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deep sea, baby! wasser, stoff und neue kleider Text timo feldhaus

"This season’s must-have look is ALL ABOUT THE SEA!!!" So stand es kürzlich in einer englischen Popzeitschrift. Wasser ist das gängigste Element auf der Erde, wie auch im menschlichen Körper, aber wieso soll das Gewöhnlichste denn Träger einer Mode sein? Zwei Trendforscherinnen bereiten gerade ihren Einbaum für eine Bootstour über einen schlierenden Flussarm des Amazonasbeckens. Ihre Unterhaltung berührt sanft das Thema: "Das Organische steht im Mittelpunkt des Interesses aktueller Aufmerksamkeitssüchtiger." Die Assistentin nickt begeistert und antwortet: "Der moderne Mensch möchte zurück zur Natur, er trägt Rastas und regenbogenfarbene Augenbrauen, das Internet ist voller Wasser." Sie tippt nervös mit Bio-Sandalen eines Prêtà-porter-Labels auf den Holzboden des Schiffchens und fügt an: "Hippe Rapmusiker beschreiben ihre Musik als Water Rap, für das von Clams Casino produzierte neuesoterische Sound-Gerüst des spiritistischen Rappers und Unity-Preachers Lil B wurde gar die Umschreibung des Cloud Rap gefunden." "JA, aber irgendwie hat sich das auch schon wieder erledigt", entgegnet die Chefin ein wenig traurig. "Dieses spiritualistisch-organische Wasserding ist doch so tot wie Witch House." Sie stößt das Boot mit einem langen dünnen Speer vom Ufer ab. "Ist irgendwo in dem nomadischen Rucksack von Grimes verloren gegangen, die pfeifend durch die Straßen Brooklyns hüpft und auf riesigen Kopfhörern Stücke der New-Age-Musikerin Enya hört." "Ich finde Grimes cool." "Ja, ich doch auch. Aber spätestens mit dem zuletzt ausgerufenen Micro-Trend Seapunk, deren Protagonistin sie war und bei dem der Ozean auf Tumblr-Blogs durchdekliniert und als türkiser Schimmer auf dem Kopf getragen wurde, ist das Thema den Bach runter." Metaphern der Evolution Kommen Sie noch mit? Weiß noch jemand was gemeint ist, wenn Digital Natives von sich als Aboriginal Futurist und Modern Nomad sprechen? Und ist das überhaupt wichtig? Wir glauben schon. Die Auslotung des ästhetischen Verhältnisses von Natur und Technik wabert in verschiedensten Ausprägungen in den Mainstream der Mode. Warum? Weil unser Planet fast kaputt ist? Oder einfach, weil es dem Trendzyklus von 15 Jahren entspricht, denn damals hat sich zuletzt eine Technogeneration auf dem Festival Nature One in den Armen gelegen. In unterschiedlichsten künstlerischen Feldern ist gerade von der Verschmelzung von Naturmotiven und Technikoptimismus zu hören. Wir wollen diesen Oberflächen nachgehen. Wir schreiben aus der Donnergrube der aktuellen Ästhetik auf die Tafeln der Stil-Geschichtsbücher, wir sind bald verflogen und werden doch viel länger bleiben. Vielleicht, weil die Welt uns diesmal braucht. Staunend schauen wir uns um: Glatte Haut taucht in den majestätischsten Austragungsort der Olympischen Spiele, die vor einem Jahr von Zaha Hadid entworfene Wassersportarena

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Aquatics Centre in London. Biomorphe Architektur für biotechnische Menschenkörper, der Fluss der Dinge. Auf einem Vortrag macht ein junger Netzkünstler der Formation Aids 3D darauf aufmerksam, dass unsere Computer von Sklaven hergestellt werden und Google-Suchanfragen eine nicht unbedeutende Menge CO2-Ausstoß produzieren. Wir lesen Philippe Descolas "Jenseits von Natur und Kultur", ein kosmologischer Rundumschlag, der die Borniertheit westlichen Denkens enthüllt. Wir blicken auf das neue Samsung-Handy Galaxy S III, "designed for humans" und beworben mit Naturmetaphern, bei dem ein Touch des Fingers wie ein Regentropfen auf die Oberfläche fällt. Wir sehen uns Clip Art von bunten Delfinen an, die durch Pyramiden springen und bestaunen die Trikots der französischen Nationalmannschaft, die nicht nur 23 % leichter sind als beim Vorgängermodell, sondern deren Auswärtsshorts aus 100 % Recycling-Polyester bestehen. Wir rätseln, ob die Avantgardemode der Berliner Designer Anntian aussieht wie das Internet in den 90er-Jahren oder einfach das aktuelle Heute in Kleiderform bringt. Wir tragen immer noch diese seltsamen Laufschuhe. Nirgendwo treffen sich die Tropen des Wilden mit dem DomestiziertTechnischen drastischer als am Hi-Tech-Sneaker. Warum tragen Modemenschen diese Barfuß-Schuhe, die sich fast auflösen sollen am Fuß, die, wie ein Wunderwerk der Wissenschaft, nur dazu da sein sollen, nicht mehr da zu sein?

