Lese!buch 01

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architektur

LESE!BUCH

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VON STUDENTEN FÜR STUDENTEN



DENKANSTÖSSE Architekturstudenten lesen nicht gerne und können nicht schreiben. Zwei Vorurteile, die wir im Wahlfach Lese!Buch widerlegen wollten. Entstanden ist ein Lesebuch von Studenten für Studenten. Zehn Masterstudentinnen und -studenten haben aus vorgegebenen Büchern Textstellen ausgewählt, sie kommentiert, in einen Zusammenhang gestellt und jeweils eine Einleitung dazu geschrieben. Die zehn Arbeiten sind als Lesebuch zusammengestellt und sollen v.a. den Studierenden aus den unteren Semestern helfen, einen Einstieg in architekturtheoretische Texte zu finden. Die ausgewählten Bücher zähle ich, ganz im Sinne eines subjektiven Kanons, zu den wichtigen Büchern der Architektur. Es handelt sich um Texte, die ich in meinen Einführungsvorlesungen gerne zitiere. Als Auszüge begleiten und vertiefen sie die abstrakten Raumübungen des 1. Jahreskurses. Lesen ist kein automatischer Prozess, sondern es geht darum, zwischen seinem eigenen Wissen, den eigenen Erfahrungen und dem geschriebenen Wort eine Beziehung herzustellen. Dies ist im weitesten Sinne mit Entwerfen vergleichbar. Um einen Text zu verstehen, „lesen wir nicht im einfachen Wortsinn, vielmehr konstruieren wir für ihn eine Bedeutung“, sagt Dr. Merlin C.Wittrock. Als Architekt konstruieren wir nicht nur Raum und Atmosphären, sondern wir geben unseren Räumen eine Bedeutung, einen Mehrwert, der weit über das Erfüllen seiner Funktion hinausgehen soll. Die Auseinandersetzung mit Texten verdeutlicht dies und belegt, dass sowohl Raum als auch Sprache einerseits zeitgebunden ist, die Denkansätze jedoch oft zeitunabhängig „zeitgemäß“ bleiben und als Denkanstoß von uns weitergedacht werden müssen.

„Man kann das Leben, diese einmalige Kutschenfahrt, nicht neu beginnen, wenn es vorüber ist, aber wenn man ein Buch in der Hand hält, ganz gleich, wie schwierig es zu verstehen ist, kann man am Schluss zum Anfang zurückkehren, vorn beginnen, um das Schwierige und damit das ganze Leben zu begreifen.“ Orhan Pamuk, Die weiße Festung

Ich danke Herrn Wurz von der Schreibberatung für seine Unterstützung und meiner Tutorin Alyssa Rau für das Redigieren und Zusammenstellen der Texte in Form unseres ersten Lesebuches. Prof. Myriam Gautschi HTWG Konstanz, Oktober 2012

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BÜCHERLISTE

AUSBLICKE AUF EINE ARCHITEKTUR. Le Corbusier

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LE CORBUSIERS WEGE WIE DAS ZAUBERWERK IN GANG GESETZT WIRD. Elisabeth Blum

50

gelesen und ausgewählt von Thomas Bertle

gelesen und ausgewählt von Emina Osmic

TRANSPARENZ. Colin Rowe & Robert Slutzky

gelesen und ausgewählt von Kathrin Stoye

74

KOMPLEXITÄT UND WIDERSPRUCH. Robert Venturi

106

ARCHITEKTUR DENKEN. Peter Zumthor

122

LOB DES SCHATTENS. Tanizaki Jun‘ichirō

140

DIE POETIK DES RAUMES. Gaston Bachelard

150

DAS DENKEN DES LEIBES UND DER ARCHITEKTONISCHE RAUM. Wolfgang Meisenheimer

166

ARCHITEKTUR UND ATMOSPHÄRE. Gernot Böhme

190

SINGENDE STEINE. Fernand Pouillon

214

gelesen und ausgewählt von Benjamin Mauritz

gelesen und ausgewählt von Johanna Brandstetter

gelesen und ausgewählt von Alyssa Rau

gelesen und ausgewählt von Jürgen Otterbach

gelesen und ausgewählt von Alyssa Rau

gelesen und ausgewählt von Sandra Römhild

gelesen und ausgewählt von Guntram Hermle

IMPRESSUM

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„Ein Buch lesen – für mich ist das das Erforschen e Universums Marguerite D


eines s.“ Duras


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Ausblick auf eine Architektur Le Corbusier 1922


r

gelesen und ausgewählt von Thomas Bertle

„Im Vorwort zur französischen Neuauflage vor fünfundzwanzig Jahren läßt Le Corbusier genießerisch die Kritik an seinem alten jungen wilden Buch Revue passieren. „Er ist ein Verrückter!“ haben sie gesagt? „Es leben die Extreme!“ rief er zurück. „Aber vielleicht ist es nicht einmal das schlechteste, noch mit siebzig angepöbelt zu werden.“ [...] „Ein großes Zeitalter ist angebrochen“, hatte er posaunt. „Ein neuer Geist ist in der Welt. Es gibt eine Fülle von Werken des neuen Geistes; man begegnet ihnen vor allem in der industriellen Produktion.“

Manfred Sack DIE ZEIT, 24.2.1984 Nr. 09

„Er ist ein Verrückter!“ Le Corbusier ist ein Verrückter wenn man sich von der allgemein gängigen Definition eines Verrückten freimacht. Er sieht die Dinge aus einer anderen, ver-rückten Perspektive und erweitert unseren Sichthorizont um unerwartete Betrachtungsweisen.

„Es leben die Extreme!“

„Es ist ein kristallklares und zugleich überschäumendes, ein knapp formuliertes, mit Wiederholungen durchsetztes Buch, ehrgeizig, überdreht und radikal, eifernd, arrogant und seherisch, ein Manifest.“ Manfred Sack DIE ZEIT, 24.2.1984 Nr. 09

Urteilssicher und anspruchsvoll, strukturiert und konsequent, philosophisch und ganzheitlich betrachtend, analysiert Le Corbusier das menschliche Tun und Sein. Jedoch immer ein bisschen ver-rückt. „Ein großes Zeitalter ist angebrochen“ Le Corbusier will unser Gefühl für Gestaltung in den Kontext der neuen Weltordnung zu Beginn des beginnenden 20sten Jahrhunderts setzen und dadurch den Blick fürs große Ganze schulen. Beim Lesen des Buches zeichnet sich zwischen den Zeilen ein Bild vom Mythos Le Corbusier.

NOTIZEN

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Obwohl Le Corbusier als einer der bedeutensten Vertreter der modernen Architektur des Industriezeitalters gilt, wandte er seinen Blick immer wieder zurück und gilt somit als ein streitlustiger Romantiker des Fortschritts

„Le Corbusiers Buch kann einen heute noch außer Atem bringen, obwohl sein Autor darin einen etwas platten Darwinismus predigt, „die Starken, die das Leben anpacken“, preist und alles, was alt ist und ihm (wie die Stadt seiner Zeit) veraltet scheint, niederreißen will, gleichgültig, ob Gefühle gekränkt oder zerstört werden. Es ist wie ein Gedankensturm, der einem beim Lesen entgegenheult, mit vielen geistreichen Bemerkungen, mit Platitüden, Irrtümern und Partien von großer Poesie. Das Buch hat einen Kern, der der Abnutzung standgehalten hat. Das ist der Ruf nach der Verbrüderung der modernen Ingenieurskunst mit der klassischen Schönheit. Er eröffnet den Ausblick auf eine (neue) Architektur.“ Manfred Sack DIE ZEIT, 24.2.1984 Nr. 09

Le Corbusier gliedert sein Buch „Ausblick auf eine Architektur“in sieben Kapitel, die er als Leitsätze formuliert. Diese führen als roter Faden durch das ganze Buch. Um ihre Bedeutung zu betonen stellt er sie als Art Zusammenfassung oder Inhaltsverzeichnis den Kapiteln voraus und gibt dadurch einen Überblick über die wesentlichen Aspekte des Buches. In den einzelnen Kapiteln führt er dann seine Gedanken zu seinen Thesen aus und richtet sie jeweils an verschiedene Adressaten. So spricht er im Kapitel „Augen die nicht sehen...“ von und mit den Bauherren,m im zweiten Kapitel richtet er seine Mahnungen jedoch „an die Herren Architekten“.

Dieses Buch verdeutlich die Bandbreite und Tiefe der theoretischen Auseinandersetzung Le Corbusiers und verankert sein Denken in einen zeitlichen Kontext. Er hat die industrielle Entwicklung als Anlass genommen, Gewohntes zu hinterfragen und in neue Zusammenhänge zu stellen. Dabei hat er bewusst provoziert, um Scheuklappen zu öffnen und neue Wege aufzuzeigen. Auch heute noch dient dieses Werk daher zum Verständnis seiner Bauten und städtbaulicher Entwürfe. Beim Lesen des Buches zeichnet sich zwischen den Zeilen ein Bild vom Mythos Le Corbusier.

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Am 6. Oktober 1887 wird Charles-Edouard Jeanneret-Gris (Le Corbusier) im Schweizerischen La Chaux-de-Fonds geboren. Im Jahr 1900 beginnt er seine Ausbildung zum Ziseleur und Gravierer an der Kunsthochschule École d`Art in seiner Heimatsstadt. Durch seine Lehrer Charles L‘Éplattenier kam Le Corbusier dann schliesslich auch zur Architektur. Auf zahlreiche Reisen beobachtet und malte er um so die Architektur des jeweiligen Ortes studierte. Nach seinem Umzug 1917 nach Paris gründeste er zusammen mit dem Maler Amédée Ozenfant und dem Dichter Paul Dermée die Zeitschrift „L`Esprit Nouveau“, in der er 1920 auch zum erstenmal sein Pseudonym verwendete. Als Autodidakt gründetet er mit seinem Vetter Pierre Jeanneret 1922 schließlich ein Architekturbüro. Mit dem „Modulor“, entwickelt er 1943 eine auf dem goldenen Schnitt basierende Maßeinheit, um Bauten ein menschliches Maß und eine Ordnung zu geben. Le Corbusier ertrinkt am 27. August 1965 am Cap Martin in Südfrankreich. Die nachfolgenden Leitsätze wurden von mir im Ganzen in das vorliegende Buch übernommen, da sie meiner Meinung nach einen sehr guten Überblick bieten und aufgrund ihrer Prägnanz und Wichtigkeit als Zusammenfassung dienen können.

LEITSÄTZE

INGENIEUR-ÄSTHETIK, BAUKUNST • lngenieur-Asthetik, Baukunst: beide im tiefsten Grunde dasselbe, eins aus demanderen folgend, das eine in voller Entfaltung, das andere in peinlicher Rückentwicklung. Der Ingenieur, beraten durch das Gesetz der Sparsamkeit und geleitet durch Berechnungen,versetzt uns in Einklang mit den Gesetzen des Universums. Er erreichtdie Harmonie. Der Architekt verwirklicht durch seine Handhabung der Formen eine Ordnung,die reine Schöpfung seines Geistes ist: mittels der Formen rührt er intensiv an unsere Sinne und erweckt unser Gefühl für die Gestaltung; die Zusammenhänge, die er herstellt, rufen in uns tiefen Widerhall hervor, er zeigt uns den Maßstab für eine Ordnung, die man als im Einklang mit der Weltordnung empfindet, er bestimmt mannigfache Bewegungen unseres Geistes und unseres Herzens: so wird die Schönheit uns Erlebnis.

NOTIZEN

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• DREI MAHNUNGEN AN DIE HERREN ARCHITEKTEN I. DER BAUKÖRPER Unsere Augen sind geschaffen, die Formen unter dem Licht zu sehen. Die primären Formen sind die schönen Formen, denn sie sind klar zu lesen. Die Architekten von heute verwirklichen keine einfachen Formen mehr. Die Ingenieure verwenden, da sie auf dem Wege der Berechnung vorgehen, geometrische Formen und befriedigen unsere Augen durch die Geometrie und unseren Geist durch die Mathematik. Ihre Werke sind au f dem Wege zur großen Kunst. II. DIE AUSSENHAUT Ein Baukörper wird von der Außenhaut umhüllt, einer Außenhaut, die sich den formbestimmenden und formerzeugenden Elementen des Baukörpers entsprechend gliedert und die Individualität dieses Baukörpers festlegt. Die Architekten haben heutzutage Angst, die Außenhaut dem Gesetz der Geometrie zu unterwerfen. Die großen Probleme der modernen Konstruktionen werden auf der Grundlage der Geometrie verwirklicht werden. Die Ingenieure gehorchen den strengen Forderungen eines unausweichlichen Programms und verwenden die formerzeugenden und formanzeigenden Elemente. Sie schaffen klare und eindrucksvolle Tatsachen der Formgestaltung. III. DER GRUNDRISS Aus dem Grundriß entsteht alles. Ohne Grundriß ist Unordnung, Willkür. Der Grundriß bedingt bereits die Wirkung auf die Sinne. Die großen Probleme von morgen, die von den Bedürfnissen der Gesamtheit diktiert werden, werfen die Frage des Grundrisses erneut auf. Das moderne Leben verlangt, ja fordert für das Haus und die Stadt einen neuen Grundriß.

• DIE MASS-REGLER Die naturgegebene Geburt der Baukunst. Die Verpflichtung zur Ordnung. Die Maß-Regler sind Selbstversicherung gegen die Willkür. Sie befriedigen den Geist. Die Maß-Regler sind Hilfsmittel und kein Rezept. Ihre Wahl und ihre Ausdrucksformen sind integraler Teil der schöpferischen Gestaltung der Architektur.

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AUGEN, DIE NICHT SEHEN... • DIE OZEANDAMPFER .I Ein großes Zeitalter ist angebrochen. Ein neuer Geist ist in der Welt. Es gibt eine Fülle von Werken des neuen Geistes; man begegnet ihnen vor allem in der industriellen Produktion. Die Architektur erstickt am alten Zopf. »Stile« sind Lüge. Der Stil ist eine Wesens-Einheit, die alle Werke einer Epoche durchdringt und aus einer fest umrissenen Geisteshaltung hervorgeht. Unsere Zeit prägt täglich ihren Stil. Leider sind unsere Augen noch nicht fähig, ihn zu erkennen. DIE FLUGZEUGE .II Das Flugzeug ist ein Ausleseprodukt hoher Qualität. Die Lehre, die uns das Flugzeug erteilt, liegt in der Logik, die Problemstellung und Verwirklichung diktierte. Das Problem des Hauses ist noch nicht gestellt worden. Die gegenwärtige Handhabung der Architektur entspricht nicht mehr unseren Bedürfnissen. Trotzdem gibt es Standardlösungen für die Wohnungsfrage. Die Mechanik trägt in sich den Auslese fördernden Faktor der Sparsamkeit. Das Haus ist eine Wohnmaschine. DIE AUTOS .III Um an das Problem der Perfektion heranzugehen, müssen Typen entwickelt werden. Der Parthenontempel ist ein an einem Typ entwickeltes Ausleseprodukt. Baukunst ist Typenbildung. Typen sind Sache der Logik, der Analyse, gewissenhaften Studiums; sie entstehenauf Grund eines richtig gestellten Problems. Die Erfahrung legt den Typ dann endgültig fest.

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• BAUKUNST I. DIE LEHRE ROMS Baukunst heißt mit rohen Stoffen Beziehungen herstellen, die uns anrühren. Baukunst steht jenseits von Nützlichkeits/ragen. Baukunst ist eine Frage des Gestaltens. Geist der Ordung, Einheit des Gestaltungswillens. Sinn für Zusammenhänge; die Baukunst schaltet mit Größen. Aus trägen Steinen baut die Leidenschaft ein Drama. II. DAS BLENDWERK DER GRUNDRISSE Der Grundriß wirkt vom Innen auf das Außen; das Äußere ist Resultat des Inneren. Die Elemente der Architektur sind Licht und Schatten, Mauer und Raum. Anordnung heißt Hierarchie der Ziele, Klassifizierung der Gestaltungsabsichten. Der Mensch sieht die Dinge der Architektur mit seinen Augen, die 1,70 Meter über dem Boden sind. Man kann nur Absichten verwirklichen wollen, die dem Auge erreichbar sind, nur Absichten verfolgen, die den Elementen der Baukunst Rechnung tragen. Verfolgt man Absichten, die nicht der Sprache der Architektur zugehören, dann verfällt man dem Blendwerk der Grundrisse, dann übertritt man aus Mangel an Vorstellungskraft oder aus Neigung zu eitlen Nichtigkeiten die Gesetze der Grundrißbildung. III. REINE SCHÖPFUNG DES GEISTES Die Durchbildung der Form ist der Prüfstein für den Architekten. Dieser erweist sich an ihr als Künstler oder als einfacher Ingenieur. Die Durchbildung der Form ist frei von jedem Zwang. Es handelt sich dabei nicht mehr um Herkommen oder Überlieferung, noch um konstruktive V erfahren, noch um Anpassung an die Bedürfnisse des Gebrauchs. Die Durchbildung der Form ist reine Schöpfung des Geistes; sie ruft den gestaltenden Künstler auf den Plan.

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HÄUSER IM SERIENBAU • Ein großes Zeitalter ist angebrochen. Ein neuer Geist ist in der Welt. Die Industrie, ungestüm wie ein Fluß, der seiner Bestimmung zustrebt, bringt uns die neuen Hilfsmittel, die unserer von dem neuen Geist erfüllten Epoche entsprechen. Das Gesetz der Sparsamkeit lenkt gebieterisch unser Tun und Denken. Das Problem des Hauses ist ein Problem unserer Zeit. Das Gleichgewicht der Gesellschaftsordnung hängt heute von seiner Lösung ab. Erste Pflicht der Architektur in einer Zeit der Erneuerung ist die Revision der geltenden Werte, die Revision der wesent-lichen Elemente des Hauses. Der Serienbau beruht auf Analyse und experimenteller Forschung. Die Großindustrie muß sich des Bauens annehmen und die einzelnen Bauelemente serienmäßig herstellen. Es gilt, die geistigen Voraussetzungen für den Serienbau zu schaffen. Die geistige Voraussetzung für die Herstellung von Häusern im Serienbau. Die geistige Voraussetzung für das Bewohnen von Serienhäusem. Die geistige Voraussetzung für den Entwurf von Serienhäusern. Wenn man aus seinem Herzen und Geist die starr gewordenen Vorstellungen vom Haus reißt und die Frage von einem kritischen und sachlichen Standpunkt aus ins Auge faßt, kommt man zwangsläufig zum Haus als Werkzeug, zum Typenhaus, das gesund ist (auch sittlich gesund) und ebenso schön wie die Werkzeuge der Arbeit, die unser Dasein begleiten. Schön außerdem dank der Beseelung, die künstlerischer Sinn strengen und reinen Werkzeugen vermitteln kann.

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BAUKUNST ODER REVOLUTION Auf allen Gebieten der Industrie hat man sich neue Probleme gestellt, und man hat geeignete Hilfsmittel geschaffen, sie zu lösen. Diese Tatsache bedeutet in bezug auf die Vergangenheit: Revolution. Im Bereich des Bauens hat man begonnen, Einzelteile serienmäßig herzustellen; man hat unter dem Druck neuer wirtschaftlicher Notwendigkeiten Einzel- und Großelemente geschaffen; es sind in Hinsicht auf die Einzelteile wie auf den Zusammenbau überzeugende Leistungen erreicht worden. In bezug auf die Vergangenheit ist das eine Revolution in den Methoden und der Größe der Bauvorhaben. Während sich die Geschichte der Architektur auf der Suche nach Abwandlungsmöglichkeiten des Baugefüges und des Dekors nur langsam im Laufe der Jahrhunderte entwickelt, haben Eisen und Eisenbeton innerhalb von nur fünfzig Jahren Errungenschaften gezeitigt, die eine große Beherrschung der Konstruktion und eine alle Gesetze umstürzende neue Baukunst ankündigen. In bezug auf die Vergangenheit heißt das, daß »Stile« keine Daseinsberechtigung mehr für uns haben, daß sich ein Zeitstil herausgearbeitet hat; die Revolution hat sich bereits vollzogen. * Bewußt oder unbewußt hat man diese Tatsachen zur Kenntnis genommen; bewußt oder unbewußt haben sich neue Bedürfnisse herausgebildet. Das Räderwerk der Gesellschaft ist ernstlich gestört, es schwankt zwischen einem Aufschwung von historischer Bedeutung und einer Katastrophe.

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Der Urinstinkt eines jeden Lebewesens ist darauf ausgerichtet, sich eine Ruhestätte zu schaffen. Die verschiedenen arbeitenden Klassen der Gesellschaft haben heute keine angemessene Ruhestätte mehr, weder der Arbeiter der Hand noch der des Geistes. So ist der Schlüssel für die Wiederherstellung des heute gestörten Gleichgewichts ein Bauproblem: Baukunst oder Revolution.

Nun folgen die von mir ausgewählten Textpassagen dienen lediglich dazu, verschiedene von ihm in den Leitsätzen formulierten Gedanken zu vertiefen. Es sind Textauszüge, die einen Abriss zur Vorgehens- und Denkweise von Le Corbusier geben. Die Auswahl stellt keine Kurzfassung des Orginalbuches dar. Dies wäre schon aufgrund des thematischen Umfangs und der Komplexität der jeweils analysierten Sachverhaltes ein von Anfang an zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Vielmehr sollen die Ausschnitte den Leser anregen, sich das Buch zu besorgen und es als Nachschlagewerk und Begleiter zu nutzen.

Frage der Ethik. Die Lüge ist unerträglich. Man geht an der Lüge zugrunde. Architektur ist eins der dringendsten Bedürfnisse des Menschen, denn immer ist das Haus das unabkömmlichste und erste Werkzeug gewesen, das er sich schuf. Das Werkzeug des Menschen steckt die Etappen der Zivilisation ab, Steinzeit, Bronzezeit, Zeitalters des Eisens. Das Werkzeug vervollkommet sich Schritt für Schritt; die Arbeit von Generationen summiert sich in ihm. Das Werkzeug ist der reine, unmittelbare Ausdruck des Fortschritts; das Werkzeug ist der Zwangsarbeiter des Menschen – es ist aber zugleich der Befreier Man wirft das alte Werkzeug zum alten Eisen: die Stutzflinte, die Feldschlange, die Droschke und

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die alt Lokomotive. Diese Geste ist ein Zeichen von Gesundheit, von moralischer Gesundheit und auch von Moral; man hat nicht das Recht, Schlechtes zu schaffen, einem schlechten Werkzeug zuliebe; man hat nicht das Recht, seine Kraft, Gesundheit und seinen Mut einem schlechten Werkzeug zuliebe zu vergeuden; man wirft es fort, man ersetzt es. [...] Seite 51 Der Befund ist klar. Auch Ingenieure betreiben Architektur, denn sie üben die aus den Naturgesetzen abgeleitete Berechnung, und ihre Werke lassen uns Harmonie empfinden. Es gibt also eine Ingenieur-Ästhetik, denn bei der Berechnung müssen die Glieder der Gleichung gesetzt werden, und dabei entscheidet der Geschmack. Sobald man jedoch von der Leidenschaft der Berechnung erfasst wird, befindet man sich in einem Zustand reiner Geistigkeit, und in diesem Zustand schlägt der Geschmack sichere Bahnen ein. Wir haben im Namen des Dampfschiffes, des Flugzeugs und des Autos unsere Stimmen erhoben für Gesundheit, Logik, Kühnheit, Harmonie und Vollkommenheit. Man verstehe uns wohl! Es sind Binsenwahrheiten. Und es ist keineswegs sinnlos, mit dem Aufräumen endlich zu beginnen. Es wird uns eine Freude sein, nach so vielen Silos, Fabriken, Maschinen und Wolkenkratzern über ARCHITEKTUR zu sprechen. Die ARCHITEKTUR ist eine künstlerische Tatsache, ein Phänomen innerer Bewegung; sie steht außerhalb von Konstruktionsfragen, jenseits von ihnen. Die reine Konstruktion gewährleistet die STABILITÄT; die Architektur ist da, um uns zu ERGREIFEN. Die Architektur ergreift, wenn das Werk einer Stimmgabel gleichdie Musik des Weltalls anschlägt, dessen Gesetze wir anerkennen

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und bewundern. Sobald gewisse Beziehungen walten, rührt uns das Werk an. Baukunst heißt »Zusammenhänge«, heißt »reine Schöpfung des Geistes«.

DREI MAHNUNGEN AN DIE HERREN ARCHITEKTEN DER BAUKÖRPER .I Unsere Augen sind geschaffen, die Formen unter dem Licht zu sehen. Die primären Formen sind die schönen Formen, denn sie sind klar zu lesen. Die Architekten von heute verwirklichen keine einfachen Formen mehr. Die Ingenieure verwenden, da sie auf dem Wege der Berechnung vorgehen, geometrische Formen und befriedigen unsere Augen durch die Geometrie und unseren Geist durch die Mathematik. Ihre Werke sind auf dem Wege zur großen Kunst. Baukunst hat nichts mit „Stilen“ zu schaffen. Die Stile Ludwigs XIV., XV., XVI. oder gotische Stil sind für die Architektur das, was eine Feder im Haar einer Frau ist, manchmal sehr hübsch, aber nicht immer, und mehr nicht. Die Architektur hat wichtigere Bestimmungen. Zur Erhabenheit fähig, rührt sie durch ihre Sachlichkeit unsere stärksten Urinstinkte an und wendet sich gleichzeitig durch ihre Abstraktion an unsere höchsten Fähigkeiten. Die architektonische Abstraktion hat das Ei gentümliche und Großartige an sich daß sie im rohen Tatsächlichen wurzelnd, dieses vergeistigt; denn die rohe Tatsächlichkeit ist nichts anderes als Stoffwerdung, als Symbol für die mögliche Idee. Die rohe Tatsächlichkeit wird nur durch die Ordnung, die man in sie hineinträgt, durchlässig für die Idee. Die Empfindungen, welche die Architektur in uns hervorruft, werden durch Seite 37

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unbestreitbare, unabweisbare, heute fast vergessene physische Bedingungen ausgelöst. ERSTE MAHNUNG: DER BAUKÖRPER Seite 38 Architektur ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Lichtversammelten Baukörper. Unsere Augen sind geschaffen, die Formen unter demLicht zu sehen: Lichter und Schatten enthüllen die Formen; die Würfel, Kegel, Kugeln, Zylinder oder die Pyramiden sind die großen primären Formen , die das Licht klar offenbart; ihr Bild erscheint uns rein und greifbar, eindeutig. Deshalb sind sie schöne Formen, die allerschönsten. Darüber ist sich jeder einig, das Kind, der Wilde und der Metaphysiker. Hierin liegt die Grundbedingung der bildenden Kunst. Die ägyptische, griechische oder römische Architektur ist Baukunst aus Prismen, Würfeln und Zylindern, Triedern oder Kugeln: die Pyramiden, der Tempel von Luksor, der Parthenontempel, das Kolosseum, die Villa Hadriani. Die gotische Architektur ist nicht auf der Grundlage von Kugeln, Kegeln oder Zylindern aufgebaut. Einzig das Schiff ist Ausdruck einer klaren Form, die jedoch als Geometrie zweiter Ordnung nur durch Zusammensetzung entsteht (Kreuzgewölbe). Daher verfügt eine Kathedrale nicht über die letzte Schönheit, und als Ersatz dafür suchen wir nach einer subjektiven Ordnung jenseits des Bildnerischen in ihr. Eine Kathedrale interessiert uns als geistvolle Lösung eines schwierigen Problems; es ist jedoch ein falsch gestelltes Problem, da es nicht von den großen primären Formen ausgeht. Die Kathedrale ist kein Werk der bildnerischen Kunst; sie ist ein Drama: sie ist Kampf gegen die

Getreidesilo


Erdenschwere, ein Sinnenerlebnis gefühlsmäßiger Art. Die Pyramiden, die Türme von Babylon, die Tore von Samarkand, der Parthenontempel, das Kolosseum, das Pantheon, der Pont du Gard, die Hagia Sophia in Konstantinopel, die Moscheen von Stambul, der Turm zu Pisa, die Kuppeln Brunelleschis und Michelangelos, der Royal und das Hotel des Invalides in Paris - das ist Baukunst.Keine Baukunst ist der Bahnhof am Quai d‘Orsay, das Grand Palais in Paris. Die Architekten unserer Zeit haben sich in die unfruchtbaren Schnörkel ihrer Grundrisse verloren, in Laubwerk, Pilaster und Firstaufsätze, sie haben sich keinen Begriff von den baulichen Grundformen erworben. An der Ecole des Beaux-Arts hat man sie das nicht gelehrt. Ohne groß an Architektur zu denken, sondern ganz einfach geleitet durch die Ergebnisse der (aus den Gesetzen des Universums abgeleiteten) Berechnung und durch die schöpferische Idee von einem LEBENSFÄHIGEN ORGANISMUS, wenden die INGENIEURE von heute die baulichen Grundformen an; sie fügen sie den Regeln entsprechend zusammen und rufen so Architektur-Empfindungen in uns hervor; sie bringen das Menschenwerk mit der Weltordnung in Einklang. Man sehe sich die Silos und Fabriken aus Amerika, prachtvolle ERSTGEBURTEN der neuen Zeit. DIE AMERIKANISCHEN INGENIEURE ZERMALMEN MIT IHREN BERCHNUNGEN DIE STERBENDE ARCHITEKTUR UNTER SICH.

NOTIZEN Getreidesilos und Elevatoren in Kanada

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II. DIE AUSSENHAUT Ein Baukörper wird von der Außenhaut umhüllt, einer Außenhaut, die sich den formbestimmenden und formerzeugenden Elementen des Baukörpers entsprechend gliedert und die Individualität dieses Baukörpers festlegt. Die Architekten haben heutzutage Angst, die Außenhaut dem Gesetz der Geometrie zu unterwerfen. Die großen Probleme der modernen Konstruktionen werden auf der Grundlage der Geometrie verwirklicht werden. Die Ingenieure gehorchen den strengen Forderungen eines unausweichlichen Programms und verwenden die formerzeugenden und formanzeigenden Elemente. Sie schaffen klare und eindrucksvolle Tatsachen der Formgestaltung. Da Architektur das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper ist, hat der Architekt die Aufgabe, die Außenhaut, welche jene Baukörper umhüllt, mit Leben zu erfüllen, ohne daß diese als Parasit den Baukörper aufzehrt oder aufsaugt. Einem Baukörper den vollen Glanz seiner Form unter dem Licht zu belassen, die Außenhaut dabei jedoch den häufig nützlichkeitsbedingten Erfordernissen angleichen, heißt bei der Gliederung der Außenhaut die formanzeigenden und formerzeugenden Elemente zu ihrem Recht kommen zu lassen.

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III. DER GRUNDRISS Aus dem Grundriß entsteht alles. Ohne Grundriß ist Unordnung, Willkür. Der Grundriß bedingt bereits die Wirkung auf die Sinne. Die großen Probleme von morgen, die von den Bedürfnissen der Gesamtheit diktiert werden, werfen die Frage des Grundrisses erneut auf. Das moderne Leben verlangt, ja fordert für das Haus und die Stadt einen neuen Grundriß.

Aussenhaut Getreidesilo


Baukunst hat mit »Stilen« nichts zu schaffen. Durch ihre Abstraktion ruft sie die höchsten Fähigkeiten auf den Plan. Die Abstraktion der Architektur hat das Eigentümliche und Großartige an sich, daß sie, im rohen Tatsächlichen wurzelnd, dieses vergeistigt. Die rohe Tatsächlichkeit wird nur durch die Ordnung, die man in sie hineinträgt, durchlässig für die Idee. Baukörper und Außenhaut sind die Elemente, in denen sich Baukunst offenbart. l Baukörper und Außenhaut werden bestimmt durch den Grundriß. Aus dem Grundriß entsteht alles. Wer keine Phantasie hat, dem ist nicht zu helfen!

Seite 49

DRITTE MAHNUNG: DER GRUNDRISS Seite 49 Aus dem Grundriß entsteht alles. Das Auge des Beschauers bewegt sich in einer Umgebung, die aus Straßen und Häusern beschaffen ist. Es ist dem Angriff der Baukörper ausgesetzt, die ringsherum aufgerichtet sind. Wenn diese Baukörper formal richtig gestaltet und nicht durch unzeitgemäße Veränderungen entwertet sind, wenn die Ordnung ihrer Gruppierung Ausdruck eines klaren Rhythmus ist und nicht eine zusammengewürfelte Anhäufung, wenn die Beziehungen zwischen Baukörper und Raum abgewogen sind, dann leitet das Auge dem Gehirn gleichgeordnete Reize weiter, und der Geist empfängt aus ihnen eine Befriedigung höherer Ordnung: das ist Baukunst. Im Raum beobachtet das Auge die vielfachen

NOTIZEN Typus des hinduistischen Tempels Hagia Sophia in Konstantinopel Tempel von Theben

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Oberflächen der Wände und der Gewölbe; Kuppeln bestimmen die Abstände; Gewölbe entfalten Oberflächen; die Pfeiler und die Wände sind nach einleuchtenden Maßstäben angelegt. Das gesamte Gefüge erhebt sich über der Basis und entwickelt sich nach einem Gesetz, das im Grundriß auf die Grundfläche geschrieben war: schöne Formen mannigfaltiger Art, Einheit des geometrischen Prinzips. Tiefwirkende Harmonie: dies heißt Baukunst. [...] Seite 50 Auf dem Grundriß baut sich alles auf. Ohne Grundriß ist weder Größe der Intention noch Größe des Ausdrucks, weder Rhythmus noch Baukörper noch Zusammenhang. Ohne den Grundriß stellt sich die dem Menschen unerträgliche Wirkung des Ungestalteten ein, der Armut, der Unordnung, der Willkür. Der Grundriß fordert aktivste Einbildungskraft. Er verlangt außerdem strengste Disziplin. Mit dem Grundriß ist alles festgelegt, er ist der entscheidende Faktor. Die Zeichnung eines Grundrisses ist nicht so •hübsch wie die eines Madonnengesichtes; der Grundriß ist herbe Abstraktion, dem Auge nichts als trockene Berechnung. Trotzdem bleibt die Arbeit des Mathematikers eine der erhabendsten Tätigkeiten des menschlichen Geistes. Ordnung ist der greifbare Rhythmus, der auf jedes menschliche Wesen in gleicher Weise einwirkt. Der Grundriß enthält in sich einen ganz bestimmten Grundrhythmus: nach seinen Vorschriften entwickelt sich das Werk in Umfang und Höhe und wächst nach demselben Gesetz vom Einfachsten ins Vielfältigste. Die Einheit des Gesetzes ist oberstes Gebot für einen guten Grundriß: ein einfaches, ins Unendliche abwandelbares Gesetz. Rhythmus ist ein Gleichgewichtszustand, der durch einfache oder

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zusammengesetzte Symmetrien bewirkt vvird oder durch kunstvollen Ausgleich. Rhythmus ist eine Gleichung: Gleichsetzung der Größen (ägyptische, hinduistische Tempel); Ausgleich der Größen (Bewegung der Gegensätze) (Akropolis in Athen); Modulation (Entwicklung eines Ausgangsthemas) (Hagia Sophia). Trotz der Einheit des Ziels, das auf Rhythmus, auf einen Gleichgewichtszustand gerichtet ist, gibt es also viele grundlegend verschiedenartige Rückwirkungen auf das Individuum. Daher auch die erstaunliche Mannigfaltigkeit der großen Epochen, eine Mannigfaltigkeit, die im architektonischen Prinzip und nicht in omamentalen Besonderheiten begründet ist. Im Grundriß ist das Wesentliche der Wirkung auf die Sinne enthalten. Aber seit hundert Jahren hat man den Sinn für den Grundriß verloren. Die großen Probleme von morgen sind durch die Bedürfnisse der Gesamtheit diktiert und auf Statistiken aufgebaut; sie werden auf dem Wege der Berechnung verwirklicht werden und werfen das Problem des Grundrisses von neuem auf. Hat man einmal begriffen, welche Weite der Sicht für das Entwerfen von Stadtbauplänen notwendig ist, wird eine Zeit anbrechen, wie sie noch keine Epoche gekannt hat. Die Städte werden entworfen und in ihrer ganzen Ausdehnung vorgezeichnet werden müssen, wie früher die Tempel des Orients oder das Hotel des Invalides oder das Versailles Ludwigs XIV. gezeichnet und ordnend gestaltet wurden. Das technische Vermögen unserer Zeit - die Finanz- und Konstruktionstechnik - ist reif, diese Aufgabe zu verwirklichen.

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DIE MASS-REGLER Die naturgegebene Geburt der Baukunst. Die Verpflichtung zur Ordnung. Die Maß-Regler sind Selbstversicherung gegen die Willkür. Sie befriedigen den Geist. Die Maß-Regler sind Hilfsmittel und kein Rezept. Ihre Wahl und ihre Ausdrucksformen sind integraler Teil der schöpferischen Gestaltung der Architektur. Der Primitive hat seinen Karren angehalten, er beschließt, daß dies sein Boden sein soll. Er wählt eine Lichtung, schlägt die zu nahe stehenden Bäume um, ebnet das Gebiet der Umgebung; er bahnt sich den Pfad, der ihn zum Fluß oder zu den soeben verlassenen Stammesgenossen führen mag; er rammt die Pfähle ein, die sein Zelt stützen sollen. Er umgibt dieses mit einem Zaun, in dem er eine Tür anbringt. Der Weg ist so gradlinig gezogen, wie es ihm seine Werkzeuge, seine Kraft und seine Zeit gestatten. Die Pfähle seines Zeltes beschreiben ein Viereck, ein Sechs- oder ein Achteck. Der Zaun bildet ein Rechteck mit vier gleichen, rechten Winkeln. Die Hüttentür öffnet sich auf der Achsenlinie des Zaunes, und die Zauntür befindet sich gegenüber der Hüttentür. Die Männer des Stammes haben beschlossen, ihrem Gott ein Haus zu bauen. Sie suchen dafür eine sauber hergerichtete Stelle aus; sie stellen ihn im Schutz einer fest gebauten Hütte auf und rammen die Pfähle der Hütte in einem Viereck, einem Sechs- oder Achteck ein. Sie schützen die Hütte durch einen festen Zaun und schlagen Pflöcke ein, um an ihnen die Seile der hohen Einfriedigungspfähle zu befestigen.Sie bestimmen den Raum, der den Priestern vorbehalten sein soll, und stellen den Altar und die Opfergefäße auf. Sie öffnen eine Pforte in der Umzäunung und verlegen sie auf eine Achse mit der Tür des Heiligtums.

Seite 63

28 primitive Tempel


Man sehe sich im Buch der Archäologie die Zeichnung dieser Hütte, die Zeichnung dieses Heiligtums an: es ist der Grundriß eines Hauses, der Grundriß eines Tempels. Es ist der gleiche Geist, den man im pompejanischen Haus wiederfindet. Es ist der Geist des Tempels von Luksor. Es gibt keinen primitiven Menschen; es gibt lediglich primitive Werkzeuge. Der schöpferische Gedanke ist konstant, er ist von Anfang an in Kraft. Man beachte bei diesen Grundrissen, daß eine Ur-Mathematik in ihnen herrscht. Es gibt feste Maße. Um richtig zu konstruieren, um die Kräfte richtig zu verteilen, um das Werk haltbar und zweckmäßig zu machen, sind feste Maße die Voraussetzung. Der Erbauer hat als Maßstab genommen, was ihm am leichtesten erreichbar war, was gleichbleibend war; er richtete sich nach demjenigen Hilfsmittel, das er am wenigsten verlieren konnte: nach seinem Schritt, seinem Fuß, seinem Ellenbogen, seinem Finger. [...] Seite 64 Um richtig zu konstruieren, um die Kräfte richtig zu verteilen, um das Werk haltbar und zweckmäßig zu machen, griff er zu Maßen, nahm er ein Einheitsmaß zu Hilfe, stellte Regeln auf für seine Arbeit, trug Ordnung in sie hinein. Denn um ihn herum war der Wald in seinem Chaos, mit seinen Schlingpflanzen und Wurzeln, die ihn in seinen Anstrengungen hinderten und lähmten. Der Mensch schaffte Ordnung durch das Messen. Um zu messen nahm er seinen Schritt, seinen Ellenbogen oder seinen Finger zu Hilfe. Indem er mit Hilfe seines Fußes oder Armes eine Ordnung setzte, schuf er einen Maßstab, der bestimmend für das ganze Werk wurde, und dieses Werk ist auf ihn zugeschnitten, ihm angemessen und

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richtig. Es ist nach seinem Maß. Es ist nach dem Maß des Menschen geschaffen. Zwischen Werk und Mensch ist Harmonie: dies ist die Hauptsache. Aber indem der Mensch die Form der Einzäunung, die Form der Hütte, die Lage des Altars und seines Zubehörs bestimmte, verwies ihn sein Instinkt auf die rechten Winkel, auf die Achsen, auf das Viereck, den Kreis. Denn etwas anderes, was ihm den Eindruck vermittelte, daß er schöpferisch tätig war, vermochte er nicht zu schaffen. Denn Achsen, Kreise und rechte Winkel sind Wahrheiten der Geometrie, und was sie hervorbringen, sind Wirkungen, die unser Auge mißt und anerkennt. Alles andere wäre Zufall, Abweichen vom Normalen, Willkür. Die Geometrie ist die Sprache des Menschen. Während der Mensch die wechselseitigen Abstände zwischen den Dingen festlegte, führte er gleichzeitig Rhythmen ein: dem Auge sinnlich faßbare und in ihren Beziehungen untereinander offenbare Rhythmen. Und diese Rhythmen sind der Ursprung alles menschlichen Handelns. Sie klingen im Menschen an als mit seinem Organismus wesenhaft verbunden. Daher zeichnen Kinder und Greise, Wilde und Gebildete von sich aus den Goldenen Schnitt. [...] Seite 66 Ein Einheitsmaß mißt und bringt alles in eine Einheit; ein Maß-Regler hilft konstruieren und befriedigt. Die Baukunst ist die erste Manifestation des Menschen, als dieser sich nach dem Vorbild der Natur seine eigene Welt schuf: er erkannte damit die Naturgesetze an, die Gesetze, die unsere Menschennatur regieren, unsere Welt. Die Gesetze der Schwere, der Statik und Dynamik

Zwei Privathäuser in Auteuil, 1924 Le Corbusier & Pierre Jeanneret


zwingen sich auf durch die unausweichliche Alternative: halten oder einstürzen. Der das Universum beherrschende Determinismus öffnet unser Auge für die Schöpfungen der Natur und gibt uns die Gewissheit von Gleichgewicht, von vernünftig Gemachtem, ins Unendliche Abgewandeltem, von Entwicklungsmöglichkeiten, Mannigfaltigkeit und Einheitlichkeit. Die physikalischen Grundgesetze sind einfach und gering an Zahl. Die sittlichen Gesetze sind einfach und gering an Zahl. [...] Seite 66 Der Mass-Regler ist Versicherung gegen die Willkür: Durch das Nachprüfen erfährt jede im Eifer des Schaffensdranges entstandene Arbeit ihre Billigung; es liefert den Beweis, den der unerfahrene Schüler bracht, das Quod erat demonstrandum des Mathematikers. Der Mass-Regler dient einer Befriedigung geistiger Ordnung, er fördert die Suche nach sinnvollen und harmonischen Beziehungen. Sie verleiht dem Werk Eurhythmie. Der Mass-Regler bringt jene vernünftige Mathematik ins Spiel, welche Bediengung für den wohltuenden Eindruck von Ordnung ist. Die Wahl des MassReglers bestimmt die geometrische Grundlage des Werkes; sie bestimmt mithin eine der wichtigsten Wirkungen. Die Wahl des Mass-Reglers ist einer der entscheidenden Momente der schöpferischen Inspiration, sie zählt zu den wichtigsten Faktoren in der Baukunst.

NOTIZEN Haus Ozenfant, 1923 Le Corbusier & Pierre Jeanneret

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AUGEN, DIE NICHT SEHEN... I. DIE OZEANDAMPFER Ein großes Zeitalter ist angebrochen. Ein neuer Geist ist in der Welt. Es gibt eine Fülle von Werken des neuen Geistes; man begegnet ihnen vor allem in der industriellen Produktion. Die Architektur erstickt am alten Zopf. »Stile« sind Lüge. Der Stil ist eine Wesens-Einheit, die alle Werke einer Epoche durchdringt und aus einer fest umrissenen Geisteshaltung hervorgeht. Unsere Zeit prägt täglich ihren Stil. Leider sind unsere Augen noch nicht fähig, ihn zu erkennen Es gibt einen neuen Geist: einen Geist der Konstruktion und Synthese; er ist geleitet von einer klaren Konzeption. Was immer man davon halten mag, Tatsache ist, daß er heute im größten Teil aller menschlichen Tätigkeit lebendig ist.

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Programm des »Esprit Nouveau«, Nr. 1, Oktober 1920 EIN GROSSES ZEITALTER IST ANGEBROCHEN Niemand stellt heute die aus den Erzeugnissen der modernen Industrie hervorgehende Ästhetik in Abrede. Mehr und mehr nehmen die technischen Konstruktionen und Maschinen im Spiel der Körper und Stoffe richtige Proportionen an, so daß viele unter ihnen wirkliche Kunstwerke sind, denn sie basieren auf der Zahl, d. h. auf gesetzmäßiger Ordnung. Aber die Auslesemenschen, die die Welt der Industrie und Geschäfte bilden und die sich infolgedessen

Empress of Asia, Canadian Pacific

France, Werften von Saint-Nazaire


in jener männlichen Atmosphäre bewegen, in der unleugbar schöne Werke geschaffen werden, wähnen sich selbst weit entfernt von jeder ästhetischen Tätigkeit. Sie haben unrecht, denn sie gehören zu den aktivsten Schöpfern der zeitgenössischen Asthetik. Weder die Künstler noch die Industriellen legen sich Rechenschaft darüber ab. Der Stil eines Zeitalters findet sich in der allgemeinen Produktion und nicht, wie man zu leichtgläubig annimmt, in einigen Erzeugnissen mit ornamentalen Absichten; diese sind nichts weiter als Wucherungen an dem geistigen Prinzip, das allein die Elemente eines Stils hervorbringt. Die Rocaille ist nicht der Stil Ludwigs XV., der Lotos nicht der Ägyptens, usw. (Auszug aus dem“Esprit Nouveau“) Die »dekorativen Künste« feiern Orgien! Nach dreißig Jahren verbissener Anstrengung haben sie jetzt den Gipfel erklommen. Begeisterte Kunstkritiker sprechen von einer Wiedergeburt der französischen Kunst! Halten wir anläßlich dieses Abenteuers (das ein übles Ende nehmen wird) fest, daß etwas ganz anderes als eine Wiedergeburt des Dekors eingetreten ist: eine neue Epoche löst eine sterbende ab. Die Maschinentechnik, neu in der Geschichte der Menschheit, hat einen neuen Geist erweckt. Jedes Zeitalter erschafft sich seine eigene Baukunst, die reines Abbild ihres Denksystems ist. Während der Wirren der Krisenzeit, die dem Aufstieg unserer neuen Zeit geordneter, heller Gedanken und klaren Willens vorausging, glich die dekorative Kunst jenem Strohhaufen, in dem man vor einem Wolkenbruch Schutz suchen möchte. Ein illusorischer Schutz. Halten wir weiter fest, daß die dekorative Kunst willkommene Gelegenheit war, die Vergangenheit zum Teufel zu jagen und vorsichtig tappend nach dem wahren Geist der Baukunst

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zu forschen. Der Geist der Baukunst kann nur aus Tatbeständen und aus einer Geisteshaltung kommen. Es scheint aber, daß sich die Ereignisse so rasch überschlagen haben, daß sich das geistige Bewußtsein der Zeit herauskristallisieren und sich ein Geist der Architektur bilden kann. [...] Seite 80 Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen. Bäder, Sonne, heißes und kaltes Wasser, Temperatur, die man nach Belieben einstellen kann, Aufbewahrung der Speisen, Hygiene, Schönheit durch gute Proportionen. Ein Sessel ist eine Maschine zum Sitzen usw.: Maple hat den Weg gezeigt. Die Waschbecken sind Maschinen zum Waschen: Twyford hat sie erfunden. Unser modernes Leben, die Welt unseres Tuns, mit Ausnahme der Stunde des Lindenblüten- oder Kamillentees, hat sich seine Dinge geschaffen: die Kleidung, den Füller, die Rasierklinge, die Schreibmaschine, das Telefon, die wundervollen Büromöbel, die Spiegelgläser von Saint-Gobain und die »lnnovation«-Koffer, den Gillette-Rasierapparat und die englische Pfeife, den Melonenhut und die Limousine, den Ozeandampfer und das Flugzeug. Unsere Zeit bildet jeden Tag ihren Stil. Er ist da, vor unseren Augen. Vor Augen, die nicht sehen. * Es gilt ein Mißverständnis zu zerstreuen: wir sind verdorben durch Verwechslung von Kunst mit Respekt vor dem Dekor. Verirrung des Kunstgefühls, das sich mit tadelnswertem Leichtsinn allem mitteilt und Theorien und Pressefeldzügen Vorschub leistet, die von Dekorateuren geführt werden, welche ihre eigene Zeit nichtkennen.

