, marketing@de-bug.de Tel: 030.28384457

Herausgeber: Debug Verlags-Gesellschaft mbH Schwedter Str. 8, Haus 9a 10119 Berlin Tel.030.28384485 Fax. 030.28384459

Reviews: Sascha Kösch as bleed, Jan Wehn as jw, Andreas Brüning as asb, Christoph Jacke as cj, Tobi Kirsch as tobi, Multipara as multipara, Bastian Thüne as bth, Tim Caspar Boehme as tcb, Christian Blumberg as blumberg, Christian Kinkel as ck, Sebastian Weiß as weiß, Wenzel Burmeier as wzl

Andreas Ernst, andreas.ernst@de-bug.de, Tel: 030.28388892 Es gilt die in den Mediadaten 2013 ausgewiesene Anzeigenpreisliste.

Eigenvertrieb (Plattenläden): Tel: 030.28384485

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177 — DE:BUG PRÄSENTIERT

!6. & !7.12. Dortmund, Dortmunder U

Next Level Conference

Die amerikanische Wahl-Schweizerin Erika Stucky ist ein Mensch gewordenes Naturereignis. Mit ihrer Stimme bewegt sich die Tochter von kalifornischen Hippies irgendwo zwischen Pop und Dada, zwischen Jazz, Folklore und Wahnsinn. Pünktlich zum ersten Tag des neuen Jahres bringt die geborene Entertainerin, Sängerin und Akkordeonistin ihr neuestes Band-Projekt "Black Widow" mit. Und auch ihren absurden Humor, der sich in abwechslungsreichen Arrangements, ihrem ungewöhnlich variablen Gesang und kleinen Zitaten manifestiert, die wie Wetterleuchten am Horizont aufscheinen. Was sie selbst dazu sagt? "Für mich ist es total stimmig, dass ich manchmal Schweinsohren trage, auch wenn das auf andere völlig absurd wirken mag - was ich mache, entsteht aus einem intuitiven Prozess, daher ergibt es für mich absolut Sinn." Mit in den fantastischen Rahmen der Kölner Philharmonie bringt sie ein Mini-Akkordeon, ein paar Trash-Movies und ihre unverwechselbare Stimme. Dabei wird sie begleitet von David Coulter (Klavier, Multiinstrumentalist), Terry Edwards (Bass, Saxophon, Multiinstrumentalist) und Michael Blair (Schlagzeug, Multiinstrumentalist).

Es gibt noch viel zu und über Computerspiele zu sagen - und Computerspiele selbst haben auch noch viel Spielraum für Ausdruck. Also: Ran an die Tasten und Gamepads und diese Geschichte voranbringen, fordert die Next Level Conference in Dortmund und packt einfach alles in ein extradichtes Programm. In nur zwei Tagen öffnen im Halbstundentakt Ausstellungen, Vorträge, Diskussionen, Workshops und Performances. Es geht um Spiele, Techniken und Technologien, um Kunst und Unterhaltung, Bildung und Wirtschaft. Die Demoszene und ihre Echtzeit-Programmierwerke haben einen extragroßen Platz eingeräumt bekommen, immerhin loten sie - viel länger und manchmal interessanter als Spiele - die Verhältnisse von technischer Entwicklung, Kreativität und Kunst aus, jedoch fast ganz ohne KunstDiskurs. Games geht es so ähnlich, immerhin ist ja auch schwer zu verstehen, was Computerspiele nun von anderen Spielen abhebt und wo überhaupt Grenzen zu ziehen sind: Bei Straßenspielen, die Videospiel-Mechanismen adaptieren? Beim Diskurs um die Räume, Zukünfte, Gender-Formen in Spielen? Wie verhalten sich Theater und Gaming, wie Gamedesign und konventionelles Design? Sicherlich wird die Next Level Conference keine endgültigen Antworten auf die tausend selbstgestellten Fragen liefern, aber sie wird das voranbringen, was sich dringlicher als die Games entwickeln muss: eine interessante Gesprächskultur über Games, immerhin sind die ja auch nur Ausdruck eines Diskurses. Die Next Level Conference 2%13 findet im Dortmunder U statt, dem Zentrum für Kunst und Kreativität.

koelner-philharmonie.de

nextlevel-conference.org

!1.!1.14 Köln, Kölner Philharmonie

Neujahrskonzert mit Erika Stucky

3%.11. Berlin, Haus der Berliner Festspiele

Netzkultur Als erster Teil der Netztriennale, die Ende Dezember und Ende Januar am gleichen Ort fortgeführt wird, ist Netzkultur kein Treffen für Netzkritik, sondern eine Bestandsaufnahme unseres Verhaltens zu Technik. An einem Tag zwischen Workshops, Vorlesungen und Konzerten wird das Verhältnis von Mensch, Maschine und Digitalität jenseits der Dichotomien untersucht. Beim ersten Abend mit dabei: Juli Zeh gegen die Vorstellung digitaler Naturgewalten, Markus Schubert zur Diskussion und dem Hands-On mit 3D-Druckern, eine Twitter-Sprechstunde mit Stephan Porombka von der UdK, ein Remix-Workshop, Cryptoparty, Blogmachen, Konzert und Diskussion mit Holger Hiller von (ehemals) Palais Schaumburg, Vortrag von Frank Schirrmacher und eine große Runde rings um das Thema "Computer und Kunst: wer programmiert wen?" mit Ranga Yogeshwar, Helena Hauff, Petra Löffler, Ralf Bremer und Stephan Thiel. Und den Ausklang liefert Daniela La Luz mit einem Liveset gefolgt von unserem hauseigenen Bleed. netzkultur.berlinerfestspiele.de