Natur und Kultur unter dem Schmierstoff Technik zusammenzudenken, bedeutet aus dem jahrelang bestimmenden Modus der "Retromania" zu springen. Irgendwie Internet Die Trendscout-Frauen paddeln sachte durch den tropischen Regenwald und kommen einfach nicht los von Witch House. Sie können es nicht fassen, und das macht ihnen Angst. Fast schreiend umkreisen sie das Thema wie Haifische ihre angeschlagene Beute: "Irgendwann im Jahre 2009 erfand jemand das Wort Witch House, hinter dem sich musikalische Spielarten von Goth und klandestine Schamanenpsychedelia verbergen, aber auch sakrale, geisterhafte Sound-Flächen, denen man beim Zerfließen zuhören kann." "JA, dies führte zu immer neuen Ausformungen wie Ghost Drone, Zombie Rave, Drag, Chillwave und eben Seapunk." Ihr Gegenüber rückt das leicht verblichene Supreme-Cappy zurecht und spricht, sich selbst zunickend, gegen das laute Gezeter einiger

an Lianen herumspringenden Äffchen: "Wichtiger als die Musik im einzelnen ist aber doch, dass sich unter dieser Zuschreibung ein ästhetisches Amalgam bildete, das in der Folge durch seine klangliche wie visuelle Indifferenz auf alles gemünzt wurde, das der klassisch an Subkultur und Underground-Musikwissen geschulte Musikredakteur und schulmeisterliche Kulturkritiker nicht mehr einordnen konnte und wollte. Alles was irgendwie trashig und irgendwie Internet war. Als Scharnier zwischen verschiedenen künstlerischen Welten und modisches Prinzip wird Witch House in der Popgeschichtsschreibung deshalb im Nachhall (sie schmunzelt) eine viel wichtigere Stellung einnehmen, als bisher angenommen. Mit dem Okkulten als thematischem Fokus war es ja schnell vorbei. Wesentlicher scheint mir das Moment der Gemeinschaft in Abgeschiedenheit, es ging ja auch darum, bei Google eben nicht zu finden zu sein, den Rückzug ins Außerweltliche, letztlich Besinnung, letztlich darum, weit ins Ätherische zu entschweben. Was vor drei Jahren in den Schlafzimmern von weltabgewandten Jugendlichen als atmosphärische Textur begann, schlägt sich nun auswuchsweise in die Büsche des Pop." Die beiden saugen still an ihren elektronischen Zigaretten, deren Trockeneisnebel elegant durch die Luft schlängelt, aber schnell verfliegt wie ein Modetrend. Ganzheitliches Ökosystem Ebenfalls 2009 erscheint der Film "Avatar – Aufbruch nach Pandora" und beschreibt die Reise eines Menschenhelden in eine fremde Kultur, vor dem hochtechnischen flimmernden Hintergrund einer psychedelischen Natur, die zwischen Regenwald und Unterwasserwelt changiert und in dem sich ein blaues, großes, schlankes Naturvolk per USB mit gigantischen Flugsaurieren verbindet, um gegen aufgeklärte Menschen zu kämpfen. Die Na'vi verkörpern das Stereotyp des edlen Wilden, pflegen naturreligiöse Bräuche und leben im Einklang mit ihrer Umwelt. Dieser erfolgreichste Film der Geschichte ist auch der wichtigste des neuen Jahrhunderts, nicht aufgrund seiner ökologisch-moralischen Botschaften, sicher auch nicht, weil er nach der Ikone der virtuellen Welt benannt ist, sondern weil er inhaltlich, stilistisch und in seinen Produktionsbedingungen die aktuellen Widersprüche und Übertragungen zwischen Natur und Technik auslotet. Cameron reist 4,4 Lichtjahre weiter, um vielsprachig über die akuten Widersprüche in diesem Feld zu erzählen. Der Kollege Dominikus Müller schreibt in der aktuellen Ausgabe des Kunstmagazins Frieze d/e: "Avatar arbeitete in Bild wie Filmtechnik an der Etablierung eines umschließenden, ganzheitlichen Ökosystems, das jenseits der Grenzen Mensch-Tier-Außerirdischer, Natur, Kultur und Technik angesiedelt ist. Und diese seltsame 'Technatur' und der mit ihr gekoppelte Erlebnis-Modus eines distanzlosen Eintauchens hat die Populärkultur seitdem nicht mehr verlassen." Man fände die Verbindung glatter Digitalästhetiken mit Naturmotiven in unzähligen TumblrBlogs. Alles voller Pflanzen, Mineralien, Kristallen und GifWasserfällen. In Katja Novitzkovas immer noch wegweisendem Buch "Post Internet Survival Guide 2010" wimmelt es von Digitalbearbeitungen von Dinosauriern und Inuits. Das Thema tröpfelt weltweit in Ausstellungsräume, etwa in der Schau "Notes on a New Nature" in New York oder "The Still Life of Vernacular Agents" in der Berliner Galerie Kraupa-Tuskany. Dort nimmt eine Reihe Künstler eine kritische Befragung der vermeintlichen "tribal naiveté" vor, sie wollen Naturobjekte wieder als Signale für menschliche Beziehungen verstanden wissen, etwa durch Lieder und

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