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Kunst ist eine bitterernste Angelegenheit. Sie hat ihre heiligen Stunden. Man entweiht sie. Frivol geworden, schneidet die Kunst Grimmassen in einer Welt, die Organisation, Werkzeuge, Mittel braucht, die sich unter Schmerzen um die Festigung einer neuen Ordnung bemüht. Eine Gesellschaft lebt in erster Linie von Brot, aber auch von Sonne und dem zum menschenwürdigen Dasein Notwendigsten. Noch ist alles zu tun! Eine ungeheure Aufgabe ist zu bewältigen! Das ist so wichtig, so dringend, daß alles in dieser gebieterischen Aufgabe aufgeht. Die Maschinen werden zu einer neuen Ordnung der Arbeit und Muße führen. Ganze Städte müssen gebaut werden, neu aufgebaut werden unter dem Gesichtspunkt eines lebensnotwendigen Minimums, dessen noch immer andauernder Mangel das Gleichgewicht der Gesellschaft in Gefahr bringen könnte. Die heutige Gesellschaft hat den Boden unter den Füßen verloren, sie zerfällt, nachdem die letzten fünfzig Jahre Fortschritt das Gesicht der Welt mehr als die sechs Jahrhunderte vorher verändert haben. Es ist die Stunde des Aufbaus, nicht des Geschwätzes. Die Kunst unserer Zeit ist am richtigen Platz, wenn sie sich an die Elite wendet. Die Kunst ist keine Angelegenheit des Volkes, noch weniger aber eine »Luxuspflanze«. Kunst ist lebensnotwendig einzig und allein für die Menschen der Elite; diese brauchen Ruhe zur Sammlung, um die Führung übernehmen zu können. Kunst ist ihrem Wesen nach stolz. * Während der schmerzhaften Geburtswehen dieser im Entstehen begriffenen Zeit wächst das Bedürfnis nach Harmonie. Daß doch die Augen sähen! Diese Harmonie ist schon da, ist eine Auswirkung der Bemühungen, die unter dem Gesetz der

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Sparsamkeit und der physikalischen Gegebenheiten stehen. Diese Harmonie hat ihre Ursachen; sie ist keineswegs Wirkung des Zufalls, sondern Produkt einer logischen Konstruktion und im Einklang mit der Welt, die uns umgibt. Die Natur ist in der kühnen übertragungihrer Gesetze auf Werke von Menschenhand gegenwärtig, und dies um so mehr, je schwieriger das Problem zu lösen war. Die Erzeugnisse der Maschinenbautechnik sind Gebilde, die nach Reinheit streben und die den gleichen Entwicklungsgesetzen unterliegen wie die Dinge der Natur, die unsere Bewunderung hervorrufen. In den Arbeiten, die aus Werkstätten und Fabriken hervorgehen, ist Harmonie. Das ist nicht Kunst, ist keine Sixtina und kein Erechtheion; es sind die alltäglichen Produkte einer Welt, die mit Gewissenhaftigkeit, Klugheit, Präzision, mit Phantasie, Kühnheit und Strenge arbeitet. * Vergißt man einen Augenblick, daß ein Ozeandampfer ein Transportmittel ist, und betrachtet man ihn mit neuen Augen, dann begreift man ihn als eine bedeutende Offenbarung von Kühnheit, Zucht und Harmonie und von einer Schönheit, die zugleich ruhig, nervig und stark ist. Ein ernsthafter Architekt, der als Architekt (Schöpfer von Organismen) einen Ozeandampfer betrachtet, wird in ihm die Befreiung von jahrhundertelanger, fluchbeladener Knechtschaft erkennen. Er wird den Respekt vor den Naturkräften dem trägen Respekt vor den Traditionen vorziehen und die Großartigkeit der Lösungen für ein richtig gestelltes Problem der Kleinmütigkeit mittelmäßiger Einfälle; es sind Lösungen, die dieses Jahrhundert der großen Anstrengungen mit einem Riesenschritt nach vorn gefunden hat. Das Haus der Landratten ist Ausdruck einer veralteten Welt von

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kleinem Ausmaß. Der Ozeandampfer ist die erste Etappe auf dem Weg zur Verwirklichung einer Welt, die dem neuen Geist entspricht. DIE FLUGZEUGE .II Das Flugzeug ist ein Ausleseprodukt hoher Qualität. Die Lehre, die uns das Flugzeug erteilt, liegt in der Logik, die Problemstellung und Verwirklichung diktierte. Das Problem des Hauses ist noch nicht gestellt worden. Die gegenwärtige Handhabung der Architektur entspricht nicht mehr unseren Bedürfnissen. Trotzdem gibt es Standardlösungen für die Wohnungsfrage. Die Mechanik trägt in sich den Auslese fördernden Faktor der Sparsamkeit. Das Haus ist eine Wohnmaschine. Es gibt einen neuen Geist: einen Geist der Konstruktion und Synthese, er ist geleitet von einer klaren Konzeption. Was immer man davon halten mag, Tatsache ist, daß er heute im größten Teil aller menschlichen Tätigkeit lebendig ist.

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Programm des »Esprit Nouveau«, Nr. 1, Oktober 1920 EIN GROSSES ZEITALTER IST ANGEBROCHEN Einen einzigen Beruf gibt es, für den der Fortschritt nicht zwingend ist, in dem Trägheit herrscht, in dem man sich auf das Gestern beruft: die Architektur. Überall sonst drängt die Ungeduld zum Morgen und führt ZU irgendeiner Lösung: wer nicht vorwärtskommt, macht bankrott. Nur in der Architektur macht man niemals bankrott. Ein privilegiertes Handwerk. Leider!

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Das Flugzeug gehört in der modernen Industrie zweifellos zu den Ausleseprodukten höchster Qualität. Der Weltkrieg war ein unersättlicher Kunde, niemals zufrieden, immer noch Besseres fordernd. »Erfolg« lautete die Losung, und jedem Irrtum folgte unerbittlich der Tod. Darum darf man als Tatsache feststellen, daß das Flugzeug Erfindungskraft, Intelligenz und Kühnheit mobilisiert hat: Phantasie und kühle Vernunft. Aus dem gleichen Geist heraus ist der Parthenon erbaut worden . * Ich will mich in Hinsicht auf die Architektur in die geistige Verfassung eines Erfinders von F1ugzeugen versetzen. Die Lehre des Flugzeuges liegt nicht so sehr in den gestalteten Formen, und zuerst muß man lernen, in einem F1ugzeug nicht einen Vogel oder eine Libelle zu sehen; es ist eine Maschine zum Fliegen. Die Lektion, die uns das Flugzeug erteilt, liegt in der Logik, aus der die Stellung des Problems erfolgte, und die Erfolg und Verwirklichung geleitet hat. Wenn eine Aufgabe richtig gestellt ist, findet sie in unserer Zeit unweigerlich ihre Lösung. Das Problem des Hauses ist noch nicht gestellt worden . [...] Seite 90 RATGEBER ZUR WOHNUNGSFRAGE Fordert ein Badezimmer auf der Sonnenseite, es sollte einer der größten Räume der Wohnung sein, so groß wie früher der Salon zum Beispiel: wenn möglich mit einer Wand, die nur aus Fenstern besteht und auf eine Terrasse zum Sonnenbaden hinausgeht: Waschhecken aus Porzellan, Bad, Duschen, Turnapparate. Nebenraum: Raum zum An- und Ausziehen. Zieht euch nicht in eurem Schlafzimmer um. Das ist nicht ganz appetitlich und bringt unangenehme Unordnung mit sich. Verlangt Wandschränke für

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Wäsche und Kleider im Ankleideraum; sie sollen nicht höher als 1,50 Meter sein, Schubfächer und Garderobenhaken haben. Fordert einen einzigen, wirklich großen Wohnraum an Stelle all der Salons. Verlangt nackte Wände in eurem Schlafzimmer, in eurem großen Wohnraum und Eßzimmer. Wandschränke werden die Möbel ersetzen, die viel Geld und Platz kosten und gepflegt werden müssen. Fordert die Entfernung von jeglichen Gipsstukkaturen und aller Facettenscheiben an den Türen; sie sind unehrlicher Stil. Wenn es sich machen läßt, verlegt die Küche unter das Dach, um die Gerüche in der Wohnung zu vermeiden. Verlangt von eurem Hauseigentümer, daß euch statt der Stukkaturen und Tapeten elektrische Beleuchtungskörper mit indirektem oder gestreutem Licht eingebaut werden. Fordert Vacuumreinigung. Kauft nur praktische Möbel und niemals Ziermöbel. Geht in die alten Schlösser und seht euch den schlechten Geschmack der großen Könige an. Hängt nur ganz wenige Bilder auf und nur Werke von künstlerischem Wert. In Ermangelung von echten Bildern kauft gute Reproduktionen. Ordnet eure Kunstschätze in Fächer oder Wandschränke ein. Zeigt echten Respekt vor den wahren Kunstwerken.

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DIE BAUKUNST I. DIE LEHRE ROMS Baukunst heißt mit rohen Stoffen Beziehungen herstellen, die uns anrühren. Baukunst steht jenseits von Nützlichkeits/ragen. Baukunst ist eine Frage des Gestaltens. Geist der Ordung, Einheit des Gestaltungswillens. Sinn für Zusammenhänge; die Baukunst schaltet mit Größen. Aus trägen Steinen baut die Leidenschaft ein Drama. Man schafft Steine, Holz, Zement herbei; man macht mit ihnen Häuser, Paläste; das ist Sache der Konstruktion. Der Erfindungsgeist ist am Werk. Aber mit einemmal greift es mir ans Herz, tut mir wohl, ich bin glücklich, ich sage: Das ist schön. Das ist Baukunst. Das ist Kunst. Mein Haus ist praktisch. Dank dafür. Den gleichen Dank wie den Ingenieuren der Eisenbahn und der Telefongesellschaft. Meine Seele habt ihr nicht angerührt. Aber die Mauern steigen vor dem Himmel in einer Ordnung auf, die mich bewegt. Ich spüre eure künstlerische Absicht. Ihr wart sanft oder gewalttätig, liebenswürdig oder würdevoll. Eure Steine erzählen es mir. Ihr bannt mich an diesen Ort, und meine Augen schauen. Meine Augen sehen etwas, was einen Gedanken verrät. Einen Gedanken, der ohne Worte oder Töne, allein durch die geometrischen Körper klar wird, die in bestimmten Maßverhältnissen zueinander stehen. Diese Körper sind so geformt, daß das Licht jede Einzelheit entschleiert. Ihre Beziehungen untereinander haben nichts gemein mit praktischen, durch Worte zu beschreibenden Bedürfnissen. Sie sind eine mathematische Schöpfung eures Geistes. Sie sind

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die Sprache der Architektur. Mit rohen Stoffen im Rahmen eines mehr oder weniger zweckbestimmten Programms, über das ihr hinausgegangen seid, habt ihr Beziehungen hergestellt, die mich im Innern ergriffen haben. Das ist Architektur. * Rom ist eine malerische Landschaft. Das Licht ist hier so schön, daß alles unter ihm bestehen kann. Rom ist ein Basar, in dem man alles, was es gibt, verkauft. Alles Zubehör zum Leben eines Volkes hat sich hier noch erhalten, alles Kinderspielzeug, die Waffen des Kriegers, der Plunder der Altäre, die Bidets der Borgia und die Federbüsche der Abenteurer. Der Greuel sind in Rom Legion. Verglichen mit dem Griechen scheint der Römer einen schlechten Geschmack zu haben, der ganz römische Römer, ein Julius II. oder ein Viktor Emanuel. Das Rom der Antike erstickte in immer zu engen Mauern; eine Stadt, die erstickt, ist nicht schön. Das Rom der Renaissance nahm ein paar pompöse Anläufe, wahllos über die ganze Stadt verstreut. Das Rom Viktor Emanuels sammelt, etikettiert, konserviert und preßt sein modernes Leben in die Korridore dieses Museums hinein es verkündet sein »Römertum« durch das Denkmal Viktor Emanuels I. mitten in der Stadt, zwischen Forum und Kapitol ... vierzig Jahre Arbeit, größer als alles ringsum und ganz aus weißem Marmor! Ganz entschieden: alles häuft sich viel zu sehr in Rom. DAS ROM DER ANTIKE Rom ließ es sich angelegen sein, die Welt zu erobern und zu verwalten. Strategie, Bewirtschaftung, Gesetzgebung: Geist der Ordnung. Um ein großes Geschäftsunternehmen zu verwalten, greift

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man zu grundlegenden, einfachen und unwiderlegbaren Prinzipien. Die römische Ordnung ist eine einfache, eine kategorische Ordnung. Ist sie gewalttätig- um so schlimmer oder um so besser. Sie hatten ungeheure Wünsche in bezug auf Herrschaft und Organisation. Architektonisch war in Rom nichts zu wollen. Die Mauern waren zu eng, die Häuser stapelten sich bis zu zehn Geschossen auf, antike Wolkenkratzer. Das Forum muß häßlich, muß dem Durcheinander der heiligen Stadt von Delphi ähnlich gewesen sein. Stadtkultur? Stadtpläne großen Stils? Der Karren war verfahren. Man muß Pompeji besuchen, das rührend in seiner Gradlinigkeit ist. Sie hatten Griechenland erobert, und als gute Barbaren hatten sie den korinthischen Stil viel schöner als den dorischen gefunden, er war ja so viel blumiger. Die Akanthuskapitelle sollten also hochleben, und das schmuckbeladene Gebälk ohne echtes Maß, ohne Geschmack! [...] Seite 123 Vorsicht! Architektur ist nicht nur die Kunst der Ordnung. Das Setzen einer Ordnung ist nur eine der grundlegenden Voraussetzungen der Architektur. In der Villa Hadriana umherzuwandeln und sich sagen zu müssen, daß die moderne, so »römische« Organisationskunst im Vergleich hiermit noch nichts geleistet hat welche Qual für einen Menschen, der sich als dazugehörig und mitschuldig an diesem entwaffnenden Versagen fühlt! Das Problem riesiger verwüsteter Gebiete existierte nicht, dafür jedoch das Problem, eroberte Gebiete einzurichten. Was auf das gleiche hinausläuft. Die Römer haben dafür Konstruktionsmethoden erfunden und eindrucksvolle »römische« Dinge auf die Beine gestellt. Das Wort »römisch« hat einen tiefen Sinn. Einheit im Verfahren, Kraft der Intention, Klassifizierung der einzelnen

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Bauelemente. Die ungeheuren Kuppeln, die Tamburs, die sie abstützen, die mächtigen Gewölbebogen, alles das hält mit römischem Mörtel und bleibt Gegenstand der Bewunderung. Es waren wirklich Unternehmer großen Stils. Kraft der Intention, Klassifizierung der Bauelemente beweisen eine ganz bestimmte geistige Haltung: Strategie, Gesetzgebung. Die Baukunst ist für solche Absichten empfänglich; sie zeigt sich erkenntlich. Das Licht umschmeichelt die reinen Formen: sie leben. Die einfachen Baukörper entfalten riesige Flächen, die ausgeprägten mannigfaltigen Charakter zeigen, je nachdem, ob es sich um Kuppeln, Gewölbe, Zylinder, rechtwinklige Prismen oder um Pyramiden handelt. Die Dekoration der Außenflächen (Ausbuchtungen) folgt dem gleichen geometrischen Prinzip. Pantheon, Kolosseum, Aquädukte, Cestius-Pyramide, Triumphbogen, Konstantinsbasilika, Thermen des Caracalla. Keine Phrasen, dafür Ordnung, Einheit der Idee, Kühnheit und Einheit der Konstruktion, Verwendung der elementaren Körperformen. Eine gesunde Ethik. übernehmen wir neue »Römer« doch den römischen Backstein, den römischen Mörtel und den Travertinstein- und verkaufen wir den Milliardären den römischen Marmor. Denn vom Marmor verstanden die Römer nichts. [...] Seite 132 Rom ist ein malerischer Basar im Ausverkauf. Es bietet sämtliche Greuel (man vergleiche die vier

NOTIZEN Das Pantheon, 120 n.Chr.

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aneinandergefügten Abbildungen hierunter) und den schlechten Geschmack der römischen Renaissance. Diese Renaissance beurteilen wir mit unserem modernen Geschmack, der durch vier große Jahrhunderte weiterer Bemühungen das 17., 18., 19. und 20. Jahrhundert- von der Renaissance getrennt ist. Wir sind die Nutznießer der Errungenschaften der Renaissance, und wir urteilen mit Härte, aber auch mit begründetem Scharfblick. Dem nach Michelangelo in Schlaf versunkenen Rom fehlen diese vier Jahrhunderte. Wenn wir jetzt nach Paris zurückkehren, wird uns der Maßstab wieder bewußt. Roms Lehre ist für die Weisen, für die, die wissen und urteilen können, für die, die widerstehen und prüfen können. Rom ist Untergang für die, die nicht viel wissen. Nach Rom Architekturstudenten zu schicken, heißt sie für ihr ganzes Leben zu ruinieren. Der Große Preis von Rom und die Villa Medici sind das Krebsleiden der französischen Architektur. II. DAS BLENDWERK DER GRUNDRISSE Der Grundriß wirkt vom Innen auf das Außen; das Äußere ist Resultat des Inneren. Die Elemente der Architektur sind Licht und Schatten, Mauer und Raum. Anordnung heißt Hierarchie der Ziele, Klassifizierung der Gestaltungsabsichten. Der Mensch sieht die Dinge der Architektur mit seinen Augen, die 1,70 Meter über dem Boden sind. Man kann nur Absichten verwirklichen wollen, die dem Auge erreichbar sind, nur Absichten verfolgen, die den Elementen der Baukunst Rechnung tragen. Verfolgt man Absichten, die nicht der Sprache der Architektur zugehören, dann verfällt man dem Blendwerk der Grundrisse, dann übertritt man aus Mangel an Vorstellungskraft oder aus Neigung zu eitlen Nichtigkeiten die Gesetze der Grundrißbildung.

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Seite 135 Einen Grundriß machen heißt genau sein, heißt Vorstellungen fixieren, heißt Vorstellungen haben. Heißt Vorstellungen so zu ordnen, daß sie verständlich und ausführbar werden und vermittelt werden können. Deshalb muß man eine eindeutige Absicht, eine Vorstellung haben, um eine Absicht ausdrücken zu können. Ein Grundriß ist gewissermaßen eine letzte Zusammenfassung, eine Art gliederndes Inhaltsverzeichnis. Ineiner derart konzentrierten Form, daß er einem Kristall, einer geometrischen Figur gleicht, enthält der Grundriß eine ungeheure Menge von Vorstellungen und dazu eine treibende Absicht. In einer großen staatlichen Anstalt, in der Ecole des Beaux-Arts, hat man zuerst die Grundgesetze für einen guten Grundriß studiert, und später, im Lauf der Jahre, hat man Dogmen, Rezepte und Kniffe gelehrt. Auf diese Weise ist ein anfänglich nützlicher Unterricht zu einer gefährlichen Praxis geworden. Aus der inneren Vorstellung hat man ein paar äußerliche Anhaltspunkte, Äußerlichkeiten, gemacht. Aus dem Grundriß, einem Konzentrat von Ideen mit einer in diesen Ideen verarbeiteten bestimmten Intention, ist ein Blatt Papier geworden, auf dem gewisse schwarze Punkte Mauern, gewisse Striche Achsen vorstellen, Mosaike bilden, Dekoration, graphische Kunstwerke wie funkelnde Sterne werden und nichts als optisches Blendwerk sind. Der allerschönste Stern erhält dann den Großen Preis von Rom. Ein Grundriß aber ist der Erzeuger. Aus ihm entsteht alles, »der Grundriß bestimmt alles; er ist herbe Abstraktion, dem Auge nichts als trockene Berechnung«. Er ist der Schlachtplan. Die Schlacht kommt erst danach, und mit ihr der große Augenblick. Die Schlacht besteht aus dem Zusammenprall der Baukörper im Raum, und die Moral der Truppe aus jenem Bündel von bereits

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bestehenden Ideen und der treibenden Absicht. Ohne einen guten Grundriß kommt nichts zustande, alles ist hinfällig, nichts hat Dauer, alles ist ärmlich, selbst unter einem Schwulst von Üppigkeit. DAS AUSSEN IST STETS AUCH EIN INNEN Wenn man an der Ecole des Beaux-Arts die Achsen in Sternform zieht, dann bildet man sich ein, daß der Beschauer vor dem Gebäude für nichts als für dieses Gebäude Augen hat und daß sein Blick unweigerlich und ausschließlich von dem Schwerpunkt gebannt bleibt, den die Achsen einmal festgelegt haben. Das Auge des Menschen jedoch ist ständig in Bewegung, und der Mensch wendet sich ebenso zur Rechten wie zur Linken, er dreht sich im Kreise. Er interessiert sich für alles und wird vom Schwerpunkt des ganzen Komplexes angezogen. Damit erweitert sich diese Frage auch auf die Umgebung. Die Nachbarhäuser, das ferne oder nahe Gebirge, der niedere oder hohe Horizont sind gewaltige Massen, die mit der vollen Macht ihres Kubus in Aktion treten. Der sichtbare und der tatsächliche Kubus sind sofort schätzbar und vom Verstand meßbar. Der Eindruck des Kubus wirkt unmittelbar und direkt. Das Gebäude mag 100 000 Kubikmeter haben, aber das, was sich in der Umgebung befindet, hat Millionen von Kubikmetern und muß berücksichtigt werden. Dazu kommt der Faktor der Dichte: ein Steinbruch, ein Baum, ein Hügel strahlen weniger Kraft aus, weniger Dichte als ein geometrisches Formgebilde. Marmor erscheint dem Auge und dem Geist dichter als Holz usw. Hierarchie überall.

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REINE SCHÖPFUNG DES GEISTES .III Die Durchbildung der Form ist der Prüfstein für den Architekten. Dieser erweist sich an ihr als Künstler oder als einfacher Ingenieur. Die Durchbildung der Form ist frei von jedem Zwang. Es handelt sich dabei nicht mehr um Herkommen oder Überlieferung, noch um konstruktive V erfahren, noch um Anpassung an die Bedürfnisse des Gebrauchs. Die Durchbildung der Form ist reine Schöpfung des Geistes; sie ruft den gestaltenden Künstler auf den Plan. Ein schönes Gesicht zeichnet sich aus durch die Beschaffenheit seiner Züge und durch einen ganz besonderen Wert ihrer Beziehungen zueinander. Der Gesichtstyp als solcher ist bei jedem Individuum der gleiche: Nase, Mund, Stirn usw., ebenso gleich ist ein gewisses mittleres Verhältnis dieser Elemente zueinander. Es gibt Millionen Gesichter, die nach diesen wesentlichen Bestandteilen angelegt sind, und doch sind sie alle verschieden: Mannigfaltigkeit der Beschaffenheit der Züge und Mannigfaltigkeit der Proportion, unter der sie vereint sind. Man sagt von einem Gesicht, es sei schön, wenn die Feinheit der Modellierung und die Gliederung der Züge Proportionen haben, die man als harmonisch empfindet, weil sie in unserem Innern über die sinnliche Wirkung hinaus Widerhall erwecken, gleichsam einen Resonanzboden in uns zum Schwingen bringen. Spuren eines undefinierbaren Absoluten, das im Grunde unseres Wesens seit jeher lebt. Dieser in uns nachschwingende Resonanzboden ist unser Kriterium für Harmonie. Es muß wohl jene Achse sein, auf der der Mensch aufgebaut ist, in vollem Einklang mit der Natur und wahrscheinlich auch mit dem Universum; es muß wohl jene Achse sein, die alle Erscheinungen, alle Dinge der Natur ausrichtet, die uns

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nahelegt, eine Einheit im Weltgeschehen anzunehmen und einen einzigen Schöpfungswillen vorauszusetzen. Die Gesetze der Physik wären demnach aus dieser Achse abgeleitet, und wenn wir die Naturwissenschaften und ihre Leistungen anerkennen (und lieben), so vor allem deshalb, weil wir annehmen dürfen, daß sie von jenem einen Willen am Ursprung der Schöpfung vorgeschrieben worden sind. Wenn die Ergebnisse einer Berechnung uns befriedigend und harmonisch scheinen, so deshalb, weil sie der Achse entstammen. Wenn dank Berechnungen das Flugzeug die Gestalt eines Fisches, also eines Naturwesens, bekommt, so deshalb, weil das Flugzeug der Achse entspricht. Wenn wir das Kanu der Indianer, das Musikinstrument, die Turbine, alles Ergebnisse von Experimenten und Berechnungen, als »organische« Erscheinungen empfinden, als Träger eines gewissen Lebens, so deshalb, weil sie nach der Achse ausgerichtet sind. Von hier aus wird eine Begriffbestimmung der Harmonie möglich: Moment der Übereinstimmung mit der Achse, die im Menschen ruht, also Übereinstimmung mit den Gesetzen des Universums, Rückkehr zur Weltordnung. Dies könnte die Ursachen für die Befriedigung beim Anblick gewisser Gegenstände erklären, für eine Befriedigung, die in jedem Moment die tatsächliche Einhelligkeit wiederherstellt. Wenn die Dinge der Natur und die Werke der Berechnung unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und unsere Interessen erwecken, so deshalb, weil sie, die einen wie die anderen, eine Grundhaltung haben, die sie charakterisiert. Ich halte fest: Ein Kunstwerk muß Charakter haben. Klar formulieren, das Werk mit einer Einheit erfüllen, ihm eine Grundhaltung geben, einen Charakter: reine Schöpfung des Geistes.

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Man gesteht sie der Malerei und der Musik zu; die Architektur jedoch drückt man auf nützliche Zwecke hinunter: Boudoirs, W.C., Heizungen, Eisenbeton oder Gewölbe oder Spitzbögen. Das sind Sachen der Konstruktion, das gehört nicht zur Baukunst. Von Baukunst kann man erst dann sprechen, wenn poetisches Gefühl vorhanden ist. Baukunst ist Sache der plastischen Form. Plastische Form ist, was man sieht und mit Augen messen kann. Es ist natürlich selbstverständlich, daß die Freuden an der Architektur erheblich beeinträchtigt werden, wenn es durchs Dach regnet oder die Heizung nicht funktioniert, wenn die Wände rissig sind; desgleichen würde einem Herrn, der auf einem Nadelkissen oder in der Zugluft an der Tür säße, auch die Freude am schönsten Symphoniekonzert verdorben sein In fast allen Bauperioden war man auf der Suche nach neuen Konstruktionen. Daraus hat man schon öfter geschlossen: Baukunst heißt Konstruktion. Es kann sein, daß die Bemühungen der Architekten in erster Linie den damaligen Konstruktionsproblemen galten; das ist jedoch noch kein Grund, die Dinge miteinander zu verwechseln. Selbstverständlich muß der Architekt seine Konstruktion mindestens so gut beherrschen wie der Denker seine Grammatik. Aber da die Konstruktion eine beträchtlich schwierigere und komplexere Wissenschaft als die Grammatik ist, sind die Anstrengungen der Architekten sehr lange durch sie gebunden: sie dürfen nur nicht darin erstarren.

NOTIZEN Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur,1922, 1969, Bertelsmann Fachverlag Reinhard Mohn, Bauwelt Fundamente vergriffen

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Le Corbusier Wege Wie das Zauberwerk in Gang gesetzt wir Elisabeth Blu 1988


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gelesen und ausgewählt von Emina Osmic

„Le Corbusiers Wege - Wie das Zauberwerk in Gang gesetzt wird“ ist ein 1988 in der Reihe „Bauwelt Fundamente“ erschienenes Buch, in dem sich Elisabeth Blum auf Le Corbusier‘s Wege macht, um seine Arbeiten und seine Denkweise zu verstehen. Dr. Elisabeth Blum studierte an der ETH-Zürich Architektur und promovierte mit einer Arbeit über Le Corbusier. Sie betreibt in Zürich das Büro Blum & Blum und ist Gastdozentin an der Architekturabteilung der ETH-Zürich. Außerdem gehört sie dem Beirat der Buchreihe „Bauwelt Fundamente“ an. Neben ihrem Werk über Le Corbusier sind in dieser Reihe weitere Titel, wie „Schöne neue Stadt“ & „Favela Metropolis“ erschienen. Blum analysiert in ihrem architekturtheoretischen Buch anhand einiger seiner Projekte und Zitate das Schaffen Le Corbusiers. Dabei bezieht sie sich auch auf viele Zitate von Forschern und Theoretikern, wie Henry Provensal und Edouard Schuré. Untersucht werden die Ideen und Strömungen, welche die Geisteshaltung Le Corbusiers bestimmten.

Nicht umsonst wird auch heutzutage über die Arbeit von LC von einem „Zauberwerk“ gesprochen. Seine Architektur und seine Schriften sind mustergültig, scheinen fast zeitlos und stellen selbst für die Größen unserer Zeit eine Art Stilbibel dar. Die nachfolgenden Passagen sollen dem Leser die Besonderheit der Werke Le Corbusiers näherbringen, aber ihm vor allem auch seine komplexe und weitreichende Gedankenwelt offenbaren. Die Erläuterungen beruhen auf der Arbeit Elisabeth Blums, sollen jedoch vor allem einen Anstoß geben, die Arbeit Corbusiers einmal selbst für sich zu interpretieren und danach eventuell auf die eigene Arbeit zu übertragen. Corbusier‘s Wege können einem eine vollkommen neue Schichtweise auf die Gestaltung und die dadurch hervorgerufenen Gefühle geben, ja sogar die Ordnung der Dinge, die man bisher für richtig hielt, erschüttern.

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Schon damals sprach er vom „Ausblick auf eine Architektur“, entwickelte Visionen für die Zukunft der Baukunst, was auf viele seiner Zeitgenossen anmaßend und fast überheblich wirkte, sich jedoch über die Jahrzehnte bewahrheitete. Noch heute erkennen wir in der Architektur seine Prinzipien, denn immer noch wird sein „Zauberwerk“ gelehrt und auch heute noch empfinden wir seine Betrachtungsweisen als zeitgemäß. Sie werden uns schon fast als Regeln der Architektur nahegebracht.

Die folgenden Auszüge behandeln Themen wie die Villa Roche-Jeanneret in Paris aus dem Jahre 1923, in der Le Corbusier die „promenade architecturale“ mit dem Element der Rampe einführt, um den Besucher die Vielfalt an Raumerlebis selbst wahrnehmen und spüren zu lassen. Der Mensch soll die Architektur nicht einfach nur benutzen oder durchschreiten, sondern sie bewusst wahrnehmen und sogar durch sie bewegt werden. Dies soll, nach Corbusier, das Bewusstsein erweitern und zu einer Weiterentwicklung führen. Diese These führt er in den weitern Kapiteln aus, stellt das Bauwerk und den Menschen in Bezug auf den gesamten Kosmos und sucht nach einer übergeordneten Ordnung. Für Le Corbusier ist Architektur nicht einfach eine Kunstform. Er sieht sich fast schon in der Verantwortung, sie als Erziehungsmittel zu nutzen, wie wir am dem Beispiel Musée Mondial sehen. Um sein Anliegen und auch seine Arbeiten verstehen können, wählte ich auch Passagen, die wiedergeben, welche Hintergründe es in seinem Schaffen gibt und welche Persönlichkeiten ihn beeinflussten. Denn auch ein Genie wie Corbusier fiel nicht einfach vom Himmel. Er fühlte sich zwar zu etwas Besonderem berufen, war jedoch ein sich einsam fühlender Sonderling, der trotz seiner Überzeugung und seines Könnens lange an Unsicherheit litt.

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Der Weg, bzw. das ,Auf-dem-Wege-Sein‘ werden für Le Corbusier zum allgegenwärtigen Symbol des Reifens, des Lernens, des immer wieder Neu-Sehen-Lernens, also zum Symbol der Unendlichkeit des Lebens selbst, die sich in den aufeinanderfolgenden Zyklen Leben - Tod - Leben manifestiert. Die tiefe Verankerung der ethisch-moralischen Prinzipien, die in Le Corbusier diese ungeheure Energie und Kraft sich entfalten ließ und ihn stets zum Oppositionellen, zum Rufer machte, ihn zugleich zur Übernahme einer außergewöhnlich hohen Selbstverantwortlichkeit und zu einer teilweise anmaßend anmutenden Selbsteinschätzung führte, ist nicht an eine bestimmte Phase seines Lebens gebunden. Sie läßt sich als Grundzug seines Wesens erkennen. Le Corbusier, der an einer Stelle im Almanach d‘architecture moderne von den Künstlern als von denjenigen spricht, die aus Menschen gottähnliche Gestalten machen möchten, versucht in diesem Selbstverständnis als ,Rufer seiner zeit‘ mit missionarischem Eifer, anderen einen Stoß zu versetzen, um sie aus ihren festgefahrenen Positionen zu rütteln. Es ist kennzeichnend für ihn und in seinen Schriften nachprüfbar, wie er immer wieder innehält, um seine eigene Spur wahrzunehmen, sich Rechenschaft über die bereits hinter ihm liegende Strecke zu geben und eine Vorstellung über den künftigen Weg-Abschnitt zu antizipieren. Le Corbusiers Leben gleicht einem Abbild der immerwährenden Bemühung, althergebrachte Begrenzungen zu durchbrechen, um in neue Räume vorzudringen. Wenn hier von Räumen die Rede ist, dann nicht nur im Sinne von deren Abmessungen. Auch die psychischen und geistigen Dimensionen sind hier angesprochen. Der Vorstoß in neue Räume ist hier wortwörtlich und metaphorisch gemeint. Da hier von einem Architkten die Rede ist, mag uns die erste Hälfte

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dieser Erklärung ziemlich gewöhnlich erscheinen, die zweite jedoch keineswegs. Die große Faszination für das Unterwegs-Sein in den weniger offensichtlichen Raumkategorien übersteigt bei weitem die üblichen Architekteninteressen. „Es ist gut, wenn man sich von der Existenz gewisser Dinge überzeugt - folgendes zum Beispiel ist wesentlich ( ... ). Ich zeichne ein Männchen ( ... ) und lasse es in das Haus eintreten. Der kleine Mann stellt eine bestimmte Größe, eine bestimmte Form des Zimmers fest - und vor allem einen bestimmten Lichteinfall ( ... ). Er geht weiter: er sieht andere Räume, andere Lichtdurchlässe. Er geht noch weiter: eine andere Lichtquelle. Und noch weiter: Stellen, die von Licht überflutet sind, und dicht daneben Halbschatten ( ... ). Von diesen aufeinanderfolgenden verschieden beleuchteten Räumen wird man direkt durchdrungen, man atmet sie ein. Ich habe immer gern den Schnitt der Grünen Moschee von Brousse angeführt; sie ist ein Meisterwerk - Rhythmus aus Raum und Licht( ... ).“ Le Corbusier verweist uns in der Beschreibung auf die Bedeutung des ersten Eindrucks, auf den Wechsel der auf dem kontinuierlichen Wegverlauf eintretenden Maßstabsveränderungen. Er macht uns darauf aufmerksam, daß die Rhythmen, Pausen und Tempi der Architektur im Außenraum andere sind als im Innenraum und daß dieses Aufeinanderprallen verschiedener Dimensionen der Vermittlung im architektonischen Entwurf bedarf. Jeder Wegabschnitt muß beachtet, die Wirkungen der Beziehungen aller Elemente müssen sorgfältig geplant werden. Alle Räume in der Raumfolge brauchen die ihnen adäquaten Mittel, um Reize und Erschütterungen auszulösen. [...]

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Es ist sehr wichtig, die Sensationen, die Ereignisse auf der ,promenade architecturale‘ nicht nur zu organisieren, sondern auch zu dosieren. In der Weg-Gestaltung geht es nicht darum, eine unendliche Kette beliebiger Erlebnisse herzustellen, ganz im Gegenteil: Ausgewählte Ereignisse sollen in sorgfältiger Art und Weise aufeinander abgestimmt werden. Sie sollen den Benutzern die Rolle des bequemen Konsumenten verunmöglichen. Der Wegverlauf sollte so konzipiert sein, daß er die Benutzer in einen aktiven und engagierten Entdeckungsprozeß zu verwickeln vermag. Für Le Corbusier ist die ,promenade architecturale‘ das Mittel, um das künstlerische Prinzip der Des-Automatisierung in den Wahrnehmungs- und Erlebensprozeß einzuführen. So erzeugt das künstlerische Objekt je nach Wahrnehmungsstandpunkt eine bestimmte Erwartungshaltung beim Betrachter ( = hervorstechendste Lesearten des Objekts), die aber durch die ästhetischen Botschaften des Werkes ( = weitere Lesearten des Objekts, die erst auf den ,zweiten‘ Blick, d. h. erst nach längerer oder intensiverer Auseinandersetzung mit dem Werk zutage treten) gestört wird. Roman Ingarden sagt in Prinzipien einer erkenntnistheoretischen Betrachtung der ästhetischen Erfahrung, die eine „Konkretisierung des ästhetischen Gegenstandes“, unter dem das Kunstwerk zur Erscheinung gelangt, sei vom Kunstwerk selber, von seinem künstlerischen Gesamtpotential zu unterscheiden. Dieses ,selber‘ erlaubt den „Vollzug mehrerer ästhetischer Erlebnisse, die aufgrund eines und desselben Kunstwerkes zu verschiedenen ästhetischen Gegenständen führen“. Ingarden bezieht in seiner Ästhetik die Betrachter in analoger Weise in den „Umgang mit (Kunst-) Seite 32

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Werken“ ein, wie C. G. Jung in seiner Psychologie oder Le Corbusier und Provensal in ihren Feststellungen. Die Reichheit und die Fülle, die sich aus der Auseinandersetzung mit Kunstwerken ergeben, hängen nicht nur, aber zu einem signifikanten Teil, vom schöpferisch-kulturellen Potential der Betrachtenden selber ab. Es treffen sich hier die Auffassungen aus Ästhetik, Psychologie, Philosophie und moderner Physik. Die über einen Gegenstand gemachten Aussagen stellen nicht nur den Gegenstand, sondern auch die Aussagenden in ein spezielles Licht. Um an unser Beispiel anzuschließen: Erst das Abschreiten der ,promenade architecturale‘, die Weg-Begehung, ermöglicht die Summe mehrerer Lesearten des Objekts. Das Spannungsverhältnis, das die Mischung zwischen Bekanntem und Unbekanntem erzeugt, führt Betrachter oder Benutzer zu einer intensiveren Form der Auseinandersetzung. Prinzipiell kann es sich bei dem Objekt um ein Werk der Musik, der Malerei, der Architektur, der Dichtkunst usw. handeln. Jede dieser Künste hat ihre eigenen Mittel, diese Verfremdungseffekte herbeizuführen. Das dadurch entstehende Phänomen werden wir das Prinzip der verlangsamten Wahrnehmung nennen. Die Gestaltung der ,promenade architecturale‘ wird im Haus La Roche-Jeanneret als Mittel zur Realisierung des ,Prinzips der verlangsamten Wahrnehmung‘ eingesetzt. Sie ist, wie der Besucher selbst nachprüfen kann, zugleich Ausdruck und Forderung eines Sensibilisierungsprozesses. Die Beziehung der ,promenade architecturale‘ zu einem erweiterten Außenraum fehlt leider bei diesem Beispiel weitgehend, da das Haus auf einem eng begrenzten Grundstück steht. In anderen Fällen, wie beispielsweise beim Palast des Baumwoll-

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industrieverbandes in Ahmedabad, spielt dieser Aspekt eine hervorragende Rolle. Bei der Beschreibung der ,promenade architecturale‘ in der Villa La Roche halten wir uns an ein Vorgehen, das Le Corbusier uns an die Hand gibt. Entsprechend seinen Ausführungen über die Grüne Moschee in Broussa werden wir den Weg abschreiten, mit unseren zwei Augen auf ca. 1,60 m über dem Boden. Wir werden versuchen, die den Augen und den übrigen Sinnen mit jedem Schritt vorgeführten ,Klangelemente der architektonischen Komposition‘ zu sehen und zu beschreiben, zu beobachten, wie unsere Schritte uns hindurch tragen, wie sie uns hinstellen, uns weiterführen und unseren Blicken immer neue Perspektiven, erwartete und unerwartete Sequenzen bieten, Geheimnis um Geheimnis der architektonischen Räume und ihrer Beziehungen preisgeben. DIE ,PROMENADE ARCHITECTURALE‘ Seite 34 Sucht man die Villa La Roche am Square du Docteur Blanche Nr. 8 in Paris, so braucht man schon beinahe detektivische Fähigkeiten. Nichts von einer großen architektonischen ,Anlaufgeste‘ wie beispielsweise bei der Villa Savoye, keine großangelegte Wegführung. Versteckt am Ende einer kleinen Pariser Sackgasse, von der Straße aus nicht sichtbar, liegt verborgen hinter Grün und Gartenhecken die heutige Fondation Le Corbusier. Frontal und seitlich den kleinen Platz am Ende der Sackgasse umfassend, hat das Doppelhaus im Grundriß eine L-Form. Betrachtet man die Eingangsseite des Hauses, so sticht sofort die Widersprüchlichkeit in der Erscheinung der Hauseingangselemente ins Auge: Einerseits erscheinen sie karg gestaltet, bescheiden, ohne

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große plastische Gebärden, andererseits ziehen sie durch ihre kontrastierende Maßstäblichkeit (große Garagentore unmittelbar neben besonders kleinen Dienstboteneingängen) dennoch den Blick auf sich. Das im Umgang mit Maßstabskonventionen erfahrene Auge ist durch das unvermittelte Nebeneinander irritiert. Im ersten Moment ist man verwirrt und unentschieden, welchen Eingang zum Haus man wählen soll oder muß. Mehrere mögliche Eingangssituationen konkurrieren miteinander, keine besonders einladend. Als Doppelhaus zeigt es alle Eingänge in doppelter Ausführung vor: die beiden Garagentore, vom Maßstab her sofort ins Auge springend, gleich daneben die beiden Dienstboteneingänge mit den kleinen Vordächern, ein erster Hinweis auf den sozialen Status der Bewohner, dann die beiden, an den Rand der durch den Fassadenaufbau angedeuteten Symmetrieachse gerückten Haupteingänge, von denen man auf den ersten Blick nur den einen sieht. Der Eingang, durch seine spiegelbildlich zum Eingang des Jeanneret-Hauses angeordnete Lage einerseits die Symmetrie des Gesamtkomplexes betonend, ist andererseits Indiz für das ,Spiel mit der gestörten Symmetrie‘. Er liegt, vorerst getrennt durch einen Garten, der als Schwelle zu einem nicht der oben beschriebenen Symmetrieordnung sich unterwerfenden Gebäudeteil gelesen werden kann, versteckt in einem zurückspringenden Gebäudeteil Dieser zurückversetzte Teil vollendet einerseits die Symmetrie

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und zerstört sie gleichzeitig, da er zugleich zu dem die Ordnung sprengenden, rechtwinklig gebogenen Galeriebereich überleitet. Als Ganzes betrachtet, könnte man diesen Platz vor dem Haus als einen ersten gewaltigen Weg-Stop betrachten. Gefangen oder aufgehalten von zwei rechtwinklig zueinander stehenden, die Besucher zweiseitig umfassenden, von den Dimensionen her imposant wirkenden weißen Wänden, werden die Ankommenden am Ende des kleinen Zugangsweges abrupt gebremst. Erstaunt hält man inne, betrachtet die zwei extrem flach erscheinenden, von einer Reihe schwarz wirkender Löcher, die einer nicht sofort ins Auge springenden Ordnung zu gehorchen scheinen, belebten und durchdrungenen weißen Wände. Die Wand an der Stirnseite des Platzes folgt in ihrer Grundrißform einem konvexen Bogen, der sich gegen die Ankommenden wölbt und, trotz der abweisenden Geste, zugleich bewegungsführende Funktion hat. Sie leitet die Besucher auf den versteckten Eingang des Hauses La Roche zu. Oben und unten wird dieser geschwungene Gebäudeteil, der im Innern den Galeriebereich aufnimmt, von dunklen Zonen beinahe entmaterialisiert: oben durch ein Fensterband, im Erdgeschoß durch die Einbeziehung des nur durch die dünnen ,pilotis‘ und zwei Wandelemente unterbrochenen Außenraumes.

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Die Besucher erleben durch diese Art der Gestaltung einerseits die Präsenz des weißen Baukörpers, der zu schweben scheint und eine Umlenkung des Weges anzeigt, andererseits den durch den Baukörper getrennten Außenraumbereich. Eine erste Umsetzung des Spiels der Bauteile mit gegensätzlichen Anspielungen: in den Weg gestellte, überdimensionale weiße Wände, die den Besucher abweisen und gefangennehmen, aber auch - durch ihre Form oder ihre Öffnungen - auf das jenseits der Wände sich Abspielende verweisen. Sie bremsen - und laden zugleich zum Weitergehen ein. Hat man den Platz vor dem Haus verlassen und den als Schwelle ausgebildeten, dem gebauchten Galeriebereich vorgelagerten und dadurch eine Außenraumzone erhöhter Intimität abgrenzenden Garten durchschritten, so begibt man sich, geführt von der

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sanften Wölbung des erhöhten weißen Körpers, zur Eingangstür des Hauses La Roche. Erneut wird man aufgehalten. Eine dritte, wiederum überdimensional wirkende weiße Wand, einem Bild gleich, empfängt die Ankommenden. Beeindruckt von der Einfachheit der Gliederung der weißen Fläche und der intensiven Wirkung, die sie ausübt, ist man zugleich über die ungleiche Größe der beiden dunklen Öffnungen erstaunt: eine in der Mittelachse liegende, ohne jeden Schmuck versehene, einer schwarz gemalten Fläche gleichende Eingangstür, darüber ein riesiges, querformatiges Fenster, das, verglichen mit der Größe der Tür, geschoßhoch sein muß. Schwarz gerahmt wie die Tür und mit schwarzen Sprossen gegliedert, wird es vom letzten Drittel der gesamten Gebäudehöhe überragt, das in reinem Weiß gehalten ist - insgesamt eine ungewöhnliche Verteilung der Hell-Dunkel-Anteile der Gesamtfläche und eine Provokation für das ,eingerostete‘ Auge. Die Tür erscheint bei dieser Gestaltung der Fläche wie eine unbedeutende Angelegenheit. Man betritt die Eingangshalle durch eine im Vergleich zu den bisherigen architektonischen Elementen auffallend kleine Öffnung, der eine besondere Aufgabe zukommt. Sie soll die Ankommenden vom Maßstabsbereich des Außenraumes in den anders gearteten des Innenraumes hinüberleiten. Die kleine Öffnung ist als Engpaß gedacht, als ,Nadelöhr‘, das die Würde der jenseits der Tür liegenden Räume einleitet. Diese Wirkung des vorübergehenden Engpasses wird noch durch eine niedrigere, eingeschossige Zone verstärkt, die durch die direkt der Außenfassade entlanglaufende Passerelle in der Eingangshalle gebildet wird. Und tatsächlich, hat man erstmals die räumlich verengte Eingangszone passiert, so ist man von der neuen Dimension der

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Eingangshalle und deren optischer Erscheinung überwältigt. Die Rückwand ist strahlend weiß, die Seitendurchgänge sind farbig und dunkel.