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178 — FÜR EIN BESSERES MORGEN

TEXT & ILLU HARTHORST.DE

UNFUCK THE FUTURE, UNFUCK YOUR LIFE, Körperjäger auf Stasiheroin hetzen hunderttausend Wegwerfküken durch die Angstfabrik und kein Hahn kräht. Wenn dagegen, nur mal so zum Beispiel, ein Busspurbetreuer in Nudepumps volle Kanne aus Versehen einem Pornoran auf die Schwanzfedern steigt, da - ja, da! - springen die Achtsamkeitsforscher aber sowas von prompt im Quadrat! Weil sich die Leute von heute eben nur noch für Luxusproblemgeschichten interessieren. Wobei, vielleicht, doch kein optimales Beispiel, von wegen Pornoran ja wirklich ein herzallerliebster Piepmatz, allein wenn es, wie gerade neulich wieder heißt: Schau, Schatz, es wird Winter, die Pornorane fliegen in den Süden! Da kann kein Auge trocken bleiben. Außer vielleicht bei Körperjägern auf Stasiheroin, aber die sind ja nun auch wirklich die gemeinsten Hundsfötter. Excuse me: Hundsfötter? Guter Einwand, aber Hundsfötter ist tatsächlich der korrekte Plural von Hundsfott, neulich erst lange und breite Diskussion in der Warteschlange vor der Hundewaschanlage drüber gehabt, von wegen: Hundsfotts oder Hundsfotte? Weder noch, weil nämlich Smarthole holt Assphone raus und schaut Wikipedia, Fazit: Hundsfötter! Wobei, wahrscheinlich, auch nicht zielführend fürs Thema, weil Warteschlange vor der Hundewaschanlage, ihr wisst schon: Nicht unbedingt ein Hotspot übergeistigen Fliegertums. Natürlich auch hauptsächlich Hunds-related, die topics da, also Wedelgefühle: positiv oder negativ? (Die Schwanzrichtung ist entscheidend!) Gerne auch: Schweinehund: Waschanlagenfest? (Ein Frage der Überwindung!) Und natürlich, immer wieder: Eierlecken, warum nur? (Weil können, eh klar). Jedenfalls dann doch lieber Wissensdusche als Hundewaschanlage, da geht es wenigstens um Fakten der Wahrheit, wenn auch in vielen Bereichen nur eineiige Zwillinge neues Wissen liefern können, weshalb

ja Wissenschaftler am liebsten mit eineiigen Zwillingen arbeiten, auch wenn auch das bedeutet: Schon wieder Warteschlange. Bis die Zwillinge aufkreuzen und es endlich wieder heißt: OK, Eineiige: was gibt's Neues? Dann aber gut Ohren spitzen, was die Zwillinge nicht wieder alles rausgefunden haben! Zum Beispiel: Fettsucht ist Genfrage, Erziehung und soziales Umfeld weniger wichtig als bisher angenommen! Da geht wissenschaftlicherseits was weiter, gerade erst neulich beim Bionesen drüber diskutiert, von wegen Fettrate in der Jubelpfanne und dann Kameljoghurt oder einfach eine Runde Teebeuteln? Also so zur Unterstützung der Ausleitungsprozesse, eh klar, weil: Kann man ja nicht ewig drauf warten, denn: Des Teufels liebstes Möbelstück ist die lange Bank. Was dann übrigens ausnahmsweise nicht von den Eineiigen kommt, sondern vom neulich Internetgucken, nämlich ploppte plötzlich ein Banner auf mit Slogan drauf: Ihr könnt nicht verbieten, was ihr nicht versteht! Was eine Datenschützerparole darstellt oder darstellen soll, denn: Von wegen nicht verbieten können! Weil Datenschützer im Transitbereich bei Chips und NearWater-Getränke wegsperren bis sie arscheckig im Quadrat springen, dazu muss man gar nichts verstanden haben! Später kommt dann irgendein Geheimtyp und kündigt die öffentliche Auspeitschung von Schmuddelbloggern an, von wegen chinesische Bügeleisen mit Malware-Chips, die offene WiFis verseucht haben. Da können sich die Datenschützer so viele Computerzäpfchen reinschieben, wie sie wollen, und so oft an die Anstupsnase touchen, wie sie lustig sind, am Ende heißt es so oder so: Online, tot oder lebendig! Für ein besseres Morgen: Unfuck the Future, unfuck your Life, Schippi Schippi Dingdong! Und, selbstverständlich, nicht drauf vergessen: Neulich my ass!

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Wenn wir nach Hause kommen, beachten wir die Post auf dem Tisch und das Geschirr in der Spüle nicht. Wir blenden die noch nicht zusammengelegte Wäsche aus und kümmern uns auch nicht um die seltsamen Geräusche, die der Kühlschrank von sich gibt. Denn wir sind zu Hause. Und zu Hause

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