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Wie gebannt steht man im Raum und vergißt zunächst einmal weiterzugehen. Wären die Spuren der an diesem Ort vollzogenen Bewegungen am Boden sichtbar, so hinterließen sie wahrscheinlich ein wirres Durcheinander kreisender Abläufe. Man ist gezwungen, sich nach allen Seiten umzudrehen, um die Vielfalt der neuen räumlichen Situation Schritt für Schritt wahrzunehmen. Waren die Besucher auf dem zuvor beschriebenen Platz des Außenraumes von zwei rechtwinklig zueinander stehenden weißen Wänden umrahmt, so hat nun im Inneren der Grad der Raumdefinition zugenommen. Allseitig wird man von dreigeschossigen, weißen Wänden, wie wir sie vom Außenraumbereich her kennen, umfaßt. Man weiß zwar, daß man gerade erst eine Tür durchschritten hat und sich in einem Innenraum befindet - und dennoch ruft dieser Ort Assoziationen an einen Außenraum wach. Man bemerkt einen kleinen Balkon, der aus der einen seitlichen Wand zur Halle hin sich ausstülpt, und schaut unwillkürlich nochmals zurück, geht noch einmal durch die Eingangstür in den Garten, um sich zu vergewissern, daß sich in der geschwungenen Außenwand wirklich ein Pendant zu diesem Innenraumbalkon findet. Die Idee, daß sich der Innenraum in gewisser Weise als Fortsetzung des eben durchschrittenen Außenraumes verstehen läßt, sieht sich bestätigt. Dieses Doppelspiel von Innen- und Außenraum verstärkt sich noch durch die Beschaffenheit und die Gestaltung der Innenraumwände. Neben dem schon erwähnten Weiß, das die Kontinuität des Außenraums in den Innenraum zeigt, fällt der Fassadencharakter der Innenraumwände ins Auge. Die Erinnerung an einen mittelalterlichen Platz taucht auf; man fühlt sich auf einem relativ eng begrenzten Platz, umgeben von seitlichen Fassaden, deren Wandöffnungen, teils vor-, teils zurückspringend oder verbunden durch

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eine den Platz überquerende Passerelle, die Besucher unmerklich dazu verführen, Mutmaßungen über den weiteren möglichen Verlauf der Wege anzustellen, über die möglichen räumlichen Beziehungen der zum Teil versteckten, zum Teil angedeuteten Räume hinter den Wänden. Diese von sorgfältig eingefügten Öffnungen ,durchbrochenen‘ Wände, die im Prinzip als dreigeschossige, durchgehende Elemente zu lesen sind, sind in ihrer Doppelfunktion als Trenn- und Verbindungselemente von einander zugeordneten Räumen ein ausgezeichnetes Mittel, die Besucher in eine aktive Auseinandersetzung mit den architektonischen Gegebenheiten zu verwickeln. Sie vermögen die reichhaltigsten Vorstellungen über mögliche Ereignisse zu erzeugen, wie sie ihnen auf dem weiteren Weg begegnen könnten. Nach einer ersten Orientierung verspürt man das Bedürfnis, eine Wertung, einen Vergleich der die Eingangshalle umfassenden Wände vorzunehmen. Die zum Eingang frontal gestellte Wand steht außer Konkurrenz, sie ist einzigartig. Über drei Etagen verlaufend, ohne Störung oder Unterbrechung, in reinstem Weiß, mit nur einem kleinen Tableau versehen, das zur Aufnahme einer Skulptur dienen könnte, bildet sie ein weiteres Exemplar in der Serie der die Besucher auf ihrer ,promenade‘ abrupt festhaltenden und umleitenden Wände dar. Als beinahe Ehrfurcht einflößendes Vis-à-vis stellt sie sich unvermittelt in den Weg und gibt ihm eine andere Richtung. Die Tatsache, daß sie von den drei restlichen Wänden Licht erhält, verleiht ihr eine trotz ihrer Klarheit spürbare Dominanz. Trotz ihrer Stummheit überzeugt ihre Präsenz. Insbesondere die Rückwand mit ihrem geschosshohen Nordfenster scheint in einem besonderen Dialog mit ihr zu stehen. Die beiden seitlichen Lichteinfälle am Ende der Halle deuten zugleich die

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nach den beiden Seiten weiterführenden Wege an. Sie kommen von den beiden seitlich angrenzenden Treppenhäusern. Von der Halle aus gesehen hat man den Eindruck, daß der nach links führende Weg der bedeutendere sei. Wenn man herauszufinden versucht, wie dieser Eindruck zustande kommt, dann fällt sofort der klare Bezug des hinter der Wand sich befindenden linken Hausteils zur dreigeschossigen Halle auf: die größeren und die den Dimensionen differenzierteren Öffnungen, die direkteren Beziehungen. Bei der Wegabzweigung gibt es einen zweigeschossigen räumlichen Bereich, der durch das sich in ihm befindende Balkonelement eine mehrdeutige und reichere Beziehung zur Halle entwickelt. Der in den Raum ragende Balkon verleiht als ,Aussichtspunkt‘ den dahinterliegenden Räumlichkeiten ein besonderes Gewicht. Er verweist auf einen besonderen Dialog der durch ihn sich verbindenden Räume. Das Licht drängt von dieser Seite stärker in den Bereich der Halle, da ihm mehr Durchlaß gewährt wird. Der nach rechts führende Weg scheint nicht mehr nach denselben Mitteln der Verbindung zu rufen. Die Wand ist weniger auffällig perforiert, flächig, eher karg. Es gibt kein skulptural ausgebildetes architektonisches Element, daß in den Hallenbereich ragt. Die an sich schon kleineren Öffnungen sind zusätzlich mit einem Gitterwerk versehen, daß, obwohl als dünne Stäbe und dunkel ausgebildet, dennoch eine Gitterwirkung hervorruft und den jenseits der Wand liegenden Bereich als weniger wichtig bezeichnet. Von der Halle aus betrachtet, gewinnt man den Eindruck, daß man sich mit dem Verlassen der Halle in intimere Bereiche des Hauses begibt, daß man gleichsam von außen nach innen geht. Diese Idee wird durch die Entdeckung unterstützt, daß auf den ,Hinterseiten‘

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der Hallenfassaden die Räume Farben aufweisen; man wendet sich ab vom nach außen gezeigten anonymen weißen Gesicht und tritt ein in die Intimität der farbigen Räume. [...] Seite 56 Die Villa ,La Roche‘ wurde gewählt, weil hier erstmals die Rampe als Teil der ,promenade architecturale‘ in Erscheinung tritt und weil wir hier den Rang der ästhetischen Anforderungen an die Architektur im Bereich der privaten Villa beobachten können. Rampenanlagen erwarten wir schon eher bei öfentlichen Gebäuden, im Maßstabsbereich des Privaten erstaunen sie uns. Erinnern wir uns an die von Le Corbusier erhobene Forderung, Architektur habe nicht nur dem „Tier, sondern auch dem Gott in uns zu dienen“. In engstem Zusammenhang mit diesen Anforderungen steht die Auffassung, in der Architektur sei nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Bauaufgaben zu unterscheiden, alles habe seine Bedeutung, ob Wochenendhaus, Palast, Stauwerk oder Fabrik. Für Le Corbusier ist alles architektonische Einheit, vom Haus bis zum Palast. Jede Bauaufgabe hat ihre Bedeutung, da sie sowohl den Menschen als auch die nähere und weitere Umgebung beeinflußt. In diesem Zusammenhang gehört Le Corbusiers „rendre le temple dans la famille“. Es geht darum zu zeigen, daß auch das gewöhnliche Haus derselben Aufmerksamkeit bedarf wie zu früheren Zeiten der Palast. „ ... als wir die ,Wohnmaschine‘ forderten, haben wir seither unsere noch ganz junge Meinung dahingehend revidiert, daß wir behauptet haben, diese Wohnmaschine könne auch ein Palast sein. Unter Palast wollten wir verstanden wissen, daß jedes Organ eines Hauses allein durch seine Anordnung innerhalb des Ganzen so

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ergreifend auf uns wirken könne, daß es die Größe und den Adel einer Absicht verriete. Und diese Absicht, das war für uns gleichbedeutend mit Architektur. Denen, die sich inzwischen mit dem Problem der ,Wohnmaschine‘ beschäftigten und die erklärten, ,Architektur heißt dienen‘, haben wir geantwortet: ,Architektur heißt ergreifen‘. Und man hat uns verächtlich als ,Poeten‘ abgetan“. VOM ANALOGEN DENKEN ALS ENTWURFSHILFE Seite 74 Wie dieser komplexe Körper in die Entwurfskonzeption integriert werden könnte, im Zusammenhang mit der Lösung der verzwickten Verkehrsprobleme, der Befreiung der Stadt von ihrer „Stadtmittelpunkts-Krankheit“, wie dieses komplizierte Zusammenwirken der einzelnen Faktoren zu einer einheitlichen, befriedigenden städtebaulichen Lösung gebracht werden kann - das ist die Problematik der südamerikanischen Städtebauprojekte. Das dieser Problemstellung adäquate, den vier Entwürfen gemeinsame Lösungsprinzip entdeckt Le Corbusier durch die Betrachtung einer Analogie-Situation. Durch bewußtes Wahrnehmen und Überdenken des Phänomens der mäandrierenden Linie von Flüssen beim Überfliegen des weiteren Entwurfsraumes gelingt ihm eine erstaunliche und präzise Übersetzung eines vorhandenen Potentials in einen städtebaulichen Entwurf. Das Phänomen des sich entwickelnden Flußlaufes und die ihm zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten inspirieren Le Corbusier zu einem Transfer der Erkenntnisse in einen Weg-Entwurf. Le Corbusier drückt seine Erfahrungen folgendermaßen aus: „Vom Flugzeug aus habe ich Schauspiele gesehen, die man alskosmisch bezeichnen könnte. Welche Anregung zum Nachdenken, welch ein Sichzurückbesinnen auf die fundamentalen Wahrheiten

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unserer Erde! Von Buenos Aires aus haben wir das Delta des Paraña überflogen, eines der größten Ströme der Welt ( ... ) stundenlang sind wir stromaufwärts geflogen ( ... ). Der Lauf dieser Flüsse in dem unendlichen flachen Land erläutert friedlich die unerbittliche Konsequenz der Physik: das Gesetz vom größten Neigungswinkel und später, dort, wo alles flach geworden ist, den Lehrsatz von der mäandrierenden Linie. Ich sage ,Lehrsatz‘ -, denn die Windung, die durch Erosion entsteht, ist ein zyklisch sich entwickelndes Phänomen, das unbedingt dem des schöpferischen Gedankens, dem der menschlichen Erfindungsgabe gleicht. Während ich aus luftiger Höhe den Verlauf der Windungen verfolge, erklären sich mir die Hindernisse, auf die die menschlichen Dinge stoßen, die Sackgassen, in die sie geraten, und die plötzliche Entwirrung verwickelter Situationen, die wie ein Wunder erscheint. Für meinen eigenen Gebrauch habe ich dieses Phänomen ,das Gesetz des Mäanders‘ getauft, und während meiner Vorträge in São Paulo und Rio hab‘ ich dieses wunderbare Symbol benutzt, als ich meine Vorschläge für städtebauliche oder architektonische Reformen unterbreitete, um mich einem Publikum gegenüber, das ich unter den gegebenen Umständen für fähig hielt, mich der Aufschneiderei zu beschuldigen, auf die Natur berufen zu können.“7 Das ,Gesetz des Mäanders‘ zeigt dem aufmerksamen Betrachter den doppelten Aspekt der anspruchsvollen entwurflichen Ausgangssituation: das Problem und die Lösung. Es ist zugleich auch Sinn-Bild für den Verlauf geistiger Prozesse, wie beispielsweise schöpferischer Denk- und Schaffensvorgänge, und insofern auch Sinnbild für einen wesentlichen Charakterzug Le Corbusiers: das Sichzurückziehen, das Insich gehen, um Zeit und Ruhe zu haben, die verwirrten Situationen aus geistiger und räumlicher Distanz in

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einfache und klare Fragestellungen zu verwandeln, nach dem Wie und dem Warum zu fragen. Dieser Vorgang - eine sich verschärfende Problemsituation und deren sich aus sich selbst abzeichnenden Lösung - ist, wie Le Corbusier bemerkt, ein zyklisches Phänomen, dem sich der wache Mensch immer wieder gegenübergestellt sieht. Die richtige Betrachtung des Problems kündigt die Lösungan. Der Fluß verhält sich wie die Idee, die Idee wie der Fluß. Der Störenfried selbst ist es, wie Le Corbusier sagt, der die Lösung erbringt: „Ich zeichne einen Fluß ( ... ); das Ziel ist deutlich, der Lauf geht von einem Punkt zum anderen: Fluß oder Idee. Eine ( ... ) Schwierigkeit des Geistes: als Folge eine winzige Krümmung ( ... ). Von links nach rechts wälzt sich das Wasser, immer tiefer nagt es, bohrt und frißt; die Idee verschwimmt in die Breite. Die gerade Linie ist zur Schlangenlinie geworden ( ... ). Die Schlangenlinie wird zum Charakteristikum, der Mäander zeichnet sich ab; die Idee hat sich verzettelt. ( ... ) die Lösung (wird) schrecklich kompliziert.“8 „Der Störenfried selbst liefert die Fortsetzung des Phänomens und die Lösung: Jedes Hindernis zergeht in Nichts und schwindet ( ... ). Das lästige Geschwür bricht auf - und der Weg läuft schnurstracks weiter. Das ist die Lehre vom Mäander, vom Sieg über sich selbst“.9 Das Sinnbild des Mäanders überträgt Le Corbusier in seine städtebaulichen Entwürfe. Die Idee der großen Weg-Geste, die Nutzung des Prinzips des Pont-du-Gard, das Le Corbusier immer wieder als beispielhaft anführt10, erlaubt ihm, das Phänomen der Korrektur ausgewaschener Flußwindungen so in die Architektur zu übertragen, daß sich ein Gewinn auf mehreren Ebenen erzielen läßt: - Aufwertung der alten Stadt durch Schaffung einer starken architektonischen Gesamtform, die die Merkmale der gegebenen

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Situation, der schon bestehenden Elemente durch ihre kontrastierende Haltung bzw. Erscheinung hervorhebt und sie zu neuen optischen und räumlichen Zusammenhängen verknüpft; - optimaler Verkehrsfluß für die neue Stadt auf einer bestimmten Höhe: Das Prinzip des Pont-du-Gard wird als eine die Stadt überspannende Autobahn entworfen; - der Pont-du-Gard als antithetisches Element zu den natürlichen Gegebenheiten und auch zur schon bestehenden Stadt, die zur Topographie keine Kontrastform bildet, sondern sich im Gegenteil den Unebenheiten des Geländes entlangwindet; - der Pont-du-Gard als ein „plastisches Ereignis im Herzen der Natur“; - der Pont-du-Gard als die zu den vertikalen Erhebungen der Natur hinzugefügte und sie ordnende und betonende Horizontale; - die neue, übergeordnete Einheit, die durch das harmonische Zusammenwirken der bestehenden und der neu hinzutretenden Teile entsteht. Städtebauer und Landschaftsarchitekten seien angesichts so gewaltiger Probleme (Verkehrschaos, Topographie) entweder ratlos oder gerettet, falls sie die technischen Mittel zu nutzen wüßten und an ihren kreativen Lyrismus appellieren könnten. In einer unaussprechlichen Symphonie wird die Natur, vereint mit der Geometrie, ein ,poeme plastique‘11 zum Klingen bringen. Der gordische Knoten ist gelöst; die übergeordnete Einheit will nicht die Zerstörung der Gegensätzlichkeiten, sondern ein durch spannungsvolles Gegenüberstellen, durch gegenseitiges Sich-Abgrenzen der Elemente sich ergebendes neues Gleichgewicht, die Ausgewogenheit der kontrastierenden Teile. Diese sich widersprechenden Teile bestärken sich gegenseitig im eigenen Wert, sie ergeben in ihrem Zusammenwirken etwas Drittes, Neues, das mehr ist als die

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Summe seiner Teile, oder, wie Le Corbusier es ausdrückt, ein unser Herz und unseren Geist aufwühlendes Konzert.12 Ziel der südamerikanischen Städtebauprojekte ist es, solche verblüffenden Synthesen zu schaffen. Ein ergreifendes Konzert der aus Gegensätzen bestehenden neuen Einheit wird angestrebt, Lösungen, die, wenn sie wirklich groß sind, sich der Natur mit Heiterkeit vermählen13 und zu jener Einheit führen, zu der die pausenlose und alles überwindende Arbeit hinführen würde. Das Prinzip des Pont-du-Gard, eingesetzt als Weg-Gerade, als stadtüberspannende Autobahn, ausgezeichnet als die den topographischen Gegebenheiten entgegengesetzte Horizontale, soll die neue Einheit erzeugen. [...] Durch die Einbeziehung der Natur in das städtebaulich-architektonische Konzept oder, umgekehrt, durch die Integration der architektonischen Idee in die Umgebung, begännen beide, These und Antithese, sich jeweils in der Sprache des andern auszudrücken: Die Architektur spräche von der Landschaft, und die Landschaft spräche von der Architektur. Beide würden sich gegenseitig formulieren, präzisieren und in ihrem Aussagewert potenzieren. Das Symbol des rechten Winkels erscheint im Falle von Rio als das den komplizierteren äußeren Erscheinungsformen - der geschwungenen Autobahn (der Horizontalen) und der in unendlich viele Vertikalen zersplitterten Elemente der Natur - zugrunde liegende Prinzip. Horizontale und Vertikale sind nur als Abstraktionen vorhanden; der Weg (die Autobahn) selber beansprucht für sich nur die eine Hälfte des Symbols, um im Zusammenspiel mit der andern die neue, übergeordnete Einheit zu erzeugen. Auch im Falle von Buenos Aires ist dies der Fall. Die Projekte für

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São Paulo und Montevideo zeigen zwar die Form des rechten Winkels auch in ihrem Grundriß, wobei im letzteren Falle der eine Arm der Anlage eine Verlängerung erfährt. Es ist wichtig, auf die komplexe Art der Verwendung desselben Symbols in diesen Entwürfen hinzuweisen. So wird Le Corbusier etwa im Falle von Buenos Aires durch die Erinnerung an seine Ankunft auf dem Schiff, die ihm die Idee der „majestätischen Horizontale“ - gebildet aus der einzigen Linie, die durch die einfache Begegnung von Pampa und Meer entsteht, inspiriert, die Stadt durch eine weitere, zusätzliche Horizontale - gebildet aus einer riesigen, ins Meer hinausragenden Plattform, Träger der neuen Geschäftsstadt und der Autobahn - zu bereichern. Allen südamerikanischen Städtebauprojekten Le Corbusiers ist die Idee des aufgestellten rechten Winkels - gebildet aus der Natur (zusammengefaßt in der abstrakten Vertikalen) und der hinzutretenden Geometrie (Weg-System/Bauwerk: zusammengefaßt in der abstrakten Horizontalen) immanent. Der aufgestellte rechte Winkel ist als abstraktes Symbol der neu gewonnenen Einheit der Gegensätze zu sehen.


73 Elisabeth Blum, Le Corbusiers Wege: Wie das Zauberwerk in Gang gesetzt wird Berlin, Erstausgabe: 1988 Birkh채user 3. Auflage: 1995 unver채nderter Nachdruck: Juni 2001 (Bauwelt Fundamente ; 73) ISBN 3-7643-6496-3 verf체gbar


Transparenz Colin Rowe & Robert Slutzk Bernhard Hoe 1968


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gelesen und ausgewählt von Kathrin Stoye

„Wenn ich nur ein einziges Buch auf eine einsame Insel mitnehmen dürfte, dann wäre es dieses.“ Diese Aussage von Prof. Myriam Gautschi reichte aus, um meine Neugier zu wecken. Sie wird verständlich durch die Tatsache bestätigt, dass das Buch auch bei mehrmaligem Lesen immer wieder neue Räume und Blickwinkel aufspannt und sich sein Repertoire nie erschöpft und stets aktuell bleibt. Besonders spannend finde ich bei „Transparenz“ die Verknüpfung von Malerei und Architektur. Hierbei wird einem bewusst, dass auch Einflüsse der Kunst Architektur nachhaltig beeinflussen, Impulse liefern oder zu neuen Formen der Annäherung beitragen können. Man begreift, dass Architektur nie für sich allein zu betrachten ist, sondern immer die Summe aus vielen unterschiedlichen Faktoren darstellt. Nun möchte ich auf die Hintergründe des Buches und der Autoren eingehen. Der Aufsatz „Transparency: Literal and Phenomenal“ wurde 1955 von dem britischen-amerikanische Architekten Colin Rowe (1920-1999) und dem amerikanischen Architekturtheoretiker und Kunstmaler Robert Slutzky (1929-2005) verfasst. Beide bildeten zusammen mit John Hejduk, Werner Seligmann und Bernhard Hoesli die Architektengruppe „Texas Rangers“ an der University of Texas in Austin, USA, deren Ziel es war neue Lehrmethoden für den architektonischen Entwurf zu entwickeln. Auf Deutsch übersetzt und kommentiert wurde das Buch 1968 von dem schweizer Architekten Prof. Bernhard Hoesli (1923-1984). Die deutsche Fassung „Transparenz“ wurde durch das Instituts gta der ETH Zürich veröffentlicht. Das von Hoelsi verfasste Addendum für die englishe Ausgabe wurde in späterer Auflage nach seinen Layout-Skizzen übersetzt und hinzugefügt. In der 4. Auflage wurde das Buch noch um eine Einführung des schweizer Architektur- und Kunsthistorikers Prof. Werner Oechslin erweitert.

Zum Inhalt des Buches. Ursprünglich bildete der Aufsatz „Transparenz“ das Kernstück des Buches. Mittlerweile ist der Kommentar von Hoesli für uns Architekten jedoch fast bedeutender geworden. Der Aufsatz kreist um die verschiedene Bedeutungsebenen des Begriffs Transparenz.

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Der Begriff Transparenz, wie wir sie durch Glas kennen, wird um einen übertragenen Sinne erweitert, der durch das Überschneiden, Überlagern und Ineinandergreifen von bildnerischen oder räumlichen Situationen entsteht. Ein einfaches Beispiel hierfür ist die Vierung in einem Kirchenraum. Sie stellt eine Zone dar, die sich gleichzeitig als Teilraum des Längs- als auch des Querschiffes lesen lässt. Anhand dieser Grundlage werden im ersten Teil des Aufsatzes zunächst kubistische Gemälde miteinander verglichen. Dabei weist eine eindeutige Zuordnung von Hintergrund, Mittelgrund und Vordergrund (FigurGrund-Phänomen) auf wirkliche Transparenz hin. Transparenz im übertragenen Sinne zeichnet sich hingegen durch eine mehrdeutige Lage einzelner Formen im Raum aus. Im zweiten Teil des Aufsatzes wird ein Zusammenhang zwischen Malerei und Architektur hergestellt und schließlich unterschiedliche Gebäude von Le Corbusier mit dem Bauhaus in Dessau von Walter Gropius unter dem Aspekt der wirklichen Transparenz (Durchlässigkeit des Glases) und Transparenz im übertragenen Sinne (räumliche Schichtung des Innen- und Außenraumes und somit Möglichkeit von unterschiedlichen Lesearten) verglichen.

8 Walter Gropius, Bauhaus Dessau, 1926 9 Pablo Picasso, L‘Arlésienne, 1926


Bernhard Hoesli stellt dem eigentlichen Aufsatz „Transparenz“ eine kurze Einleitung voraus, in der er die besondere Bedeutung und die Anwendungsmöglichkeiten des Aufsatzes für Architekten beschreibt. Zudem fügt er einen Kommentar hinzu. In diesem erläutert er anhand von Zeichnungen verschiedener Bauten und ergänzten Erläuterungsskizzen plakativ und gut verständlich den zuvor von Rowe und Slutzky formulierten Transparenzbegriff. Hoeslis Addendum „Transparente Formorganisation als Mittel des Entwurfs“ fasst spannende, für das allgemeine Entwerfen gültige, Aspekte zusammen. Hier werden an konkreten Aufgaben wie einer Häuserlücke Lösungsvorschläge mit Hilfe von Transparenz erarbeitet. Mit meiner Auswahl der Passagen möchte ich die wichtigsten Abschnitte aus allen Kapiteln des Buches so zusammenstellen, dass der Zusammenhang nachvollziehbar bleibt. „Transparenz“ ist spannend, vielseitig, informativ und hat mich als Architekturstudentin weitergebracht.

1 ‹Transparenz›, ‹Raum-Zeit›, ‹Simultaneität›, ‹Durchdringung›, ‹Überlagerung›, ‹Ambivalenz›, diese Wörter werden in der zeitgenössischen Architekturliteratur oft als Synonyme benutzt. Ihre Verwendung ist uns vertraut, und nur selten versuchen wir, ihren Gebrauch zu analysieren. Ein Versuch, aus so ungefähren Begriffen wirksame, kritische Werkzeuge zu machen, ist vielleicht pedantisch. Trotzdem wird in diesem Artikel Pedanterie riskiert mit dem Versuch die verschiedenen Bedeutungsschichten aufzudecken, mit denen der Begriff der Transparenz ausgestattet ist. Der Wörterbuchdefinition zufolge ist die Eigenart oder das Wesen von Transparenz sowohl ein materieller Zustand - nämlich lichtund luftdurchlässig zu sein - als auch das Resultat eines Seite 22 ff.

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intellektuellen Bedürfnisses, nämlich unseres angeborenen Verlangens nach dem, was leicht erkennbar, offensichtlich und frei von jeder Verstellung sein sollte. So wird das Adjektiv ‹transparent›, das eine rein physische Bedeutung definiert, auch eine kritische Auszeichnung, die zugleich mit moralischen Obertönen aufgeladen wird - ein Wort, das von allem Anfang an reich mit Möglichkeiten von Sinn und Mißverständnis ausgestattet scheint. Eine weitere Schicht der Bedeutung - Transparenz als etwas, das in einem Kunstwerk zu entdecken ist - wurde von Gyorgy Kepes in seinem Buch ‹The Language of Vision› auf bewundernswerte Weise definiert: «Wenn man zwei oder mehrere Figuren sieht, die einander überschneiden, und jede den gemeinsamen Teil für sich selbst beansprucht, steht man vor einem Widerspruch der räumlichen Dimensionen. Um diesen Widerspruch aufzulösen, muß man die Anwesenheit einer neuen optischen Qualität annehmen. Die Figuren werden mit Durchsichtigkeit ausgestattet, das heißt, sie sind in der Lage, sich gegenseitig zu durchdringen, ohne sich optisch zu vernichten. Doch enthält Transparenz mehr als ein optisches Charakteristikum, sie impliziert eine umfassendere räumliche Ordnung. Transparenz bedeutet eine gleichzeitige Wahrnehmung von verschiedenen räumlichen Lagen. Der Raum dehnt sich nicht nur aus, sondern fluktuiert in kontinuierlicher Aktivität. Die Lage der transparenten Figuren hat einen zweideutigen Sinn, wenn man jede Figur bald als die nähere, bald als die entferntere sieht.» Dieser Definition zufolge hört Transparenz auf, das zu sein, was vollkommen klar ist, und wird statt dessen zu etwas, das deutlich zweideutig ist. [...] Seite 25 ff. Frontalität, Unterdrückung von Tiefe, Zusammenziehen

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des Raumes, Bestimmung der Lichtquellen, Vorneigen der Objekte, beschränkte Farbwahl, schräge und senkrechte Liniengefüge und der Hang zur Entwicklung der peripheren Bildzonen sind alles Kennzeichen des analytischen Kubismus. Abgesehen vom Zerstückeln und Wiederzusammensetzen von Objekten, zeigen die kubistischen Bilder vor allem ein weiteres Einschrumpfen der Tiefe und eine gesteigerte Betonung, die jetzt der Rasterung zukommt. In derselben Phase neigt der Kubismus zur Verflechtung zweier Koordinatensysteme. Einerseits deuten schräge und gekrümmte Linien auf ein diagonales, räumliches Zurückweichen hin. Andererseits impliziert eine Reihe horizontaler und vertikaler Linien eine widersprechende Aussage des Frontalen. Allgemein haben die schrägen und gekrümmten Linien eine Art naturalistische Bedeutung, während die geradlinigen eine geometrisierende Tendenz aufweisen, die als Wiederbestätigung der Bildebene dienen. Beide Koordinatensysteme sorgen gleichzeitig für eine Orientierung der Figuren im sich ausdehnenden Raum und auf der bemalten Fläche; während ihr Überschneiden, ihr Überlagern, ihr Ineinandergreifen und ihr Aufbau zu größeren und fluktuierenden Konfigurationen die Entstehung des typisch mehrdeutigen kubistischen Motivs ermöglichen. [...] Die doppelte Beschaffenheit der Transparenz kann durch Vergleich und Analyse eines etwas atypischen Picasso, ‹Le Clarinettiste› (2), und eines repräsentativen Braque, ‹Le Portugais› (3), illustriert werden, in denen die Pyramidenform eine Figur andeutet. Picasso definiert seine Pyramide mittels eines starken Umrisses; Braque braucht kompliziertere Hinweise. Picassos Umriß ist so bestimmt und so unabhängig von seinem Hintergrund, daß der Betrachter den Eindruck einer geradezu transparenten Figur hat, die in relativ

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tiefem Raum steht, und erst später faßt er diesen Sinneseindruck neu, um das eigentliche Fehlen von Tiefe zu berücksichtigen. Bei Braque erfolgt das Ablesen des Bildes gerade umgekehrt. Eine hochentwickelte Durchflechtung von horizontalen und vertikalen Rasterungen, die durch unterbrochene Linien und eindringende Flächen geschaffen werden, legt einen primär untiefen Raum fest, und nur allmählich kann der Betrachter diesen Raum mit einer Tiefe ausstatten, die der Figur erlaubt, Substanz anzunehmen. Braque bietet die Möglichkeit, Figur und Rasterung unabhängig voneinander zu lesen: Picasso kaum. Picassos Rasterung ist eher innerhalb seiner Figur enthalten oder erscheint als eine Art Ereignis, das am Bildrand eingeführt wird, um sie zu stabilisieren.

2 Pablo Picasso, ‹Le Clarinettiste›, 1911 3 Georges Braque, ‹Le Portugais›, 1911


Im einen Bild bekommen wir eine Vorahnung wirklicher Transparenz, im anderen von Transparenz im übertragenen Sinne; […]. In seinem ‹Abstract of an Artist› sagt uns Moholy Nagy, daß sich seine ‹transparenten Bilder› um 1921 völlig von allen Elementen befreiten, die an Natur erinnern, und, um ihn direkt zu zitieren: «Ich sehe heute, daß das die logische Auswirkung der kubistischen Bilder war, die ich bewundernd studiert hatte.» Ob man nun das Befreitsein von allen an Natur erinnernden Elementen als logische Weiterführung des Kubismus betrachten kann, ist für diese Diskussion unwesentlich; aber ob es Moholy tatsächlich gelang, sein Werk von allem naturalistischen Gehalt zu Seite 30 ff.

81 6 László Moholy-Nagy, ‹La Sarraz›, 1930 7 Fernand Léger, ‹Trois Faces›, 1926


entleeren ist von einiger Bedeutung, und sein scheinbarer Glaube, daß der Kubismus den Weg zur Befreiung der Formen gezeigt hat, mag die Analyse eines seiner darauffolgenden Werke und einen Vergleich mit einem anderen nachkubistischen Bild rechtfertigen. Moholys ‹La Sarraz› von 1930 könnte man daher recht gut mit einem Fernand Léger von 1926, ‹Trois Faces›, vergleichen (6 und 7). In ‹La Sarraz› sind fünf durch ein S-förmiges Band verbundene Kreise, zwei Sätze trapezförmiger Flächen von lichtdurchlässiger Färbung, eine Anzahl fast horizontaler und vertikaler Balken, ein reichliches Gesprenkel heller und dunkler Tupfen und leicht zusammenlaufende Striche auf einen schwarzen Hintergrund gelegt. In den ‹Trois Faces› sind drei Hauptzonen des Bildes, die organische Formen, abstrahierte Objekte und rein geometrische Gebilde aufweisen, durch horizontale Streifung und gemeinsame Umrißlinien miteinander verbunden. 1m Gegensatz zu Moholy richtet Léger seine Bildobjekte im rechten Winkel zueinander und zum Rand seiner Bildfläche aus. Er versieht diese Objekte mit matter, undurchsichtiger Färbung und schafft durch die gedrängte Verteilung dieser kräftig kontrastierten Oberflächen eine Figur-GrundBeziehung. Während es im Bilde von Moholy scheint, daß ein Fenster auf eine Art private Version des Weltraumes aufgestoßen wurde, erreicht Léger, der innerhalb einer beinahe zweidimensionalen Ordnung arbeitet, höchste Klarheit ‹negativer› und ‹positiver› Formen. Durch Beschränkung der Mittel wird Légers Bild mit einer zweideutigen Tiefenwirkung aufgeladen - mit einer Eigenschaft, die ausgesprochen an jene erinnert, auf die Moholy in den Werken Joyces so angesprochen hatte und die Moholy selbst, trotz der wirklichen, physischen Transparenz seiner Farben, nie zu

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erzeugen vermochte. Denn trotz der Modernität des Motivs zeigt Moholys Bild noch immer den konventionellen präkubistischen Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund; und trotz einer (ziemlich unverbindlichen) Verflechtung der Bildebene mit den Bildelementen, die von Moholy eingeführt wurden, um die Logik der Tiefenwirkung zu zerstören, kann sein Bild nur einer Lesart unterzogen werden. Fernand Léger andererseits macht durch die raffinierte Virtuosität, mit der er nachkubistische Bildelemente zusammenfügt, das Mehrzweckverhalten klar definierter Form vollkommen deutlich. Durch plane Flächen, durch Andeutung von Volumenwirkung, durch die Andeutung (eher als durch das Vorhandensein) einer Rasterung, durch ein mittels Farbe bewirktes unterbrochenes Schachbrettmuster, durch Nähe und diskrete Überlagerung führt Léger das Auge so, daß es innerhalb des Ganzen eine unerschöpfliche Folge von kleineren und größeren Formorganisation wahrnimmt. Légers Anliegen ist die Struktur der Form. Moholys Interesse betrifft Material und Licht. Moholy hat die kubistische Figur akzeptiert; aber er hat sie aus ihrem räumlichen Nährboden herausgehoben. Léger hat die typisch kubistische Spannung zwischen Figur und Raum beibehalten und sogar verstärkt. [...] Seite 33 ff. Wir stellen fest, daß eigentliche Transparenz mit dem Trompe-lœil-Effekt eines lichtdurchlässigen Objektes in einem tiefen, ‹naturalistischen› Raum verbunden ist; während Transparenz im übertragenen Sinne dort gefunden wird, wo ein Maler die deutliche Darstellung von frontal ausgebreiteten Objekten in einem untiefen, ‹abstrahierten› Raume sucht.

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KOMMENTAR BERNHARD HOESLI

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ADDENDUM TRANSPARENTE FORMORGANISATION ALS MITTEL DES ENTWURFS BERNHARD HOESLI DAS DILEMMA DER FORM Seite 87 ff. Es ist ganz offensichtlich so, dass man Formen schafft zum Zwecke der Bezeichnung und Information. Etwas Bestehendes wird bezeichnet für jemanden, den man über etwas informieren möchte, was besteht. Und derjenige, der berichtet, möchte natürlich auch verstanden werden. Demnach gibt es zwei Möglichkeiten, architektonische Form zu verfälschen: Man verfälscht entweder die Beziehung, die diese Form zur Realität der Nutzung des Gebäudes hat, also zu dem, was es ist - oder man verfälscht seine Bedeutung als Information. Bekanntlich existieren mehrere Ansätze, den Ursprung der Form in der Architektur zu erklären, das Verhältnis von Form und Nutzung zu definieren oder die Beziehung zwischen Form und ‹Funktion› zu bestimmen. In jedem dieser Ansätze geht es darum, die innere Funktionsweise und den Zweck eines Gebäudes mit seinem gestalterischen Ausdruck in eine Beziehung zu setzen. Wenn nun die architektonische Form ‹autonom› ist, wenn sie von dem Zweck und dem Inhalt eines Gebäudes unabhängig und von jeder spürbaren Beziehung zu seiner Nutzung befreit werden soll dann hat das einen Verlust an Wahrheit zur Folge und damit einen Verlust an Ethik. Es gibt zwei gegensätzliche Ansichten über die Beziehung zwischen Inhalt und Form, die heute unsere Aufmerksamkeit beanspruchen, und beide erheben für sich den Anspruch, die einzige rechtmässige Auffassung oder Lehre zu sein: Die eine ist eine eher

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defensive und in Nachhutgefechte verwickelte, die andere ist gerade auf dem Höhepunkt ihrer Macht und setzt sich durch unter zahlreichen Masken und Verkleidungen. Die eine ist die angeblich ‹funktionalistische› Position, die behauptet: «Statt die Funktionen aller möglichen Arten unterschiedlicher Gebäudetypen in eine allgemeine Form zu zwingen, statt eine äussere Form zu wählen, die dem Auge gefällt oder bestimmte Assoziationen nahelegt, und anstatt die innere Raumaufteilung zu vernachlässigen, sollten wir lieber vom Herzen als dem eigentlichen Kern ausgehen und entsprechend von innen nach aussen gerichtet vorgehen. Wenn die am besten geeignete Grösse und Anordnung der Räume, die das Gebäude bilden sollen, ebenso bestimmt sind wie die vielleicht gewünschte Lichtführung und die unbedingt notwendige Belüftung, dann haben wir damit das Skelett des Gebäudes.» Oder wie es Louis Sullivan in seiner ‹Autobiography of an Idea› formulierte: «...die Funktion eines Gebäudes muss für seine Form vorbestimmend und strukturierend sein.» Diese Aussage basierte auf der Beobachtung des biologischen Wachstums und der Formen in der Natur und war sicher als Analogie gemeint – eine Vorwegnahme von Le Corbusiers poetischer Metapher: «Un édifice est comme une bulle de savon. Cette bulle est parfaite et harmonieuse si le souffle est bien reparti, bien réglé de I‘intérieur. L‘extérieur est le résultat de I‘ intérieur.» Dieses Verständnis von der Beziehung von Zweck und Form in der Architektur erschloss den Zusammenhang von Ursache und Wirkung für die Architektur. Die Form-Wirklichkeit eines Gebäudes wird dabei als eine Funktion der beabsichtigten Nutzung betrachtet, ganz im Sinne einer mathematischen Funktion y = f(x), wobei eine Variable von anderen Konstanten und Variablen abhängig ist - ganz im Sinne der

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Aussage: «form follows function». Das zweite, sogenannte ‹rationale› Verständnis geht in direktem Gegensatz zum ersten Ansatz von der Behauptung aus: «function follows form». Dem entspricht eine differenzierte Argumentation, die auf der Grundlage von Beobachtungen die Richtigkeit und Nützlichkeit dieser Sichtweise zu belegen versucht. Die meisten Gebäude in einem bestimmten historischen Kontext verweisen auf eine grundsätzliche Kontinuität der Form, an die die ständig sich verändernden Nutzungen angepasst wurden; der Palast des Diokletian in Spalato, das Stadion des Domitian im Rom der Kaiserzeit - die Liste beeindruckender Fragmente grösserer Gebäude und Artefakte, die diese belegen, ist beinahe endlos. Während der erste Erklärungsansatz mit der radikalen Formulierung von Mies van der Rohe verkündet: «wir weigern uns, Probleme der Form anzuerkennen, sondern nur Probleme des Bauens. Form ist niemals das Ziel unserer Arbeit, sondern nur das Ergebnis. Form an sich existiert überhaupt nicht ... » - besteht der zweite darauf, dass es in der Architektur eigentlich immer nur Probleme der Form gibt und dass Entwerfen immer Transformieren bedeutet - das Anpassen der Form durch Veränderung und durch Zitieren typologischer Formvorbilder -, während die Nützlichkeit eines Gebäudes sich ganz von selbst ergibt. Diese scheinbar revolutionäre Position der ‹postmodernen› späten 60er Jahre wurde dabei bereits hellsichtig in den frühen 50er Jahren in der ungleich gelasseneren, raffinierteren, weniger polemischen und dabei vielleicht ein wenig paradox klingenden Beobachtung von Matthew Nowicki vorweggenommen, der zu dem Schluss kam: «form follows form». Die beiden hier erwähnten gegensätzlichen Positionen haben eines

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gemeinsam: sie formulieren ein ‹entweder - oder› und zielen darauf ab, festzustellen, was den Vorrang hat, was früher kam oder was wichtiger ist - Zweck oder Form. Frank Lloyd Wrights Bemerkung zu diesem Thema - «Form und Funktion sind eins» - eröffnet vielleicht eine dritte Position ausserhalb dieser Polemik. Wenn es gelingt, diese Formel in die Praxis umzusetzen, dann könnte sie möglicherweise zu der Erkenntnis führen, dass die Form ein Instrument des Entwurfs ist. Form in der Architektur liesse sich so als ein Instrument auffassen - weder als eine bereits existierende ursprüngliche und damit typologische Position, der alles andere untergeordnet werden muss, noch als das Resultat bestimmter Voraussetzungen. Nutzung und Form eines Gebäudes oder einer städtebaulichen Situation können nur als zwei unterschiedliche Aspekte ein und derselben Sache verstanden werden, und der Akt des Entwerfens besteht darin, diese bei den durch hartnäckige und geduldige Auseinandersetzung miteinander zu verschmelzen in einem Prozess wechselseitiger Annäherung, Anpassung und Aussöhnung, wobei jeder Aspekt immer wieder sorgfältig den anderen gegenübergestellt wird. Das setzt natürlich eine ganz bestimmte Geisteshaltung voraus. Man muss bereit sein, einen bereits gefassten Standpunkt in Frage zu stellen; man muss bereit sein, zu akzeptieren, dass voneinander abweichende oder einander sogar widersprechende Vorstellungen sich keineswegs gegenseitig ausschliessen müssen und dass es ‹Gewissheit› nur für einen bestimmten Moment innerhalb einer langfristigen Auseinandersetzung geben kann, bei der beide Diskussionspartner sich gegenseitig ergänzen und dadurch das Bild vervollständigen, dass sie miteinander in einen Dialog treten, der

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von einem beiderseitigen Geben und Nehmen bestimmt ist, von einem sowohl-als-auch. EXKURS ÜBER DEN BEGRIFF DES ARCHITEKTONISCHEN RAUMES Seite 87 ff. All das, was der Begriff ‹Nutzung› umfasst, also alle Aktivitäten, für die ein bestimmtes Gebäude gedacht ist, ist genauso eine räumliche Erscheinung wie all das, was man unter der ‹Form› eines Gebäudes versteht. Man kann sagen, dass der Raum die gemeinsame Grundlage von Nutzung und Form ist. Daher erscheint es notwendig, an dieser Stelle eine Definition des Raumes zu geben, um einen Ausgangspunkt für den weiteren Gedankengang zu erhalten. Raumvorstellungen sind Erfindungen, die eine bestimmte Funktion erfüllen und jeweils eine eigene Lebensdauer und Geschichte besitzen. Wir können von der grundlegenden Feststellung ausgehen, dass ‹Raum› in erster Linie eine elementare, existentielle Erfahrung des denkenden Menschen ist. «Die Inbesitznahme des Raumes ist die erste Geste eines lebenden Wesens ... Das Einnehmen des Raumes ist der erste Beweis der Existenz.» Wir können davon ausgehen, dass es sich hierbei um den Raum Platos handelt: «… die Mutter und das Gefäss aller erschaffenen und sichtbaren ... Dinge ..., die universelle Natur, die alle Körper umfängt ... und niemals in irgendeiner Weise oder zu irgendeiner Zeit eine Form annimmt ...» Es führt kaum weiter und es spielt auch keine Rolle, ob man dabei vom ‹natürlichen› Raum spricht. Descartes erschloss uns diesen ‹universellen› Raum mit den Hilfsmitteln der Arithmetik und der Geometrie; und in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gelang Newton die Formulierung der universellen Gesetze, die im physikalischen Sinne die innerhalb dieses Raumes

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mögliche und herrschende Mechanik regeln. Wir sprechen in diesem Zusammenhang vom mathematisch-physikalischen Raum. Dieser ist homogen, isotrop und unendlich. Auch für die Psychologie ist diese Raumvorstellung die Grundvoraussetzung aller Wahrnehmung. Es braucht dabei nicht besonders betont zu werden, dass dieser Raum keinerlei Animismus besitzt und nicht belebt ist, dass er weder ‹ausgedehnt› noch ‹komprimiert› werden kann und auf keinen Fall ‹fliesst›. Er ist einfach da. Er ist in keiner Weise geheimnisvoll. Er ist einfach da. Um einen architektonischen Raum zu schaffen, muss der Mensch in den mathematisch-physikalischen Raum eingreifen und einen bestimmten Bereich oder Teil davon abgrenzen, abstecken oder markieren. Auf diese Weise wird architektonischer Raum erkennbar, er wird erfahrbar, er wird definiert. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Arten der Raumdefinition unterscheiden. Erstens: Raumdefinierende Elemente (d.h. Mauern, Vorhangwände, Pfeiler, Säulen) fungieren als Abgrenzung, Umhüllung, Rahmen, Einfassung, Einzäunung eines bestimmten Teils des mathematisch-physikalischen Raumes, der damit erfahrbar wird. Es muss eine Raumgrenze oder Raumbegrenzung geschaffen werden, und die Besonderheit der Raumdefinition bestimmt sich nach der Art der Einfassung, die die Raumgrenze erzeugt. Erst dann kann man unterscheiden zwischen Innen, Aussen, ‹Aussenraum› und ‹Innenraum› sowie dem Zwischenraum zwischen einzelnen Objekten. (1)

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Zweitens: Ein raumdefinierendes Element aktiviert durch seine volumetrische Präsenz einen Ort im mathematisch-physikalischen Raum, es nimmt Raum ein und bewirkt durch seine ‹räumliche Verdrängung›, dass wir den Raum wahrnehmen können. Seine Körperhaftigkeit führt dazu, dass wir unsere eigene körperliche Existenz und damit auch den Raum erfahren können. Ein Teil des Wesens des mathematisch-physikalischen Raumes verändert sich, wenn dieser architektonisch definiert wird: er wird zu architektonischem Raum mit ganz spezifischen Eigenschaften und Attributen. Daraus folgt, dass Raum im Sinne der Architektur als ein kontinuierliches Medium begriffen werden muss, welches auf der Wahrnehmungsebene unterscheidbar ist in Körpermasse und Leere. (2)

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Sobald wir erkennen und verstehen, dass Masse und Leere gleichermassen an einem Figur-Grund-Phänomen teilhaben bzw. gleichermassen die Kontinuität von Figur und Grund konstituieren, brauchen wir nicht mehr darauf zu beharren, dass sie im Hinblick auf unsere Wahrnehmung von unterschiedlicher Natur sind. Wir wissen, dass Gebäude oder Körper Raum enthalten; was die Architektur als ‹Massen› bezeichnet, sind nur im übertragenen Sinne feste Massen. Raum innerhalb und Raum zwischen architektonischen Objekten ist Teil desselben Mediums, desselben Ganzen. (3) 1n ganz analogem Sinne liesse sich sagen, dass ‹Volumen› oder Masse und ‹Raum› oder Hohlraum nur phänotypische Erscheinungsformen des genotypisch kontinuierlichen Raumes darstellen. Diese dualistische Vorstellung einer Figur- Grund Kontinuität von Masse und Hohlraum als komplementäre Erscheinungsformen ein und desselben Raumes ist allem Augenschein nach identisch mit dem Begriff des kontinuierlichen Raumes in der modernen Architektur. Frank Lloyd Wright stiess zwischen

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etwa 1893 und 1906 rein empirisch auf diesen Begriff, auf den sich auch de Stijl für seine Raumerfindungen berief und den auch Mies van der Rohe ebenso wie Le Corbusier gefunden und für ihre Arbeit benutzt haben: der kontinuierliche Raum ist der gemeinsame Nenner, von dem aus viele der augenfälligen Unterschiede in den Arbeiten dieser Architekten erst richtig eingeordnet und verstanden werden können. [...] Angesichts dieser Vorstellung eines kontinuierlichen Raumes muss die Darstellungstechnik von Nolli, in der sich ein Platzraum bis in ein Kirchenschiff oder die Kolonnaden eines Palazzo erstreckt, als vergleichsweise ‹natürlich› und naheliegend erscheinen, obwohl sie keineswegs selbstverständlich ist. (5) [...] Die Idee einer Figur-Grund-Beziehung zwischen Masse und Raum im kontinuierlichen. Raum ermöglicht es, ohne begriffliche Schwierigkeiten zwischen den beiden gegensätzlichen Erscheinungsformen des Raumes - der Masse und dem Hohlraum - zu oszillieren. Diese werden dabei nicht als sich gegenseitig ausschliessend betrachtet, sondern als gleichwertige und ‹gleichberechtigte› Aspekte oder Teile ein und desselben Ganzen. So betrachtet fungieren die Gebäude und die Zwischenräume zwischen

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den Gebäuden als Partner in einer immerwährenden Debatte - als Protagonisten in einem Dialog - «die sich fortlaufend gegenseitig widersprechen und erklären» Sich frei in dem von dieser dualistischen Raum-Vorstellung beschriebenen Raum bewegen zu können, ist eine grosse Erleichterung für den Entwerfenden, der sich mit Pluralität, Komplexität und Widersprüchen auseinandersetzen muss - mit den vielfältigen Anforderungen der Alltagsrealität. Für unsere Auseinandersetzung ist wichtig, dass eine Raum-Vorstellung, für welche die Welt des Raumes sich aus den beiden sich gegenseitig ergänzenden Erscheinungen Masse und Hohlraum zusammensetzt, genau die Grundlage darstellt, auf der Transparenz entstehen kann. Das soll jedoch keineswegs heissen, dass der Begriff des kontinuierlichen Raumes Voraussetzung oder notwendige Vorbedingung für das Auftreten von Transparenz oder für die Schaffung einer transparenten Formorganisation sein muss. Aber vielleicht ist das Arbeiten mit dieser Vorstellung Ausdruck einer ganzheitlichen Sichtweise, die kein ‹entweder-oder› kennt, und damit Ausdruck der Bereitschaft und der Fähigkeit, stattdessen in Begriffen eines ‹sowohl-als-auch› zu denken und zu arbeiten, was genauso auch im Hinblick auf die Vorliebe für transparente Formorganisation gilt. Die Begriffe des kontinuierlichen Raumes und der transparenten Formorganisation liessen sich in diesem Sinne als Ausdruck eines bestimmten Bewusstseins interpretieren, in dem das eine dem anderen Bedeutung verleiht.

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TRANSPARENZ - MITTEL DES ENTWURFS Seite 97 ff. Transparente Formorganisation sollte als ein Hilfsmittel beim Entwerfen, als eine Technik zur Schaffung einer nachvollziehbaren Ordnung betrachtet werden, ähnlich wie beispielsweise die Verwendung axialer Reihung, Wiederholung oder Symmetrie. Als Mittel der Formorganisation schafft Transparenz Klarheit und erlaubt gleichzeitig Ambivalenz und Zweideutigkeit. Dabei erhält jeder Teil nicht nur eine bestimmte Position und eine genau umrissene Rolle im Gesamtgefüge, sondern auch die Möglichkeit unterschiedlicher Zuordnungen, die zwar grundsätzlich voneinander abweichen, aber jederzeit nach Belieben gewählt werden können, je nachdem welchen Zusammenhang man gerade betrachtet. So verbindet sich bei der Transparenz eine aufgezwungene Ordnung gleichzeitig mit der Möglichkeit einer freien Entscheidung. Die transparente Organisation von Mehrdeutigkeit bietet demnach eine besonders wirksame Möglichkeit der Schaffung von Ordnung in einer Zeit, die sich von allen Zwängen zu befreien sucht und die das Bauen mit unterschiedlichen, häufig miteinander unvereinbaren Bedingungen und vielleicht auch widersprüchlichen Erwartungen verknüpft, die ein gelungener Entwurf berücksichtigen muss. Transparenz ist ein in vieler Hinsicht offenes und umfassendes Mittel der Formorganisation, das auch Widersprüche und lokale Besonderheiten, beispielsweise eine lokale Symmetrie, aufnehmen kann, ohne dabei den Zusammenhalt oder die Lesbarkeit des Ganzen in Frage zu stellen.

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105 Colin Rowe & Robert Slutzky, Transparenz aus dem Englischen von Bernhard Hoesli 1. Aufl. deutsche Erstausgabe 1968, Birkh채user Verlag, Basel, Schweiz 4. erweiterte Auflage 1997 ISBN 3-7643-5614-6 nur antiquarisch verf체gbar


Komplexit채t und Widerspruch in der Architektur Robert Ventu 1966


h r uri

gelesen und ausgewählt von Benjamin Mauritz

„Complexity and Contradiction in Architecture“ von Robert Venturi (*1925), einem Architekten aus Philadelphia, gilt heute als eines der bedeutensten Bücher der Architekturtheorie. Es erschien 1966 in Amerika und wurde vom Museum of Modern Art publiziert. Mir liegt eine deutsche Ausgabe von 1978 vor, die von Heinz Schollwöck übersetzt wurde. Der deutsche Titel lautet „Komplexität und Widerspruch in der Architektur“. Das Buch gliedert sich in elf Abschnitte, in denen Venturi, Überlegungen zur Architektur festhält, die er mit zahlreichen architekturgeschichtlichen Beispielen aus unterschiedlichen Baustilen belegt. Am Ende des Buches zeigt er noch einige seiner eigenen Bauwerke. Damit belegt er, wie er seine eigenen Ansätze auf seine Architektur anwendet. 1972 publizierte er mit zusammen mit Denise Scott Brown und Steven Izenour „Learning from Las Vegas“, das sich inhaltlich an „Komplexität und Widerspruch in der Architektur“ anlehnt und als mindestens so bedeutend gilt. 1991 erhielt er den Pritzker-Preis. Bevor er ein eigenes Büro gründete, arbeitete er mit Eero Saarinen und Louis Kahn zusammen. Venturi plädiert für eine „mehrdeutige“ und „spannungsreiche“ Architektur und kritisiert Purismus und Funktionalität. Mies van der Rohe formulierte: „less is more“, Venturi fügte hinzu: „less is bore“. Venturi war mit verantwortlich für die Entwicklung der Postmoderne, die dem Funktionalismus völlig neue Gestaltungsprinzipien entgegenzusetzen versuchte. Ich möchte auf den folgenden Seiten einige Abschnitte aus seinem Buch darstellen, die seine Denkansätze veranschaulichen.

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FÜR EINE BEZIEHUNGSREICHE ARCHITEKTUR! Ich ziehe eine Haltung, die sich auch vor dem Vermessen nicht scheut, einem Kult des Reinen vor, ich mag eine teilweise kompromißlerische Architektur mehr als eine puristische, eine verrückte genauso wie eine unpersönliche, eine lästig aufdringliche genauso wie eine interessante, eine konventionelle noch mehr als eine angestrengt „neue“, die angepasste mehr als die exklusiv abgegrenzte, eine redundante mehr als eine simple, die schon verkümmernde genauso wie die noch nie dagewesene, eine in sich widersprüchliche und zweideutige mehr als eine direkte und klare. Ich ziehe eine vermurkste Lebendigkeit einer langweiligen Einheitlichkeit vor. Dementsprechend befürworte ich den Widerspruch, vertrete den Vorrang des ‚Sowohl-als-auch‘.

Seite 23 ff.

Anhand der dorischen Tempel wird deutlich, dass Einfachheit durch Komplexität geschaffen werden kann.

Eine Architektur der Komplexität und des Widerspruchs hat aber auch eine besondere Verpflichtung auf das Ganze: ihre Wahrheit muß in ihrer Totalität – oder in ihrer Bezogenheit auf diese Totalität – liegen. Sie muß eher eine Verwirklichung der schwer erreichbaren Einheit im Mannigfachen sein als die leicht reproduzierbare Einheitlichkeit durch die Elimination des Mannigfachen. Mehr ist nicht weniger!

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KOMPLEXITÄT UND WIDERSPRUCH VERSUS SIMPLIFIZIERUNG UND FLUCHT IN DAS PITTORESKE: Seite 25 ff. Die orthodoxen unter den modernen Architekten neigen dazu, Vielfalt als etwas Unbefriedigendes bzw. in sich Widersprüchliches zu betrachten. In ihrem Versuch, mit allen Traditionen zu brechen und von Grund auf neu zu beginnen, idealisierten sie das Primitive und Elementare auf Kosten des Gestaltungsreichen und Intellektuellen. Venturi kritisiert die Entwicklung der Moderne. Er legt großen Wert auf Tradition und verweist in seinen Texten auf vergangene Bauepochen.

Rationalisierungen als Modus der Vereinfachung sind nach wie vor sehr gebräuchlich, wenn auch auf eine subtilere Weise als in früheren Argumentationsmustern. Sie verdanken sich einer extensiven Auslegung von Mies van der Rohes großem Paradoxon „Weniger ist mehr“, Paul Rudolph hat die Implikation dieses Standpunkts klar herausgearbeitet „Nie können alle Probleme zur gleichen Zeit gelöst werden. In der Tat ist es ein Charakteristikum der Architektur des 20. Jahrhunderts, daß die Architekten eine sehr enge Auswahl der Probleme vornehmen, die sie wirklich zu lösen wünschen. Mies van der Rohe z.B. schafft herrliche Bauwerke allein aufgrund der Tatsache, daß er viele funktionelle Notwendigkeiten eines Bauwerks einfach übergeht. Bemühte er sich, mehr Probleme anzupacken, seine Werke wäre weit weniger akzentuiert und kraftvoll.“ [...] Ich bezweifle die Relevanz einer Konstruktion von Analogien zwischen Pavillon und Wohnhaus, insbesondere zwischen

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japanischem Pavillon und neuerer Wohnhaus-Architektur. Eine Analogisierung dieser Art übersieht das tatsächliche Ausmaß an Komplexität und Widersprüchlichkeit, das mit der Bauaufgabe Wohnhaus aufgegeben ist – aus den räumlichen und technischen Möglichkeiten heraus ebenso wie aus der Notwendigkeit wechselnder visueller Erfahrungen. [...] Erzwungene Einfachheit mündet so in bare Plattheit. Mit dem Wiley House (1) z.B., im Gegensatz zu seinem Glas-Haus (2), versucht Philip Johnson noch hinter die Einfachheit des eleganten Pavillon zurückzugehen. Es war unbedingt sein Bestreben, den im engeren Sinne „privaten Funktionen des Familienlebens im Bereich des ebenerdigen Gebäudesockels Form zu geben und sie so abzugrenzen von den offeneren sozialen Funktionen in dem modularen Pavillon darüber. Aber eben dadurch bekommt der Bau geradezu den Charakter eines Schemas übermäßig simplifizierter Programmatik des sozialen Lebens – er gerinnt zum Ausdruck einer akstrakten Theorie des Entweder-Oder. Wo Vereinfachung allein nicht mehr zureicht, ist das nur Simple Ergebnis. Das marktschreierisch vorgetragene Konzept des Vereinfachens bedeutet dann eine Architektur, der der Atem ausgegangen ist: Weniger ist nur noch langweilig. Die Anerkennung der Bedeutung von Komplexität in der Architektur steht nicht in Widerspruch zu dem was Louis Kahn das

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„Bedürfnis nach Einfachheit“ genannt hat. Denn die ästhetisch gelungene und befriedigende Einfachheit entsteht, sofern sie wahr und tief ist, aus innerem Reichtum. Was beim dorischen Tempel dem Auge als Einfachheit erscheint, ist bekanntlich erreicht durch feinste Details, durch die Präzision ihrer Geometrie, mit der sie an die Optik des menschlichen Auges angepaßt sind, sowie durch die Widersprüche und Spannungen, die seinem Aufbau inhärent sind. Der dorische Tempel erreicht seine luzide Einfachheit vermittels seiner tatsächlichen Komplexität. Sobald diese Komplexität, wie in den späteren Tempeln, verloren ging, trat Banalität an die Stelle von Einfachheit.

MEHRDEUTIGKEIT: In diesem Kapitel beschreibt Venturi sein Verständnis von Mehrdeutigkeit in Gebäuden. Diese soll Spannung erzeugen, den Betrachter zum Nachdenken bringen und Interesse wecken.

Mehrdeutigkeit und Spannung finden sich überall in einer komplexen und widerspruchsreichen Architektur. Architektur ist immer beides, Form und Substanz, abstrakt und konkret: Ihre Aussage erschließt sich erst innerhalb eines je bestimmten Zusammenhangs. Ein architektonisches Element wird immer in Form Seite 33 ff.

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und Struktur, Textur und Stofflichkeit zugleich wahrgenommen. Diese wechselnden Abhängigkeiten, unübersehbar und voller Widersprüche, sind der Ursprung der vieldeutigen und spannungsreichen Momente, wie sie das Medium Architektur charakterisieren. Üblicherweise kann die Konjunktion „Oder“ in Verbindung mit einem Fragezeichen mehrdeutige Beziehungen umschreiben. Angewandt auf die Villa Savoye (5) läßt sich dann fragen: basiert dieser Plan auf einem Rechteck oder nicht? Die Lage der Frontpavillons von Vanbrughs Anlage in Grimsthorpe (6) erscheint bei der Betrachtung aus einiger Entfernung im Verhältnis zu den rückwärtigen Bauten ungeklärt: sind sie weiter oder näher, groß oder klein? Die Pilaster an Berninis Palazzo „Propaganda Fide (7): sind es vorgelegte Pilaster oder sind es vertiefte Teilungen der Fassadenfelder? Die ornamental ausgeschmückte Wölbung im Casino Pio IV im Vatikan (8) ist ein gar vertracktes Ding: ist das eine wirkliche Wölbung oder eine flache Decke?Die eingezogene

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Mitte bei Lutyen`s Fassade des Nashdom House (9) ermöglicht zwar die Anlage von Oberlichtern: ist aber die aus der Zweiteilung des Baus entstandene Polemik gelöst? Luigi Morettis Appartements an der Via Parioli in Rom (10): ist das ein einziger Bau mit einem Spalt in der Mitte, oder sind das zwei aneinandergelehnte Bauten? [...] FORMEN DER GEGENSÄTZLICHKEIT: Venturi vertritt die Meinung, dass gute Architektur immer ein Zusammenspiel von Gegensätzlichkeiten ist. Es macht das Gebäude überraschend, spannend und fordert den Menschen auf, sich auf das Gebäude einzulassen, wenn er es betritt.

Seite 35 ff. Le Corbusiers „Shodan House“(11) ist geschlossen, gleichwohl aber auch offen – ein Kubus, der durch seine Eckgelenke genau umschlossen wird, sich in seinen Wänden aber weit in den Raum hinaus öffnet; seine Villa Savoye ist außen betont einfach, im Inneren gleichwohl komplex

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Der noch aus der Tudorzeit stammende Grundriss von Barrington Court (13) ist symmetrisch, aber auch asymmetrisch. Guarinis Kirche der Unbefleckten Empfängnisin Turin (14) erscheint im Grundriss als Verdoppelung eines Raumens und ist doch eine Einheit; Sir Edward Lutyens Eingangshalle in Middleton Park (15,16) ist ein gerichteter Raum, gleichwohl endet er an einer öffnungslosen Wand; Vignolas Fassade für den Pavillon in Bomarzo (17) enthält ein Portal, dieses rahmt aber doch nur eine zurückgesetzte Mauernische; Kahns Bauten weisen sowohl rauhen Beton, gleichwohl aber auch polierten Granit auf; eine Straße urbanen Lebens ist einerseits gerichtet wie eine Überlandsstraße, gleichwohl aber auch in sich gerichtet wie ein Platz. Diese Reihe konjunktionaler „Gleichwohls“ umschreibt eine Architektur der Widersprüchlichkeit auf den verschiedenen Ebenen von Programm und Struktur. Keiner dieser notwendigen Widersprüche ist Ausdruck einer Suche nach Schönheit; obwohl paradox, sind sie gleichwohl nicht Ausfluß einer Laune. ELEMENTE MIT DOPPELFUNKTION: Venturi fordert, dass Gebäude, Räume und sogar Elemente doppelte Funktionen übernehmen. Bei Gebäuden bedeutet dies, das verschiedene Funktionen gleichzeitig nebeneinander ablaufen können, das Gebäude bildet jedoch eine Einheit. Auch Räume sollen so geplant sein, dass sie mehrere Zwecke erfüllen können und flexibel bleiben. Interessant dabei ist die Doppelfunktion der Elemente, da viele Architekturtheoretiker der Moderne einer Trennung von Funktionen, Materialien und Konstruktion fordern.

Aber den Puristen der Struktur und genauso den Organizisten ist doppelfunktionelle Form ein Greuel; dies wegen der nicht-exakten, mehrdeutigen Beziehung zwischen Form und Seite 52 ff.

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Funktion, Form und Struktur. Im Gegensatz dazu sind in der Katsura Villa (44) die auf Zug belasteten Bambusstäbe und die stützenden Holzpfosten von ähnlicher Form. Die Ähnlichkeit dieser beider Elemente, in Position und Zuschnitt, ist modernen Architekten, wie ich meine, sehr suspekt; auch heute noch und trotz aller Anerkennung japanischer Formgebung. Beim Schiff von „S. Maria in Cosmedin“ in Rom (45) resultiert die Säulenform exakt aus der Funktion als einer punktuellen Stütze. Gerichtet werden kann der Raum dadurch nur zufällig, nur in Verbindung mit anderen Säulen oder gleichartigen Architekturteilen. Anders die zwischengeschobenen Pfeiler im gleichen Schiff; sie haben ganz wesentlich eine Doppelfunktion. Sie fassen und richten den Raum longitudinal aus, und sie tragen gleichzeitig auch noch die Konstruktion. Die barocken Pfeiler in der Kapelle zu Fresnes (46), die in ihrem Querschnitt gleichsam übriggebliebene Zwischenräume füllen, geben extreme Beispiele für Elemente mit doppelter Funktion. Sie bilden Räume und sind zugleich Stütze. Le Corbusiers und Kahns Details mit doppelter Funktion können wohl zu den Seltenheiten in unserer Architektur gezählt werden. Die ‚brise-soleils‘ der ‚Unité d`Habitation‘‚ in Marseille sind konstruktive Teile, zugleich Veranda und Sonnenblende. (Sind das

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Wandteile, Pfeiler oder Stützen?) Kahns Stützen und seine offenen Pfeiler lassen Raum für Einrichtungsgegenstände, und außerdem können sie den Einfall des Tageslichtes mitbestimmen. Ähnliches leisteten einst die rhythmisch gestellten Säulen und Pilaster barocker Architektur. Wie bei den offenen Trägern im Richard Medical Center (47) sind Kahns architektonische Elemente im allgemeinen weder rein konstruktiv noch elegantes Resultat einer Kunst des Weglassens. Stattdessen sind sie konstruktive Teillösungen, die aus dem größeren räumlichen Zusammenhang gleichwohl nicht isoliert werden dürfen. Es hat seinen guten Sinn, Spannung in Formen sichtbar werden zu lassen, die nicht nur rein konstruktiv sind; ein konstruktives Detail braucht nicht nur zufällig raumbildend sein. (Allerdings sind die Versorgungskerne und die Treppentürme auch bei diesem Bau in orthodoxer Weiser abgerückt und isoliert behandelt.) DIE VERPFLICHTUNG AUF DAS SCHWIERIGE GANZE Seite 136 ff. Das schwierige Ganze vielfältiger und wiederspruchsreicher Architektur ist nur denkbbar durch Vielfalt und Verschiedenheit seiner Elemente und ihrer inkonsistenten oder doch prekären Beziehung aufeinander. Dieses Kapitel ist interessant, da es zeigt, dass eine Einheit nicht nur erreicht wird, wenn Gebäudeteile sich auf unreflektierte Weise wiederholen. Spannung wird gerade durch Vielfalt und Komplexität der Elemente gesteigert.

Sullivans „Farmers and Merchants Union Bank“ in Columbus, Wisconsin (211), nimmt in der neueren Architektur eine

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Sonderstellung ein. Bei diesem Bau sticht das Kompositionsprinzip der Dualität hervor. Der Plan bezieht sich auf einen zweigeteilten Innenraum, wo sich das Publikum und die Angestellten an dem senkrecht zur Fassade verlaufenden Bankschalter gegenüberstehen. Außen wird diese Zweiteilung durch das Nebeneinander von Fenster und Türöffnung repräsentiert; diese Öffnungen selbst werden durch die darüberstehenden Halbsäulen wiederum zweigeteilt. Durch die gleichen Säulen wird auch der Türsturz in drei Felder gegliedert, von denen das mittlere dominiert und damit die Einheit des gesamten Sturzes organisiert. Der Bogen über dem Sturz verstärkt wieder die Zweiteilung, da er in der Mitte der darunterliegenden Felder ansetzt, andererseits löst er diese von Fenster und Tür bestimmte Zweiteilung dadurch wieder auf, daß er selbst nur einmal vorkommt und in zentraler Mitte gerückt ist. Die Fassade ergibt sich aus dem Zusammenspiel verschieden oft auftretender Teile – einzeln auftretende Teile sind ebenso bedeutsam wie zweiund dreifach vorkommende – und wirkt zusammengesehen als eine Einheit. [...]

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Seite 154 ff. Ein

beherrschendes Bindeglied als drittes Element innerhalb einer Dualität stellt sicherlich eine einfachere Art der Aufhebung und Einbindung in ein Ganzes dar als der Aufbau eines Verweisungszusammenhanges der Formen. Ganz unzweideutig hebt z.B. ein großer Bogen das Nebeneinander von Zwillingsfenstern an florentinischen Palazzi auf. Die Dualität der Fassade der Doppelkirche von S. Antonio und S. Brigida von Ferdinando Fuga (241) wird aufgehoben durch die Andeutungen des gesprengten Giebels – aber ebenso durch ein drittes hinzutretendes ornamentales Element, das die Mitte beherrscht. Ganz ähnlich wird auch die Fassade von S.Maria della Spina in Pisa (242) durch einen dritten Giebel ge faßt. Der Grundriss von Guarinis Kirche der Unbefleckten Empfängnis in Turin (14) zeigt, daß die beiden überkuppelten Joche in ihrem Umriß beziehungsvoll von der Kreis- in die Elipsenform überführt sind; sie werden aber auch durch ein zwischengeschaltetes kleines Joch verbunden. Der reich ornamentierte Giebel im Zentrum über der Fassade von Charleval (243) ist ebenfalls

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ein beherrschendes Element, wie auch die sich gabelnde Treppe vor einem Bauernhaus in der Nähe von Chieti (244); in dem Zusammenhang dort hat sie eine analoge Bedeutung wie die Stufen zum Eingang von „Stratford Hall“ in Virginia (245). Keinerlei Verweisungszu sammenhang findet sich in der Anlage der Villa Lante (246); ihre beiden identischen Pavillions werden jedoch durch eine dazwischen gelegte Achse als dem dritten Element beherrscht; sie stößt auf eine große Plastik, die im Kreuzungspunkt zweier Wege liegt, und betont so das Ganze des Ensemebles. INNEN UND AUSSEN Der Kontrast zwischen dem Inneren und dem Äußeren kann eine der wichtigsten Erscheinungsformen des Widersprüchlichen in der Architektur sein.[...] Seite 105 ff.

Dass Innenraum sich in den Aussenraum erweitert und ein Raumkontinuum bildet ist eine Leitvorstellungen der Moderne. Venturi bescheibt in diesem Kapitel seine Sicht auf die Beziehung von Innen und Außen.

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Nicht eine bestimmte Orientierung macht das Wesen eines Innenraums aus, sondern seine Umschließung und die Abgrenzung von Innen und Außen. Kahn sagte einmal: „Ein Bauwerk ist ein bergendes Gebilde.“ Die Funktion des Hauses zu schützen und privates Leben zu ermöglichen, psychologisch und physisch, ist uralt. [...]Das Innere ist anders als das Äußere. [...] Bei der Villa Savoye (12) ist mit Wandöffnungen, die augenscheinlich eher Löcher als Unterbrechungen der Wand sind, jedes Ausweichen des Blicks kompromißlos nur nach oben zugelassen. Einmal abgesehen vom umschließenden Charakter der Wände gibt es hier aber eine räumliche Besonderheit, die diesen Bau vom ‚Johnson Wax Building‘ nachhaltig unterscheidet. Sein fast quadratisches, strenges Äußere umgibt ein raffiniertes Inneres, auf das von höher ansteigenden Bodenwellen aus und durch einzelne Öffnungen hie und da ein kurzer Blick geworfen werden kann. Dadurch gewinnt das innen wie außen gespannte Erscheinungsbild der Villa Savoye eine Art gegenläufiger Annäherung zwischen einem strengen Äußeren, das teilweise aufgebrochen wird, und einem raffinierten Inneren, das teilweise enträtselt werden kann. Ihr innerer Aufbau folgt den vielfältigen Anforderungen eines Hauses, genauer eines Wohnhauses, und nimmt dabei Rücksicht auf eine Verschwiegenheit, wie sie der private Bereich verlangt. Das Äußere verkörpert Vorstellungen von der Einheitlichkeit eines Hauses in einer dem grünen Land ringsum angemessenen Weise, vielleicht auch gegenüber der Stadt, von der es eines Tages umschlossen sein wird.[...]

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Das Buch „Komplexität und Widerpruch“ von Venturi gilt als das wichtigste Buch zur Postmoderne. Obwohl die Postmoderne seit 2000 als abgeschlossenes Kapitel gilt, hat das Werk auch heute noch eine große Bedeutung, da es Themen wie Symmetrie, Raumwahrnehmung, Fassadengestaltung oder auch architektonische Einheit behandelt und auf sehr verständliche Weise darstellt werden. Deshalb gilt das Buch auch heute noch für Architektur- und Kunstkulturinteressierte als Pflichtlektüre.

121 Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur Herausgegeben von Heinrich Klotz (aus dem Amerikanischen von Heinz Schollwöck Braunschweig, Vieweg (Bauwelt-Fundamente: 50), 1978 Complexity and contradiction in architecture (dt.) ISBN 3-528-08750-1 nur antiquarisch verfügbar


Architektur Denken Peter Zumthor 2006


gelesen und ausgewählt von Johanna Brandstetter

“All of Peter Zumthor’s buildings have a strong, timeless presence. He has a rare talent of combining clear and rigorous thought with a truly poetic dimension, resulting in works that never cease to inspire.” Thomas J. Pritzker, chairman of The Hyatt Foundation Im Buch „Architektur Denken“ von Peter Zumthor erwartet uns ein intensiver Einblick in sein Denken und seine Arbeit. Der Autor, 1943 geboren, erhält nach eine Lehrer zum Möbelschreiner bei seinem Vater, einem Studium der Innenarchitektur und Design an der Schule für Gestaltung Basel und einer zehnjährigen Tätigkeit als kantonaler Denkmalpfleger in Graubünden, Schweiz, 2009 den „Nobelpreis der Architektur“, den Pritzker Preis. und seiner Wir erfahren, wie er selbst die Architektur versteht und wie er seine Gedanken versucht weiterzugeben. Die Befragung des Ortes, des Materials ist ein wesentlicher Teil des Entwurfsprozesses. „For him, it is not only important how a floor, stair, wall, room or façade look, but also how they feel when one touches them with his or her finger tips, how they smell, how they resonate and sound, and what kind of associations, mental images, expectations and memories they evoke” Philip Ursprung, Professor of Modern and Contemporary Art, University of Zürich Zumthor beschreibt Architektur vom Grundstein des Entwurfsprozesses, den er ausgehend vom Denken in Bildern, über das Licht, bis hin zur Harmonie der Gebäude sieht. „Bilder suche ich immer im Zusammenklang von Ort und Gebrauch. Das ist in Vals relativ einfach: Eine heiße Quelle entspringt aus einem Berg, aus dem Stein - Berg, Stein, Wasser, Höhle, den Berg aushöhlen. Heißes Wasser, das aus dem Berg kommt, ist eigentlich etwas ganz Verrücktes.“ Wer ein Bau von Zumthor besichtigt, kann diese Stimmigkeit über alles Sinne erleben und seine Texte nachvollziehen. Diese sind zwar bei erster Betrachtung in einfacher Sprache leicht und gut verständlich geschrieben aber bergen trotzdem eine einzigartige Tiefgründigkeit. Die Klarheit der Texte und die Reinheit seiner Formensprache versdeutlichen seine Haltung, die er gegenüber dem Leben und seinem Schaffen in aller Konsequenz einnimmt. Die folgenden Textauszüge aus den unterschiedlichsten Vorträgen sind

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so gewählt, dass sie dem Leser einen Überblick über das Buch gewähren und versuchen Antworten und Denkanstöße zu finden für Fragen die jeden Architekten zeitlebens beschäftigen „wie entwerfe ich richtig, worauf kommt es an?“

EINE ANSCHAUUNG DER DINGE AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ARCHITEKTUR Seite 7 Wenn ich an Architektur denke, steigen Bilder in mir auf. Viele dieser Bilder stehen in Zusammenhang mit meiner Ausbildung und Arbeit als Architekt. Sie enthalten das berufliche Wissen über Architektur, das ich mir im Laufe der Zeit erwerben konnte. Andere Bilder haben mit meiner Kindheit zu tun. Ich erinnere mich an jene Zeit in meinem Leben, in der ich Architektur erlebte, ohne darüber nachzudenken. [...] Seite 8 Wenn ich entwerfe, finde ich mich immer wieder eingetaucht in alte und halbvergessene Erinnerungen, und ich versuche, mich zu fragen: Wie genau war jene architektonische Situation wirklich beschaffen, was bedeutete sie für mich damals, und was könnte mir helfen, jene reiche Atmosphäre wieder entstehen zu lassen, die gesättigt zu sein scheint von der selbstverständlichen Präsenz der Dinge, wo alles seinen richtigen Ort und seine richtige Form hat? Dabei wären gar keine besonderen Formen auszumachen. Aber dieser Anflug von Fülle wäre spürbar, von Reichtum auch, der einen denken lässt: das habe ich schon einmal gesehen, während ich gleichzeitig weiß, dass alles neu und anders ist und kein direktes Zitat einer alten Architektur das Geheimnis der erinnerungsträchtigen Stimmung verrät.[...]


AUS STOFF GEBAUT Ich glaube, das Materialien im Kontext eines architektonischen Objektes poetische Qualitäten annehmen können. Dazu ist es notwendig, im Objekt selbst einen entsprechenden Form- und Sinnzusammenhang zu generieren; denn Materialien an sich sind nicht poetisch. Der Sinn, den es im Stofflichen zu stiften gilt, liegt jenseits kompositorischer Regeln, und auch die Fühlbarkeit, der Geruch und der akustische Ausdruck der Materialien sind lediglich Elemente der Sprache, in der wir sprechen müssen. Sinn entsteht dann, wenn es gelingt, im architektonischen Gegenstand spezifische Bedeutungen bestimmter Baumaterialien hervorzubringen, die nur in diesem Objekt auf diese Weise spürbar werden. Seite 10

DIE ARBEIT IN DEN DINGEN Konstruktion ist die Kunst, aus vielen Einzelteilen ein sinnvolles Ganzes zu formen. Gebäude sind Zeugnisse der menschlichen Fähigkeit, konkrete Dinge zu konstruieren. Im Akt des Konstruierens liegt für mich der eigentliche Kern jeder architektonischen Aufgabe. Hier wo konkrete Materialien gefügt und aufgerichtet werden, wird die erdachte Architektur Teil der realen Welt.

Seite 11

FÜR DIE STILLE DES SCHLAFFS Seite 12 Ich denke, dass die zeitgenössische Architektur im Grunde über einen ebenso radikalen Ansatz verfügen sollte wie die Neue Musik. Dieser Forderung sind jedoch Grenzen gesetzt. Wenn die Komposition eines Bauwerks auf Disharmonie und Fragmentierung, auf gebrochene Rhythmen, Clustering und Strukturbrüchen beruht, kann das Werk zwar Botschaften vermitteln, aber mit dem

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Verstehen der Aussage erlischt die Neugier, und was zurückbleibt, ist die Frage nach der Nützlichkeit des architektonischen Objektes für das praktische Leben. Architektur hat ihren eigenen Existenzbereich. Sie steht in einer besonders körperlichen Verbindung mit dem Leben. In meiner Vorstellung ist sie zunächst weder Botschaft noch Zeichen, sondern Hülle und Hintergrund des vorbeiziehenden Lebens, ein sensibles Gefäß für den Rhythmus der Schritte auf dem Boden, für die Konzentration der Arbeit, für die Stille des Schlafs.[...] VON VERLANGEN GEZEICHNET Seite 12 ff. Gebaute Architektur hat ihren Ort in der konkreten Welt. Dort hat sie ihre Präsenz. Dort spricht sie für sich. Architekturdarstellungen, die noch nicht Gebautes zum Inhalt haben, sind geprägt von der Anstrengung, etwas zum Sprechen zu bringen, das seinen Ort in der konkreten Welt noch nicht gefunden hat, aber für diese gedacht ist. Die Architekturzeichnung versucht, die Ausstrahlung des Objektes an seinem Ort möglichst präzise ins Bild zu setzen. Aber gerade die Anstrengung der Darstellung kann die Abwesenheit des realen Objektes besonders deutlich werden lassen. Was dann aufkommt, ist Einsicht in die Unzulänglichkeit jeglicher Darstellung, Neugier auf die in der Darstellung versprochene Wirklichkeit und vielleicht, wenn uns das Versprochene zu berühren vermag, auch Sehnsucht nach seiner Gegenwart. Wenn Realismus und graphische Virtuosität in einer Architekturdarstellung zu groß werden, wenn die Darstellung keine „offene Stellen“ mehr enthält, in die wir mit unserer Imagination eindringen können und die Neugier nach der Wirklichkeit des dargestellten Objektes aufkommen lassen, dann wird die Darstellung selber zum Objekt der

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Begierde. Das Verlangen nach dem wirklichen Objekt verblasst. Wenig oder nichts mehr verweist auf das gemeinte Reale, das außerhalb der Darstellung Liegende. Die Darstellung enthält keine Versprechen mehr. Sie meint sich selber. Entwurfszeichnungen, die ausdrücklich auf eine noch in der Zukunft liegende Wirklichkeit verweisen, sind in meiner Arbeit wichtig.[...] VERVOLLSTÄNDIGTE LANDSCHAFTEN Gebäude entwerfen zu können, die im Laufe der Zeit auf diese selbstverständliche Weise mit der Gestalt und Geschichte ihres Ortes verwachsen, weckt meine Leidenschaft. Mit jedem neuen Bauwerk wird in eine bestimmte historische Situation eingegriffen. Für die Qualität dieses Eingriffes ist es entscheidend, ob es gelingt, das Neue mit Eigenschaften auszustatten, die in ein sinnstiftendes Spannungsverhältnis mit dem schon Dagewesenen treten. Denn damit das Neue seinen Platz finden kann, muss es uns erst dazu anregen, das Bestehende neu zu sehen. Man wirft einen Stein ins Wasser. Sand wirbelt auf und setzt sich wieder. Der Aufruhr war notwendig. Der Stein hat seinen Platz gefunden. Aber der Teich ist nicht mehr derselbe wie vorher.[...]

Seite 17 ff.

DIE SPANNUNG IM INNEREN EINES KÖRPERS Seite 19 Ich denke, dass die verborgenen Tragstrukturen und Konstruktionen eines Hauses so anzulegen sind, dass sie den vollendeten Körper in einen Zustand der inneren Spannung und Vibration versetzen. Geigen sind so gebaut. Sie erinnern uns an die lebendigen Körper in der Natur.[...]

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MELANCHOLISCHE WAHRNEHMUNG [...] weil ich überzeugt bin, dass ein gutes Gebäude fähig sein muss, die Spuren des menschlichen Lebens zu absorbieren, und dass es dadurch einen besonderen Reichtum annehmen kann.[...]

Seite 24

WIDERSTAND Die Sprache der Architektur ist in meinen Augen keine Frage eines bestimmten Baustils. Jedes Haus wird für einen bestimmten Zweck, an einem bestimmten Ort und für eine bestimmte Gesellschaft gebaut. Die Fragen, die sich aus diesen einfachen Tatsachen ergeben, versuche ich mit meinen Bauten so genau und kritisch, wie ich kann, zu beantworten. Seite 27

DER HARTE KERN DER SCHÖNHEIT Emotionen mit Bauwerken nicht hervorrufen wollen, sondern Emotionen zulassen, denke ich mir. Und: Hart an der Sache selber bleiben, nahe am eigentlichen Wesen des Dinges, das ich zu schaffen habe, und darauf vertrauen, dass das Bauwerk, ist es nur präzise genug für seinen Ort und seine Funktion erdacht, seine eigene Kraft entwickelt, die keiner künstlerischen Zutat bedarf. Der harte Kern der Schönheit: konzentrierte Substanz. Aber wo liegen die Kraftfelder der Architektur, die ihre Substanz jenseits von Oberflächlichkeit und Beliebigkeit ausmachen? [...] Seite 31 John Cage sagt in einer Vorlesung sinngemäß, er sei kein Komponist, der im Geiste Musik höre und dann versuche, diese Seite 29 ff.

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aufzuschreiben. Seine Arbeitsweise sei eine andere. Er erarbeite sich Konzepte und Strukturen und lasse sie aufführen, um erst dann zu erfahren, wie sie tönen. Als ich diese Aussage las, ist mir in den Sinn gekommen, wie wir unlängst im Atelier ein Projekt für ein Thermalbad in den Bergen entwickelten, ohne uns zunächst einmal geistige Bilder für diese Bauaufgabe vorzugeben und diese dann auf unsere Bauaufgabe bezogen abzuwandeln, sondern wie wir versuchten, grundsätzliche Fragestellungen zu beantworten, die den Ort, die Bauaufgabe und die Baumaterialien – Berg,Stein,Wasser – betreffen und die zunächst nicht bildhaft waren. Erst nachdem es uns möglich geworden war, die Fragen an den Ort, das Material und die Bauaufgabe schrittweise zu beantworten, sind nach und nach Strukturen und Räume entstanden, die uns selber überraschten und von denen ich glaube, dass sie das Potenzial einer ursprünglichen Kraft haben, die hinter das Arrangieren von stilistisch vorgefertigten Formen zurückreicht. [...] Seite 33 Genaue Sachverhalte herstellen, Bauwerke als Sachverhalte denken, deren Einzelheiten richtig erkannt und in ein sachliches Verhältnis zueinander gebracht werden müssen. Ein sachliches Verhältnis. Was hier aufscheint, ist die Reduktion auf die Sachen und Dinge, die sind, dass seine Beschreibungen als Treue zum Ort, den sie beschreiben, erlebbar sind und nicht als zusätzliche Färbung oder Farbigkeit. [...] Gute Architektur sollte den Menschen aufnehmen, ihn erleben und wohnen lassen, nicht ihn beschwatzen. [...] Es gibt für mich ein schönes Schweigen von Bauten, das ich

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verbinde mit Begriffen wie Gelassenheit, Selbstverständlichkeit, Dauer, Präsenz und Integrität, aber auch Wärme und Sinnlichkeit; sich selber sein, ein Gebäude sein, nicht etwas darstellen, sondern etwas sein.

VON DEN LEIDENSCHAFTEN ZU DEN DINGEN Es ist mir wichtig, über Architektur nachzudenken, Distanz zu nehmen von der täglichen Arbeit, zurückzutreten und zu schauen, was ich mache und warum ich es so mache. Ich liebe das und brauche es wohl auch. Denn ich bin kein Architekt, der von der Theorie ausgeht, der von einem theoretisch umrissenen Standort aus sozusagen in die Architekturgeschichte hinein entwirft, sondern ich bin vielmehr dem Architektur-Machen, dem Bauen, dem perfekt gemachten Ding verfallen, so wie ich als Junge meine Dinge, die so und nicht anders sein konnten, aus Gründen, die ich eigentlich nicht kenne. Es gab nur immer schon dieses sehr persönliche Gefühl für die Gegenstände die ich für mich herstellte, die andere Menschen herstellen. Dieses Gefühl ist mir nie als etwas besonderes aufgefallen. Es war einfach immer da. Heute weiß ich, dass ich in meiner Arbeit als Architekt im Grunde diesen frühen Leidenschaften, vielleicht sogar Obsessionen nachspüre, sie besser zu verstehen und zu verfeindern versuche. Und wenn ich mir heute überlege, ob seit meiner Jugend nicht doch neue Bilder und Leidenschaften zu den alten getreten sind, so will mir scheinen, ich hätte den gefühlsmäßigen Kern des neu Entdeckten irgendwo schon immer gekannt. Seite 39

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DER KÖRPER DER ARCHITEKTUR BEOBACHTUNGEN Seite 54 4 Unserer Jury werden Bauten vorgelegt von Architekten, die sich um eine Auszeichnung für gute Architektur bewerben. Ich studiere die Dokumentation eines kleinen roten Holzhauses in ländlicher Umgebung, eine als Wohnhaus umgebaute Scheune, die von den Architekten und Bewohnern erweitert wurde. Die Erweiterung ist gelungen, denke ich für mich. Der Baukörper unter dem Satteldach lässt den Anbau erkennen, wirkt gut modelliert und ganzheitlich. Die Fensteröffnungen sind mit Gefühl gesetzt. Alt und neu ist im Gleichgewicht. Die neuen Teile des Hauses scheinen nicht sagen zu wollen: „Ich bin neu“, sondern vielmehr: „Ich bin Teil des neuen Ganzen.“ Es ist nichts Spektakuläres oder Innovatives da, etwas, das ins Auge springen würde. Vom Prinzip der Gestaltung her ist dies vielleicht eher eine altmodische, handwerkliche Haltung. Wir waren uns einig, dass man diesem Umbau keine Designauszeichnung zusprechen kann. Dafür ist er dem architektonischen Anspruch zu bescheiden. Trotzdem denke ich gerne an das kleine rote Haus zurück.

ARCHITEKTUR LEHREN, ARCHITEKTUR LERNEN Junge Menschen kommen an die Universität, wollen Architekt oder Architektinnen werden, wollen herausfinden, ob sie das Zeug dazu haben. Was vermittelt man ihnen zuerst? Zunächst ist es ihnen zu erklären, dass kein Lehrer vor ihnen steht, Seite 65 ff.

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der Fragen stellt, auf die er die Antwort schon im Voraus weiß. Architektur machen heißt, sich selber in Frage stellen, heißt, die eigene Antwort mit Unterstützung der Lehrer annähern, einkreisen, finden. Immer wieder. Die Kraft eines guten Entwurfs liegt in uns selbst und in unserer Fähigkeit, die Welt mit Gefühl und Verstand wahrzunehmen. Ein guter architektonischer Entwurf ist sinnlich. Ein guter architektonischer Entwurf ist klug. Architektur haben wir alle erlebt, noch bevor wir das Wort Architektur überhaupt kannten. Die Wurzeln unseres Architekturverständnisses liegen in unseren frühen Architekturerfahrungen: Unser Zimmer, unser Haus, unsere Strasse, unser Dorf, unsere Stadt, unsere Landschaft - früh haben wir sie erfahren, unbewusst, und sie später verglichen mit den Landschaften, Städten und Häusern, die neu dazukamen. Die Wurzeln unseres Architekturverständnisses liegen in unserer Kindheit, in unserer Jugend; sie liegen in unserer Biographie. Die Studenten müssen lernen, mit ihren persönlichen biographischen Architekturerfahrungen als Grundlage des Entwerfens bewusst zu arbeiten. Die gestellten Entwurfsaufgaben sind so angelegt, dass sie diesen Prozess in Gang bringen. Wir fragen uns, was hat uns damals an diesem Haus, in dieser Stadt gefallen, beeindruckt, berührt - und warum? wie war der Raum, der Platz beschaffen, wie hat er ausgesehen, welcher Geruch lag in der Luft, wie haben meine Schritte in ihm geklungen, wie hat meine Stimme in ihm getönt, wie haben sich der Boden unter meinen Füßen, die Türklinke in meiner Hand angefühlt, wie war das Licht auf den Fassaden, der Glanz auf den Wänden? War da ein Gefühl von Enge von Weite, von Intimität oder Größe? Bretterböden wie leichte Membrane, schwere Massen aus Stein,

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weiche Tücher, polierter Granit, sanftes Leder, roher Stahl, poliertes Mahagonie, kristallines Glas, weicher Asphalt von der Sonne gewärmt - die Materialien der Architekten, unsere Materialien. Wir kennen sie alle. Und wir kennen sie doch nicht. Um zu entwerfen, um Architekturen zu erfinden, müssen wir lernen, bewusst mit ihnen umzugehen. Das ist Forschungsarbeit, das ist Erinnerungsarbeit. Architektur ist immer konkrete Materie. Architektur ist nicht abstrakt, sondern konkret. Ein Entwurf, ein Projekt, aufgezeichnet auf Papier, ist nicht Architektur, sondern nur eine mehr oder weniger mangelhafte Repräsentation von Architektur, vergleichbar mit den Noten der Musik. Die Musik bedarf der Aufführung. Architektur bedarf der Ausführung.Dann entsteht ihr Körper. Und dieser ist immer sinnlich. Alle Entwurfsarbeiten des ersten Jahreskurses des Architekturstudiums gehen von dieser körperlichen, gegenständlichen Sinnlichkeit der Architekturen, von ihrer Materialität aus. Architektur konkret erfahren, das heisst ihren Körper berühren, sehen, hören riechen. Diese Qualitäten entdecken und bewusst damit umgehen - das sind die Themen des Unterrichts. In alles Übungen wird mit wirklichen Materialitäten gearbeitet. Die Entwurfsarbeiten zielen immer direkt auf konkrete Gegenstände, Objekte, Installationen aus wirklichen Materialien (Ton, Stein, Kupfer, Stahl, Filz, Stoff, Holz, Gips, Ziegel ...). Kartonmodelle gibt es nicht. Ja eigentlich sollen gar keine <<Modelle>> im hergebrachten Sinn hergestellt werden, sondern konkrete Objekte, plastische Arbeiten in einem bestimmten Maßstab. Auch das Zeichnen von maßstäblichen Plänen soll immer von einem Konkreten Objekt ausgehen. (Der in der professionellen

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Architekturwelt übliche Ablauf - Idee, Plan, Modell, konkretes Objekt - wird umgekehrt.) Die konkreten Objekte werden zuerst geschaffen und dann maßstäblich aufgezeichnet. Auch das Verständnis für die verschiedenen maßstäblichen Dimensionen der Architektur wir an konkreten Objekten eingeübt (z.B.: Massaufnahme eines Querschnitts oder Horizontalschnittes durch einen Strassenzug, Detailzeichnungen eines bestehenden Innenraumes usw). Von den Architekturen die uns geprägt haben, tragen wir Bilder in uns. Diese Bilder können wir im Geiste wieder entstehen lassen und befragen. Aber daraus entsteht noch kein neuer Entwurf, keine neue Architektur. Jeder Entwurf verlangt nach neuen Bildern. Unsere „alten“ Bilder können uns lediglich helfen, die neuen Bilder zu finden. Das Denken in Bildern beim Entwerfen ist immer ganzheitlich. Denn das Bild zeigt naturgemäß immer das Ganze des ins Auge gefassten Ausschnittes der erdachten Realität: Wand und Fußboden, Decke und Materialien, Lichtstimmung und Farbigkeit eines Raumes zum Beispiel. Und wir sehen auch alle Details der Übergänge vom Fußboden zur Wand und von der Wand zum Fenster, ganz wie im Kino. Sie sind allerdings häufig nicht da, diese Bildelemente, wenn wir mit einem Entwurf beginnen und uns ein Bild des erdachten Objektes zu machen versuchen. Am Anfang des Entwurfvorganges ist das Bild meist unvollständig. So versuchen wir unser Entwurfsthema immer wieder neu zu fassen und zu klären, um die fehlenden Teile in unser Bild einzusetzten. Oder anders ausgedrückt: Wir entwerfen. Die konkrete Sinnfälligkeit unserer vorgestellten Bilder hilft uns dabei. Sie hilft uns, uns nicht in der Dürre abstrakter

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theoretischer Annahmen zu verlieren, sie hilft uns, den Komtakt zu den konkreten Qualitäten der Architektur nicht zu verlieren. Sie hift uns, uns nicht in die grafische Qualität unserer Zeichnungen zu verlieben und diese mit wirklicher architektonischer Qualität zu verwechseln. Innere Bilder zu produzieren ist ein natürlicher Vorgang, den wir alle kennen. Er gehört zum Denken. Assoziatives, wildes freies, geordnetes und systematisches Denken in Bildern, in architektonischen, räumlichen, farbigen und sinnlichen Bildern – das ist meine liebste Definition des Entwerfens. Das Denken in Bildern als Methode des Entwerfens würde ich den Studenten und Studentinnen gerne vermitteln.

HAT SCHÖNHEIT EINE FORM? Die Aprikosenbäume gibt es. Die Farne gibt es; und Brombeeren. Aber Schönheit? Ist Schönheit eine konkrete Eigenschaft einer Sache, eines Objektes, beschreibbar und benennbar, oder eher ein Geisteszustand, eine Empfindung des Menschen? Ist Schönheit ein besonderes Gefühl, ausgelöst durch eine besondere Form, Gestalt oder Gestaltung, die wir wahrnehmen? Wie ist das Ding beschaffen, das uns die Empfindung von Schönheit auslöst, dieses Gefühl, in einem bestimmten Moment Schönheit zu erfahren, Schönheit zu sehen? Hat Schönheit eine Form? [...] Seite 77 12 Schönheit ist eine Empfindung. Der Verstand spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Schönheit, die aus unserer Kultur Seite 71

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hervorgeht und unserer Bildung entspricht, erkennen wir sofort, glaube ich. Wir sehen eine gefasste, zu einem Sinnbild verdichtete Form, eine Gestalt oder Gestaltung, die uns berührt, die die Eigenschaft hat, vieles, ja vielleicht alles in Einem zu sein: selbstverständlich, ruhig, gelassen, natürlich, würdevoll, tiefgründend, geheimnisvoll, anregend, spannungsvoll ... Ob die Erscheinung, die mich berührt, wirklich schön ist, ist an der Form selbst kaum je Richtung nachzuweisen, denn nicht die Form an sich, sondern erst der Funke, der überspringt von ihr zu mir, erzeigt die besondere Erregung und Tiefenschärfe des Gefühls, die zum Schönheitserlebnis gehören. Aber die Schönheit gibt es. Sie tritt zwar eher selten auf und wenn sie auftritt, dann häufig an unerwarteten Orten. Und an anderen Orten, wo wir sie erwarten würden, fehlt sie. Aber die Schönheit gibt es. Lässt sich Schönheit entwerfen und herstellen? Wo sind die Regeln, die uns Schönheit für unsere Hervorbringungen garantieren? Über Kontrapunkt, Harmonielehre, Farbenlehre, Goldener Schnitt und „Form folgt Funktion“ Bescheid zu wissen, reicht nicht aus. Methoden und Hilfsmittel, diese schönen Instrumente, ersetzen weder die Inhalte, noch vermögen sie den Zauber der schönen Gestalt zu garantieren. 13 Meine Aufgabe als Gestalter bleibt schwierig. Sie hat mit Kunst und Gelingen, Intuition und Handwerk zu tun. Und mit Einlässlichkeit, Sachlichkeit und Authentizität. Um Schönheit zu erreichen, muss ich ganz bei mir sein, meine eigene Sache tun und keine andere, denn die besondere Substanz, die Schönheit erkennt und mit Glück zu schaffen vermag, liegt in mir selbst. Andererseits muss ich die Dinge, die ich schaffen

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will, Tisch, Haus und Brücke, zu ihrem Recht kommen lassen. Ich glaube, jedes gut geschaffene Ding hat ein ihm angemessenes Ordnungsgefüge, das seine Form bestimmt und zu seinem Wesen gehört. Dieses Wesentliche will ich entdecken und bleibe darum beim Entwerfen hart an der Sache selbst. Ich glaube an eine Genauigkeit der Anschauung, an einen Wahrheitsgehalt der realen sinnlichen Erfahrung, die jenseits von abstrakten Meinungen oder Ideen liegen. Was will dieses Haus werden, als Objekt des Gebrauchs, als sinnlicher Körper, mit Material gefügt und fest konstruiert, als Gestalt, zur Form gebracht, die dem Leben dient? So frage ich mich und frage weiter: Was will dieses Haus sein, für seinen Ort in der Nebenstrasse der Stadt, in der Vorstadt, in der geschundenen Landschaft, am Hügel vor den Buchen, in der Anflugschneise, im Licht des Sees, im Schatten des Waldes?

DIE MAGIE DES REALEN Seite 85 Die Magie des Realen, das ist für mich diese „Alchemie“ der Verwandlung von realen Substanzen in menschliche Empfindungen, dieses besondere Moment der emotionalen Aneignung oder Anverwandlung von Materie, von Stoff und Form in archiektonischen Raum. Als Architekt kann ich ein Ferienhaus, Geschäftshaus oder einen Flughafen zum Funktionieren bringen. Ich kann Wohnungen mit guten Grundrissen zu erschwinglichen Preisen bauen, kann Theater, Kunstmuseen oder Showrooms entwerfen, die von sich reden

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machen, ich kann meine Bauten mit Formen versehen, die die Bedürfnisse nach Innovation oder Neuartigkeit, Repräsentation oder Lifestyle erfüllen. All dies zu tun ist nicht so einfach. Es braucht Arbeit. Und Talent. Und nochmals Arbeit. Aber meine Ansprüche an die geglückte architektonische Arbeit, geboren aus jenen besonderen Momenten der persönlichen Architekturerfahrung, gehen weiter und lassen mich in Frage stellen: Kann ich als Architekt auch das entwerfen, was eine architektonische Atmosphäre wirklich ausmacht, diese einmalige Dichte und Stimmung, dieses Gefühl von Gegenwart, Wohlbefinden, Stimmigkeit, Schönheit? Lässt sich das entwerfen, was in einem bestimmten Moment die Magie des Realen ausmacht, in deren Bann ich etwas erlebe und erfahre, was ich in dieser Qualität sonst nicht erleben würde? Es gibt kleine und großes, eindrückliche und wichtige Gebäude oder bauliche Ensembles, die mich klein machen, die mich bedrängen, die mich ausschließen, abweisen. Es gibt aber auch Gebäude oder Ensembles, klein oder riesig, in denen ich mich gut fühle, in denen ich gut aussehe, die mir ein Gefühl von Würde und Freiheit vermitteln, in denen ich mich gerne aufhalte, die ich gerne benutze. Diesen Werken gilt meine Leidenschaft. So achte ich in meiner Arbeit darauf, meine Gebäude als Körper zu denken und auch so zu bauen: Als Anatomie und Haut, als Masse, Membrane, als Stoff oder Hülle, Tuch Samt, Seide und glänzenden Stahl. Ich achte darauf, dass meine Materialien zusammen klingen und zum Strahlen kommen, nehme eine bestimmte Menge von Eichenholz und eine andere Menge Tuffstein und gebe noch etwas hinzu:

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drei Gramm Silber, ein Griff zum Drehen, Flächen von glänzendem Glas, damit mit jeder Materialkomposition etwas Einmaliges entsteht. Ich achte auf den Klang des Raumes, auf die Anschlagqualitäten der Materialien und Oberflächen und auf die Stille, als Voraussetzung des Hörens. Die Temperatur des Raumes ist mir wichtig, das Kühle, Erfrischende und die Schattierungen der Wärme, die dem Körper schmeicheln. Ich denke an die persönlichen Dinge, die den Menschen in bestimmten Räumen um sich herum versammeln um zu arbeiten, um sich zu Hause zu fühlen und für die ich Ort und Gehäuse schaffe. Mir gefällt die Vorstellung, die inneren Strukturen meiner Gebäude anzulegen in räumliche Sequenzen, die uns führen, hinführen, aber auch loslassen und verführen. Architektur als Raum- und Zeitkunst zwischen Gelassenheit und Verführung. Ich achte auf die sorgfältige Inszenierung der Spannung zwischen Innen und Aussen, Öffentlichkeit und Intimität, achte auf Schwellen, Übergänge und Grenzen. Und das Spiel mit dem Maßstab der Architektur, die Arbeit an der richtigen Größe der Dinge ist geleitet vom Wunsch, Stufen der Intimität, Abstufungen von Nähe und Distanz schaffen und ich freue mich daran, die Materialien, Oberflächen und Kanten, glänzend und matt, ins Licht der Sonne zu setzen und geheimnisvoll tiefe Massen und Abstufungen von Schatten und Dunkelheit entstehen zu lassen, um den Zauber des Lichts auf den Dingen hervortreten zu lassen. Bis alles stimmt.

139 Peter Zumthor, Architektur Denken 1. Aufl.,Verlag Lars Müller, Baden, Schweiz, 1998 unveränderter Nachdruck & 2. erweiterte. Auflage, Birkhäuser, Basel, Schweiz, 1999 & 2006 ISBN: 978-3-7643-7496-9 nur antiquarisch verfügbar


Lob des Schattens Tanizaki Jun‘ichirĹ? 1933


gelesen und ausgewählt von Alyssa Rau Der japanische Autor gilt heute als „Bannerträger des Ästhetizismus“ (S.91). Er studierte zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts englische und japanische Literatur an der renommierten kaiserlichen Universität von Tokyo. Für die Schriftstellerlaufbahn ließ er das Studium jedoch unbeendet und wurde unter Einfluss von bedeutenden Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, wie Oscar Wilde, Charles Baudelaire und Edgar Allan Poe sowie seines Lehrers Nagai Kafū, zu einem der wirkungsvollsten und mächtigsten japanischen Autoren der Moderne. Das 16teilige Essay In‘ei raisan (Lob des Schattens) wurde erstmals 1933 in der Zeitschrift „Keizei Ōrai“ veröffentlicht. Der Text nimmt eine zentrale Rolle in Tanizakis Ästhetik ein und widerspiegelt sein Hauptthema der Suche nach der Schönheit. Tanizaki Jun‘ichirōs Werk beschreibt in feinfühliger und einzigartiger Weise die in Japan bis heute herrschenden Kluft zwischen Ost und West, sowie das Spannungsfeld zwischen Jahrtausende alter Tradition und der Moderne. Das fernöstliches Verständnis von Schatten, Halbdunkel und Düsternis ist hier in schöner und bildhafter Sprache geschildert. Die Schönheit in der Abwesenheit von Licht und die daraus resultierende Steigerung von Glanz und Eleganz der unterschiedlichsten Materialien werden an verschiedenen und teilweise überraschenden Situationen verdeutlicht und schaffen somit Bewunderungen für diese Jahrtausende alten Entwurfsprinzipien. Das Buch lehrt dem Leser im Dunkel zu sehen und kann durchaus als „ästhetisches Testament Japans“ (Neue Züricher Zeitung) verstanden werden.

Ein Teeraum ist gewiss ein sehr ansprechender Ort, aber noch mehr ist der Abort japanischen Stils so konzipiert, dass der Geist im wahrsten Sinn des Wortes Ruhe findet, solche Örtchen stehen immer vom Hauptgebäude getrennt im Schatten eines Gebüschs, wo einen der Geruch von grünem Laub und Moos umfängt; sie sind mit dem Haus durch einen überdachten Gang verbunden, und wenn man in ihrem Halbdunkel kauert und, vom matthellen Widerschein der shōji beschienen, sich seinen Träumereien hingibt oder den Garten vor dem Fenster betrachtet, so ist das ein ganz

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unbeschreibliches Gefühl.[...] Es dürfte kaum einen Ort geben, wo man dieses Wohlgefühl deutlicher empfindet, als den japanischen Abort, der von ruhigen Wänden und feiner Holzmaserung umgeben ist, der den Blick auf die Farben des Himmels und des grünen Laubwerk freigibt.[...] Unsere Vorfahren, die die Gabe hatten, alles zu poetisieren, machten aus dem an sich unsaubersten Teil des Hauses einen Ort des guten Geschmacks, verbanden ihn mit den Schönheiten der Natur und umgaben ihm mit einer Aura von liebenswerten Assoziationen. Verglichen mit der Einstellung der Abendländer, die den Ort von Grund auf als unrein behandeln und sich sogar scheuen, in der Öffentlichkeit davon zu sprechen, ist die unsere viel weiser und erreicht ein Höchstes an geschmacklichem Raffinement.[...] Gleich wie es sich für eine schöne Frau – und mag sie noch so wunderbare Haut haben – nicht geziemt, das Hinterteil oder die Beine vor aller Welt zu entblößen, so ist es auch der Gipfel der Indiskretion, einen solchen Bereich so aufdringlich zu erhellen. Viel eher regt einen die Sauberkeit dessen, was man sieht, dazu an, auf das zu schließen, was unsichtbar bleibt. Es macht sich besser, solche Orte in ein verschwommenes Halblicht zu tauchen und den Grenzbereich, von dem an es sauber oder weiniger sauber wird, im unklaren zu lassen. [...]

Schatten


Zwar habe ich nichts dagegen, das man die Errungenschaften der Zivilisation, sei es nun Beleuchtung, Heizung oder Klosett, übernimmt, aber wenn schon, warum kann man dann nicht ein bisschen mehr auf unsere Bräuche und Lebensart Rücksicht nehmen und jene Errungenschaft in ihrem Sinne adaptieren und verbessern? Dies war die Frage, die sich mir damals aufdrängte. [...] Seite 23 Im Gegenteil, man freut sich wenn der Oberflächenglanz verschwindet und sie (Gegenstände aus Silber) mit dem Alter schwarz anlaufen.[...] Man kann nicht sagen, dass wir im allgemeinen glänzende Dinge ablehnen, doch einem seichten, hellen Glanz ziehen wir ein seichtes, umwölktes Schimmern vor. Sei es ein natürlicher Stein oder ein künstlich geschaffenes Gerät, es geht uns um einen von Trübungen gedämpften Glanz, der unfehlbar mit der Vorstellung einer Alterspatina zusammenhängt.[...] Während die Abendländer den Schmutz radikal aufzudecken und zu entfernen trachten, konservieren ihn die Ostasiaten sorgfältig und ästhetizieren ihn, wie er ist – könnte man, wenn man wollte, beschönigend sagen. [...] Seite 28 Und bei der Gelegenheit spürte ich, wie die Schönheit der japanischen Lackarbeiten erst dann wirklich zur Geltung kommt, wenn man sie in solch unbestimmtes Dämmerlicht stellt.[...] Ich weiß jetzt, es war kein Zufall, dass unsere Vorfahren den Lack als Anstrich erfunden und eine Vorliebe für die Farbwerte und Ausstrahlung der damit behandelten Geräte gezeigt haben.[...] Es ist in der Tat berechtigt „Dunkelheit“ zu den notwendigen Bedingungen zu rechnen, wenn die Schönheit einer Lackarbeit beurteilt werden soll. Heute stellt man zwar auch so etwas wie „Weißlack“ her,

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doch die Oberfläche der seit alters gebräuchlichen Lacke ist schwarz, braun oder rot; es sind Farben, in denen sich „Dunkelheit“ in mehreren Schichten abgelagert hat und die, so darf man annehmen, notwendigerweise aus dem Dunkel ihrer Umgebung heraus entstand sind.[...] Das heißt eine Lackmalerei in Gold soll nicht an einem hellen Ort mit einem Blick als Gesamtheit überschaut werden, sondern sie ist so beschaffen, dass man an einem dunklen Ort von Zeit zu Zeit den einen und dann den anderen Teil tiefgründig aufleuchten sieht. Gerade die Tatsache, dass die prunkvoll-üppigen Muster größtenteils im Dunkeln verborgen bleiben, erzeugt eine unaussprechliche Resonanz. Jener hervorstechende Glanz der gesamten Oberfläche seinerseits spiegelt, wenn ins Dunkel gerückt, das Schwanken der Flamme wider, zeigt an, dass auch durch ein ruhiges Zimmer gelegentlich ein Luftzug streicht, und versetzt den Menschen unwillkürlich in eine meditative Stimmung. [...] Seite 35 Ich bin zwar ein vollständiger Laie in Bezug auf Architektur, aber es heißt, die Schönheit der westlichen Kathedralen gotischen Stils bestehe darin, dass ihre Dächer steil in die Höhe ragten und ihre Spitzen bis in den Himmel hineinstrebten. Im Gegensatz dazu stülpt sich bei den Tempelhallen unseres Landes ein riesiges Ziegeldach über das Gebäude, und die ganz Struktur duckt sich in den breiten, tiefen Schatten, den das Vordach ringsum wirft.[...] Natürlich sind auch die Gebäude im Westen nicht ohne Dächer, aber ihr Hauptzweck liegt weniger im Abschirmen der Sonnenstrahlung als im Schutz vor Regen und Nässe, und schon die äußeren Umrisse machen deutlich, dass sie darauf angelegt sind, ein Minimum an Schatten zu werfen und den Innenraum so viel

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wie irgend möglich dem Licht auszusetzen. Wenn das japanische Dach ein Schirm ist, so ist das westliche Dach nur ein Hut – ein Hut überdies, dessen Krempe wie bei einer Sportmütze auf ein Minimum reduziert ist und bei dem die direkte Sonnenstrahlung bis nahe unter den Rand vordringt. Vermutlich hängt die Länge des japanischen Vordachs mit den klimatischen und topographische Verhältnissen, mit den Baumaterialien und mit verschiedenen anderen Bedingungen zusammen. Zum Beispiel hatte man keine Ziegel, kein Glas und keinen Zement zur Verfügung, und deshalb sah man sich wohl gezwungen, die Vordächer tief herabzuziehen, um die seitlichen Windstöße und Regenschauer abzuhalten. Man machte also aus der Not eine Tugend, denn ohne Zweifel wären auch für die Japaner helle Räume bequemer gewesen als dunkle. Das, was man als schön bezeichnet, entsteht in der Regel aus der Praxis des täglichen Lebens heraus. So entdeckten unsere Vorfahren, die wohl oder übel im dunklen Räumen leben mussten, irgendwann die dem Schatten innewohnende Schönheit, und sie verstanden es schließlich sogar, den Schatten einem ästhetischen Zweck dienstbar zu machen. Tatsächlich gründet die Schönheit eines japanischen Raumes rein in der Abstufung der Schatten. Sonst ist überhaupt nichts vorhanden.[...] So besteht das ästhetische Element unserer Räume in nichts anderem als eben in dieser mittelbaren, abgestumpften Lichtwirkung. [...] Orte wie Speicher, Küchen, Korridore werden in einem glanzvollen Farbton gehalten; doch die Wände der Wohnräume sind fast durchwegs Sandwände und werden höchst selten zum Glänzen gebracht. Denn wenn man ihnen Glanz verleiht, löst sich die weiche, zarte Stimmung des spärlichen Lichtscheins in nichts auf.[...] Fast eher als um Farbunterschiede handelt es sich um ganz geringe

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Helldunkelnuancen, die etwa leichten Stimmungsschwankungen des Betrachters entsprechen. Überdies erhält jeder Raum aufgrund der unmerklichen Farbunterschiede eine ihm eigene, leicht anders getönte Schattenwirkung. Es gibt allerdings in unseren Wohnräumen auch die sogenannten Wandnischen, die tokonoma, in die man Rollbilder und Blume stellt; aber selbst diese Rollbilder und Blumen sollen nicht so sehr die Wirkung einer Dekoration ausüben als vielmehr dem Schatten Tiefe verleihen.[...] Wenn Wand und Rollbild nicht im Einklang sind, verliert jedes noch so berühmte kalligrafische oder malerische Werk seinen Wert. [...] Seite 41 Wollte man den japanischen Wohnraum mit einem Tuschebild vergleichen, dann entsprächen die shōji den Stellen, wo die Tusche sehr verdünnt aufgetragen ist, und die Wandnische den Stellen, wo die Tusche am kräftigsten ist. Jedenfalls bewundere ich, wenn ich die Wandnische eines geschmackvoll durchgestalteten japanischen Raumes sehe, in welchem Ausmaß die Japaner das Geheimnis des Schattens begriffen haben und wie raffiniert sie mit Licht und Schatten umzugehen wissen; und zwar ohne allzu spezielle Vorkehrungen.[...] Bei allem Wissen, dass es sich nur um simple Schatten handelt, drängt sich uns dennoch im Anschauen der dunklen Stellen hinter dem oberen Querbalken, im Umkreis der Blumenvase oder unter den Wandregalen der Eindruck auf, die Luft sei dort lautlos in sich versunken und das Dunkel von einer ewig unveränderlichen Stille beherrscht.[...] Vermutlich ist mit dem „Mysterium des Ostens“, von dem die Abendländer reden, die unheimliche Stille gemeint, die solches Dunkel in sich birgt.[...] Das Genie unserer Vorfahren hat also der Schattenwelt, die durch bewusstes Abschirmen eines leeren

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Raums von selbst entsteht, einen geheimnisvollen ästhetischen Ausdruck verliehen, gegen welche keine Wandbemalung oder Dekoration nur annähernd ankommt.[...] Ich jedenfalls bleibe im weißlich-matten Lichtschimmer, den die shōji des Studierzimmers hereinlassen, oft unversehens davor stehen und vergesse, wie die Zeit verstreicht. [...] [...] Seite 44 Und weiter, wenn Sie bis tief hinein in den innersten Raum eines solchen mächtigen Gebäudes vordringen, haben Sie dann noch nie gesehen, wie dort im Dunkel, von keinem direkten Außenlicht mehr erreicht, Goldschiebetüren oder Goldwandschirme den letzten Ausläufer der vom weit entfernten Garten her durch viele Zimmer dringenden Helligkeit aufnimmt und wie im Traum verhalten reflektiert? Dieser Widerschein wirft, einem Horizont bei Abenddämmerung vergleichbar, einen unendlich zarten goldenen Schimmer in das umgebende Dunkel; ich glaube nicht, dass Gold sonst je eine so ergreifende Schönheit ausstrahlt. Es kommt vor, dass ich mich beim Vorübergehen wiederholt umdrehe und hinschaue. [...] Seite 55 Die Bürgermädchen und –frauen aus der Edo-Zeit zogen sich erstaunlich schlicht an; denn die Kleidung war, mit einem Wort, nichts weiter als ein Teil des Dunkels oder auch ein Verbindungsstück zwischen Gesicht und Dunkelheit.[...] Andere werden vielleicht sagen, eine durch Dämmerlicht vorgetäuschte Schönheit sei keine wahre Schönheit. Aber wie schon oben gesagt, wir Orientalen haben nun einmal die Tendenz, an eigentlich unbedeutenden Orten Schattenwirkungen entstehen zu lassen und dadurch Schönheit hervorzubringen.

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Astwerk, zusammengetragen und verbunden: eine Reisighütte. Aufgelöst: wie zuvor Wieder die Wildnis. So geht ein altes Kurzgedicht, und unsere Denkweise ist nun einmal von dieser Art. Wir sind der Meinung, Schönheit sei nicht in den Objekten selbst zu suchen, sondern im Helldunkel, im Schattenspiel, das sich zwischen Objekten entfaltet. Gerade wie ein phosphoreszierender Stein, der im Dunkeln glänzt, aber bei Tageshelle jeglichen Reiz als Juwel verliert, so gibt es, glaube ich, ohne Schattenwirkung keine Schönheit. [...] Seite 59 Doch warum eigentlich zeigt sich dies Neigung das Schöne in der Dunkelheit zu suchen, nur bei den Orientalen mit solcher Stärke?[...] Meiner Meinung nach ist es die Art von uns Ostasiaten, die Umstände, in die wir einbezogen sind, zu akzeptieren und uns mit den jeweiligen Verhältnissen zufrieden zugeben. Deshalb stört uns das Dunkel nicht, wir nehmen es als etwas Unabänderliches hin; wenn es an Licht fehlt, sei’s drum – dann vertiefen wir uns eben in die Dunkelheit und entdecken darin eine ihr eigene Schönheit. Demgegenüber sind die aktiven Menschen des Westens ständig auf der Suche nach besseren Verhältnissen. Von der Kerze zur Lampe, von der Lampe zum Gaslicht, vom Gaslicht zum elektrischen Licht fortschreitend, streben sie unablässig nach Helligkeit und mühen sich ab, selbst den geringfügigsten Schatten zu verscheuchen. [...]

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Ich jedenfalls möchte versuchen, unsere schon halb verlorene Welt der Schatten wenigstens im Bereich des literarischen Werks wieder aufleben zu lassen. Ich möchte am Gebäude, das sich Literatur nennt, das Vordach tief herabziehen, die Wände beschatten, was zu deutlich sichtbar wird, ins Dunkel zurückstoßen und überflüssige Innenverzierungen wegreißen. Ich sage nicht, dass ich mir das für alle Häuser wünsche; aber wenigstens eines von dieser Art darf doch wohl bestehen bleiben, und um zu sehen, was dabei herauskommt, lösche ich probeweise einmal das elektrische Licht.

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NOTIZEN Tanizaki Kun‘ichirō, Lob der Schattens, Org.,Chuokoronsha, Japan, 1. Auflage 1933 dt. Übersetzung, Manesse Verlag, Zürich, 2001 ISBN 978-3-7175-4082-3 verfügbar


Poetik des Raumes Gaston Bache 1957


Gaston Bachelard (1884-1962 ) war Naturwissenschaftler der Mathematik, Physik und Chemie. Nach langer Lehrtätigkeit wandte es sich philosophischen Interessen zu. Seine Universitätskarriere begann erst mit 46 Jahren. Mit 56 Jahren erhielt er einen Lehrstuhl für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften an der Sorbonne Universität in Paris. Bachelard schrieb in seinem Leben 24 Bücher und erhielt 1961 für sein Werk den Grand Prix National des Lettres.

Das Buch „Die Poetik des Raumes“ beginnt mit einer relativ langen, philosophischen Einleitung, in der Gaston Bachelard verschiedene Verfahren vergleicht, die das Thema des poetischen Bildes, und der Macht des poetischen Bildes erörtern. Dabei benutzt Bachelard eine sehr ambitionierte, für mich schwer zu verstehende Sprache. Ich habe deshalb die Einleitung mehrmals gelesen und war dabei, ehrlich gesagt, auch ab und an der Verzweiflung nahe. Stellvertretend dazu ein kleiner Absatz aus dem Buch, zwar in einem anderen Zusammenhang, doch vermittelt er ganz schön das Gefühl, dass ich beim Lesen hatte.

Für einen Rationalisten kommt es dabei zu einem kleinen täglichen Drama, einer Art Verdoppelung des Denkens, die - wie partiell das Objekt auch sei (ein einfaches Bild) - eine tiefe psychische Rückwirkung haben kann. Seite 9

Weiterlesen lohnt sich aber in jedem Fall! Nach und nach werden die Texte verständlicher und die Inhalte erschließt sich.

elard

Wie schon erwähnt interessierte sich Bachelard für die einfachen poetischen Bilder, die den Leser eines Gedichtes oder eines Romanes nicht mehr loslassen, ihn bewegen, „in ihm Wurzeln schlagen.“ Bilder, die bei bestimmten Versen, Worten oder Sätzen, nur durch die geschriebene Schönheit des Dichtung, in dem Leser evoziert werden. Das Gefühl des „Wurzeln in einem schlagen“ kennt jeder von uns auch von Räumen, die man in Erinnerung behält. Räume, die einen berühren, ein

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Gefühl der Geborgenheit, Ruhe, Richtigkeit in uns auslösen, unsere Seele ansprechen. Mit den Worten Bachelards eine „poetische Dimension“ annehmen. Doch woher rührt diese Macht des Bildes? Nach Bachelards Auffassung ist das poetische Bild nicht rational, intellektuell zu erörtern oder zu erklären. Sondern es das Wecken des Unbewussten, das Aufdecken von Bildern die jeder bereits in sich trägt. Der Multiplikator dabei ist die Einbildungskraft. Er spricht von einer Phänomenologie der Einbildungskraft. Phänomenologie: Ursprung der Erkenntnisgewinnung in unmittelbar gegebenen Erscheinungen ( Phänomenen)

Hier heißt es gegenwärtig sein, in der Gegenwart des Bildes, in der Minute des Bildes: wenn es eine Philosophie der Poesie gibt, dann muß diese Philosophie entstehen und wieder entstehen aus der Gelegenheit eines dominierenden Verses, aus der totalen Hingabe an ein isoliertes Bild, im genauesten Sinne aus der Ekstase der Bildneuheit. Das dichterische Bild ist ein plötzliches Hervortreten des seelischen Geschehens, ein Hervortreten, das in den subalternen psychologischen Kausalitätsbeziehungen schlecht zu studieren ist. Eine Philosophie der Poesie kann überhaupt keine Basis in allgemeinen Zuordnungen haben. Seite 7

Um diese These zu untermauern untersucht Bachelard sehr einfache Bilder, die „des glücklichen Raumes“, welche in vielen Dichtungen wiederzufinden sind. Für Bachelard heißt das, den Raum als „erfahrbares Etwas“ (Christian Neugebauer, Raum Kommentare 2) zu betrachten. Er nennt seine Forschung „Topophilie“.

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Der von der Einbildungskraft erfaßte Raum kann nicht der in-


differente Raum bleiben, der den Messungen und Verlegungen des Geometers unterworfen ist. Er wird erlebt. Und er wird nicht nur in seinem realen Dasein erlebt, sondern mit allen Parteinahmen der Einbildungskraft. Er versucht nun, das Anfangs beschriebene Raumempfinden, das wir mit unseren eigenen Entwürfen schaffen wollen, mittels Gedankenbildern zu analysieren. Seite 25 Unaufhörlich imaginiert die Einbildungskraft und bereichert sich mit neuen Bildern. Diesen Reichtum imaginierten Seins wollen wir erforschen.

Der Einleitung folgen 10 Kapiteln mit einer sehr bildhaften, schönen und leichter zu verstehenden Sprache. Es sind zunächst Bilder intimer Räumlichkeiten: das Haus, der Schlupfwinkel, die Höhle. Danach die „Häuser der Dinge“ wie Schubladen, Truhen, Nester und Muscheln, außerdem der Gegensatz von Drinnen und Draußen und das Bild der Rundheit. Die folgenden Passagen veranschaulichen sehr schön diese bildhafte Raumvorstellung und vermitteln das Gefühl des von Bachelard viel zitierten „Widerhall“, der einem beim Lesen wiederfährt. Eine Art „Theorie des Widerhalls von Literatur im Geiste des Lesers“, wie es im Klappentext geschrieben ist. Auch in mir sind mit der Kraft der Einbildung, und deshalb ist das Buch auch so spannend, ständig Bilder aufgestiegen, bereichert durch meine eigene Vergangenheit, mein Leben, meine Seele. Das Wissen über Architektur im allgemeinen Sinne spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Bachelard spricht nicht von einer Phänomenologie des Geistes, sondern von einer Phänomenologie der Seele. Bachelard zeigt uns Gestaltern einen architekturpsychologischen Ansatz auf, den wir bereits in uns tragen und den wir beim Entwerfen und beim Denken von Raum anwenden können. Er träumt Bilder und erklärt Räume, die erlebt werden, und von uns Architekten für die Menschen, die darin wohnen, entworfen werden wollen.

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Das Bild zeigt das Wohnzimmer der Wohnung, in der ich momentan, während meiner Studienzeit, lebe. Das Bild habe ich ausgewählt, da ich damals, bei der ersten Besichtigung, das erwähnte Phänomen gespürt habe hier Zuhause zu sein. Unter anderem, weil mir beim Betreten des Raumes Bilder aus vergangenen Tagen in den Kopf gekommen sind. Bilder aus meiner eigenen Vergangenheit, Kindheitserinnerungen von Besuchern bei meiner Oma. Auch deshalb habe ich mich letztendlich für die Wohnung entschieden. Außerdem sieht man an dem Bild, dass es nicht immer spektakuläre Architektur sein muss, damit wir uns in einem Raum wohlfühlen.

I. DAS HAUS. VOM KELLER ZUM DACHBODEN. DER SINN DER HÜTTE Seite 36 Früher konnte man gewiß die Dachstube zu eng finden, im Winter zu kalt, im Sommer zu heiß. Aber jetzt, in der Erinnerung, die in der Träumerei wiedergefunden wird, ist die Dachstube, wer weiß durch welchen Synkretismus, klein und groß, warm und kühl, doch immer tröstend. [...] Seite 50 Die Treppe, die zum Keller führt, steigt man immer hinab. Ihr Hinabführen behält man in der Erinnerung, der Abstieg kennzeichnet ihren Traumwert. Die Treppe, die zum Zimmer führt, steigt man hinauf und hinab. Es ist eine banalere Treppe. Sie ist familiär. Das zwölfjährige Kind spielt darauf Tonleitern des Emporsteigens, aber am liebsten nimmt es immer vier

Wohnraum Konstanz


Stufen auf einmal, mit großen Sätzen! Eine Treppe vier zu vier Stufen hinaufzuspringen- welches Glück für die Schenkel! Schließlich die steilere, strengere Treppe zum Dachboden steigt man immer aufwärts. Sie steht unter dem Zeichen des Aufstiegs zur stillsten Einsamkeit. Wenn ich träumend in die Dachböden längstvergangener Zeiten zurückkehre, steige ich niemals herab.

II. HAUS UND ALL Seite 66 Das Haus preßte sich gegen mich wie eine Wölfin, und für Augenblicke spürte ich seinen Geruch mütterlich bis in mein Herz hinabsteigen. In dieser Nacht war es wirklich meine Mutter. Ich hatte sonst nichts, um mich zu schützen und zu erhalten. Wir waren allein.«[...] III. DIE SCHUBLADE, DIE TRUHEN UND DIE SCHRÄNKE Nur ein seelisch Armer könnte in einem Schrank irgend etwas Beliebiges unterbringen. Gleichviel was, gleichviel wie in gleichviel welchem Möbelstück unterbringen - das zeugt von einer außerordentlichen Schwäche der Wohnfunktion. Im Schrank lebt ein Ordnungszentrum, welches das ganze Haus gegen eine grenzenlose Unordnung schützt. Dort herrscht die Ordnung, oder vielmehr, dort ist die Ordnung ein Herrschaftsbereich. [...] Seite 96 Die komplizierten Möbelstücke, die der Handwerker herstellt, sind ein sehr deutliches Zeugnis für ein Bedürfnis nach Geheimnissen, eine Intelligenz des Verstecks. Im Kästchen sind unvergeßliche Dinge, unvergeßlich für uns, Seite 94

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aber auch für jene, denen wir unsere Schätze schenken werden. Die Vergangenheit, die Gegenwart, eine Zukunft sind darin zusammengeballt. Und so wird das Kästchen zum Gedächtnis des Unvordenklichen. IV. DAS NEST Wenn man die Träumereien vertieft, in die wir vor einem Nest geraten, dann trifft man bald auf eine Art Paradox der Sensibilität. Das Nest - wir begreifen es sofort - ist äußerst leicht zerstörbar, und doch löst es in uns eine Träumerei der Sicherheit aus. Wieso hindert diese offenbare Zerstörbarkeit nicht eine solche Träumerei? Die Lösung ist einfach: wir träumen als unbewußte Phänomenologen. In einer Art Naivität nacherleben wir den Instikt des Vogels.[…] Wenn wir ein Nest betrachten, befinden wir uns am Ursprung eines Vertrauens zur Welt, treffen wir auf einen Ansatzpunkt von Vertrauen, fühlen wir uns getroffen von einem Aufruf zum kosmischen Vertrauen. Würde der Vogel sein Nest bauen, wenn er nicht ein instinktives Vertrauen zur Welt hätte? Wenn wir diesen Aufruf hören, wenn wir aus dieser zerstörbaren Zuflucht, die das Nest bietet - gewiß in paradoxer Weise, aber in einem echten Aufschwung der Einbildungskraft - eine absolute Geborgenheit machen, dann kehren wir damit zu den Quellen des Traum-Hauses zurück. Unser Haus, in seiner latenten Traumgestalt, ist ein Nest in der Welt. Wir leben darin mit einem angeborenen Vertrauen, wenn wir in unseren Träumen -wirklich an der Sicherheit der frühesten Wohnung teilhaben. Um dieses Vertrauen zu erleben, das so tief in unseren Schlaf eingeschrieben ist, brauchen wir nicht die materiellen Gründe dafür aufzuzählen. Seite 115

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V. DIE MUSCHEL

Der Phänomenologe, der die Bilder der Wohnfunktion erleben will, darf den Verführungen der äußeren Schönheit nicht nachgehen. Im allgemeinen veräußerlicht die Schönheit, sie lenkt die Meditation von der Innerlichkeit ab. Der Phänomenologe kann auch dem Konchyliologen nicht lange Zeit folgen, der die unermeßliche Mannigfaltigkeit von Schalen, Muscheln, Gehäusen klassifiziert. Der Konchyliologe sucht die Verschiedenheit. Jedenfalls könnte sich aber der Phänomenologe Belehrung vom Konchyliologen holen, wenn dieser ihm seine ersten Erlebnis-Impulse anvertrauen wollte. Denn auch hier, wie im Falle des Nestes, müßte man das dauerhafte Interesse des naiven Beobachters von einem ersten Erstaunen ausgehen lassen. Kann es denn sein, daß ein Wesen im Stein lebt, in diesem Stück Stein? Dieses Erstaunen erfährt man kaum je wieder. Das Leben nutzt die ersten Erlebnis-Impulse rasch ab. Und außerdem, wie viele lote Muscheln kommen auf eine lebendige? Wieviel leere auf eine bewohnte? Aber wie das leere Nest weckt auch die leere Muschel Träumereien von Zuflucht. Sicherlich liegt eine besondere Verfeinerung der Träumerei darin, sich in so schlichte Bilder einzufühlen. [...] Seite 124 Die Funktion konstruiert ihre Form nach alten Modellen, das partielle Leben der einzelnen Organe baut sich seine Behausung, wie das Muscheltier sich seine Muschelschale baut. Wenn man dieses partielle Leben nachzuerleben vermag, mit der ganzen Präzision der Lebenskraft, die sich Formen schafft, dann beherrscht das Wesen, das sich in einer Form ausprägt, die Jahrtausende. Jede Form bewahrt ein Leben. Seite 118

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Und wieder einmal wird die Vollkommenheit der natürlichen Häuser gerühmt. »Sie alle sind«, sagt der Autor, »in einer einzigen und immer gleichen Absicht gemacht, nämlich dem Tier Schutz zu bieten. Aber welche Verschiedenartigkeit in dieser einfachen Absicht! Jedes einzelne hat seine eigene Vollendung, Anmut und Zweckmäßigkeit.« Alle diese Bilder und Überlegungen entsprechen einer kindischen, oberflächlichen, zerstreuten Verwunderung, aber eine Psychologie der Einbildungskraft muß auf alles achten. Das Uninteressanteste kann dem größten Interesse dienlich sein. [...] Seite 133 Allein wohnen - großer Traum! Das lebloseste aller Bilder, das physisch absurdeste, in einem Schneckenhaus zu wohnen, kann der Keim eines solches Traumes sein. Dieser Traum kommt zu allen, zu den Schwachen, zu den Starken, zu den großen Traurigkeiten des Lebens, angesichts der Ungerechtigkeiten der Menschen und des Schicksals. So erlebt es jener Salavin, das menschliche Wesen mit der weichen Traurigkeit, der sich in seiner engen Stube erholt, weil sie eng ist und er sich sagen kann: »Habe ich nicht diese kleine Stube, tief und geheim wie eine Muschel? Ach, die Schnecken kennen ihr Glück nicht!« Seite 131

VI. DIE WINKEL Das Bewußtsein, in seinem Winkel Frieden zu haben, verbreitet, wenn man so sagen darf, eine Unbeweglichkeit. Die Unbeweglichkeit strahlt aus. Ein imaginäres Zimmer baut sich um unseren Körper auf, der sich gut versteckt fühlt, wenn wir uns in eine Ecke flüchten. Die Schatten sind schon Wände, ein Möbel ist eine Schranke, eine Wandbespannung ist ein Dach. Aber alle diese Seite 145

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Bilder sind zu phantastisch. Man muß den Raum der Unbeweglichkeit umreißen, indem man ihn zum Raum des Daseins macht. Ein Dichter schreibt diesen kleinen Vers: »»Ich bin der Raum wo ich bin«« in einem Buch, das den Titel trägt »Im Rohzustand«. Dieser Vers ist groß. Aber wo kann man ihn besser nachfühlen als in einem Winkel? Unter dem Titel »Mein Leben ohne mich« übersetzt Armand Robin das Gedicht »Die große Nacht« von Rilke folgendermaßen: »Plötzlich, ein Zimmer, mit seiner Lampe, stand mir entgegen, fast greifbar in mir. Schon war ich dort Winkel, aber die Läden fühlten mich, schlossen sich zu.« Wie kann man besser sagen, daß der Winkel das Gehäuse des Seins ist? VII. DIE MINIATUR Seite 160 So hat der gelehrte Botaniker in der Blüte die Miniatur des ehelichen Lebens entdeckt, er hat die süße Wärme empfunden, die von einem Pelzchen behütet wird, er hat die Hängematte gesehen, die das Samenkorn wiegt. Aus der Harmonie der Formen hat er auf das Behagen des Hauses geschlossen. Muß man unterstreichen, daß wie in dem Text von Cyrano die milde Wärme der eingeschlossenen Bezirke das erste Anzeichen einer Intimität ist? Diese warme Innerlichkeit ist die Wurzel aller Bilder. Die Bilder - man sieht es sofort - entsprechen keiner Realität mehr. Unter der Lupe könnte man noch den kleinen gelben Pinsel der Staubgefäße erkennen, aber kein Beobachter könnte den geringsten realen Anhaltspunkt finden, um die psychologischen Gleichnisse zu rechtfertigen, die der Erzähler der christlichen Botanik anhäuft. Man darf annehmen, der Erzähler wäre vorsichtiger gewesen, wenn

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es sich um ein Objekt geläufiger Größenordnung gehandelt hätte. Aber er ist in eine Miniatur eingetreten, und sofort begannen die Bilder zu wimmeln, zu wachsen, zu entweichen. Das Große kommt aus dem Kleinen, nicht durch das logische Gesetz einer Dialektik der Gegensätze, sondern dank der Befreiung von allen Verpflichtungen der Dimensionen, und diese Befreiung ist das charakteristische Merkmal der Phantasietätigkeit. In dem Artikel »Immergrün« im gleichen Lexikon der christlichen Botanik heißt es: »Leser, studiere das Immergrün im Detail, und du wirst sehen, wie sehr das Detail die Objekte vergrößert.« [...] Seite 162 Das Detail eines Dinges kann das Zeichen einer neuen Welt sein, einer Welt, die wie alle Welten die Attribute der Größe enthält. Die Miniatur ist ein Fundort der Größe. [...] Seite 174 In Le Rhin liest man: »In Freiberg habe ich lange Zeit die großartige Landschaft vergessen, die ich vor den Augen hatte, um nur das Rasenviereck, in dem ich saß, zu betrachten. Es war auf einem kleinen wilden Buckel des Hügels gelegen. Auch dort gab es eine Welt. Langsam schritten die Käfer unter den tiefen Stengeln der Vegetation. Schierlingsblüten in Sonnenschirmform ahmten die Pinie Italiens nach... Eine arme, naßgewordene Hummel, in gelb und schwarzem Samt, kletterte mühsam einen Dornenzweig entlang: dichte Wolken von kleinen Mücken verhüllten ihr das Tageslicht; eine blaue Glockenblume zitterte im Wind, und ein ganzes Volk von Blattläusen hatte unter diesem enormen Zelt Schutz gefunden... Ich sah aus dem Schlamm einen Regenwurm hervorkommen und sich gen Himmel winden, den vorsintflutlichen Pythonschlangen ähnlich, und vielleicht hat auch er in diesem

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mikroskopischen All seinen Herkules, der ihn tötet, und seinen Cuvier, der ihn beschreibt. Kurz, diese kleine Welt ist ebenso groß wie die andere.« Der Text zieht sich in die Länge, der Dichter hat Vergnügen daran, er beschwört immer kleinere Maße und folgt dann einer billigen Theorie. Aber der Leser, der es nicht eilig hat - der einzige, den wir selbst für uns erhoffen können tritt mit Sicherheit in die miniaturenschaffende Träumerei ein. [...] Seite 167 Paradoxerweise scheint man, wenn man in der Miniatur lebt, in einem kleinen Raum größte Bewegungsfreiheit zu finden. Beim Thema des Däumlings, im Volksmärchen ebenso wie beim Dichter, haben wir Größenverschiebungen kennengelernt, die den poetischen Räumen ein doppeltes Leben verleihen. Zwei Worte genügen manchmal für eine solche Verschiebung, etwa diese Verse von Noel Bureau: »»Er legte sich hinter den Grashalm, Um den Himmel zu vergrößern. «« Doch manchmal häufen sich die Umsetzungen des Kleinen und des Großen, vermehren sich, wirken aufeinander zurück. Wenn ein vertrautes Bild zum Größenmaß des Himmels anwächst, ist man plötzlich betroffen von der Empfindung, daß entsprechend die vertrauten Objekte zu Miniaturen einer Welt zusammenschrumpfen. Makrokosmos und Mikrokosmos stehen im Verhältnis der gegenseitigen Entsprechung. X. DIE PHÄNOMENOLOGIE DES RUNDEN Seite 230 Die Bilder löschen die Welt aus. Sie haben keine Vergangenheit. Sie kommen aus keiner früheren Erfahrung. Man weiß mit Sicherheit, daß sie metapsychologisch sind. Sie geben uns eine

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Lektion der Einsamkeit. Man muß sich einen Augenblick lang mit ihnen identifizieren. Wenn man sie einmal in ihrem plötzlichen Auftauchen erfaßt, dann merkt man, daß man eigentlich immer so denkt, daß man selbst ganz und gar im Wesen dieses Ausdrucks lebt. Wenn man sich der hypnotischen Kraft solcher Ausdrücke unterwirft, dann verbleibt man ganz und gar in der Rundheit des Daseins, dann lebt man in der Rundheit des Lebens wie die Nuß, die sich in ihrer Schale rundet. Der Philosoph, der Maler, der Dichter und der Fabelerzähler haben uns ein Dokument reiner Phänomenologie vermacht. An uns ist es jetzt, den rechten Gebrauch davon zu machen und daraus zu lernen, wie sich das Dasein um seinen Mittelpunkt sammelt. An uns ist es auch, das Dokument durch Vermehrung seiner Varianten überzeugender zur Wirkung zu bringen. IX. DIE DIALEKTIK DES DRAUSSEN UND DES DRINNEN Seite 211 »es geht um die Entfremdung, die auf diesen beiden Begriffen beruht. Was sich in ihrer formalen Opposition äußert, wird darüber hinaus Entfremdung und Feindlichkeit zwischen beiden.« [...] Seite 213 Im Grunde gehören die Seins-Erfahrungen, die eine geometrische Ausdrucksweise rechtfertigen, zu den dürftigsten... [...] So ist im Sein alles Umlauf [...]. Und welche Spirale ist das Sein des Menschen! Wie viele Bewegungsimpulse, die einander umkehren, gibt es in dieser Spirale! Man weiß nicht gleich, ob man sich zum Mittelpunkt hin oder vom Mittelpunkt weg bewegt. [...] So wie das spiralförmige Sein, das sich äußerlich so gut um seine Mitte geordnet darstellt, nie seinen Mittelpunkt erreichen. Das Sein des Menschen lässt sich nicht fixieren. Jeder Ausdruck hebt seine

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Fixierung auf. Im Reiche der Einbildungskraft gilt, daß das Sein, sobald ein Ausdruck vorgebracht ist, Bedürfnis nach einem andern Ausdruck hat, daß das Sein alsbald zum Sein eines andern Ausdrucks werden muß. [...] Wir müssen frei bleiben gegenüber jeder definitiven Anschauung – und die Geometrie verzeichnet nur definitive Anschauungen -, wenn wir den Kühnheiten der Dichter folgen wollen, die uns zugespitzte Innerlichkeitserlebnisse, „Fluchten“ der Einbildungskraft bieten. [...] Die Opposition zwischen dem Konkreten und dem Weiträumigen ist nicht im Gleichgewicht. Bei der geringsten Berührung erscheint die Asymmetrie. Und so ist es immer: Das Drinnen und das Draußen empfangen die Bewertungen, die unser Verhaftetsein mit den Dingen bestimmen, nicht in gleicher Weise. Man kann nicht in der gleichen Weise die Bewertungen erleben, die an das Drinnen und die an das Draußen geknüpft werden. Alles, auch die Größe, ist ein menschlicher Wert, und wir haben gezeigt, daß sogar die Miniatur Größe zu speichern vermag. Sie ist auf ihre Art weiträumig. Jedenfalls können das Drinnen und das Draußen, wenn sie in der Phantasie erlebt sind, nicht mehr einfach als reziprok angesehen werden. Indem wir künftig nicht mehr über Geometrie reden, um die ersten Ausdrücke des Seins zu sagen, indem wir konkretere, phänomenologisch genauere Ausgangspunkte wählen, werden wir Klarheit darüber bekommen, dass die Dialektik des Drinnen und des Draußen sich in unzähligen Nuancen vervielfältigt und abwandelt.

[...] Aus der dichterischen Sprache laufen Wellen von Neuheit über die Oberfläche des Seins. Und die Sprache trägt in sich die Seite 220

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Dialektik des Geschlossenen und des Offenen. Durch die sachliche Bedeutung schließt sie sich, durch den dichterischen Ausdruck öffnet sie sich. Unseren Untersuchungen entspräche es nicht, wenn wir sie in radikalen Formeln zusammenfassen wollten, etwa indem wir das Dasein des Menschen als das Dasein einer Doppeldeutigkeit definieren würden. Wir verstehen uns nur auf eine Philosophie des Details. An der Oberfläche des Daseins, in jener Region, wo das Sein sich bekunden will oder sich verstecken will, sind die Bewegungen des Öffnens und des Schließens so zahlreich, so oft Umkehrungen unterworfen, so oft mit Zaudern beladen, daß wir mit dieser Formel schließen könnten: Der Mensch ist das halboffenstehende Sein.

Haus Wilhelm Nagel, Wesseling 1967-69 Heinz Bienefeld


Als Abschluss noch ein Bild, das den Grundriss des Hauses Wilhelm Nagel von Heinz Bienefeld zeigt. Für mich ist das eine gelungene Lösung, wie man mit dem Thema der „Dialektik des Draußen und des Drinnen“ umgehen kann. Heinz Bienefeld ist es meiner Meinung nach gelungen, die Gegensätze der beiden Begriffe Draußen und Drinnen, wie es Bachelard beschreibt, aufzulösen und zu Raum zusammen zu fügen. Bei dem Haus ist der Übergang zwischen Draußen und Drinnen nicht vergleichbar mit den Wörter ja und nein, also gegensätzlich, sondern es entsteht ein neues Ganzes, das sowohl Drinnen als auch Draußen enthält.

165 Gaston Bachelrad, Poetik des Raumes, 9. Aufl., Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2011 dt. Erstausgabe , Carl Hanser Verlag, München, 1960 ISBN 978-3-596-27396-6 verfügbar


Das Denken des Leibes und der architektoni Raum Wolfgang Meisenheim 2000


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gelesen und ausgewählt von Alyssa Rau

Der Architekt, Maler und Bildhauer Prof. Dr. Wolfgang Meisenheimer (*1933) aus Düren studierte an RTWH Aachen Architektur und promovierte 1964 mit „Der Raum der Architektur, Strukturen, Gestalten, Begriffe“. An der FH Düsseldorf lehrte er 20 Jahre „Grundlagen des Entwerfens“, war 9 Jahre davon Dekan des Fachbereichs Architektur und Begründer der Vortragsreihe „Die Rote Reihe-AD“. Er war auch Mitverfasser der Zeitschrift Diadalos Berlin. In seine literarischen wie auch seinen gestalterischen Tätigkeiten beschäftigt der Autor sich immer mit den Grundphänomenen in der Architektur, besonders mit den Raum-Zeit-Strukturen. Dieses rote kleine Buch mit Kunstledereinband und Lesebändchen macht schon auf Grund seiner Haptik Lust es in die Hand zu nehme. Aber auch der Titel macht neugierig. Was haben der „Leib“ und der architektonische Raum miteinander zu tun? Wie kann der „Leib“ denken? Wenn man zu lesen beginnt, ist man doch etwas überrascht und auch irritiert. Dieser doch sehr wortgewaltige Titel, mit dem man in gewisser Weise Sinnlichkeit durch diese Aufmachung assoziiert, setzt sich unerwartet kühl und rational mit dem Thema auseinander. Dem Leser wird schnell klar, dass es sich hierbei um ein „Grundlagenbuch zum Studium des architektonischen Raumes“2 handelt, in welchem Meisenheimer seine begründeten Raumphilosophie darstellt. Der Autor fasst das Erleben von Raum in Worte und macht dadurch Emotionen und Unterbewusstes rational nachvollziehbar. Durch klare und einfache Beschreibung von Beobachtungen zu Gebautem und durch dessen erschaffenen und empfundene Atmosphären verdeutlicht er die Korrespondenz zwischen dem Leib und Architektur.

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Seite 8 Der elementare Ausdruck architektonischer Formen ist ein gestischer. Seite 11 [...] die Wirkung architektonischer Gesten auf den Leib des Betrachters und Benutzers und umgekehrt die Prägung architektonischer Gesten durch Gefühle des Leibes. Dieser Zusammenhang soll das Thema dieses Buches sein.

Dabei schafft Meisenheimer es manches sehr klar und einfach zu beschreiben, anders wiederum wirkt manches beim ersten Lesen sehr kompliziert, stellt sich dann aber doch als einfach heraus.

Es ist der spontane Kontakt von Architekturgeste und Leibgefühl, der uns berührt. Seite 10 [...] Wenn aber nach Architektur als Lebensraum und Entfaltung des Selbst gefragt wird, kann sie der subjektiven Parameter nicht entbehren, der Frage nach dem affizierten Selbst, das „beeindruckt“ wird, wie Wölfflin es formuliert. Seite 15 [...] Der architektonische Raum ist nicht - wie ein Ding objektiv von uns gelöst, sondern handlungsbezogen. Er ist dazu gemacht Menschen psychisch, sozial und kulturell aufeinander und auf die Welt ihrer Dinge zu beziehen, insofern ist er szenisch. Seite 11

Gegliedert ist das Buch in drei Teile. Im Ersten wird die philosophische Haltung Meisenheimer´s beschrieben. Hierbei zeigt sich dem Leser der große Zusammenhang. Gefolgt wird dies von der „vorläufigen Definition zu einer Ausdrucks-Theorie“3. Diese finde ich, als Student, am aufschlussreichsten, da sie Gesetzmäßigkeiten und Wahrnehmungszusammenhänge aufzeigt, die ich zum Entwerfen sehr hilfreich finde, aber auch die Raumwahrnehmung des Lesers verändert.

Wie kommt es, dass unser Leib architektonische Formen als ausdrucksvoll wahrnimmt und daraus Erkenntnisse über das

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Wesen dieser Dinge entstehen? [...] KÖRPER. LEIB. KÖRPERSCHEMA. Der menschliche Körper ist wie auch der Baukörper ein Ding, man kann ihn betrachten, messen und sezieren, als Ganzes oder in Teilen darstellen. Er gehört zu dieser Objektwelt wie andere teilbare Dinge auch. Was meinen eigenen Körper betrifft, so kann ich ihn nicht ganz, sondern nur in Teilen vor mir sehen. Ich versuche ihn zwar technisch zu beherrschen, die Haut zu reinigen, die Zähne zu putzen usw. und versuche, seine Verwendung wie die eines Gerätes zu trainieren. Aber viele seiner Eigenschaften und Möglichkeiten kenne ich nur in meiner Vorstellung. Ich sehe mich zum Beispiel nicht von hinten und höre mich nicht von außen, dennoch trage ich eine bestimmte Vorstellung von der Anordnung und Fähigkeit meiner Glieder mit mir herum. [...] Der Leib ist also keineswegs objekthaft wie der Körper, er ist vielmehr der Inbegriff meines handelnden Ich. An ihn sind alle konkreten Szenen des Lebens gebunden, in ihm entstehen die Gefühle, mit denen sowohl mein Selbstbewusstsein als auch mein Weltbewusstsein gegeben ist, beides zugleich. „Der Leib ist unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben. Der Autor leitet an, dass Raum zu lesen, eine einzigartige Erfahrung ist und daher das Buch unbedingt lesenswert macht. Auch wenn gerade hier oft sehr komplexe Satzstrukturen den Sachverhalt beschreiben. Einfach nicht abschrecken lassen und ein bisschen weiter lesen!

Ein Bauwerk betreten und betrachten ohne Wohl- und Wehegefühl, affektive Disposition, Befreiung und Beklemmung, das gibt es nicht. Vor dem Beginn von ausdrücklichem, begrifflichem

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Denken hat der Leib sich schon auf räumliche Empfindungen eingestellt, und erste Bewertungen prägen schon diese Gefühle. Jeder kennt die Neugier und Empfindlichkeit seines Leibes beim ersten Betreten und beim Wiedererkennen eines Raumes, beim Einreisen in eine Stadt usw. „Unser Leib, ein System von Bewegungs- und Wahrnehmungsvermögen, ist kein Gegenstand für ein ,Ich denke‘: er ist ein sein Gleichgewicht suchendes Ganzes erlebt-gelebter Bedeutungen:‘ (Maurice Merleau-Ponty, a. a .0., S. 184) Seite 21 [...] Der Raum umgibt mich wie eine gestaltete Szene, in der die gebauten Dinge mit ihren ausgewählten Eigenschaften nebeneinander erscheinen. Die Bewegungen meines Leibes haben Einfluss auf das Nacheinander ihres Erscheinens, auf das „patchwork“ der sinnlichen Phänomene, das in mir entsteht. [...] Die Regie der Wahrnehmungsverläufe führt mein Leibes-Ich, das Erinnerungen und Wünsche einbringt, so dass schon die Wahrnehmungserlebnisse deutlich „die meinen“ sind. Nicht zwei Menschen erfahren einen architektonischen Ort auf die gleiche Weise. Indem ich mein Körperschema beim Betrachten, Gehen, Wenden usw. als Instrument einsetze, das mich den Raum verstehen lässt, werden die Gesten der Architektur für mich lesbar. Mein Leib hat gelernt, ihre Nutzungsmöglichkeiten zu ermessen. Der architektonische Raum ist ein Möglichkeitsraum meines Lebens, er ist auf die Dispositionen meines Leibes eingerichtet. An manchen Stellen schafft der Autor es einem ganz direkt auf gewisse Tatsachen zu stossen, die man zuvor nie auch nur in Erwägung gezogen hatte, die aber weitreichend das eigene Handeln beeinflussen, gerade als Gestalter von Raum.

Seite 22

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Selbst wenn wir unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten


einschränken, wenn wir eine Straßenflucht zum Beispiel ausdrücklich perspektivisch betrachten wollen, so ist das primäre Erlebnis ein atmosphärisches, das vielerlei Reize, Empfindungen und Ideen enthält. Erst mit einer besonderen Anstrengung ideierender Art wird die projektive Raumstruktur von anderen getrennt. Am Anfang des Erlebnisvorganges stand ein atmosphärischer Eindruck, d. h. ein Komplex von Empfindungen. Seite 23 [...] Der besondere Tag, die Stunde, das Wetter, meine Stimmung, Erinnerungen usw., also sowohl klimatisch-objektive als auch Parameter meiner persönlichen Verfassung sind mit dem Besuch dieses Ortes verbunden. Seite 24 [...] Immer aber, bei jedem Bauwerk gibt es eine Korrespondenz von Leib und Architektur, die spontan beeindruckt. Es hängt nicht vom Wissen des Betrachters ab, von ästhetischer Bildung oder pragmatischem Interesse,...16 Seite 20 [...] Von elementarer Wirkung sind dabei offenbar diejenigen architektonischen Gesten, die ich „Urphänomene“ nennen möchte. Sie korrespondieren unmittelbar mit Gefühlen des Leibes. Meisenheimer benennt vier dieser „Urphänomene“4. Ich bin der Auffassung, dass sie an dieser Stelle in Kürze umrissen werden müssen, da sie von großer Bedeutung für das weitere Verständnis sind. Es ist wichtig, sich diese im Gesamttext bei Bedarf noch einmal vertiefend durchzulesen.

DIE GESTE DER AUFRICHTUNG. DIE ERRICHTUNG DER VERTIKALEN Seite 27 Jede Ecke, jede stehende Kante eines Gebäudes - das sind in der Tat Tausende in jeder Stunde unseres wachen Lebens -demonstriert diese Urgeste des Leibes, der sich phylogenetisch und

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ontogenetisch in die vertikale Haltung erhoben hat, um die er pendelt, die er bei jedem Schritt infrage stellt und wieder erobert. Sie bleibt bei allen Körperbewegungen eine elementare Gestaltidee, die geometrisch nie exakt dargestellt, die in Annäherungen aber immer umspielt wird und auch bei grotesken Abweichungen niemals verloren geht. Vielerlei Körperspiele, Gehen, Springen, Tanzen usw. Seite 28 [...] Die vertikale Aufrichtung, das Bauen von Türmen, ist seit Babylon eine Demonstration von kulturellem Willen und von weitreichender Macht. Das deutliche Zeigemoment, die Selbstdarstellung darin wird tiefenpsychologisch seit Sigmund Freud auch als Darstellung männlicher Potenz gedeutet. Diese Geste, wenn man sie einmal sucht, findet sich auch in den Bauklötzchenspielen der Kinder. Nicht nur die Erwachsenen bauen Türme. Das Wachsen als Abheben von der Erde, das Überwinden der Schwere aus eigener Kraft bei Pflanzen und Tieren, ihre steigende, stehende, hebende Gestik ist sicher ein starkes Ausdrucksmoment des Organischen. Seite 32 [...] Das Leben in Autos und Flugzeugen, der ständige Wechsel von Sitzen, Gehen und Liegen, der Wirbel des Körpers im Stadtverkehr, alle diese Bewegungsabenteuer wären unerträglich, wäre der Bezug unseres Leibes zur Vertikale nicht so zuverlässig. So können wir uns nicht nur im Architekturraum, sondern auch in den Fahrzeugen auf dieses elementare Fühlen beziehen. Bei der Auseinandersetzung mit der Vertikalen ist das Beschäftigen mit der Schräge unausweichlich. Da aufgrund der aktuellen Designentwicklung diese immer häufiger und bedeutungsvoller wird, habe ich auch hier einige Textauszüge herausgearbeitet, die einen kleinen Überblick bieten und die Haltung des Professors verdeutlicht sollen.

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Seite 30 Entwerfer wie Zaha Hadid und Coop Himmelblau erzeugen die Spannung einer stehenden Mauer oder einer liegenden Platte durch Einführung von Schrägen, die ausdrücklich das Leibgefühl in Verlegenheit bringen. Seite 31 [...] Die Schräge aber käme nicht zu ihrer atemberaubenden Wirkung, wenn der betrachtende Leib nicht die ideale Vertikale in die Komposition hinein ergänzen könnte. Er liefert selbst den Vorstellungsraum, d. h. die Elemente einer idealen Szene, auf den sich die dramatische Abweichung beruft.

[...] Werden die Vertikalen durch Schräge oder durch Kurven überspielt - wie bei Faltwerken und im Schalenbau -, so sind sie als Bezugslinien und -flächen sogar stärker wirksam.24 Seite 30

Die Auseinandersetzung mit dem Hier und Dort, mit architektonischem Ort, ist von elementarer Bedeutung für das Entwerfen. Daher ist diesem Thema auch bei Meisenheimer ein „Urphänomen“ gewidmet.

DIE GESTEN HIER! UND DORT! DAS SETZEN DER ORTE. Seite 33 Mein Zimmer, das ist ein architektonischer, nicht ein geometrischer Ort. Ich hänge an diesem Raum, mein Selbst ist mit seiner Form und seinen Anordnungen verknüpft. Wenn ich ihn wahrnehme, ist eine Überlagerung von allerfeinsten Reizen im Spiel, die ich mit ebenso subtilen Erinnerungen und Projektionen verbinden kann. Seite 36 [...] Wir ziehen einen besonderen Sitzplatz vor, wir scheuen einen Tür-Durchgang, werden von einem Garten verzaubert usw., die angebotene Szene erweist sich als brauchbar, willkommen oder bedrohlich. Seite 35

[...] Im Erlebnis ist der architektonische Raum von ganz

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anderer Art. Die Akropolis von Athen, das Pantheon in Rom, die Alhambra in Granada, aber auch mein Haus, der Esstisch und die Straße vor der Tür sind als architektonische Orte keineswegs mathematische Punkte in gedachten Positionen, sondern - im Gegenteil - atmosphärische Inseln, Zonen der Erlebniswelt, die auf besondere Weise materiell gestaltet wurden und mir zur Verfügung stehen. Das heißt, sie sind leibbezogen, sie sind räumliche Schauplätze vergangener und zukünftiger Handlungen. Architektonische Orte sind grundsätzlich Szenen, nicht gedachte Punkte, sondern Felder mit Spuren der möglichen Ereignisse. Seite 39 [...] Der Leib spürt sich nicht nur im architektonischen Raum, sondern immer an einem „absoluten Ort“ (Hermann Schmilz), im sicheren Bewusstsein des Selbst, um das die Welt der Dinge geordnet erscheint. Der Leibraum ist nicht ein Dingeraum, sondern ein Vorstellungsraum, er wird gespürt, nicht objektiv wahrgenommen, er ist nicht gegenüber angeordnet, sondern eher ein Zustand, in dem sich mein Ich befindet. -- Auf diese Intimität der Empfindung hin ist Architektur angelegt. Sie spiegelt die Erwartungen des Leibes. Seite 38 [...] Die gestalteten Wege und Straßen, Autobahnen, Gassen, Brücken usw. sind architektonische Orte eigener Art, sie haben nicht nur Form und Ausdehnung, sondern auch eigene Atmosphären. Sie können wie andere Räume bewohnt, geliebt, gemieden und gefürchtet sein. Orte der Architektur müssen nicht unbedingt durch Wege verbunden sein, zur Orte-Charakteristik gehören nicht unbedingt auch Wege. Seite 39 [...] Gerade der Reflex auf die atmosphärischen Orte mach die Architektur um-Lebensraum. Jedes architektonische Bühnenbild enthält das Zeug zur dramatischen Entwicklung.

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Das Urphänomen drei handelt vom Thema der Trennung von Innen und Außen. Auch hier zeigt der Autor spannende Zusammenhänge auf, die ungewöhnliches Denken und einzigartige Möglichkeiten schaffen.

DAS TRENNEN VON INNEN UND AUSSEN. GRENZEN ZIEHEN. Der Innenraum als Hülle ist also keinesfalls eine physikalische Hülle, ein Sack, der Dinge zusammenhält und mit Kubikmetern gemessen werden könnte. Er ist vielmehr die potentielle Sphäre um mein Ich, die Bühne, die die Architektur dem Leib bereitet, nicht ein materielles, sondern ein szenisches Angebot, das begrenzt ist. Seite 43 [...] Der Innenraum, die architektonische Urqualität, umgibt der Idee nach mein Selbst. Seine Hülle ist wie die durchlöcherte Sphäre des Leibes, die ich brauche und die sich ständig verändert. Einhüllen und durchbrechen, das sind die Gesten, ohne die weder mein Leben noch der Raum der Architektur gestaltet werden kann. Seite 42 [...] Was für ein Feuerwerk von Einfällen hat die Architektur der Araber, der Römer, des Barock und der Moderne entwickelt, um der ausgrenzenden Sprache der Architektur Momente des Durchscheinens, Durchblickens und der Flucht zuzufügen! Zur Begrenzung kommt sofort die Ahnung der Ferne, zur Einengung des Raumes die Ausweitung des Gefühls. Der architektonische Raum mit seiner Enge und Weite ist eine Darstellung der elementaren Spannung, die die Gefühle unseres Leibes bestimmt. „Jedes leibliche Befinden ist eingebettet in eine Dimension, die zwischen Enge und Weite ausgebreitet ist.“ (Hermann Schmitz, a.a.O., S. 20)) Seite 43 [...] Deutlicher als alle anderen Künste antwortet die Architektur Auf dieses elementare Fühlen des Leibes. Seite 41

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Als letztes Urphänomen ist „Die Geste für Enge und Weite“ sowie die Erzeugung von Spannung durch Rhythmus thematisiert. Interessant finde ich hier, dass Meisenheimer nicht nur Beispiele aus unserem Kulturkreis aufzeigt, sondern bewusst durch die Einbindung der japanischen Sprache und damit auch diesem Denken, eine Definition für Geste findet, die seine Theorie sehr bildlich verdeutlicht. Auch zeigt er die wichtigste Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Fremden auf.

DIE GESTEN FÜR ENGE UND WEITE.SPANNUNG ERZEUGEN. Seite 45 Die japanische Sprache enthält, wie Shutaro-Mukai berichtet, einen wertvollen Hinweis in ihrem Ausdruck für Geste der „mifuri“ heißt, das aus den Wortelementen „mi“ (Körper) und „furi“ (Schwingen, Schwenken, Schütteln“) zusammengesetzt ist. [...] Gerade die Andersartigkeit der Korrespondenz von Leib und architektonischem Raum macht u. a. einen großen Teil unserer Reiseerlebnisse aus. Seite 48 [...] Ein Designer muss zum Beispiel darauf eingehen, wenn arabische Männer untereinander größere Körpernähe pflegen als Amerikaner, wenn Europäer geschlossene Arbeitsräume wünschen, aber nicht offene, wenn Japaner sich gerne traditionell auf dem Boden im Raum niederlassen, Europäer sich dagegen auf Stühlen vor Wänden wohlfühlen usw. usw. Seite 47

Im letzten Anschnitt des Buches „Konstruktion von Atmosphäre“ schreibt Meisenheimer über das Paradoxon etwas Emotionales, Subjektives gezielt zu erschaffen und bewusst zu evozieren.

. DIE KONSTRUKTION VON ATMOSPHÄREN. Seite 52 Konstruieren? Atmosphären konstruieren? Dabei geht es doch um Erlebnisphänomene, eher subjektive Formen von Welt,

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Eindrücke, in die Momente des Selbst eingegangen sind. Wie sollte man sie konstruieren können, d. h. doch wohl systematisch aufbauen aus einem Setzkasten von Elementen? Zunächst klingt diese Aufgabenstellung absurd, ja unmöglich, und doch beschreibt sie die normale Arbeitssituation eines Planers, er ein Haus baut, aber auch die eines Designers, eines Werbemanagers, Theatermachers, vielleicht auch die eines Künstlers. Diese Leute trainieren die kontrollierte Herstellung irrationaler Wirkung von Gefühlen. [...] Es sind die Muster möglicher Bewegungen, die den Raum zur Sprache bringen. Wir spüren, dass er in seinen Anordnungen und Formen potentielles Tun enthält. In dieser Aufforderung an den Betrachter - das ist faszinierend - liegt vom ersten Augenblick an ein Moment des Wiedererkennens: der Leib erinnert sich angesichts der Architektur an das Repertoire seiner eigenen Gesten. Seite 54 [...] Ein architektonischer Ort mit eigener Atmosphäre ist entstanden, die nicht austauschbar, nicht individuell und nicht flüchtig ist. Anders als die frühen Stimmungen des Planers hängt sie an objektiven gebauten Formen, die auf bestimmte Weise wahrgenommen und benutzt werden wollen, Der architektonische Raum ist jetzt eine poetische Schrift, festgelegt auf konkretem Untergrund und in konkreter Nachbarschaft von Dingen. Allerdings ist die Bedeutung dieser Schrift nicht mehr eindeutig und begrifflich klar zu entziffern wie zur Zeit der Zettelkastenplanung, sie ist vielmehr vielschichtig, mehrdeutig und stark abhängig von der Aufnahmefähigkeit der Leser. Gefolgt wird dies nun von unterschiedlichen Beobachtungsbeschreibungen zu immer wiederkehrenden Themen in der Architektur. Hierzu habe ich folgendes ausgewählt.

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SCHWELLEN. Schwellen gehören zu den Meisterdetails. Sollen sie doch nicht nur eine Frage nach Nutzen und Bedeutung, sondern gleich mehrere beantworten. Sie sind problematisch, indem sie gestaltet und indem sie erlebt werden. Eine klassische Schwelle ist die Zone im Türdurchgang, der Übergang von außen nach innen und von innen nach außen, denn das ist nicht das gleiche. Man kann sie als Signal nicht hinreichend verstehen, wenn man lediglich ihre Form betrachtet, es ist wesentlich, dass sie einen Vorgang anzeigt. Insofern ist sie eine Zeigeform, die das Gehen als Handlung und den Bewegungsraum als Zeitform zu erkennen gibt. Der architektonische Raum zeigt sich an keiner anderen Stelle so sehr als ein „hodologischer“, als ein Wegeraum wie bei seinen Türschwellen, also in dem Augenblick, in dem man ihn betritt oder verlässt. Die prägnanteste Schwelle ist die plastisch ausgeformte, die gemacht ist, zwei benachbarte Bodenfelder voneinander abzuriegeln, sie ist deutlich ein Teil der Wandscheibe, die die Türöffnung durchbricht. Schwächer ausgeprägte Schwellen verzichten vielleicht auf die Überhöhung des Bodens der Türdurchgang ist nur farbig oder auch gar nicht von den Böden abgesetzt, was praktische oder symbolische Gründe haben mag, Im Mittelalter zog man häufig kräftige Schwellen vor, weil sie dem Türblatt einen unteren Anschlag verschafften und damit die Türen dicht machten gegen Ungeziefer, Wasser und Wind. Die gleiche Schwelle wäre heute Rädern und Füßen hinderlich. Andererseits ist auch heute eine Schwelle als Aufforderung zum Langsamsein häufig willkommen, sie macht das Eintreten wie das Austreten bewusst und sorgt in diesem Augenblick für eine angemessene körperliche Geste.

Seite 72ff.

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Der Schritt über die Schwelle kann dem Eintretenden eine Gunst anzeigen, dem Austretenden aber auch einen Verlust von Schutz, Geborgenheit, Sicherheit usw. An dieser Stelle, das spüren wir, indem wir den Fuß heben, geht etwas verloren, wird etwas gewonnen, jedenfalls kündigt sich die Veränderung des Schicksals an. Was die Körperhaltung beim Durchgang und über der Schwelle betrifft, so ist für einen Augenblick eine gewisse Enge als Bedrohung im Spiel. Da wird ja nicht nur der Fuß kontrolliert, mehr als sonstwo im Raum, auch das Herz zieht sich zusammen, man weiß, die räumliche Stimmung wird mit diesem Schritt umkippen. Von diesem Augenblick an -er ist ebenso eine Orts- wie eine Zeitbestimmung - ändern sich die Atemluft und die gefühlte Atmosphäre. Das Heraustreten des Leibes aus sich selbst. Das auf andere Menschen Zugehen wird täglich durch das Anlegen von Kleidung, Schminke und Schmuck inszeniert, viele der Körpergesten sind Vorführgesten, die ihre Orte und ihre Höhepunkte haben. Die Architektur hat in allen Kulturlandschaften für solche Höhepunkte des Sichzeigens angemessenen Raum geschaffen. Die Zone der Türschwellen gehört traditionell dazu. Hier taucht das Hochzeitspaar zum ersten Mal öffentlich auf, hier zeigt sich der Herrscher, von hier wird jemand verstoßen. Deshalb gibt es unendlich viele Foto- und Filmszenen, die das Überschreiten einer Schwelle für die Erinnerung der Beteiligten fest halten. Bei den Schwellen sind die Ereignisse dichter, hier ist man gewöhnt, Spuren zu lesen, das Alter, die Geschichte. Hölzerne Schwellen von Klöstern, steinerne Kirchen- und Palastschwellen sprechen deutlich ihre Sprache, sie erlauben einen Blick zurück in die Zeit, die mit einem Ort verbunden ist. Mag sein, dass eine bestimmte Erfahrung des Leibes mit sich selbst dazu führt, den Schwellen hohe

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Aufmerksamkeit zuzuwenden. Mund, Ohren, Nase usw., alle aktiven Körperöffnungen sind Ausstülpungen und Einstülpungen der Haut jeweils da, wo die Haut des Körpers für kommunikative Kanäle durchstoßen wird. Hier zeigt der Leib seine ausdrucksvollsten Details, hier erzeugt er die wichtigsten Signale, hier vor allem liest er die Affekte ab. Es liegt nahe, die Empfindlichkeit für die Öffnung des architektonischen Raumes in einem Gefühlszusammenhang mit den Organe des Leibes zu sehen. Aber auch hier gilt, dass es nicht eigentlich die äußeren Körperformen sind, die das gestische Instrumentarium der Architektur erklären helfen, sondern das Spüren des eigenen Leibes. Bei den Lippen entsteht der Ton der Stimme, in den Ohren sammeln sich die Geräusche der Umwelt, in den Augen ihre Bilder. Es ist eine elementare Erfahrung, dass sich vor allem bei den Körperöffnungen Wahrnehmung artikuliert, dort entstehen die ersten Bewertungen der Aussenwelt. Durch die Anordnung der Türblätter ist das Schwellenerlebnis für den Eintretenden und für den Austretenden nicht gleich. Durch dieses Detail wird festgelegt, welche der beteiligten Räume das Gefühl als innen, welche als aussen empfindet, was also Eindringen und Austreten, Kommen und Flüchten heißt. Das Zunehmen und Abnehmen der Intimität, das Verstärken der Öffentlichkeit oder Privatheit, das Vorgefühl für Rückzug oder Angriff hängen u.a. von der gestischen Qualität dieser Übergänge ab. Man sieht, wie sehr eine mögliche Handlung eine Form und wie stark eine Form eine Handlung bestimmt. PULSATION, SCHWINGUNG, RHYTHMUS. Seite 80ff. Beim Tanzen und Trommeln kann die rhythmische Erregung des Körpers gewaltig gesteigert werden, wie man das

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besonders eindrucksvoll auf dem schwarzen Kontinent erleben kann. Die Erhitzung der Glieder, das Drehen und Hüpfen wie das Stampfen der Erde erzeugen eine starke erotische Spannung. Der Körper kommuniziert nicht mehr mit den Dingen des Gebrauchs, sondern mit sich selbst. Die Aufmerksamkeit des Tänzers wird mehr und mehr von seiner Umwelt abgelenkt und auf seinen eigenen Rhythmus, d.h. auf die energetische Gestalt in seinem Innern gerichtet. Der Leib beherrscht schließlich rauschhaft seinen Wirkungsraum mit Schlägen, Sprüngen und Schreien, bis zur Raserei füllt er die Sphäre seiner Bewegungen. Längst hat die Phantasie den Tänzer in einen magischen Vorstellungsraum gezogen, dessen Teil er ist, vielleicht als ein Tier, ein Gott oder ein Opfer. Der Raum des Tanzes ist jetzt dem der Musik näher verwandt als dem der Architektur, die getanzte Welt füllt das Ohr mehr als das Auge. Nicht erst seit der griechischen Antike ist bekannt, wie man das Bewegungsgefühl im architektonischen Raum der Magie des Tanzes annähern kann, d. h. dem Schwellen und Schrumpfen rhythmischer Empfindungen. Schon in den Hochkulturen an Euphrat und Tigris gibt es Zeugnisse dafür. In Palästen und Tempeln wurden Serien von Pfeilern, Säulen, Konsolen usw. so hintereinander und nebeneinander angeordnet,dass die Elemente und ihre Zwischenräume ein gestaltetes, feierliches Gehen herausfordern: a-b-a-b-a-b oder etwa aab-aab-aab etc. Die Herrscher, die Priester und ihre Besucher waren durch diese Formserien - besonders gut ablesbar auf Treppen, Rampen und Prozessionsstraßen - aufgefordert, räumliche Gestalt in Bewegungsgestalt umzusetzen. Spannung und Entspannung, Schwellung und Schrumpfung des Leibes sind in diesen steinernen Formen mathematisiert. Der Architekturraum wird als choreografische Partitur

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lesbar, er verlangt nach einer zeitlichen Deutung. Die Eigenart der Elemente und Zwischenräume entscheidet über die Eigenart der rhythmischen Stimmung, die beim Gehen, Schreiten, Steigen usw. entsteht, die Höhe der Stufen, das Steigungsverhältnis, die Dichte der Wiederholungen usw. Aber nicht nur die Beinarbeit nimmt diese Stimmung auf, sondern auch das tastende Auge. Auch entfernte Säulenstellungen und nicht begehbare Folgen von Öffnungen, Mauervorlagen, Strebebögen usw. regen ganz analog ein Spüren des Leibes an, der Körper korrespondiert auch dann mit der Pulsation in den Dingen. Es kann ja auch der leere, nicht genutzte Raum die Empfindung von Festlichkeit und Rausch auslösen, wenn er dafür komponiert ist. So wirken zum Beispiel die Pfeilerreihen der indischen Königsstadt Vijannagarh auch Jahrhunderte nach dem Untergang der Herrscher pathetisch wie eine Anleitung zum prozessualen Gehen, so wie die Kolonnaden des Bernini in Rom die ehrfürchtige Annäherung der Christen an St. Peter vorführen, auch ohne die körperliche Gegenwart dieser Gläubigen. Die gebaute Form benutzt die gestische Erfahrung des Leibes, mit der Gestalt wird eine Handlung simuliert. Wenn wir Puls und Atem heftig spüren, sind damit bedrängende oder befreiende Gefühle verbunden, vielleicht äußerste Situationen beim Wettkampf, im Sport, beim Liebesakt usw. Bei den Tänzern der Afrikaner werden oft kosmische Phänomene, Blitz, Donner, Regen usw., mit dem Schlagen und Pulsieren des Leibes assoziiert. Sie versuchen, die Entladungen der natürlichen Energie in passenden Folgen von Schritten, Sprüngen und Haltungen darzustellen. Das Battieren des akademischen Balletts - das schnelle Schlagen eines Beins gegen das andere im Entrechat cinq z. B. - ist in umgekehrter Analogie zweifellos eine hochstilisierte

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Darstellung von natürlichen Körperrhythmen. Die Zahl der Schläge, d.h. das vitale Ereignis wird in der künstlerischen Form dargestellt. Trotz der hohen Stilisierung bleibt der Verweis auf das Körpererlebnis enthalten: Das künstlerische Ereignis verweist auf das vitale! Paul Valery feiert die Ausdruckskraft einer solchen Entladung im Dialog ‚Eupalinos oder der Architekt‘: Nichts widersteht diesem Wechsel von starken und leichten Schlägen ...Schlagt zu, schlagt zu! ... Handflächen und Fersen schlagen und klopfen die Zeit, schmieden Freude und Übermut und alle Dinge herrschen in einem schön geordneten Wahnsinn.“ Die physiologischen Daten sind in ihren Qualitäten keineswegs in dem Künstlerischen wiedererkennbar: Atemrhythmus, Puls, TagNacht-Perioden, Krankheitsschübe oder andere Körper-Zyklen. Nicht der als Maschine betrachtete Körper ist das künstlerische Bewegungsmodell in Tanz, Musik und Architektur, vielmehr das Bewusstsein vom motorischen Körperschema, d.h. die Vorstellung des Menschen vom Ablauf seiner Leibhandlungen. Welche Erfahrung hilft mir, die Bewegung meiner Glieder abzuschätzen? In diesem Vorstellungsbild sind u.a. rhythmische Strukturen enthalten, die ich kenne und pflege. Kinder üben schon beim Laufen, Hüpfen und Springen, sich auf Abstände und Intervalle von Steinen, Pfützen, Mustern usw. einzustellen. Sie nehmen eine regelmäßige Ordnung im Pflaster wahr, indem sie eine dazu passende Ordnung ihres Körperrhythmus aktivieren und hineinspringen. So erzeugen sie ein Glücklichsein im Spiel, da wird entdeckt, dass die Welt zum Körper passt. Ein solches Hochgefühl können auch die hohen künstlerischen Formen erzeugen, dann nämlich, wenn es gelingt, in den idealisierten Abläufen Erinnerungen wachzurufen

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an vertraute Abläufe der eigenen Motorik. AUSBLICKE. DURCHBLICKE. Seite 128ff. Ausblicke und Durchblicke sind eigentlich keine Eigenschaften von Bauwerken, beziehen sie sich doch ausdrücklich auf Verhaltensweisen ihrer Benutzer. Sie sind möglicherweise in Raumfluchten und Details deutlich angelegt und stellen dadurch besondere Qualitäten der Architektur dar. Durch einzelne Blicke und Blickfolgen kann das Erleben von Wänden und Decken gelenkt, betont und gesteigert, aber auch eingeschränkt und ausdrücklich verhindert werden. Der Betrachter wird zum Partner der räumlichen Regie, wenn Innenräume und Außenräume ineinander übergehen. Geht man etwa durch die Höfe, Hallen und Pavillons der Alhambra von Granada oder durch die Säle und Kabinette der Villen Palladios in Veneto, so öffnen sich in bestimmten Augenblicken atmosphärische Bilder. Bei den Türen und Fenstern engt sich ein Raum ein, bei Türen und Fenstern öffnet er sich wieder mit einer neuen Stimmung. Der Erlebnisrhythmus entsteht mit dem Gehen und durch die Wiederholung von Einschnürung und Ausweitung. Was im Raum geschieht, geschieht auch im Körpergefühl, Enge und Weite wechseln miteinander ab. Mit Ausblicken und Durchblicken wird ein Erlebnisraum konstruiert, der zwar in der Vorstellung eines Betrachters entsteht, aber im architektonischen Ensemble vorgebildet ist. Die thearterhafte Wirkung kommt durch intime Korrespondenz der gestischen Haltungen. Der architektonische Ort ist mit der Entwicklung seiner Atmosphäre darauf angelegt, einen Wechsel des Körpergefühls zu erzeugen. Dabei ist die Lust auf Weite eine triumphale Lust, ein räumliches Glücksgefühl. Unterbrechungen

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der Blickfolge durch verschlossene Türen, vergitterte Fenster und dergleichen Details können durchaus zur Komposition gehören, sie enttäuschen und steigern möglicherweise eine Erwartung, die sich aufgebaut hat. Manchmal trägt gerade die Sparsamkeit der Öffnung zu dieser Erwartung von räumlicher Tiefe bei. Es kommt vor, dass ein einziger Ausblick genügt, um die Verbindung eines Innenraums mit der Landschaft oder der kosmischen Weite herzustellen. Das Pantheon in Rom verfügt über eine einzige Öffnung oben hoch, sie zeigt, wie man weiß, die Unendlichkeit des Himmels. Die kunstvolle Verhinderung der Durchblicke und Ausblicke durch Stäbe, Gitter, Gardinen, Holzvorhänge und dergleichen ist besonders im islamischen Raum sowie in Indien und China eine soziale Technik. Das Ausgrenzen der Frauen, das Verheimlichen der Gegenwart des Herrschers, das Bremsen der Neugier von Besuchern und andere soziale Interessen haben für die Tabuisierung von Ausblick und Durchblick gesorgt. So sind auch manche Formen der Verhinderung von Blickräumen zu kulturellen Kostbarkeiten geworden. Freier Blick ist Macht, versperrter Blick ist Ohnmacht. Beide Motive werden in der Architektur gelegentlich heraufbeschworen. Das Versperren des Blicks wird am verwinkelten Eingang des klassischen Pekinghauses deutlich demonstriert und häufig auch magisch gedeutet: Es verhindert den Eintritt böser Geister, die sich offenbar wie der Blick bewegen: geradlinig. Es kommt aber auch vor, dass ein ganzes Bauwerk einem einzigen Ausblick gewidmet ist. Blicktürme, zum Sehen oder zum Gesehenwerden, ähnlich wie die Leuchttürme, die Funktürme, die Kontrolltürme der KZs und der Gulags, sie heben das Auge eines Menschen oder ein Gerät über eine Grenze, ein Terrain, um es zu beherrschen. Ausblick und Einblick ohne körperliche Berührung,

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das ist Macht ... Das kompositorische Prinzip des Blicköffnens und Blickverschließens ist auch zur Grundlage bedeutender Landschaftsarchitekturen geworden. Im romantischen englischen Garten zum Beispiel winden sich die Wege, wie die kompositorische Blickfolge es verlangt. Durch die Wendungen, Hebungen und Senkungen des Körpers entsteht eine Folge von Bildern, die ihrerseits in bestimmten Blicktiefen erscheinen wie auch die Motive der zeitgenössischen Tafelmalerei. Oder die philosophischen Gärten Chinas, etwa die in Souzhou bei Shanghai. Für die Regie der Aufmerksamkeit hat man Labyrinthe von Wänden eingeführt, denen man auf dem Weg durch verschiedenartige räumliche Gartentypen folgt. Fensterund Türöffnungen darin, offen oder gitterartig verschlossen, bieten Ausblicke und Durchblicke an, die jeweils andere Stimmungen und andere Ideenlandschaft ankündigen. Manche dieser Fensterblicke bleiben kleine Sehnsucht-Szenen, Blicklandschaften, nicht begehbar, ähnlich den illusionistischen Versprechungen gemalter Bilder. Andere öffnen sich überraschend und führen in Folgen von Wegen und Brücken. Sucht man sie rückwärts wiederzufinden, so findet man sie nicht. Denn Blicke sind Projekte, sie lassen sich nicht umkehren... DAS FREMDE. Vertraut ist bei gebauten Dingen, was einmal gebraucht wurde, was einmal zur Verfügung stand. Aus anderen Dimensionen der Wahrnehmung und der Erinnerung aber spricht das Fremde, Vage, Seltsame und Unheimliches kommt sogar in der eigenen

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Wohnung ins Spiel, dort vielleicht am intensivsten. Vertrautes und Fremdes sind im Erlebnisverlauf offenbar voneinander abhängig, besonders die Ja- und Nein-Positionen, die wir nacheinander einnehmen im Hinblick auf unser zukünftiges Handeln. Von dieser Art nämlich das wahrnehmende Denken oder das denkende Wahrnehmen, das gebauten Räumen begegnet. Auf bestimmte Faktoren im ausgebreitetten Material der Architektur springt unser Organismus an wie ein arbeitsfähiger Motor, ein bestimmtes Wohlgefühl des Leibes eher nein, da entstehen Fragen, da wird die Kälte der Dinge deutlich, ihre Nicht-Verfügbarkeit, das fremde Neue. Dann werden Kontrollbewegungen veranlasst, die die Position des Rumpfes, die Haltung des Kopfes und der Glieder variieren,und der veränderte Leib befragt wiederum das veränderte Phänomen. Dieser Übergang von Zutrauen zum Stutzen vor dem Fremden und wiederum vom Stutzen zum Zutrauen, eben dieser Wechsel bestimmt unsere Bewegungsstrategie.Gerd Mattenklott sagt im Hinblick auf Paul Valéry: „Das Ich kommt nur aus sich heraus, indem es sich selbst fremd wird, d.h. indem es einem Fremden und doch Ähnlichen in sich Raum gibt.“ Zufall und Undefinierbares, Vages und bloß Ähnliches gehören zu den Bedingungen der Erkenntnis, nicht nur identifizierendes Wiedererkennen und Ordnung-Finden. Gerade beim Wohnen ist die Intimität der Dinge gespickt mit kleinen Zweifeln. Die Löcher in der Vertrautheit kündigen eine nicht endenwollende Herausforderung an. Wir brauchen offenbar eine Potential des Unheimlichen im Bekannten. Es gibt - mit unserer Zustimmung - Verschwommenes in den geliebten Gegenständen unserer Umwelt. Sind die Dinge doch eingefärbt durch unsere undeutlichen Vorlieben für daran geknüpfte Ideen und ihre mögliche Verwendung.

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Zukunftsdimensionen in den Gebrauchsdingen sind vielleicht die eigentlichen Grundlagen unserer Wertschätzung, die sich gerade im Vage angekündigt. Daher ist besonders die Wohnarchitektur eine Baukunst, die stottert, das heißt ihre Sprache wiederholt sich, aber sie verfügt über Lücken, sie bleibt offen für Träume. Dagegen sind Arbeitsräume, Industriearchitektur, Straßenbau etc. funktionell stärker festgelegt. Ihre Formen sollen restlos aufgehen in ihren Zwecken. Nicht so die Wohnarchitektur und poetische Bauten, ihre Mitteilungen sind wie Gedichte, andeutend und vielschichtig. Ihr Redefluß ist unterbrochen von Ahnungen und Leerstellen. Beim Erlebnis architektonischer Räume gibt es zwei einander entgegengesetzte Bewegungstendenzen des Leibes. Einerseits sorgt die geometrische Ordnung der gebauten Dinge, ihre Achsialität und Symmetrie, die ständige Wiederholung vertikale Kanten und rechte Winkel für das ruhige Stehen, die aufrechte Haltung des Körpers und seine Stabilität als physikalischer Ort. Andererseits stellen die ständigen Querbewegungen des Kopfes, des Körpers und seiner Glieder die statische Strukturen infrage. Das Auf und Ab und die Schräge verlangen jeden Augenblick nach Bewegungen und Gegenbewegungen, d.h. nach Wechsel. Es ist der Leib mit seinem Aktionismus, der bei der Aneignung des Raumes das Stutzen erzeugt. Bei der fortschreitenden Logifizierung der Architekturwahrnehmung - beginnend mit dem eher sinnlichen Vorspiel der Augen, der Haut der Ohren usw. und enden mit der Symbolerkenntnis und der Formulierung passender begriffe - scheint es immer wieder um ein Fremdes zu gehen, das entdeckt, befragt und erobert wird. Den Schemata der Erorberung kommt die Sprache der Architektur entgegen - nicht zuletz durch die Unfaßbarkeit ihrer geometrischen

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Strukturen. So nahe dem Körper auch das Organische liegt, in das er sich einschmiegt, aus dem er besteht: die Architektur ist vorwiegend euklidisch und das seit Jahrtausenden. So sehr der architektonische Raum auch Leib und Leben dient, sein geometrischer Habitus ist und bleibt der Inbegriff des Anderen. Abschließend kann man über da Buch sagen, dass es zwar an manchen Stellen etwas holprig es zu lesen und auch gedanklich schwer ist bei der Sache zu bleiben, doch kann man Meiseheimer‘s Werk durchaus als Meilenstein ansehen, denn es hilft dem Leser dabei Architektur nicht nur als mathematische Leistung oder statisches Tragwerk zu sehen, sonder als etwas zu interpretieren, das jeden immer anspricht, gewollt und ungewollt und das uns eben umgibt wie eine dritte Haut. Es ist durchaus beeindruckend und bietet oft einen Aha-Effekt, der es zu einer Schatztruhe des Wiederlesens macht.

189 Wolfgang Meisenheimer, Das Denken des Leibes und der architektonische Raum, Verlag Buchhandlung Walter König, Köln, 1. Auflage 2000 ISBN 3-88375-841-8 vergriffen


Architektur und Atmoshäre Gernot Böhm 2006


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gelesen und ausgewählt von Sandra Römhild

Der deutsche Philosoph Gernot Böhme, geboren am 3. Januar 1937 in Dessau, studierte an der Universität Gottingen und Hamburg Mathematik, Physik und Philosophie. Als Professor für Philosophie arbeitete er an der TU Darmstadt. Er wurde besonders durch mit seine Schriften zur Ästhetik-, Natur-, Leib- und Technikphilosophie bekannt und besonders an seinen Denkansätzen ist seine Auffassung von praktischer Philosophie als Werkzeug zur Lebensbewältigung. Durch seine Publikationen zu Goethe, Kant und Platon sowie durch zahlreiche Zeitungsartikel und Interviews erreichte er eine breitgefächertes Publikum. Sein Buch „Architektur und Atmosphäre“(1. Auflage Oktober 2006) beschreibt einen neuen Humanismus in der Architektur, der mehr sein soll als eine Vielzahl an Stilen und ein Wiederholden des Ornaments. Im Gegensatz zur Architekturauffassung von Vitruv, der den Mensch als das Grundmaß und als Mittel zur Geometrisierung der Architektur sah, wird der Mensch bei Böhme als Benutzer des Gebauten und dessen Umfeld zum Bezugspunkt des Bauens selbst. Seine Thesen vom „gestimmte Raum“ stellen das Thema der Atmosphäre ins Zentrum seiner Betrachtung. Das heisst nicht mehr die idealen Proportionsverhältnisse, wie der Goldene Schnitt, oder das metrische euklidische Maß bestimmen den Raum, sondern der Mensch selbst tritt in Beziehung zum Ort und seiner Atmosphäre. Das Buch führt den Leser in die Bedeutung von Ästhetik ein und stellt ihre verschiedene Elemente dar. Licht und Ton, Farbe und Materialität mit ihren sinnlichen Qualitäten animieren zum Anfassen und Fühlen. Heute werden kaum noch Arbeitsmodelle zur Überprüfung von Proportionen, Raumeindruck, Licht und Schatten im Entwurf gefertigt. Viele von ihnen überlassen den Umgang mit Atmosphären Einrichtungsfirmen oder den Bauherren selbst und vergessen darüber, dass Atmosphäre nicht mit Dekoration gleichgesetzten ist. Die Atmosphäre eines Ortes ist der wichtigste Faktor beim Erleben von Raum und prägt nachhaltig den Gesamteindruck. Nur Räume mit einer eigenen und unverwechselbaren Stimmung werden in Erinnerung bleiben.

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Die folgenden Passagen verdeutlichen die Bedeutung von Atmosphäre für unseren Alltag. Atmosphärisches Denken und Entwerfen sind für uns Architekten grundlegend. Erst durch sie tritt der Mensch in Beziehung zu Anderen und dem Raum selbst.

Architekten zeichnen, sie bauen Modelle, dann lassen sie zwar noch in der Wirklichkeit ihre Bauten ausführen, aber sie selbst fotografieren dann zum Schluss. Was sie tun, vollzieht sich immer im Raum als Medium von Darstellungen. Erwägungen über Größenverhältnisse, Formen, Volumina beherrschen ihr Denken. Der Raum, in dem sie ihre Entwürfe einzeichnen, ist der euklidische Raum, metrisch, homogen, nahezu isotrop nur die Richtung oben/ unten spielt wegen der Schwerkraft eine Rolle. Der Raum, in dem ich leiblich anwesend bin, ist dagegen eher dem topologischen Raum verwandt: Nachbarschaften, Umgebungen spielen die entscheidende Rolle - und vor allem: er ist zentriert (auf das hier bin ich), er hat Richtungen, die sich auf den Leib beziehen, also außer oben/unten noch rechts/links, vorne/hinten. Ferner sind Richtungen gegeben durch Attraktions- und Schwerpunkte. Doch damit nicht genug: Weil der Raum leiblicher Anwesenheit ja nicht relativ Raum zu unserem Vorstellungsvermögen ist, sondern relativ zu unserer Leiberfahrung, so ist er weiter zu charakterisieren durch: Enge und Weite, durch Bewegungsanmutungen oder Hemmungen, durch Helligkeit und Dunkelheit, durch Luzidität und Opazität etc. wir sehen, der Raum leiblicher Anwesenheit ist durch die Kategorien zu bestimmen, nach denen unsere Umgebung unser Gefühl hier zu sein modifiziert, also unsere Befindlichkeit.[...]

eite 16

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ZUR EINFÜHRUNG: ÄSTHETIK DER ATMOSPHÄREN DAS SCHÖNE UND ANDERE ATMOSPHÄREN Seite 20 Was ist das Schöne? Wir sagen, eine Frau sei schön, ein Bild, eine Landschaft, wir sprechen von schönen Kleidern oder einem schönen Garten. Wenn wir uns Rechenschaft geben, was wir mit dem Wort schön meinen, machen wir die Erfahrung, dass unsere Sprechweise in gewissem Sinne im Gegensatz zu der ausgedrückten Erfahrung steht.Wir nennen nämlich etwas schön, als sei die Schönheit ein Prädikat, das diese Etwas - eine Frau, ein Bild, eine Landschaft usw. - neben anderen Eigenschaften hat. Sollten wir diese Eigenschaften aber angeben, so gerieten wir in Verlegenheit, gingen dazu über, Schönheit als eine Art Gesamteindruck zu behaupten. Damit gleitet man aber in die Vermutung hinein, dass die Schönheit überhaupt nicht nur durch objektive Prädikate des Schönen zu bestimmen ist, sondern durch die Wirkung auf die Wirkung des Subjekts. Der Satz, diese Frau, dieses Bild, diese Landschaft ist schön würde dann genauer heißen: Ich finde sie schön. Diese Beobachtung hat die bürgerliche Ästhetik, wie wir noch sehen werden, dazu verleitet, Schönheit überhaupt zu einer Sacher der Beurteilung, nämlich des Geschmacksurteils, zu machen. Wenn wir die Wirkung auf das Subjekt einbeziehen, dann können wir Schönheit formal bestimmen als Gesamterscheinung von etwas, insofern sie für das Subjekt eine Verlockung darstellt. Wenn wir uns aber die Beispiele noch einmal vor Augen führen, eine schöne Frau, ein schönes Bild, eine schöne Landschaft, schöne Kleider, ein schöner Garten, so bemerken wir, dass hier offenbar nicht von irgendeiner Verlockung die Rede ist, sondern deutlich von einer gehemmten Verlockung. Einer schöne Frau, ist gerade

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nicht diejenige, die sexy ist, ein schönes Bild verlangt bewundernden Abstand, eine schöne Landschaft erscheint wie hinter Glas, schöne Kleider sind nur für sonntags, und ein schöner Garten liegt hinter der Mauer. [...] Wenn man aber nach einem Effekt fragt, der im Allgemeinen als Reaktion auf das Schöne angegeben wird, so istes die Liebe. Dabei mag Liebe von einem platten und direkten Habenwollen bis zu interesselosem Wohlgefallen reichen; das ganze Spektrum ist jedenfalls nur möglich, weil das Schöne auf der einen Seite eine Distanz setzt, auf der anderen Seite aber auch in der distanziertesten Erfahrung schon eine Teilnahme gewährt. Die Anwesenheit eine schönen Frau in einer Versammlung, eines schönen Bildes in einem Raum verändern bereits die Gesamtatmosphäre. GESTIMMTE RÄUME Man spricht von einer heiteren Landschaft, von einer gedrückten Stimmung im Raum, man charakterisiert Räume durch ihre kalte oder gemütliche Atmosphäre, man nennt den Abend düster, den Anblick eines Berges erhebend. Dass es sich hier um Projektionen handeln könnte, um eine Färbung der Wahrnehmung durch die eigene innere Stimmungbefangen, durch die Atmosphäre, in die man gerät, betroffen und umgestimmt werden kann. [...] Seite 29 Im praktischen Umgang mit Atmosphären haben wir es mit Verhaltensweisen Seite 25

La Défense, Paris, 1993


zu tun, die im Zusammenhang rationaler Erwägungen und aufgeklärten Redens eine Fortsetzung magischer Praktiken darstellen. Atmosphären herstellen heißt beschwören und bezaubern.Durch gewisse dingliche Arrangements wird die Wirkmacht seelischer Kräfte herbeigerufen und bewusst eingesetzt, um andere Menschen ohne ihr Wissen, auch gegen ihren Willen zu beeinflussen. [...] Seite 31 Die sanftmelancholische Atmosphäre hat einen einhüllenden Charakter und ermöglicht eine tröstende Geborgenheit, indem sie dem lastendem Kummer Weite gibt. Nüchtern gesagt, ist sie ein Heilmittel gegen Depressionen, weil in ihrer Erfahrung Verlust und Trauer nicht überspielt, aber aus ihrer bedrückenden Tendenz gelöst werden. Eine Rehabilitation der Atmosphären würde das menschliche Leben an Erfahrung reicher machen und das Wissen vom Menschen aus der Verkrampftheit lösen, in der Magie und Zauberei als bloßer Betrug und die Welt der heidnischen Götter als nichtig oder subjektive Projektion behandelt werden. Auch die leibliche Wirklichkeit des Menschen selbst könnte man anders würdigen. Denn jeder Mensch hat eine Atmosphäre und trägt durch sein Auftreten zur gemeinsamen Atmosphäre, in der wir uns begegnen, bei.[...]

LEBEN MIT ATMOSPHÄREN BEITRÄGE Nun, in gewissem Sinne sind wir heute nicht ungeübt in der Erzeugung von Atmosphären, nämlich von ihren äußeren

Seite 42

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Bedingungen her, was also Raumeinrichtung, Musik, Beleuchtung usw. angeht. Die zwischenmenschliche Atmosphäre lebt aber wesentlich von dem Verhalten der einzelnen, so wie diese auch umgekehrt in ihrem Verhalten von ihr leben. Hier geht es vor allem um das Wie dieses Verhaltens, weniger um die Intentionen oder den Inhalt. Der Ton macht die Musik, sagt man. Das heißt, es kommt auf die Stimme an, die Intonation, Sprachmelodie, Tonhöhe. Es kommt auf die Haltung an, die man seinen Partnern gegenüber einnimmt, auf die Bewegungssuggestionen, die von einem ausgehen, die Nähe oder die Distanziertheit, die durch Körperhaltung oder auch räumliche Nähe zum Ausdruck komme; ferner natürlich das Spiel der Blicke, die Lebhaftigkeit. Das alles ergibt sich natürlich auch von selbst. Dass man dadurch bewusste Beiträge zur gemeinsamen Atmosphäre leisten kann, ist einem in der Regel nicht klar. Was muß man tun, um eine kreative Atmosphäre entstehen zu lassen; was kann man dazu beitragen, damit in einer Familie eine gesunde Atmosphäre herrscht; wodurch wirkt eine Atmosphäre beruhigend, gastlich, für Kinder gedeihlich? [...]

DEN UMGANG MIT ATMOSPHÄREN LERNEN_ EINE NEUE ÄSTHETISCHE ERZIEHUNG DES MENSCHEN SCHILLERS SCHRIFT Seite 45 Für Schiller nun ist der Zusammenhang von Spiel, Schönheit und Freiheit entscheidend. Die ästhetische Erziehung des Menschen zum Menschen besteht darin, den Spieltrieb anzuregen. Er solle die jeweiligen Tendenzen, die Sinnlichkeit und Verstand

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zugeordnet sind, also den sinnlichen Trieb und - wie er es nennt - den Formtrieb miteinander vermitteln. Dem Spieltrieb aber geht es um Schönheit, das leitet Schiller folgendermaßen ab: Der Gegenstand des sinnlichen Triebs sei die Materie, der Gegenstand des Formtriebes, die Gestalt, beides zusammengenommen und in Verbindung gebracht sei lebende Gestalt und das ist nach Schiller die Schönheit. Wenn man den Spieltrieb folgt, beschäftigt man sich also mit Schönheit und dadurch gewinnt man Freiheit, sowohl gegenüber den Notwendigkeiten der Natur als auch gegenüber den Prinzipien der Vernunft. [...] ATMOSPHÄREN ALS GEGENSTAND UND MEDIUM ÄSTHETISCHER ERZIEHUNG Atmosphären haben je ihren eigenen Charakter und wir sind gewohnt, uns über Atmosphären und Angabe ihres Charakters zu verständigen. Die Alltagssprache stellt dafür ein erstaunlich reiches Repertoire zur Verfügung. Ich gebe einige Typen solcher Atmosphären an. Da sind zunächst die Stimmungen zu nennen: Man sagt, etwa eine Atmosphäre sei heiter oder ernst. Ferner gibt es die Bewegungssuggestionen: Man fühlt sich durch eine Atmosphäre gehoben oder niedergedrückt. Als nächstes nenne ich die Synästhesien: Es sind solche Atmosphären, die man quasi durch Qualitäten charakterisiert, aber nicht insofern sie einem spezifischen Sinnesbereich angehören. So redet man von einer kalten Atmosphäre oder einer rauhen Atmosphäre. Ferner sind die Atmosphären kommunikativen Charakters zu nennen: Es sind solche, die in einem Gespräch oder bei einer Zusammenkunft von Menschen herrschen. Die Atmosphäre kann dann gespannt sein, ein Gespräch kann in schroffem Tone vor sich gehen, die Atmosphäre kann

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verbindlich oder aggressiv sein. Schließlich möchte ich als letztes die gesellschaftlichen Atmosphären nennen, die besonders dadurch bestimmt sind, dass sie konventionelle Momente enthalten. So redet man von einer kleinbürgerlichen Atmosphäre oder der Atmosphäre der zwanziger Jahre. Als drittes Moment aus der Theorie der Atmosphären möchte ich erwähnen, dass man Atmosphären erzeugen kann. Sie sind also nicht nur etwas, das man spürt, sondern etwas, das durch bewusste, durchaus dingliche Konstellationen erzeugt werden kann. Das Paradigma dafür ist die Kunst des Bühnenbildes. Der Bühnenbildner ist gewohnt, durch bestimmte Arrangements von Gegenständen, Raumanordnungen, Licht und Ton ein Klima zu erzeugen. Auf der Bühne entsteht ein Raum einer bestimmten Grundstimmung, in dem dann sich das Drama abspielen kann. [...] Seite 51 Wenn man sich die Ubiquität von Atmosphären klarmacht und die Tatsache, dass wir zwar durch sie bestimmt und beeinflusst werden, sie aber gerade nicht explizit als solche bemerken, so ist die erste Forderung eine ästhetische Erziehung: man muß lernen Atmosphären wahrzunehmen. Das hat sogleich weitreichende, zum Teil revolutionäre Konsequenzen. Zunächst: man lernt die Bedeutung leiblicher Anwesenheit kennen. Gerade im Kontrast zur telematischen Gesellschaft zeichnet sich ab und gewinnt eine neue Wertschätzung: die leibliche Anwesenheit. Das ist insbesondere für den Kunstunterricht von Bedeutung, der ja nur allzu leicht sich mit Reproduktionen und Repräsentationen zufriedengibt. Das Zweite ist die Wiederentdeckung des Leibes selbst als eines Mediums emotionaler Teilnahme: Befindlichkeiten werden leiblich gespürt, sie sind immer Befindlichkeiten im Raume, Schließlich

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muß man lernen bzw. einüben, dass Atmosphären wahrzunehmen Zeit braucht und Offenheit, man muß sich auf sie einlassen, man muß bereit sein, sich berühren zu lassen. [...] Man muss lernen Atmosphären zu gestalten. [...] Seite 53 Der bewusste Umgang mit Atmosphären verschließt sich durchaus nicht der modernen Welt. Im Gegenteil, er er öffnet sich gerade Grundzügen dieser modernen Welt und lässt sich kritisch auf sie ein. Es ist die Avantgarde der modernen Kunst mit ihrem Zug ins Performative, es ist die neue Musik mit ihrer Tendenz zu Raumkunst zu werden, es ist die Ästhetisierung und Inszenierung der Alltagswelt, die Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik nahegelegt haben. Mit Atmosphären umgehen zu lernen macht den einzelnen Menschen gerade zum kritischen Teilnehmer und Mitwirkenden dieser Welt, in der wir heute leben.

199 Musikhochschule, Weimar, Leibnitz-Allee, 1996


ATMOSPHÄREN IM BILD DAS BILD DER DÄMMERUNG Seite 54

Dämmerung senkte sich von oben, Schon ist alle Nähe fern; Doch zuerst empor gehoben Holden Lichts der Abendstern! Alles schwankt ins Ungewisse, Nebel schleichen in die Höh´; Schwarzvertiefte Finsternisse Widerspiegelnd ruht der See.

Nun am östlichen Bereiche Ahn´ ich Mondenglanz und -glut, Schlanker Weiden Haargezweige Scherzen auf der nächsten Flut. Durch bewegter Schatten Spiele Zittert Lunas Zauberschein, Und durchs Auge schleicht die Kühle Sänftigend ins Herz hinein. J. W. v. Goethe

Ascona, Lago Maggiore, 1996


DIE FOTOGRAFIE DER DÄMMERUUNG Doch die Dämmerung ist kein Phänomen des Lichts, sondern eher des schwindenden Lichts, der Verschattung, der Dunkelheit. Und ihre Erfahrung ist nicht das Sehen von etwas, sondern die Auflösung von Gegenständlichkeit, das Spüren im Unbestimmten. [...] Die Dämmerung ist ein räumliches Phänomen. Sie ist eine Atmosphäre, die allmählich alles einhüllt, verschattet, unbestimmt macht, Grenzen verwischt und den Raum zu einem dichten Etwas verschwimmen lässt, in dem man sich befindet. Die Dämmerung ist deshalb nicht ein Anblick, und so sehr sich auch in der Dämmerung faszinierende Anblicke bieten, es ist nicht das Bild, die Vedute, in der sie sich darstellt. Das Bild der Dämmerung muß deshalb quasi randlos sein, es muß Tiefe haben und in seiner unvermeidlichen Rahmung den Raum ahnen lassen. Aus diesem Grund ist das Diapositiv zur Darstellung der Dämmerung dem Foto überlegen. Im diaphanem Licht ist sie atmosphärischer, hat mehr räumliche Tiefe, und sie verbindet sich durch die Präsentation in der Dunkelheit besser dem Raum. [...] Seite 62 Die Dämmerung ist der Raum abendlichen Lebens, Zeit des Stillewerdens, Abschied vom Tag und seiner Arbeit, Feierabend, Zeit der Sehnsüchte, des Umherschweifens, des Streunens: Dass die Dämmerung ihre eigenen Lebensformen hat, ist fotografisch eine Chance, im Bild dieses Lebens gelingt es, den subjektiven Anteil der Dämmerung zur Darstellung zu bringen, die Dämmerung, wie sie in affektiver Betroffenheit erfahren wird. Das Stillewerden, die ausgreifende Sehnsucht, auch das sich Zusammenkauern vor heimsuchender Angst, sie können spürbar werden an den Seite 60

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Menschen im Bild. [...] Die Menschen in der Szene des Bildes erzeugen durch ihr Treiben die Atmosphäre, die sie spüren. [...] LICHT UND TON IM RAUM ATMOSPHÄREN Der leibliche Raum bzw. der Raum, insofern wir ihn durch unsere leibliche Anwesenheit erfahren, erhält nun seinen Charakter nicht nur bloß durch Engung und Weitung, durch Richtung, Zentrierung, Konzentration und Artikulation, vielmehr hat er auch immer einen emotionalen Charakter. Schon Weite und Enge sind ja als leiblich empfunden nicht emotional neutral, sondern haben als solches einen Stimmungscharakter. allgemein kann man sagen, dass wir in unserem Befinden spüren, in welchem Raum wir uns befinden. Ein Raum, sei es nun ein architektonisch gestalteter Raum oder auch durch ein Musik gestalteter Raum, mutet uns in gewisser Weise an. Wir sprechen dann davon, dass der Raum eine Atmosphäre hat.[...]

Seite 89

Jonathan Borofsky, Man walking to the Sky, Dokumenta 8, 1987


ATMOSPHÄREN IN DER ARCHITEKTUR Atmosphäre wurde als Grundtatsache menschlicher Wahrnehmung deutlich, nämlich in der Wahrnehmung, in der der Mensch durch sein Befinden zugleich spürt, wo er sich befindet. So gesehen sind Atmosphären etwas, was das menschliche In-derWelt-Sein im Ganzen bestimmt, also seine Beziehung zur Umgebungen, zu anderen Menschen, zu Dingen und Kunstwerken. [...] Seite 105

DIE WAHRNEHMUNG VON ARCHITEKTUR Seite 109 Wenn es wahr ist, dass Architektur wesentlich Raumgestaltung ist, dann gehört sie nicht zu den visuellen Künsten. Einen Raum sieht man nicht. Man ist geneigt, diesen Satz durch die Unzulänglichkeiten der perspektivischen Darstellung zu beweisen. Dabei unterstellt man aber vorschnell, dass, was man eigentlich sehe, Bilder seien, also Flächiges - und dann folgt trivialerweise, dass man Räumliches trotz aller Tricks nicht adäquat im Flächigen wiederfinden wird. Der ganze Trugschluß hängt daran, das man gewöhnt ist den Fotoapparat als Modell des Sehens mit dem Auge - mit einem Auge! - zu verstehen. Aber wir sehen ja mit zwei Augen, und was sie uns zeigen, ist bisher noch durch keine Technologie ohne Rekurs auf die Augen nachgemacht worden. Also sieht man den Raum doch, nämlich im räumlichen Sehen mit beiden Augen. [...] WAS IST DER RAUM LEIBLICHER ANWESENHEIT Seite 118 Es gibt in der europäischen Kultur im Wesentlichen zwei Raumkonzepte, die man mit den Namen großer Philosophen

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verbinden kann, die aber auch ihre Ausprägung in der Mathematik erfahren haben. Von Aristoteles stammt das Konzept des Raumes als Topos, Ort, von Descartes des Raumes als Spatium Abstand. Mathematisch ist die Topologie die Wissenschaft von einer Mannigfaltigkeit mit Lage- und Umgebungsbeziehungen und die Geometrie die Wissenschaft von einer Mannigfaltigkeit mit metrischen Beziehungen. Raum qua topos ist nach Aristoteles definiert als die innere Oberfläche der umgebenen Körper. Raum in diesem Sinne ist also wesentlich begrenzt, etwas in dem sich etwas befindet, der Ort. Die Mannigfaltigkeit der Orte bildet Gegenden, die sich wechselseitig umgeben. Der Raum, in Sinne von Spatium ist der Abstand zwischen Körpern.Er ist Distanz, die durschritten werden kann, oder Volumen, das angefüllt wird.[...] DIE WIRKLICHKEIT UND DIE REALITÄT Seite 125 Wenn man die Analyse an dieser Stelle schließen würde, dann könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Aufgabe der Architektur unter dem Gesichtspunkt, dass Menschen leiblich in ihren Räumen anwesend sein werden, wesentlich in einem Projekt der Inszenierung bestünde. Sie wären dann von der Bühnenbildnerei systematisch zu unterscheiden. Es ginge, so gesehen, nicht mehr um Architektur, sondern darum, Räume leiblicher Anwesenheit zu inszenieren, in denen den Benutzern oder Besuchern bestimmte Befindlichkeiten vermittelt würden. Tatsächlich ist ja das Moment der Inszenierung in neuerer Architektur recht stark geworden, zu stark wie manche Kritiker meinen. So hat der Architekturtheorethiker und Historiker Werner Durth bereits in den siebziger Jahren kritisch von einer Inszenierung der Städte gesprochen. [...]

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DIE ATMOSPHÄR EINER STADT Früher hatte die Metro in Paris einen ganz besonderen Geruch. Man hätte mich im Schlaf nach Paris versetzen können, und ich hätte an diesem Geruch erkannt, wo ich bin. Heute würde ich etwas darum geben, wenn mir jemand noch einmal ein Fläschchen von diesem Geruch verschaffen könnte.[...] Die Gerüche sind ein wesentliches Element der Atmosphäre einer Stadt, vielleicht sogar das Wesentlichste, denn Gerüche sind wie kaum ein anderes Sinnenphänomen atmosphärisch: „Unbestimmt in die Weite ergossen“ hüllen sie ein, sind unausweichlich, sie sind jene Qualität der Umgebung, die am tiefgreifendsten durch das Befinden spüren lässt, wo man sich befindet. Gerüche machen es möglich, Orte zu identifizieren und sich mit Orten zu identifizieren.[...] Seite 126

DER BEGRIFF DER ATMOSPHÄRE Seite 131 Die Atmosphäre einer Stadt ist deshalb nicht dasselbe wie ihr Image. Das Image einer Stadt ist das bewusst nach außen gekehrte Bild ihrer selbst bzw. die Gesamtheit der Vorurteile, die man draußen von einer Stadt hat. Ferner [...] wird unter Atmosphäre einer Stadt etwas Charakteristisches verstanden, d. h. etwas, was einer Stadt eigentümlich ist, das, worin sie individuell ist und das sich deshalb auch in allgemeinen Begriffen nicht mitteilen lässt. Das soll aber nicht heißen, dass man über die Atmosphäre einer Stadt nicht reden könnte - wir werden noch sehen, dass das sehr wohl möglich ist, sondern nur, dass die Atmosphäre etwas ist, das man spüren muß, um zu verstehen, worum es in solchen Reden eigentlich geht. Die Atmosphäre einer Stadt ist eben die Art und Weise, wie sich das Leben in ihr vollzieht. [...]

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Es geht in einer solchen Ästhetik nicht bloß darum, wie eine Stadt unter ästhetischen oder kunsthistorischen Gesichtspunkten zu beurteilen sei, sondern darum, wie man sich in ihr fühlt. Damit wird ein entschiedener Schritt zur Einbeziehung dessen gemacht, was man etwas ungeschickt den subjektiven Faktor nennt. Eine Atmosphäre spürt man allerdings immer nur im eigenen Empfinden, aber andererseits gerade als das, was von einem anderen Menschen, den Dingen oder der Umgebung ausgeht. Es ist insofern etwas Subjektives, das man mit anderen teilen kann und über das man sich mit anderen verständigen kann. Beim Studium der Atmosphären geht es um die Frage, wie man sich in Umgebungen bestimmter Qualitäten fühlt, d.h. wie man diese Qualitäten im eigenen Befinden spürt. Über solche Befindlichkeiten kann man sich nun durch Angabe von Charakteren verständigen. Eine Atmosphäre kann entspannt sein oder bedrückend, sie kann geschäftig sein, heiter oder feierlich. Die Sprache enthält ungezählte Ausdrücke zur Charakterisierung von Atmosphären, unter denen man mehrere Hauptgruppen unterscheiden kann - ich nenne hier nur zwei. Die Sprache enthält erstens synästhetische Chraktere: das sind solche, die vor allem in einer Modifikation der leiblichen Befindlichkeit gespürt werden. Und es gibt zweitens gesellschaftliche Charaktere, das sind solche, in die gesellschftliche Konventionen eingehen. Beispiele für letztere sind elegant, kleinbürgerlich, ärmlich.

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ATMOSPHÄREN KIRCHLICHER RÄUME Atmosphären sind unbestimmt in die Weite ergossene Gefühle, die als ergreifende Mächte erfahren werden. Das ist eine distanzierte und aufgeklärte, eben phänomenologische Beschreibung von Erfahrungen, die man auch als Anmutung durch göttliche Wesen, gegebenfalls auch als Heimsuchung durch Dämonen erklären kann.[...] Faktisch haben die Kirchen selbst durch ihre Architekten und durch ihre Zusammenarbeit mit Künstlern zur Herausbildung dieser Atmosphären beigetragen. Sie wollen aber, wie es scheint, die Insznierung des Numinosen, das durch die Erzeugung von Atmosphären in kirchlichen Räumen geschieht, nicht wahrhaben: Wenn man bedenkt, dass einschlägige Bücher zur Theorie des Kirchenbaus sich fast nur auf die Platzierung von Altar, Kanzel und Taufstein und ihre Beziehung zur Liturgie äußern und den Gegensatz von Zentralität und Frontalität in Beziehung zum jeweiligen Dogma diskutieren, und dass ein Buch mit dem Titel Kirchenbau und Gottesdienst praktisch nur Grundrisse behandelt, dann muss man hier schon von Verdrängung reden. Nur ganz gelegentlich wird wenigstens ein Historiker der Kirchengeschichte von der Atmosphäre eines kirchlichen Raumes oder der Aura eines klösterlichen Areals reden, sonst wird dem Atmosphärischen allenfalls eine unterstützende Funktion zugewiesen, nämlich dann, wenn es um die Erbauung des Gläubigen oder der Gemeinde geht. [...] „Das Kirchengebäude soll sie (diese Grundstimmung) schon in den Eintretenden wecken helfen. Es soll ihnen das Gefühl lebendig werden lassen, dass sie beim Vater sind, freilich bei dem Vater, der hoch über ihnen steht und nur aus Gnade ihr Vater geworden ist. Es muss also den Grundcharakter des Traulichen und

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Herzerwärmenden haben, dabei jedoch den des Erhabenen und Feierlichen nicht vermissen lassen, ohne welche das Trauliche einen Stich ins allzumenschlich Gemütliche erhalten würde.“ Seite 142 Inzwischen mag auch in kirchlichen Kreisen eine größere Unbefangenheit gegenüber dem Atmosphärischen in kirchlichen Räumen eingezogen sein. Das hängt sicher mit wachsender dogmatischer Toleranz und ökumenischer Öffnung zusammen, hat aber wohl seinen Hauptgrund in der Anerkennung und Zulassung profaner Betrachtung und Nutzung kirchlicher Räume. Zwar mag es ein Anachronismus sein, kirchliche Räume einfach als Gegenstand der Kunstgeschichte zu betrachten auch für Epochen, in denen es so etwas wie autonome Kunst - hier autonom gegenüber dem religiösen Bereich - noch gar nicht gegeben hat. [...] Faktisch werdern kirchliche Räume wie Kunstwerke betrachtet, ja man muss damit rechnen, dass in Europa die touristischen Besucher von Kirchen ihrer Zahl nach dieselbe Größenordnung erreichen wie die religiös motivierten Besucher. Damit stellt sich generell die Frage, welche Erfahrungen Besucher kirchlicher Räume unabhängig von ihrer religiösen Bindung machen können. Hinzu kommt, dass sehr viele kirchliche Räume ohnehin aus dem Zusammenhang religiöser Praxis entlassen sind. Das ist teilweise eine Folge, der sich historisch wiederholenden Säkularisierungsschübe, teilweise eine Folge des Rückgangs der Zahl der Kirchenmitglieder und der schrumpfenden finanziellen Basis der Kirchen selbst. Es gibt deshalb sehr viele kirchliche Gebäude, die anderer Nutzung zugeführt sind: vom Museum über Konzert- und Vortragsaal bis hin zum Speicher und Obdachlosenasyl. Schließlich haben die Kirchen selbst ihre Räume

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nichtliturgischen Nutzungen geöffnet. Vortragsveranstaltungen und Aufführungen, die nicht im Rahmen von Gottensdiensten stattfinden, sind in kirchlichen Räumen nicht mehr ausgeschlossen und Kunstausstellungen geradezu schon die Regel. Solche nichtliturgischen Nutzungen kirchlicher Räume beziehen sich zum Teil explizit auf die dort herrschenden Atmosphären, jedenfalls können sie nicht umhin, mit ihnen zu rechnen. Es ist deshalb historisch an der Zeit, die Atmosphären kirchlicher Räume als solche zu thematisieren. Damit werden gegenüber den genannten klassischen Gesichtspunkten kirchenbaulicher Theorie, nämlich Altar, Kanzel, Taufstein, Lettner, Chor Zentralität versus Frontalität, andere Instanzen in den Vordergrund treten, nämlich die Erzeugenden von Atmosphären. Dabei ist an die architekturalen Formen im Hinblick auf die Anmutungsqualitäten, insbesondere die Bewegungssuggestionen zu denken, ferner an Licht und Dämmerung, das Steinerne, an Figuren und Bilder, an die akustischen Qualitäten des Raumes, an Farben, an Materialien, an Insignien des Alters und schließlich natürlich auch an die christlichen Symbole, die ja auch bei profaner Nutzung oder Betrachtung ihre Wirkung tun.

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HEILIGE DÄMMERUNG - DIAPHANES LICHT Abt Suger, durch dessen Bautätigkeit in St. Denis der gotische Baustil, wenn nicht erfunden, so doch auf den Weg gebracht wurde, hat, wie ich sagen würde, das Licht zur Erzeugung von Atmosphären in den Kirchenbau eingeführt. Freilich geschah das im Rahmen einer christlich angeeigneten neuplatonischen Metaphysik. Licht wurde verstanden als die von Gott ausgehende Schöpfermacht. Anders als bei Platon, nach dessen Höhlengleichnis das irdische Licht nur ein Analogon der Seinsmacht der Idee des Guten war, konnte nach dem einheitlichen Weltbild des Neuplatonismus im Licht diese Seinsmacht selbst erfahren werden. Wir haben damit hier den seltenen Fall, in dem architektonisch inszenierte Anmutungsqualitäten im Sinne religiöser Erfahrung gedeutet wurden. [...] Es ist nicht Licht im Sinne von Helle, sondern viel mehr Licht im Sinne von Schein oder sichtbarem Strahl. Das heißt, es handelt sich um Licht, das auf der Basis von Dunkelheit erfahren wird, aus der heiligen Dämmerung heraus. Im Dunkeln sein ist die Basis dieser Lichterfahrung. Wir müssen deshalb zuerst nach der heiligen Dämmerung selbst fragen. Heilige Dämmerung ist ein schon landläufiger Ausdruck für eine typisch kirchliche Atmosphäre. Handelt sich es dabei einfach um Dämmerung, wie sie auch in der Natur erfahren wird, der man dann bloß den Namen der heiligen Dämmerung gibt, wenn sie kirchliche Räume erfüllt? Was ist das Heilige an ihr? Mir scheint, dass man phänomenologisch tatsächlich die Dämmerung als Naturphänomen und die heilige Dämmerung in Kirchenräumen unterscheiden kann.[...] Entscheidend für die Dämmerung in kirchlichen Räumen ist ihre Begrenztheit.

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Zwar verlieren sich auch hier alle Dinge im Unbestimmten, aber gerade nicht wie in der Natur in unbestimmter Weite. Deshalb fehlt der Dämmerung in kirchlichen Räumen auch jenes gefährdende Moment des Sichverlierens in der Weite, das zur Erfahrung der Dämmerungsangst führen kann. Dagegen ist die heilige Dämmerung eher umschließend und bergend. Dem Charakter des Heiligen entspricht auf Seiten des Subjekts die Ahnung eines Geheimnisses, das die Dämmerung birgt. Natürlich kann diese Ahnung durch kirchliche Insignien und Architekturmerkmale angeregt werden. Mir scheint aber, dass es eher mattes Lichtartiges ist, was die Dämmerung in diesem Sinne artikuliert, also Goldtöne und vielleicht einzelne Kerzen. Wichtig für die Ahnung und unbestimmte Erwartung ist, dass die Dämmerung in kirchlichen Räumen, die ja im Gegensatz zur natürlichen Dämmerung als gebundene charakterisiert wurde, sich gewissermaßen nach oben verliert. Das hohe gotische Kirchenschiff, die Säulen und Strebungen, die unten, wo man sich befindet, durch ihre Massigkeit die Dämmerung verdichten, verlieren sich nach oben, lichten sich, könnte man sagen. Und von hier nun, den oberen Gaden, fällt das Licht ein: gebündelt und streifig, häufig - und so war es wohl ursprünglich auch bei St. Denis - als farbige Garbe. DIE STILLE UND DAS ERHABENE Erhabenheit und Stille mögen viele kirchliche Räume charakterisieren, aber durchaus nicht alle; es hängt von der Bauart ab. Darüber hinaus müssen gewisse Randbedingungen gegeben sein, die am besten erfüllt sind, wenn eine Kirche inmitten eines Großstadt-betriebes steht, wie etwa der Kölner Dom. Denn beides, Stille wie Erhabenheit, sind in sich Kontrasterfahrungen und

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können deshalb besonders gut sich artikulieren durch Ingression, d.h., wenn man aus einer anderen Atmosphäre kommend den Kontrast spürt. So wird man den Kölner Dom betretend gewissermaßen erschlagen von der Stille oder, besser gesagt, man spürt, dass man in die Stille hineingeht wie in eine Nebelwand. Wenn man sich länger im Dom aufhält, dann bemerkt man, dass die Stille keineswegs Lautlosigkeit ist, sondern sich vielmehr erhebt über dem dumpfen Gemurmel, durch das die Großstadt auch hier anwesend ist. Draußen aber sind die Geräusche vielfältig, einzeln und bedeutsam, ein zerrissenes Konzert. Es gibt Kirchen, in denen das Steinerne eine ganz besondere Raumerfahrung ermöglicht. Dieses Phänomen muss genau bestimmt werden. Denn Stein ist ein Material, das seine synästhetischen Charaktere einer Atmosphäre aufprägen mag - wie anderes auch -, und um Räumliches handelt es sich ja bei Atmosphären allemal. Doch bei diesen kirchlichen Räumen, in denen Stein und Raum in eine besondere Beziehung treten - es ist vor allem an romanische und tische Kirchen zu denken -, handelt es sich nicht um die unbestimmte Räumlichkeit, in die Atmosphären ergossen sind, sondern um den bestimmten, wohlgefügten Raum: Raum als Spatium. Zu ihm gehört Grenze, Kontur, gehört Richtung und Voluminosität. [...] Das Gefühl von Urbanität, das Gefühl sich an einem vollständig human geordneten Ort zu befinden, wird durch das Steinerne erzeugt: dass diese Städte im Ganzen durch steinerne Böden und Mauern gefasst sind. Es ist eine Art urtümlicher menschlicher Stolz, der einen in solchen Räumen ergreift, nicht nur das Gefühl der Sicherheit und der Ordnung, sondern auch das der Erhebung

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über die Natur. Indem Architekten Atmosphären schaffen öffnen sie Räume, an denen die Menschen emotional partizipieren können. Die Aufmerksamkeit wird auf das Ekstatische, auf das, was Formen, Farben, Gestalten ausstrahlen, gerichtet, das Spektrum architekturaler Mittel auf Nicht - Materielles wie Licht und Ton ausgeweitet.

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213 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphären München, Wilhelm Fink Verlag, 1. Aufl., 2006, ISBN 978-3-7705-4343-4 verfügbar


Singende Steine Fernand Pouillon 1962


gelesen und ausgewählt von Guntram Hermle

„Ist es jetzt so, wie du es wolltest, wie du es dir vorgestellt hast?“ Der so Gefragte ist die Hauptfigur des Romans Wilhelm Balz, Baumeister der Zisterzienser-Abtei Le Thoronet in der Provence. In seinen tagbuchartigen Aufschrieben hält er die Entstehung des Klosterbaus fest. Der französische Architekt und Autor Fernand Pouillon (1912-1986) begann den Roman „Singende Steine“, im französischen Originaltitel „Les pierres sauvages“, während seiner Untersuchungshaft. Von den Vorwürfen zu einer Verstrickung in einen Finanzskandal wurde er jedoch später freigesprochen und rehabilitiert. Als Professor an der Universität seiner Heimatstadt Aix-en-Provence hatte er sich ausgiebig mit den Zisterzienserbauten Südfrankreichs beschäftigt. Besonders fasziniert war er dabei von der Schönheit des romanischen Klosters Le Thoronet, das er selbst als „eines der wunderbarsten Zisterzienserbauwerke“ bezeichnete und als Professor zusammen mit Studenten erforscht und aufgemessen hat. In der „demoralisierenden Umgebung von Verrückten und Drogensüchtigen“, wie er in seinen Memoiren über seinen Gefängnisaufenthalt schrieb, versetzte er sich rund 900 Jahre in die Person des Wilhelm Balz zurück. Die Abtei Le Thoronet ist auch heute noch fast vollständig erhalten. 1160 war mit ihrem Bau begonnen worden, die Fertigstellung dauerte nur 15 Jahre. Die Klosteranlage birgt einige Besonderheiten, die sich deutlich von den strengen Regeln und Vorgaben zisterziensischer Architektur und anderer Bauten abheben. Entgegen der strengen zisterziensischen Gestaltungsprinzipien zur Betonung der Schlichtheit hat die Kirche einen Turm und anstatt des vorgeschriebenen flachen Chorabschlusses finden sich in Le Thoronet halbkreisförmige gewölbte Apsiden. Auch der Kreuzgang bricht mit zwei nicht orthogonalen Winkeln im Grundriss und seinen Treppen mit sämtlichen Regeln. Und doch, so findet der Autor,widerspiegelt dies jedoch die geforderte Einfachheit in vollendeter Form.

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Der Baumeister Wilhelm Balz dokumentiert in seinem Journal sein Ringen um den Bau, um das Material, um den Stein, an den er glaubt. Denn die „Singende Steine“ ,im französische wörtlich übersetzt „wilde Steine“–, sind es, die dem Bau seinen einmaligen Charakter geben. Der fiktive Baumeister verwendet bewusst Stein, der weithin als minderwertiger unbrauchbarer „Schund“ galt und gibt ihm Leben indem er den Stein „in Sonne und in den Regen taucht“, es mit Empfindungen bedeckt und ihm Bilder zuordnet. Die Schönheit liegt für ihn in eben der Schlichtheit der Blöcke und widerspiegelt somit die Haltung der Zisterzienser. Pouillon stellte fest:„Ich bin jedoch sicher, dass dieses Buch Dinge enthält, die so noch nie geschrieben worden sind“. Der Roman beleuchtet in fast wörtlichem Sinne die Architektur in einem anderen Lichte und lässt sie in anderem Klang ertönen. Neun Monate aus der anfänglichen Entstehungsgeschichte der Abtei Le Thoronet, von März bis Dezember, die Zeit seines Verweilens dort, hält der Abtei-Baumeister in „Singende Steine“ fest. Die Kapitel, Tagen von Schutzheiligen (Pouillon hält sich dabei allerdings an keinen bekannten Heiligen-Kalender), berichten von den Widrigkeiten und Kämpfe während des Bauens, sowohl innere wie etwa beim Gestaltungsprozess, als auch äußere: Lebens- und Arbeitsumstände der Zeit, die hart waren, Krankheiten und Unglücksfälle. Ich habe als Auszüge aus dem Roman, einzelne Tage, einzelne Schutzheilige, ausgewählt, die beschreiben, wie Wilhelm Balz XXX sich ein Konzept erarbeitet, die äussere Form und den Raum vorstellt, das Kloster mit seiner Umgebung verbindet und eins werden lässt. Seine Gedanken zu Material, seine Überlegungen zur Bearbeitung und Wirkung des Steins, die Art und Weise wie er seine Mitstreiter überzeugt, Gewohntes zu hinterfragen und auch unkonventionelle Wege zu gehen, faszinieren und vermitteln die Leidenschaft und Haltung nicht nur von Wilheilm Balz, sondern von Pouillon selbst. Und fast beiläufig rufen sie dem Leser Peter Zumthor´s Sprache in den Sinn, seine Betrachtungsweisen zu denen – Zufall oder nicht – eine Verwandtschaft augenscheinlich ist. Dieser Roman ist kein klassisches Architekturbuch. Durch seine sorgfältige Sprache und den fiktiven Handlungsrahmen überzeugt es vielmehr durch eine sensible und eigenständige Betrachtungsweise von Architektur.

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ST. BENEDIKT, 21. MÄRZ Im Augenblick beschäftigen mich am meisten der Standort, die allgemeine Form, die Ausrichtung der Abtei. Da gibt es ein großes Hindernis: Die Anlage war vor unserer Ankunft mit den Fundamenten des Schlafsaals für die Konversen schon festgelegt. Ich will ihm gegenüber aber die Kirchenachse abweichen lassen, um sie genau nach Osten auszurichten. Zuerst war ich versucht, die schon bestehenden Anlagen wieder abreißen zu lassen, heute hält mich der Gedanke an die verlorene Mühe und Zeit ab, dies zu tun. Wir werden in der Komposition des Ganzen den richtigen Winkel, den die Bauteile dann zueinander haben müssen, schon finden. Wird sich aber diese grundlegende Abweichung nicht störend auswirken? Noch zögere ich, eine Entscheidung zu fällen. Wäre ich gleich zu Beginn des Baus angekommen, hätte ich sicherlich nicht freiwillig einen stumpfen Winkel für den künftigen Kreuzgang geplant. Während ich schreibe, senkt sich nach dem Lärmen im Steinbruch Stille über das Tal. Die Konversen haben einen Lehrtag beendet. Diese jähe Stille läßt mich an den Stein denken, an das Brechen des Steines aus der Tiefe, an seine Bearbeitung, an sein Aussehen. Ich habe dieses Material hier genau studiert: keine Säge kommt ihm bei, und unter dem Meißel springt es wie sprödes Glas. Wir werden dennoch etwas daraus gestalten! Wenn dieser Stein frisch behauen ist, wirkt er klar und warm, ockerfarben und gelb, mit der Zeit wird er sich ins Graugold verfärben. Die Sonne entlockt ihm nach und nach alle Regenbogenfarben, durchdringt ihn und läßt ihn in vielfarbigem Grau schimmern. Sind die rohen Blöcke erst aus der Erde geholt, geeicht und gemeißelt, werden sie zu edlem Material: Jeder Schlag, jedes Aufblitzen einer bearbeiteten Stelle

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zeugt von Kraft und Dauer. Sind wir Zisterziensermönche nicht wie diese Steine? Aus der Tiefe unserer Zeit wie sie aus der Erde geholt, ins Maß gebracht und behauen durch die Regeln unseres Ordens, beginnen unsere Gesichter im Glauben zu leuchten, werden wir zu Zeichen des Kampfes gegen die Dämonen. Versenkt euch in den Stein, werdet selbst lebendige und singende Steine im Gebäude der heiligen Beter! In der Nacht habe ich in den „Betrachtungen“ des Abtes Bernhard von Clairvaux gelesen. „Die Versenkung reinigt ihre eigene Quelle, das heißt den Geist, aus dem sie stammt. Außerdem mäßigt sie die Leidenschaften, ordnet alle Tätigkeiten, korrigiert Übertreibungen, formt die Sitten, bringt Ordnung und Aufrichtigkeit ins Leben und mündet schließlich in die Wissenschaft sowohl vom Göttlichen als vom Menschlichen. Sie ist es, die Ungeordnetes entwirrt, wieder anbindet, was sich ablösen will, versammelt, was zerstreut ist, die Geheimes durchdringt, sich an den Fuß der Wahrheit heftet und dasjenige durchs Sieb der Prüfung fallen läßt, was nur wahrscheinlich, nicht aber wahr ist; sie kommt den wahren Absichten auf die Spur und deckt den falschen Schein auf. Sie ist es auch, die im Vorhinein feststellt, was zu tun ist, die auf das zurückkommt, was man getan hat, damit nichts bestehen bleibe im Geist, was nicht zuvor korrigiert worden wäre oder noch korrigiert werden müßte. Sie kann in glücklichen Zeiten Unglücksfälle vorausahnen und darunter gar nicht mehr leiden lassen, wenn sie dann eintreten. Im ersten Fall


ist es Vorsicht, im zweiten Kraft und Ausdauer, was sie bewirkt. Man muß hier seine Aufmerksamkeit auf die vollständige Übereinstimmung der Tugenden richten, auf ihre harmonische Verbindung, die die eine von der anderen abhängig werden läßt: denn wie Du soeben gesehen hast, ist Vorsicht die Mutter der Kraft und Ausdauer; jede gewagte Tat, die nicht aus Vorsicht entspringt, ist aus Unbesonnenheit geboren, nicht aus Kraft. So nun kommt es dieser Tugend der Vorsicht zu (dieser Tugend, die zugleich Vermittlerin und Schiedsrichterin ist zwischen der Lust der Sinne und den natürlichen Bedürfnissen), genau die Grenzen zu ziehen zwischen dem Notwendigen und dem Überflüssigen.“ (Bernhard von Clairvaux)

ST. VICTOR, 23. MÄRZ Seite 25 Der Traum hebt an. Ich werde warten und entgegennehmen, was kommt. Mehr als zwanzig lange Jahre flüchtiger Visionen, die in den Tiefen meines Gedächtnisses geruht haben, erheben sich wieder. Ich fühle sie wie ein unter mir vibrierendes Pferd, ungeduldig und erwartungsvoll. Wundert man sich oft auch über den langsamen Fortgang eines Projekts, so ist dann manchmal doch eine beachtliche Aufgabe erstaunlich schnell gelöst. Am längsten wird mir immer das Warten und die Zeit all der Überlegungen. Ist sie erst überstanden, kann die letzte Etappe der Planungen in wenigen Tagen erreicht sein. Warum wohl? Diese Frage führt zu all den anderen Fragen, die mit dem schöpferischen Akt, der Ansammlung von Wissen und Kenntnissen zu tun haben. Der schaffende Künstler offenbart mit dem mit verschlossener Miene gehandhabten Pinsel oder Meißel

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nicht nur, was ihn dabei mit seinem Geist verbindet, sondern auch die Fülle seines Gedächtnisses. Die Bewegung, die so spontan aussieht, ist also zehn Jahre alt, dreißig Jahre. In der Kunst ist alles Erkenntnis, Arbeit und Geduld, und was in einem Augenblick zum Vorschein kommt, kann Jahre der Vorbereitung gebraucht haben.

ST. CLOTHARD, 7. APRIL Seite 26

„Empfindung ist der Urzustand der Dinge.“ Isaac v. d. Sternen

Der Bau gilt späteren Generationen von Brüdern, die Atmosphäre des Ortes wird von der Ursprungsidee geprägt sein.

ST. FULBERT, 10. APRIL Seite 27 Zunächst noch einmal den Bauplatz abschreiten und dann versuchen, die Gesamtform entstehen zu lassen: Die Architektur einer Abtei ist keine lose Ansammlung von Gebäuden, sie entsteht wie eine Skulptur aus einem einheitlichen massiven Block. Der zweidimensional gezeichnete Plan läßt keine wirkliche Beurteilung zu, er gibt ein unvollständiges Bild, wie der Reiseplan einer imaginären Wanderung. Es ist unmöglich etwas zu schaffen, ohne zugleich Höhe und Tiefe, ohne alle Details in der Raumdimension vor Augen zu haben. Keine Architektur ohne vierte Dimension, ohne die bewegte Wahrnehmung des Bauwerks. Denn selten ist das Bauwerk Gebirge oder unbewegter Horizont, es verwandelt sich ja immerzu mit dem wandernden Blick. Die Massen bewegen sich um den Angelpunkt, dessen äußerstes Ende

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unsere Augen sind. Architektur ist etwas Bewegtes! So erzeugt unser Schritt die Bewegung der Formen, unser Kopf, der sich dreht, läßt die Raumlinien schwingen, und unser Blick begreift die unendliche Bewegtheit der Formen. Wir Baumeister müssen in unserem Plan leben wie in einem Haus, in ihm sozusagen unsere Schlafstatt einrichten, in Gedanken Mauern stürzen, Blöcke bewegen, Gleichgewicht und Schwere trotzen, Schwingung und Umkehrung vorausahnen, die schnelle Folge der Bilder und die Bedingtheit des Unbewegten erleben. „Was ist Gott? Er ist zugleich Länge, Breite, Höhe und Tiefe. Diese vier göttlichen Eigenschaften sind Gegenstand unendlich vieler Betrachtungen.“ (Bernhard von Clairvaux) ST. CLOTHILDE, 3. JUNI Seite 51 Unsere Tiefenbohrungen im Gelände der Abtei sind abgeschlossen. Im Norden haben wir eine Lehmtasche entdeckt, die bis in die Tiefen ausgetrocknet ist. Wir mußten diesen Lehm abräumen, den Untergrund aufwendig wieder aufschütten, um einen tragfähigen Grund zu schaffen. Das alles kostet Zeit, Zeit und Geld, die beständigen Sorgen eines jeden Bauherrn. Beim Bau unserer Abtei muß jeder unnötige Luxus streng vermieden werden. Glücklicherweise bleibt uns die Schönheit als Folge der Notwendigkeit. Es ist uns die Freiheit gegeben, größte Ausgaben in der allein und immer gültigen Währung zu machen: dem Überfluß an Anstrengungen und der Verschwendung an Ideen. Jeden Morgen machen wir uns während der Stunden im Steinbruch eine lebhafte Vorstellung davon, wie unsere Mauern und Gewölbe einmal aussehen werden. Ich habe mehrere Steine mit Beispielen für die Bebauung aufstellen lassen. Die inneren und

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äußeren Oberflächen sind immer wieder Gegenstand unserer Überlegungen. Ängstlich nähern wir uns den Steinen: Noch nie war ich mit einem solchen Baumaterial konfrontiert. Diese harten, unregelmäßig brechenden Steine, von Höhlungen durchsetzt, werden weitgehend das Aussehen des Baus bestimmen. Zum ersten Mal beobachten mich meine Brüder voll Mißtrauen. Sie sind an regelmäßige, glatte Steine gewöhnt; diese rauhen und derben Gesteinsblöcke betrachten sie argwöhnisch. Sie glauben noch nicht an die Schönheit dieser wilden Steine. Einer von ihnen sagte: „Wie schade, daß du keinen richtigen Steinbruch gefunden hast!“ Ein anderer meinte noch skeptischer: „Für die Säulen und Kapitelle sollten wir aber doch richtige Steine kommen lassen.“ Ich bin der einzige, der an das große Ergebnis glaubt. Niemand sonst kann sich bis jetzt vorstellen, wie gerade die Unregelmäßigkeit, das fast Rohe und die Schwierigkeiten der Bearbeitung unsere Abtei prägen werden, ja ihren Gesang ausmachen werden. Der Widerstand bei der Bearbeitung ist eines der zuverlässigsten Elemente der Schönheit. So fühle ich mich diesem Fels tief verbunden, der keine Veredelung, keine Skulptur zuläßt. Was sollte ich viel erklären? Der Abt von Clairvaux, der uns als Baumeister ausgesandt hat, hätte vor diesen Blöcken geschwiegen. Seine Empfehlungen hätten ihnen gegenüber auch keinen Sinn gehabt. Wir haben hier Steine gefunden, die unserer Ordensregel entsprechen, sie atmen zisterziensischen Geist. Der Baumeister, der Fontenay entworfen hat, hat präzise und endgültige Vorstellungen von unserer besonderen Architektur gehabt. Er schuf eine Kunst für das Kloster und die zugehörigen Regeln. Er wollte, daß ihre reinen, schmucklosen Formen groß sind in

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ihrer Einfachheit, daß sie in ihrem äußersten Verzicht noch die vornehmsten Bauwerke übertreffen sollten. In der Gleichförmigkeit des Bauprogramms sah er die Beständigkeit einer Kunst, die sich in den Variationen immer ein und desselben Themas stets neu belebt und reinigt. Dieser inspirierte Baumeister wußte genau, daß bei allem äußeren Zwang durch die strenge Ordensregel die seelische Kraft unangetastet bleibt. Innerhalb der Regel ist die Glaubenskraft immer persönlich und unverwechselbar. So enthüllt jede unserer Abteien eine andere Nuance, je nach dem, wie im einzelnen und innerhalb der auferlegten Grenzen mit den Maßen und Verhältnissen des Baus umgegangen wird. Reinheit oder Verfall unserer Kunst werden die Stärke unseres Glaubens, die Macht unseres Zisterzienserordens, die Heiligkeit unserer Mönche sichtbar machen.

ST. NORBERT, 6. JUNI Die Phatasie wird von Visionen genährt, nicht von langweilugen Worten.

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ST. ALEXIS, 17. JULI Seite 87 „Laßt uns jetzt zum Steinbruch gehen!“ So ermahnen wir uns jeden Tag, daß die Steine für die Mauern unsere Hauptaufgabe sein müssen. Die gesamte Abtei hängt davon ab. Folgen wir diesem Ruf zum Steinbruch jeden Tag, so erreichen wir immerhin etwas. Denn wir rechnen nicht mit Wundern. Zeit und Arbeit ziehen sich hin, keines holt das andere je ein. [...]

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Heute war ein ganz besonderer Tag. Wir haben ebenso Wichtiges wie Geheimnisvolles getan. Wir mußten an kleinen Mauerstücken, an Pfeilern und verschiedenen Mustersteinen die Art der Behauung festlegen, die dem Stein wie auch unserer Vorstellung vom Bauwerk am besten entspricht. Bis jetzt habe ich die gebrochenen Steine irgendwie behauen lassen, ohne genauere Angaben. Später erst würden wir sie nach Kategorien einteilen und unsere Mauern hochziehen, ohne darüber Zeit zu verlieren. Der Tag ist nun gekommen: Paul verlangt einen generellen Entschluß, er will, daß ich entscheide. Innerlich habe ich schon seit längerem entschieden, aber nur zu Bernhard oder zu Benedikt darüber etwas gesagt. Vor Paul und den Konversen habe ich meine Wünsche nie geäußert. Ich wagte es nicht, zu all den Schwierigkeiten, die sie schon haben, noch meine Forderungen zu stellen: Ich wünsche mir die schwierigste, fast unerfüllbare, genaueste und reinste Lösung, infolgedessen auch die zeitaufwendigste. Die Wahl der Mauerart betrifft vor allem die Außenwände und den Kreuzgang. Alle glaubten, ich hätte mir auch den Maueraufbau grob vorgestellt, und meinten, die sorgfältigste Bearbeitung der Steine sollte dem Innern der Kirche und den besonderen Räumen der Abtei vorbehalten bleiben. Heute wollte ich alles genau erklären, ohne von den Außenmauern zu sprechen. So haben wir also übereinstimmend Gedanken zu den Innenmauern angestellt, und Paul hat die Bedingungen des Mauerns erklärt. Im Innenraum sollen die Mauern so glatt und so regelmäßig wie möglich sein. Die Blöcke, die horizontal mit Hilfe von Holzkeilen versetzt werden, mit Fugen von einem Zehntel Daumenbreite, sollen satt auf sehr flüssiger Kalkmilch ruhen, mit einer Schöpfkelle soll sie horizontal und vertikal in die Fugen gegossen werden.

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Wir werden die Fugen mit Lehm abdichten, jedoch Öffnungen lassen, die es dem Kalk erlauben, überall zwischen die Steinlagen einzudringen. Diese Öffnungen müssen wir strengstens überwachen, um ein Auslaufen und damit Schmutzflecke zu vermeiden, die wir dann wieder wegbürsten müßten. Die letzte Bearbeitung der Fugen soll erst geschehen, wenn der Lehm durch dichteren Kalk ersetzt wurde, der mit Spachteln eingebracht und mit Holzmessern plangekratzt werden soll. Das alles ist kein Hexenwerk, vielmehr die klassische Form des Mauerns, und Paul führt die Konversen in diese minutiöse Arbeit ein. Wir dürfen dabei keinerlei Unaufmerksamkeit oder Schlamperei dulden. Das ist die Art des Mauerns, die wir für die Innenwände vorgesehen haben, die keinem Frost und keiner direkten Sonnenbestrahlung ausgesetzt sind. Durch Jahrhunderte hindurch werden die Fugen nicht bröckeln, denn der Kalk wird sehr hart, im Lauf der Zeit fast ebenso hart wie der Stein. Wichtig ist, daß die Ecksteine unentwegt gewässert und von oben nach unten gebürstet werden. Die Härte des Materials erlaubt keinerlei Verputz, nur gewisse Korrekturen an der Oberfläche schlecht behauener Steine. Dann haben wir die Füllung zwischen den beiden Mauerschichten überdacht. Wir kamen überein, daß alle Möglichkeiten denkbar sind, auch Abfallsteine dafür verwendbar sind. Füllwerk ist in der gängigen Maurerei das schnellste, bei uns bedarf es aber vieler Verbindungssteine, die über die ganze Dicke der Mauer reichen und so den nötigen Halt schaffen. Das Füllwerk läßt uns zwei Drittel der langen Steine, die schwer, weil von allen Seiten zu behauen sind, einsparen. Dennoch fehlt es uns an eben solchen Steinen, die der Steinmetz zwar als Ecksteine verworfen hat, die aber als Verbindungssteine noch verwendet werden können.

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Die drei Versuchssteine, die wir schon vorliegen hatten, waren verschieden dick. Wir beschlossen, die feine Bearbeitung der Steine von der entsprechenden Räumlichkeit in der Abtei abhängig zu machen und die allerschönsten Steine für das Innere der Kirche aufzubewahren. Zum Vergnügen aller und um den Ehrgeiz der Konversen zu befriedigen, haben wir die Meistersteine bewundert: eine behauene Säule, aus einem Monolith geschlagen, Gewölbeund Widerlagersteine, sorgfältig aufeinander abgepaßt. Dann haben wir uns über die Außenwände Gedanken gemacht. Mein schüchterner Vorschlag war rasch beiseite geschoben und abgetan, niemand nahm ihn ernst, nämlich eine trockene Mauer, ganz ohne Mörtel. Diese Technik ist zwar heute nur noch selten, in der Antike aber war sie die klassische für Außenmauern. Selbst mit bestem Material wird nur noch ganz selten so gemauert, es erfordert nämlich unendlich viel Sorgfalt. Alle sechs Seiten der Blöcke müssen tadellos behauen sein, die Steine müssen genau in der Waage gesetzt werden, und es dürfen nur haarfeine Fugen entstehen. Deshalb wird manchmal eine Korrektur der Bebauung an Ort und Stelle nötig, denn Schaukeleffekte durch Ungenauigkeiten lassen die Blöcke brechen. Meine schon gegebenen Anordnungen für die Bebauung der gröberen Außensteine werden für die Arbeit an der Verfugung nicht ausreichen und ständige Korrekturen nach sich ziehen. Sicher ist, daß dann das Behauen und Mauern doppelt so lange brauchen werden. Schwierig wird außerdem sein, daß wir zahlreiche Steine brauchen, die tief in die Mauer reichen, um sie zu verankern und den Halt des Ganzen zu sichern. Unser Material gehört zum härtesten und sprödesten Stein, den ich kenne, und deshalb bleibt die fugenlose Bauweise gefährlich, vor allem wegen des Drucks der Gewölbebögen, der besonders

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auf den Außenmauern lastet. Die Einrichtung der Mauerschichten muß deshalb an bestimmten Stellen durch Kratzen, Nachbessern und Justieren so sorgfältig ausgeführt werden, daß die Außenmauern dem Druck standhalten. Vollkommen werden sie niemals sein. Paul, der das alles weiß und kennt, hat meine Anregungen nie ernst genommen. Meine Argumente sind schwach: ewige Dauer der Fugen, Sauberkeit der Arbeit, Schönheit des Mauergefüges, und das alles bei einem so groben Material! Unsere Steine werden bei aller Anstrengung Meister Pauls immer nur das hergeben, was dieses ungeschlachte Material zuläßt. Also wird es auch keine absolute Genauigkeit und Sicherheit bei der Verfugung geben. Diese Art zu mauern, meine Art nämlich, gibt aber der Schlichtheit, ja Armut Fülle und Schönheit, sie zieht über die Wand eine feine Zeichnung, das Gespinst verschiedenförmiger Maschen, wie ein Klöppelwerk aus dunklem Faden. Meine schon lange herangereifte Entscheidung führte heute noch nicht zum Konflikt. So habe ich, nach langen, unnützen und ergebnislosen Diskussionen, zu denen ich immer wieder die verschiedensten Vorteile und Nachteile beigesteuert habe, schließlich beschlossen, die Entscheidung über die Außenwände zu verschieben, auch um Zeit zu gewinnen. Ich will zuerst Paul überzeugen, sonst wird der Widerstand gar zu groß. Nachdem wir insgesamt und ohne Unterbrechung der Arbeit oder Entmutigung in so vielem übereinstimmten, wollte ich jede Auseinandersetzung meiden. Morgen wird das auch noch reichen - so sagen die Orientalen immer, wenn sie heute etwas noch nicht lösen wollen. Aber das „morgen“ kann auch nicht allzulange warten! Hoffentlich muß ich wenigstens meine Autorität nicht einsetzen. Wenn im Innern der Kirche die mit Kalk gefüllten Fugen die

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glatten Oberflächen weich und mit Halbschatten überzogen erscheinen lassen, in der vollen Sonne der Außenmauer würden sie ihr die ganze Ursprünglichkeit nehmen, allen Glanz, wie schlecht gefaßte Edelsteine. Nichts verlangen die einfachen und geraden Fassaden unserer Abteien mehr als die schönste Hülle, die eine Mauer ihnen geben kann! Seit Freitag sind die Nächte kühl geworden. Unser Tal, in dem sich die Hitze immer fängt und hält, wird von einem Wind durchblasen, der, ähnlich dem Mistral, alle frösteln läßt und gegen den wir uns kaum schützen können. Die trockene Luft macht das Licht noch härter. Die Augen werden müde, metallisch hart schimmern die Bäume. Mit jedem Windstoß fegt eine Welle silbernen Graugrüns der Blattunterseiten über die Wälder hinweg. Vom einen zum anderen Ende unserer Baustelle wirbelt immer wieder eine Staubwolke auf. Die gereizten Augen der Konversen sind schon ganz entzündet. Dieser kalte Wind, der sonst erst nach dem 15. August einsetzt, läßt uns das erste Feuer in dem großen Kamin anzünden, den Benedikt eigenhändig gemauert hat: eine kleine Feuerstelle über Eck, mit unseren ersten Ziegeln gebaut! Das Feuer halten wir klein, aus Angst vor einem Brand. Seit zwei Monaten haben weder Wald noch Ödland einen Tropfen Regen oder Tau abbekommen, alles ist trocken und entflammbar wie Zunder. Unser Feuer ist wirklich Luxus. Immer wenn Bernhard mit mir wacht in der Nacht, ist das ein Fest. Wir schweigen zuerst eine ganze Weile, es gibt so viel, viel zu viel zu besprechen. Die Entscheidung der Mauerart für die Innenräume, die wir heute morgen getroffen haben, beunruhigt ihn. Das ist nur natürlich: Er will alles verstehen. Ich sitze auf meinem Strohlager, die Tür steht zur sternklaren Nacht draußen offen, der Wind bläst zu mir herein, und mir scheint, als

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brächte er die leuchtenden Sterne mit in den Raum. Der Wind beruhigt sich, wird zu einem gleichmäßigen Brausen und verklingt mit der schwindenden Nacht. Das Feuer wacht mit uns. Unter den beiden kurzen, von der Glut ausgehöhlten Holzscheiten lodern immer wieder kleine blaue Flämmchen, vereinen sich und halten das Feuer am Leben. Sie brechen für Augenblicke in sich zusammen - aber unsere Blicke ermutigen sie. Es ist der Moment, in dem man sich sagt: Ein drittes Scheit Holz würde das Feuer wieder aufflammen lassen. Diese Stimmung ist wunderbar; ein seltsames Licht wird von dem weißgescheuerten Fußboden gespiegelt, verfängt sich in den tiefen Falten von Bernhards Mantel und läßt sein sonnengebräuntes Gesicht im Dunkeln. Wir sinnen dem nach, was wir uns noch sagen wollen, wir bereiten innerlich das übliche Ritual zwischen altem und jungem Mönch vor. Kein Laut dringt zwischen den Windstößen von draußen herein, die Zikaden lieben den Wind nicht und sind in dieser seltsamen Juli-Nacht ebenfalls still. Schließlich unterbricht Bernhard die Stille: „Nun, großer Bruder, sind wir bereit?“ „Du hast recht, wir sind bereit.“ „Und bist du mit allem zufrieden?“ „Ja. Wir haben gut gearbeitet.“ „Ist es jetzt so, wie du es wolltest, wie du es dir vorgestellt hast? Benedikt versteht das alles nicht ganz, du weißt das!? Er fragt sich immer, warum du diese oder jene Entscheidung triffst. Er sagt mir manchmal etwas ängstlich: ‚Der Meister hat dies oder jenes vorgesehen! Den Grund dafür hat

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er uns aber nicht genannt.‘ Die Sache mit der fugenlosen Mauer beunruhigt ihn. Er weiß, daß du nicht willkürlich etwas forderst. Aber er hätte, so glaube ich, gern eine Erklärung.“ „Wie soll ich etwas erklären, was so selbstverständlich und unerklärlich ist wie die Erde?“ „Was willst du damit sagen?“ „Du weißt, Bernhard, im Uranfang hat Gott den Menschen das Bedürfnis nach Feuer eingepflanzt; der einzige fundamentale Unterschied zwischen uns und den Tieren. Dann gab er Weisheit oder Dummheit, brachte uns dazu, daß wir jagen, den Acker bebauen, Vieh züchten, weben, sprechen, kämpfen, kochen und zu bauen lernten. Und alles, was aus unserem Instinkt kommt, das nenne ich Erde. Obwohl das Bauen nach dem Entzünden des Feuers kommt, ist es doch noch an den Instinkt gebunden. Wie die räuberische Wespe oder die fleißige Biene ihre Waben fügt, so bauen wir uns unsere Hütte, unseren Herd, unsere Stadt, Räume für unsere Gemeinschaft.“ „Dann behauptest du also, daß wir uns hier wie die Ameisen zusammengetan haben und, um unsere Abtei zu errichten, wie sie unsere Gänge aushöhlen? Und du hättest uns nur mit deinem Instinkt geführt?“ „Nicht nur mit ihm! Auch mit gewissen Grundkenntnissen, die sich als Gedanken mit dem Instinkt verbinden.“ „Wie erklärst du dann, was ich eher Erfindung oder Erfahrung nennen würde?‘‘ „Stell dir vor, der Schöpfer der Welt würde mich in ein Insekt verwandeln, verliehe mir die Gabe der Allgegenwart, so daß ich zugleich Spinne und Larve unter einer Menge von Larven wäre. Auf meinen langen dünnen Spinnenbeinen schaukle ich, messe den

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Raum ab, bin auf alles neugierig, vom Bach bis zur Quelle, vom warmen Erdreich im Ödland bis zu Wald und Fels; ich studiere den Lauf der Sonne, die Windrichtungen, und aus Gefräßigkeit suche ich Jagdgründe, Orte, wo die Insekten vorbeifliegen. Ich wähle mir die Stelle aus, wo ich mein Netz bauen will. Zugleich würde ich als Larve zwischen zwei Wasserläufen leben, in Bachwindungen oder auf dem Grund einer dunklen Pfütze und mich auf eine andere Daseinsform vorbereiten. Ich denke, du hast den wunderbaren Bau eines Spinnennetzes schon beobachtet: Da werden Fäden in die Luft geworfen, wie Takelagen ausgelegt, Halteseile, die fest gesponnen sind, genial gearbeitete Verspannungen. Von der Erde bis zum Zweig, vom Fels bis zum Blütenstengel spannen sich diese Netzfäden aus und bieten sich gegenseitig Halt, überkreuzen sich. Ich baue mein Netz: Nach den Halte-Fäden kommen die Strahlen, nach den Strahlen die Kettfäden, nach diesen das Leben. Während dieser Zeit reifen die Larven, steigen aus der Tiefe, und schon verlassen die ersten, noch ganz verstört, ihre engen Hüllen, entfalten sich auf der Oberfläche, schwimmen einen Augenblick auf der Ursubstanz, auf der Wiege ihrer Kindheit. Sie verlassen das Wasser, um in der Wärme der Luft wie in der Liebe zu leben. Mücken, Eintagsfliegen, Libellen und Schmetterlinge mit ihren vielfarbigen Flügeln, frisch und eben entfaltet, geblendet von der Nachmittagssonne geraten sie alle in das schimmernde Netz, in dem die gierige, wachsame Spinne sitzt und sie verschlingt. Alles und alle stürzen sich in das feine ausgespannte Netz des Schicksals. Die Larve, zunächst wie eine Idee zwischen zwei Wasserläufen, ist von Anbeginn die Inspirierte. Schon mit dem Augenblick ihres ersten Fluges bereitet sie ihr Ende, ihr Ziel vor. Für mich ist es wichtig, beides zu sein: inspirierend und handelnd, ich muß

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opfern um zu verschlingen. Alles wird ausgetauscht zwischen Absicht und Handlung, zwischen Erfahrung und Instinkt. Und wenn ich wieder Mensch werde, weiß ich, wo die Steinbrüche sind, die Schmiede, die Brennöfen, die Werkstätten; der Fels, der Zweig, der Blütenstengel, an denen die Haltefäden des Netzes verankert sind.“ „Die Fäden unserer Abtei“, bemerkt Bernhard, „sind also ausgespannt, Ideen zu bekommen, Inspirationen zu empfangen. So legst du doch unsere Art des Planens und Bauens aus!? Wo alle nur ihren Beruf sehen, wo alles dank der Kenntnisse über verschiedene Techniken gut organisiert ist, da siehst du ein instinktives System! Bei der Entscheidung über die Mauerart heute morgen, also bei einem einfachen Entschluß zur Steinmetz- und Maurerarbeit, da behauptest du, es spiele der Instinkt und das Gefühl eine Hauptrolle und du könntest Berufserfahrung und ökonomische Überlegungen leicht von diesen Gefühlen und Instinkten trennen? So daß du zur Veranschaulichung dieser Vorgänge ein Beispiel wählst, das den umfassendsten Erscheinungen der Natur angehört: Keime, die im Wasser reifen, unterschiedlichste Verwandlungen in der Natur. Ich verstehe dich, aber ich glaube dir nicht. Zwar habe ich dem keine anderen Vorstellungen entgegenzusetzen, aber ich denke, du räumst dem Instinkt zuviel Raum ein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Somnambuler die Leitung über unser ganzes Unternehmen hat! Ich will an deiner Inspiration nicht zweifeln, ihr nichts rauben, aber du beherrschst doch die Grundlagen deines Berufs, und deine Erfahrungen haben dir bestimmt mehr genutzt als deine prophetischen Schauungen.“ „Müssen wir nicht immer wieder neu beginnen? Sag, Bernhard, zeigen sich die Elemente oder die Tatsachen nicht immer wieder

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ganz anders? Kommen wir auf den Stein zurück: Glaub mir, mit so einem Stein hab‘ ich noch nie gebaut. Bevor ich hierher kam, hätte ich mir nicht denken können, je mit solch einem Material bauen zu müssen. Dennoch wußte ich kurz vor meiner Ankunft, daß es eines Tages geschehen wird, und kurz nach meiner Ankunft, daß man diesen Stein grob behauen und fein und fugenlos mauern muß. Wie soll ich dir erklären, daß die Schönheit der Mauern von diesem Gefühl abhängig sein wird, wenn ich damit nicht eure tiefsten Empfindungen für diese Werte ansprechen kann? Du möchtest, daß ich immer freundlich, erfahren und überlegen bin. Daß es auch auf andere Fähigkeiten ankommt, willst du nicht zugeben. Du weißt schon lange, daß ich diese Steine fugenlos gemauert haben möchte. Aber die Erklärungen, die ich dir dafür gebe, befriedigen dich nicht. Jedesmal, wenn ich mit euch einer Meinung bin, denkst du, dies entspreche der Erkenntnis und Erfahrung. Hast du Angst, es mangele dir an Instinkt? Oder du müßtest ohne die Welt der Vorstellungen leben?“ „Du bist dir und uns gegenüber ungerecht! Daß ich noch nicht ganz verstanden habe, warum du die Steine so haben willst, widerspricht dem, was ich sagte, nicht. Diese Steine, die du so verteidigst, sind für mich, für Paul, für alle nur irgendein Material, das weißt du doch!“ „Warum?“ „Weil es hier eben kein anderes gibt. Wir sind gezwungen, uns mit ihm zufriedenzugeben. Gib es zu! Es ist kein vollwertiger Stein!“ Ich reiße die Augen auf, ich habe nicht geahnt, daß alle, mit Bernhard an der Spitze, hier fünfzehn Stunden am Tag Steine , bearbeiten, ohne daran, zu glauben, daß es wirklich Steine sind. Ohne Hoffnung, daß sie jemals Bewunderung hervorrufen werden! Ich

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fahre fort, bewegt von diesem Staunen: „Ich würde es zugeben ... Aber: du liebst die feinen Steine deiner Heimat; sind sie dir höherwertiges Material?“ „Das höchste! Es ist durch seine edle Erscheinung wirklich das beste!“ „Was hältst du von Marmor?“ „Ich habe noch nie etwas ganz in Marmor ausgeführt gesehen.“ „Und von Bronze? Was hältst du davon?“ „Auf der ganzen Welt gibt es nicht genügend Bronze, daraus einen Palast oder eine Kirche zu bauen!“ „Sieh einmal ab von dieser Einschränkung, und stell dir eine erzene Kirche vor, eine Glocke als Kathedrale. Kennst du den Granit der Bretagne, den toskanischen Marmor, den Marmor der Akropolis in Athen? Hast du dir die persischen Kuppeln vorgestellt, die 50 Klafter hoch sind, 25 Klafter im Durchmesser? Sie sind mit Gold und Mosaiken verkleidet. Und denk an Ravenna! Da ist alles Mosaik. Bist du verärgert, weil unsere Abtei nicht mit Mosaiken, sondern mit Ziegeln gedeckt sein wird? Unsere Kunst kennt nicht edles oder unedles Material! Sie zieht von Gott geschaffenes Baumaterial heran, das den Plänen und Bauvorhaben jeweils zugeordnet und unterworfen wird. Oft gibt es den feinen Sandstein unseres Landes an Ort und Stelle im Überfluß. In manchen Gegenden findest du 50 Meilen im Umkreis nichts anderes. So war es auch bei der sarazenischen und persischen Kunst. Wirst du deshalb als Künstler weniger Begabung, weniger Inspirationen haben? Wirst du verzagen, weil du keinen Akropolis-Marmor verarbeiten kannst? Wirst du deshalb voller Gram einen Dachziegel nach dem anderen formen, weil du nicht Architrave, den Abakus für die Säulen, die Friese, Kranzgesimse, Säulentrommeln und –kanneluren

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aus rosafarbenem Marmor meißeln darfst, der eine so glatte und zarte Oberfläche abgibt wie die Haut eines Neugeborenen? Oder klagst du, weil du Gold nicht so zu Blattgold verarbeiten darfst, damit eine Kuppel zu decken?“ Bernhard hört mir aufmerksam zu. Er ist stark von Paul beeinflußt und liebt die edlen, feinen Steine; auch in Anpassung an Benedikt, der die Baustelle leitet und künstlerische Maßstäbe festlegt, hat er sich ein Kunstideal zurechtgelegt, das ohne Inspiration ist. Die Glut im Kamin hat sich verzehrt, erhellt den Raum nicht mehr. Bernhards Umriß hebt sich dunkel vor dem hellen Rahmen der offenen Tür ab. Draußen schimmern die Sterne, es weht ein leichter Nachtwind. „Du hast mir das Tor zu einer Welt geöffnet, die ich noch kaum kenne. Du hast von verschiedenen Materialien gesprochen, aber von dem Stein, der so fehlerhaft ist, daß man ihn nicht bearbeiten kann, hast du nichts gesagt. Schau, ich würde dich besser verstehen, wenn du mir sagtest: Wir bauen jetzt kräftige, dicke Mauern und suchen dann einen Verputz oder eine Verkleidung, die die Unvollkommenheit der Steine unserer Kirche verdeckt. Unsere Steine, das gebe ich zu, können nützen, und darin liegt vielleicht ihre Schönheit. Sie aber wie unseren Kalkstein im Norden behandeln, diese armseligen Blöcke in ein unmögliches Diktat zwingen zu wollen, das erscheint uns allen, insbesondere Paul und Benedikt, utopisch.“ Bernhard hängt lange der Lehre nach, die er bekommen hat, er fährt fort, sie zu kritisieren. Aber in dem, was er sagt, ahne ich schon einen Hoffnungsschimmer, denn je mehr er spricht, desto bitterer wird er. Da unterbreche ich ihn: „Bernhard, fach‘ das Feuer wieder an und mach‘ uns einen Kräutertee! Ich glaube, ich

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kann dich nicht überzeugen, das ist verlorene Zeit. Ich werde mich schließlich wohl gezwungen sehen, deinen, Pauls und Benedikts Willen zu brechen und mich entschieden gegen eure Skepsis zu stellen! Wenn ich einmal nicht mehr da bin, werdet ihr mich darum um so mehr lieben. Denn ich verteidige mehr als nur das Material, ich verteidige meinen Glauben an diese Blöcke. Denn ohne Glauben gibt es keine Schönheit. Ich gebe zu, daß es die Vorliebe für das ein oder andere Material ist, wenn der Meister die freie Wahl unter Formen, Material und Technik hat. Aber jede Ausschließlichkeit, jedes mechanische Wiederholen ist für den Architekten Zeichen seiner Schwäche. Bräuche sind Verfall und Mittelmaß. Häufig stellt ein Künstler, der ihnen folgte, noch zu Lebzeiten die Wortlosigkeit seines Werks fest. Statt sich von ihnen zu befreien, macht er sich ihnen untertan. Von den nicht mehr zeitgemäßen Bräuchen enttäuscht, glaubt er nun an die gerade gängigen. Man müßte ihm zurufen: Freund, dreh dich niemals um, leb‘ nach dem Vorbild des Esels, der seine Karotte vor sich hat. Bräuche dienen nur denen, die sie unter die Leute bringen! Mit wirklichem Genie werden sie zur echten Kunst, ohne Talent aber schaffen die Künstler mit ihnen eine angenehme Farce, die nur dem nützt, der davon profitiert. Immer frei und unvoreingenommen zu bleiben, muß der Baumeister alle Techniken studieren. Holz erlaubt ihm große freitragende Flächen, Gesimse und Vorsprünge. Stein dagegen zwingt ihn zu strengster Statik. Ziegel lassen ihn mehr nach gewölbten, runden Formen streben, eine Folge ihrer Leichtigkeit. Solche Anpassungen sind keine Gefahr für den Künstler. Wenn er immer nach dem von ihm bevorzugten Charakter sucht, so werden unter den verschiedensten Ausdrucksformen alle Menschen seine Werke wiedererkennen. Wie eine tiefe Weisheit wird seine Seelenkraft

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ihm Hand und Auge führen. Feines Gefühl hängt eben nicht vom technischen Können ab, es ist immer gleich. Ob ein Maler nun drei, fünfzehn oder hundert Farben benutzt, sein Ausdruck wird sich nicht ändern. Dem Bildhauer wird sein Werk immer derselben Familie entstammen, ob er es in Holz oder Marmor ausführt. Dem Maler ist ein Schwarz-Weiß-Bild gleich dem Bildhauer der Stein. Fügt der Architekt dem Holz Email und Bronze hinzu, so bereichert er die Palette, ohne damit schon die Feinheit der Empfindungen zu erhöhen. Um auf unsere Lage zurückzukommen: Sag dir einmal, was ein naiver Betrachter sagen könnte: Diese gräßlichen und traurigen Ziegel, diese trostlosen Mauern in grauem, derbem Stein, all diese armseligen Konstruktionen aus Holz: Was für ein Pech für den Architekten, der sich der göttlichen Materialien nicht bedienen konnte! Seit unserer Ankunft hier sorgen wir uns nur um die Beschaffung des Baumaterials, um es im Verhältnis zum Fortschritt des Baus ausreichend zur Verfügung zu haben. In diesem einsamen Tal zögerte ich keinen Augenblick: Die erste Anstrengung gilt dem Stein, den Steinbrüchen und der Steinbearbeitung. Erinnerst du dich, was ich gesagt habe? Später haben wir uns dann mit dem Holz und den Ziegeln befaßt. Zu langwierig und teuer kam uns ein Boden aus Fliesen vor. Meine Wahl richtete sich nach der örtlichen Tradition und der Sparsamkeit. Und sie erwies sich als möglich, trotz der weiten Entfernung der Lehmgrube, trotz des Brennofens, den wir erst bauen mußten, um die Ziegel- und Keramikherstellung in Gang zu bringen. Mit Holz müssen wir aufgrund der Seltenheit alter Stämme sehr sparsam umgehen. So habe ich die Grenzen des Möglichen und Schönen für die künftige Architektur abgesteckt, ohne meine tiefsten Bestrebungen und

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mein Gefühl außer acht zu lassen! Nachdem wir alles, was die Materialien betrifft, genau durchdacht hatten, wußten wir, wie die Spielregeln in Zukunft aussehen werden. Ich habe nie gesagt, ich will, ohne die Dinge geprüft zu haben. Ich habe alles erwogen, die Schwierigkeiten abgeschätzt und dann gesagt: `So können wir es versuchen.“‘ Ich beende meine Rede. Draußen ist es völlig dunkel und still. Die Nacht erwartet mit der Dämmerung das Aufleben des Windes. Die Bäume ruhen sich vom Geschütteltwerden durch die Böen des Mistral aus. Bernhard hat das Feuer neu angefacht und einen Pfefferminztee vorbereitet. „Also“, sagt er, „willst du mir ehrlich auf folgende Frage antworten: Wenn wir jetzt eine Meile von hier entfernt einen guten Steinbruch mit schönem Gestein fänden, das leicht zu brechen und zu bearbeiten wäre, was würdest du dann tun?“ „Wir würden sofort mit der Gewinnung beginnen, würden drei Maultiere kaufen und ohne jedes Bedauern unsere alten Steinbrüche aufgeben.“ „Hab ich also recht?“ „Nein, denn das Leben ist stärker als die Liebe, und das Leben bedeutet: schneller bauen, nach den wirksamsten Mitteln suchen ... „ „ ... und schöner, besser bauen.“ „Das habe ich weder gesagt noch gedacht.“ „Du liebst also diesen Stein?“ „Ja, und ich glaube, er erwidert diese Liebe. Seit dem ersten Tag habe ich Ehrfurcht vor diesem Stein. Ich hätte dir nichts darüber sagen können, bevor ich dieses Gefühl hatte. Jetzt ist der Stein zu einem Teil meiner selbst geworden, er ist unser Werk, unsere Abtei. Im Traum liebkose ich ihn, die Sonne breitet sich auf ihm aus,

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weckt ihn morgens zu neuen Farben, der Regen läßt ihn in dunkleren Tönen schimmern, ... und ich liebe ihn um seiner Fehler und Schwierigkeiten um so mehr, um seiner wilden Abwehr gegenüber unserem Zugriff, um all der Tücken, mit denen er uns begegnet. Für mich ist er fast wie ein Wolf, edel, mutig, mit abgemagerten Flanken, von Narben, Bissen, Wunden und Schlägen gezeichnet. So ist unser Stein in den Mauerreihen, auch in den Gewölben gezähmt: wie ein Wolf. Wenn ich unsere Abtei in Harmonie und Maß zwinge, wird sie doch etwas von seiner unabhängigen Wolfs-Seele behalten. Sie wird zwar bekehrt sein zu Ordnung und Regel, dennoch wird die Schönheit eines wilden Tieres mit gesträubtem Fell immer ihr Merkmal bleiben. Deshalb, verstehst du, will ich sie so bauen, daß sie nicht mit Kalk verkleistert wird, Freiheit will ich ihr lassen, sonst kann sie nicht leben! Willst du denn diesem Stein gegenüber wirklich unberührt bleiben, wo ich nur hier bin, um dieses Gestein lieben zu lernen?“ „Großer Bruder, vielleicht werde ich manches von dem vergessen, was du mir heute abend gesagt hast, aber ich glaube, daß ich plötzlich verstanden habe, was du meinst. Warum hast du nicht mit dem begonnen, was du zuletzt gesagt hast? Ich werde dich immer verehren und lieben!“ „Bleib so, wie du bist!“ „Wirklich?“ „Ja, für mich.“ „Ich akzeptiere alles, um so zu werden wie du!“ „Kleiner Bruder, wart‘ es ab, bis alles gut endet. Unterwegs werden wir noch manche Überraschung erleben.“ Bevor wir uns trennen, trinken wir schweigend den Pfefferminztee.

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ST. SABINE, 3. SEPTEMBER Seite 142 Bernhard kam zu Besuch. lch erzählte ihm, wie die Dinge stehen. Er meinte: „Aber du hast doch noch nichts beschlossen?!“ Das stin1mt, ich zeichne wenig; kaum, daß ich an der Ecke meines Tisches einige winzige Skizzen mache, die ich sofort wieder auswische. Es ist mir lieber, daß die Gestalt in aufeinanderfolgenden Visionen in mir entsteht, die sich dann in den Tiefen meines Bewußtseins festsetzen. Bei dieser langsamen und mühseligen Arbeit muß ich sprechen, herumgehen, muß sie mit in den Schlaf und in die Träume nehmen und auch während des Tageslaufs ständig die Kraft des im Entstehen begriffenen Werkes spüren. Ist dann der richtige Augenblick gekommen, zeichne ich an meinem Tisch in einem Zug das Wesentliche dieser innerlich entstandenen Welt. Ich glaube, daß es den Musikern ebenso geht, denn um ein Werk niederzuschreiben, müssen sicherlich auch sie warten, bis die ganze Komposition in ihnen erklingt. Diese Erklärungen beunruhigten Bernhard. „Ich hätte nicht gedacht, daß ein Baumeister alles in sich bewahren und auf Zeichnungen verzichten kann, die technische Probleme, statische Fragen usw. vor Augen führen.“ Mit dieser Bemerkung zeigte Bernhard, daß er einem Denkfehler verfällt, wenn er die äußere plastische Gestalt des Bauwerks von der statischen Berechnung trennt. Alle Wege führen nach Rom. Jeder Weg zielt auf die Gestalt. Ich habe immer die Methode der orientalischen Meister bewundert. Sie scheint aus uralter Zeit zu stammen, räumt dem Traum einen gehörigen Raum ein, und viele byzantinische, arabische oder persische Baumeister haben sich an sie gehalten: „Im Morgengrauen kommt der Baumeister gedankenumflort auf den Bauplatz, versammelt die Arbeiter auf dem mit

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feinem Sand bestreuten, geebneten und vorbereiteten Platz, zeichnet mit dem goldenen Knauf seines Stabes die Tagesarbeit ein und kehrt danach mit den Gedanken und Formen für den nächsten Tag in sein kühles Haus zurück, die er dann beim folgenden Morgenrot aufzeichnen wird. Abends sitzt er am Marmorbrunnen seines Hauses, schaut den Wasserstrahlen zu und sinnt über die Baupläne nach, so zerbrechlich und zart wie sein eigenes Leben, aber auch so genau wie sein fester Blick, so poetisch wie sein sehnsuchtsvolles Land. Gibt es seine Laune ihm ein, so klatscht er in die Hände, es erscheint eine Sklavin mit runden Formen, die das Rund der Kuppeln, die märchenhaften Gewölbe und Hängezwickel in ihm entstehen lassen, in deren Stimme er das Echo in den Galerien aus ziselierten Säulchen, einen kleinen Wasserfall plätschern hört, in deren Augen er einen Garten mit Orangenbäumen, Jasmin und Datura bepflanzt sieht, und dann bereitet er für die nächste Morgenfrühe seine zauberhaften Visionen vor, die er wieder mit dem goldenen Knauf in den Sand zeichnen wird.“ Der Vornehmheit dieser Methode liegt auch eine tiefe Menschlichkeit zugrunde: Die Arbeiter sind eher Künstler am Bau als einfache und gewissenhaft Ausführende. Solche Baumeister erlauben es allen Mitarbeitern, am Entstehen des Werks teilzunehmen. Sie geben ihnen das Recht, mit zu erfinden, soweit es die großen Proportionen des Bauwerks nur zulassen. Wir legen auf die genaue Ausführung Wert, sie ersetzen sie durch rhythmischen Gesang und halten sie mit ihren Zeichnungen im Sand für kurze Zeit fest. Eine Ausgangsform gibt dem Gebäude seinen Charakter, danach genügt das Wort, die Absprache. So kann jeder teilhaben am Traum und sich an den Urgedanken herantasten. Ich erfinde das nicht! So entstand und entsteht im Orient Architektur. Du mußt nur

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einmal griechische Skulpturen an komplizierten Konstruktionen betrachten, um zu wissen, wie groß die Freiheiten orientalischer Kunsthandwerker am Bau sind! So lag ich auf meinem Bett und belehrte Bernhard. Jedesmal, wenn ich auf meine weiten Reisen zu sprechen kam, hörte er aufmerksamer, weniger kritisch zu. Er fragte mich: „Und wie wissen diese Meister im voraus, daß das so geplante Bauwerk nicht einstürzen wird?“ So haben wir die Einheit des Entwurfs miteinander betrachtet und damit über das Wesentlichste unserer Kunst gesprochen. Schon in seiner vorangegangenen Frage waren ihm die technischen von den künstlerischen Problemen getrennt. Seit wann hat man begonnen, Geist und Materie, Form und Baumaterial so zu trennen? Architekt und Baumeister folgen festgelegten, absoluten Funktionen. Formen, Räume, Gewichte, Widerlager, Schubkräfte, Türme, das Gleichgewicht, die Bewegung, Linien, Lasten und Überlastungen, Feuchtigkeit und Trockenheit, Wärme und Kälte, Töne und Licht, Schatten und Halbschatten, die Sinne, Erde, Wasser und Luft und schließlich alle Materialien sind im Geist des einen einfachen Menschen vereint, der baut. Ton und Sand, Stein und Holz, Eisen und Bronze, alles wird dieser Mensch nach ihren und seinen Eigenschaften in sich bewegen, sich mit all diesen Baustoffen identifizieren. Und dann wird er sie prüfen, wägen, mit Seele und Auge betrachten, als hielte er sie alle in der Hand. Das sind keine Bilder oder Vergleiche, keine poetischen Erwägungen, sondern unumstößliche Realitäten! Völlig prosaisch! Bin ich ein Holzbalken, der zwischen zwei Stützen liegt, zwanzig Fuß voneinander entfernt, dann überschlage ich das Widerlager meiner Beckengegend und stelle mir die Dicke des Querschnitts vor, der dem auferlegten Druck, den ich aushalten kann, entgegenwirken

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kann. Und zugleich denke ich an mein äußeres Erscheinungsbild, an meine Zugrichtung und Farbe, und entscheide so über meine Stofflichkeit: aus Eiche oder Kiefer. Die ganze Vision wird von Ausdauer und Vertiefung meiner plastischen Vorstellungen getragen. Das ein fache Beispiel des Balkens ist übertragbar, denn er ist ein Bild für die Strebebögen, für die massiven Strebepfeiler, für alle Gewölbe. Ich kann und muß mich in einen Gewölbestein verwandeln, mich als Schlußstein eines Gewölbes fühlen, als Widerlagerstein oder als einer, der ihn trägt, muß in meinem Fleisch den Stein spüren. Und die Form wird bestätigt durch die sinnvolle Wahl des Materials. Wie soll man das Geheimnis erklären, daß der Mensch dies alles unter seinem eigenen Dach, in seinem eigenen Leib vereint? Warum spricht man von Berechnungen, die nichts bedeuten, nichts Schöpferisches bewirken? Technische Probleme sind immer Probleme der Form. Vollendete Formen muß man nicht berechnen. Vielleicht, um sie nachträglich zu bestätigen, „ja“ zu ihnen zu sagen. Lautete aber die Antwort „nein“, was müßte man dann tun? Müßte man von neuem beginnen? Der erste Baumeister konnte, da bin ich sicher, nicht einmal zählen. Aber er hatte ein Ziel, eine Absicht: Er wollte sich schützen! Und diese Absicht ist zu etwas Schönem geworden, denn er hatte ja Himmel und Natur vor sich, Licht und Farben, Berge und ihre Formen, Steine und Bäume. Und als das erste Gebäude einstürzte, da gab es den ersten Mißerfolg, die erste Beunruhigung, die erste Berechnung. Ginge man jedoch von der Berechnung aus, so hieße das, den Mißerfolg als Schöpfungsakt anerkennen. Ist das richtig? Ich glaube also, daß der Dualismus, der Pluralismus in einem Werk mehr ist als eine Schwäche, er ist ein Laster! Und das heißt doch, daß Schönheit nicht ohne Gleichgewicht bestehen kann,

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Technik nicht ohne Schönheit und schließlich kein Gleichgewicht ohne Schönheit. Ich hatte nur eine Befürchtung heute abend: daß Bernhard mich nicht versteht. „Zur Not kann ich einen zweifachen Gott zulassen, eher noch als einen vielfältigen, aber ich halte nichts davon, weil ich ihn einfach, einig, einzig finde. Denn als guter Katholik muß ich sagen, daß die letzte Einheit wirklich Gott ist. In ihm sind nicht mehr diese oder jene Dinge, denn er ist der, der ohne alle Dinge besteht, die da sind.“ (Bernhard von Clairvaux)

ST. PULCHERIE, 10. SEPTEMBER Seite 156

„Du möchtest gerne sehen: Höre! Das Hören ist eine Stufe der Vision.“ Bernhard von Clairvaux

Wir beugen uns über die Pläne und prüfen die einzelnen Zeichnungen anhand des Gesamtplans, der alle Außenmaße enthält. Das Auge gleitet darüber hin und läßt die Form des Ganzen wahrnehmen, als streifte es an uns vorbei, gerönne für einen Moment aus dem Nichts. Denn alles, was nicht einer Vision entstammt, verschwindet wieder und hinterläßt im Gedächtnis nur einen Eindruck, der allmählich verblaßt und erlischt. Wir stellen fest, daß die Dynamik der Räume durch unsere Kopfbewegung entsteht, wenn wir durch sie hindurchgehen. Es ist, wie eine Skulptur auf dem Drehbock des Bildhauers zu betrachten. An ihr erleben wir während der Bewegung die plastischen Formen von außen, die Räume dagegen erleben wir durch die

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Bewegung unseres Leibes von innen. Durchschreiten wir sie also wie ein aufmerksamer Spaziergänger, wählen wir einen Ort, halten wir an! Während das Auge darauf ruht, verschieben sich die Formen und ziehen an uns vorbei, kommen und gehen, je nachdem, wie wir unseren Kopf wenden. Drei Viertel der sphärischen Flächen können wir so einsehen. Und gehen wir ein Stück weiter, dann verschwinden die Räume, die wir schon durchschritten haben. Das Auge fixiert die Tür zu unserem Kapitelsaal, sie kommt uns mit ihrer Mauer entgegen, wird größer, nimmt unseren ganzen Blickwinkel ein. Dann liegt der Türbogen über unserer Schulter und überspannt uns. So schnell wir auch durchgehen, das Staunen bleibt, denn vorher, nachher und währenddessen ist es kaum möglich, den Wechsel der Aspekte vollständig zu erfassen. Wir werden beim überschreiten der Schwelle neugierig, unser Blick gewöhnt sich an das Halbdunkel, zögert beim Eintritt in diesen umgrenzten Raum, der von den niedrigen Gewölben gedeckt ist; unser Schauen vertieft sich. Das Auge bemerkt ohne Schwierigkeit, daß es das Zentrum der Sphäre ist. Wenden wir den Kopf nun auch nur halb und vorsichtig, so können wir den Raum dennoch ganz durchdringen, denn alles ist nah, nichts muß neu entdeckt werden. Wir können den ganzen Raum empfinden, ohne uns von der Stelle zu bewegen. Die inneren Räume halten das Leben und seine Bewegungen an und rufen mit ihrer Vision auch den Gedanken in uns auf, in uns selbst den Weg zu suchen. Dann wird der Weg, solche Beobachtungen auszubilden, nicht enden. Oder sollte man davon sprechen, dieses Wandern mit den Augen in unserem Plan sei eine Art, sich Vorstellungen zu bilden? Denn die Zeichnungen, abstrakte Figuren, sind nur zweidimensional! Leichter wäre es, das Auge still zu halten und ihm eine unendliche Menge an Zeichnungen

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vorzuführen, die alle dreidimensional sein müßten. Und man müßte sie um den Fluchtpunkt drehen und wenden. Oder gar einen Plan erfinden, der über den gezeichneten hinaus mit festen Fäden oder Drähten auch die Vertikale wiedergäbe. Dann würden sich an jedem Faden all die Kanten und Kurven der Raumverhältnisse dreidimensional sichtbar machen lassen. Dieses Formgerüst müßte für das Auge wirken wie der Käfig für den Vogel! Beim Nachdenken bemerke ich, daß diese Lösung des Problems nur eine zusätzliche Möglichkeit wäre, das System zu beschreiben. Die größte Kraft aber liegt doch in der Vorstellung und ich frage mich, ob ihre äußerlich sichtbare Darstellung überhaupt von Vorteil ist. Die Räume sind zugleich erfüllt und leer, manchmal wie die Begrenzungen eines Wegrandes, manchmal abgeschlossen, oft auch zum Himmel offen. Im Kreuzgang beispielsweise werden Licht und Luft von Steinen gefaßt, von Bögen, Säulen und Mauern umschlossen. Beide Empfindungen bestehen nebeneinander, sind bewegt und dreidimensional. Die Form besteht aus Stein, sie umschließt Licht und Luft. Eines kann ohne das andere nicht bestehen, und wir sollten sie immer zugleich im Bewußtsein haben. Während wir im Kreuzgarten umhergehen, werden wir die Atmosphäre wie einen flüssigen Kristall aufnehmen und fühlen, wie sie die Galerien, die Gewölbe bis zum Scheitelpunkt füllt und sich übers Dach hinauf im Himmel verliert. Dann trennen sich beide Räume wieder voneinander, der eine undurchdringlich, der andere flüssig, durchlässig. Solange sie von einer Haut zusammengehalten sind, machen sie gemeinsame Bewegungen. Die optische Vorstellung von der endgültigen Form ist schicksalhaft für alle Bauwerke. Ihre alles durchdringende Schärfe würde

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es einem Baumeister, dem reinen Ästheten, immer erlauben, das Abenteuer des Baus zu wagen. Die in seiner Vorstellung erbaute Architektur würde er für sich behalten. So ist es aber nie, denn jeder Baumeister erlebt während der Bauzeit seinen Teil Überraschung. Das ist ganz normal. Kein Künstler macht nur, was er will: Der Pinsel hilft oder schadet dem Maler, wenn er von unvorhergesehenen Effekten oder dem Zittern seiner Hand überrascht wird, allzu trockenen Pinselhaaren oder allzu flüssiger Farbe ausgeliefert ist. Wir müssen schon gestehen, daß der Bau immer irgendwelche Überraschungen bereithält, gute oder schlechte. Die Architektur behält immer einen Teil ihrer Geheimnisse zurück und offenbart sie nur bruchstückweise, wenn alle Räume an ihre richtigen Stellen gerückt sind. Das entstehende Bauwerk ist wie ein Gesprächspartner, enttäuschend oder voller Versprechen. Wir suchen Argumente, hören Antworten, ohne daß wir zuvor von ihrem Ausgang wüßten. All diese Gemütsbewegungen können wir nicht vorhersehen oder wissen. Und das ist gut so. Eine Bauzeit ohne Ängste wäre wie ein Leben ohne Leiden. Nach dem Kreuzgang, den Räumen, den Säulen prüfen wir die Pläne für die Kirche. Im Kreuzgang waren die Maße der Arkaden wichtige Elemente unserer geistigen Konzeption, ihr Relief in der Mauer, hier aber sind wir vor allem um den Raum bemüht, der die Masse höhlt. Stellen wir uns vor, unterhalb eines Bergmassivs zu stehen, so fassen wir den leeren Raum tiefer und ehrfürchtiger auf. Licht wird nur von oben in das Schiff einfallen. Vor der Welt durch dicke Mauern geschützt, werden wir nur noch mit dem Himmel verkehren. Wird es unten nur Mauerspalten und niedrige Türen geben, oben werden durch die halbrund geschlossenen Fensteröffnungen unsere Gesänge wie Taubenschwärme

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zum Himmel aufsteigen: Öffnungen des Geistes.

ST. RAPHAEL, 12. SEPTEMBER Seite 161 Die Planung schreitet fort, die Räume fügen sich zusammen, trennen sich erneut, werden neu arrangiert. Das Ganze löst sich auf, um dann, wenn die Probleme gelöst sind, reiner und einfacher wieder versammelt zu werden. Ich verlasse meine Hütte nicht mehr, kann mich auch nur noch schwer fortbewegen. So beende ich meine Rekonvaleszenz am Tisch. Bernhard bleibt immer in meiner Nähe und bemerkt neugierig alles, was ich sage und zeichne. Manche Zeichnungen führt er zu Ende, er ist im Augenblick geschickter im Zeichnen als ich. Es ist alles gar nicht so einfach. Unsere fieberhafte Unruhe nimmt zu. Äußerlich wird der Thoronet eine Abtei wie alle anderen sein. Aber in dem Maße, wie ich Pfeiler und Mauern auf das feine elfenbeinfarbene Papier zeichne, werden mir die besonderen Schwierigkeiten bewußt. Exakt und genau fließt die Tusche in meinen Strichen, umschreibt und umschließt die Räume, die Steine, bezeichnet die Kanten: die Säle, die Stützpunkte, Luftdurchlässe und -öffnungen und die Durchgänge für die Mönche. Manchmal lasse ich die Vernunft walten, manchmal das Gefühl. Anderswo wieder begegnen sich Geometrie und die Symbolik der Formen, treten oft zu einer Synthese zusammen. Alles ist bedeutungsvoll jetzt, geht mir dennoch leicht von der Hand. Ich fühle


mich sicher, fast zu sicher. Oft stelle ich fest, daß eine zusätzliche Untersuchung zur besten Lösung führt. Die Augenblicke, in denen der Baumeister sich von seinen Kenntnissen beflügeln läßt und auf eine komplizierte Form versteift, sind ihm und der heiteren Einfachheit seines Bauwerks die gefährlichsten. Er ist glücklich, wenn neben ihm ein zweites Wesen die Gefahr kennt, ihn gewähren läßt und wartet, aber im rechten Moment doch warnt. Daraus kann die wahre Form erwachsen. Sie kommt wie mit einem Klicken. Es passiert auch, daß im Lauf der Planung ein Teil besser als ein anderer gelungen erscheint, und darin liegt eine Mahnung. Denn das heißt, alles muß noch einmal aufgenommen und zur restlosen Einheit und Harmonie geführt werden. In einer Abtei darf es kein „besser oder schlechter“ geben. Unsere Taten als Mönche geschehen alle vor den Augen des Herrn. Selbst in der Bewußtlosigkeit des Schlafes bestimmen sie Maß und Harmonie. Fordert der Entwurf der Apsis die allergrößte Aufmerksamkeit, weil sich dort die wahrhafte Gegenwart von Fleisch und Blut vollzieht, so bedeutet das, daß unsere Abtei an jeder Stelle Ort des Gebetes, der Versenkung und der Einheit von Tat und Wille ist. Es ist erregend, zusammen mit anderen Mönchen eine Abtei zu planen. Für mich sind die Augenblicke, in denen ich das Leben meiner Brüder wirklich begreife, die einzigen, meinen tiefen Glauben auszudrücken. Ich sehe, wie sie niederknien, wie sie zur Kirche gehen, im Kreuzgang wandeln, wie sie ihre Waschungen am Brunnen vollziehen, vor dem Feuer der Wärmestube träumen, alles in einem langsamen, genauen, maßvollen Rhythmus. Ich sehe sie wirklich vorbeiziehen, folge ihnen mit meinem Blick. Sie sind keine Phantome, ich höre sie atmen, murmeln, gehen, rieche ihre Ausdünstungen. Mit zurückgeschlagenen Kapuzen, leicht

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gebeugten Köpfen und den Händen in den Ärmeln ziehen sie vorbei. Ich mache mich unsichtbar, trete zurück, mit dem Rücken zur Wand, um ihnen Platz zu machen. Sie kommen, unterwerfen sich unauffällig ihren Übungen. Unsere Regel verlangt dieses Leben ohne überflüssige Bewegungen: Sie dürfen ihre Zeit nicht vertun, sie aber auch nicht einholen wollen. Und die Architektur folgt diesen Bewegungen. Jeder Tag, jede Nacht ist wie ein Faden, der ohne Unterbrechung langsam abrollt, mit kleinen regelmäßigen Geräuschen. Die Gottesdienste ordnen den Tag von einer Morgendämmerung zur nächsten, die christlichen Feste das Jahr von einem Weihnachtsfest zum nächsten. Dafür ist unsere Architektur die Bühne. Dem weißen Faden müssen wir folgen, sein Abrollen muß zisterziensischen Geist atmen. Ohne diese Einheit bauen zu wollen, hieße, unseren Daseinsgrund zu leugnen. Und es gibt nichts Unvorhergesehenes, selbst der Tod des Mönchs gehört dazu; wir denken jeden Tag an ihn, für uns und unsere Brüder. Stirbt ein Mönch, so erinnern uns die Schläge auf das Gesims des Kreuzgangs daran, wie auch für uns das Leben im Dienst Gottes enden wird. Es kann uns nichts mehr erschüttern. Der Tod eines unserer Brüder ist nie das Ende eines Kapitels in unseren Büchern, morgen wird ein neues beginnen. Der Platz im Schlafsaal, im Refektorium, im Gestühl der Kirche wird von einem anderen Mönch eingenommen. Denn ein paar Tage später klopft ein Mensch an unsere Klosterpforte: „Was wünschst Du?“ fragt der Bruder Pförtner ... Wieder habe ich dieses Klosterleben in meine Vorstellungen aufgenommen, wie schon hunderte Male, denn ich selbst habe nie so gelebt. Wenn diese Gedanken mein Bauwerk hervorgebracht und beseelt haben, mein Leben stand dazu immer im Gegensatz mit seinen Ängsten, materiellen Sorgen, Gewissensbissen, seinem

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Zorn und all den Versuchungen. Wie kann es auch anders sein? Die Gebäude für ein gelassenes, heiteres Leben zu bauen, verlangt gewiß das Gegenteil zu dieser Daseinsform, eine Art Gegenpol. Leiden erzeugt Freude, Unausgeglichenheit strebt nach Ausgleich. Die menschliche Schöpfung ist unseren Heiligen eitel, aber das Werk verspricht auch Erlösung denjenigen, die es einrichten. Ein glücklicher Mensch ist der Gemeinschaft ein Ärgernis; man sagt, alle Gaukler und Jongleure sind melancholische Menschen. Ich glaube das. Nicht in Harmonie und Glück bauen wir die Abtei, sondern in Zweifeln, in Kämpfen mit Unfällen und Schicksalsschlagen.

ST. LUKAS, 18. OKTOBER Seite 216

„Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anbeginn und das Ende.“ Apokalypse des Johannes

In diesem Kreuzgang soll Christus wohnen. Der Plan steht in seinem Umriß. Der Ursprung ist die Quelle. Der Widerhall des plätschernden Brunnens wird auch in der Komposition vernehmlich sein. Das Sechseck, der Aufbau, Achsen und Diagonalen, Gewölbe und Bögen sind Urgrund und Ziel des Ganzen. Der Kreuzgang ist Anfang und Ende, von dem alles ausgeht, auf den alles zuläuft Der Brunnenraum ist angefügt, ist etwas Zusätzliches. Die Freiheit seiner Gestalt und seiner Abmessungen soll sich aber überall auswirken. Alpha und Omega sind das große Thema. Und ich will, daß der Entwurf, der Plan, der mich so umgetrieben hat, rein und geisterfüllt zur Geltung kommt.

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Dieses Sechseck inmitten der unregelmäßigen Winkel des Kreuzgangs ist der Ausgangspunkt einer großen Einheit. Ich wünsche mir inständig, daß über die Jahrhunderte hin dieser Kreuzgang ein Symbol Gottes und Christi ist. Es ist sicher, daß eines Tages die Taube ... „Bernhard, erinnere dich und ändere nichts in der Ausführung. Sei streng und genau bis zum äußersten. Wenn je unsere Pläne vernichtet oder unsere Hütte geplündert werden sollte, präge dir dies für alle Zeiten ein: Der Kreuzgang ist aus zwei rechten und aus zwei ungleichen, sich ergänzenden Winkeln komponiert. Seine Diagonalen sind zwei Seiten des Brunnenhauses parallel. Die Achse des Südfensters im Brunnenhaus, die sich mit den anderen Diagonalen im Brunnenzentrum kreuzt, ist erstens parallel zur westlichen Galerie und mündet zweitens in die Achse der dritten Arkade in der Südgalerie, wenn man sie von Osten nach Westen betrachtet. Die beiden Geraden, die durch das Brunnenhaus süd-östlich und südwestlich verlaufen, münden in die Mitte der vierten Arkade der Ostgalerie oder der Westgalerie und treffen sich genau im Norden. Die Lage der vier Arkaden der Nordgalerie, von beiden Seiten des Brunnenhauses aus gesehen, ist durch die Symmetrie der Umrisse festgelegt. Vergiß aber vor allem nicht, Bernhard: Der Kreuzgang muß als letzter und zugleich wesentlichster Teil gebaut werden. Solltest du das Gefühl haben, daß dein Tod naht, dann übergib diese wichtigste Aufgabe, die ich dir hinterlasse, unangetastet einem


anderen! Die anderen Pläne kennst du, und ich bin sicher, du könntest sie auch aus dem Gedächtnis rekonstruieren, insbesondere alles, was die Kirche angeht.Jeder Blick, der auf den immer sprudelnden Brunnen gerichtet ist, wird uns der Allgegenwart Gottes und Jesu Christi vergewissern. Diese schimmernde, funkelnde Grotte mit ihren sechzehn stets rauschenden Wasserstrahlen ist, im Gegensatz zum dunklen Halbschatten der anderen Räume, eine vom überhellen Licht durchflutete Halle. Denn das Geheimnis des Lichts steht über dem Geheimnis des Wassers. Die Rundbögen, die Öffnung zum Kreuzgang und die symbolkräftigen Okuli lassen in unendlicher Vielfalt das starke Licht ins Dunkel fallen. Die gewichtige Hell-Dunkelfigur gegen den Schatten der Säulen, schweren Pfeiler und des Gewölbes, die sich immer wieder auf dem Boden abzeichnet, wird ein Abbild des Leidensweges Christi sein.

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NOTIZEN Fernand Pouillon, Singende Steine (aus dem Französischen von Gudrun Trieb), Titel der französischen Originalausgabe: ›Les pierres sauvages‹, 1964 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München. 1999, 5. Auflage 2010, ISBN 978-3-423-12685-4


„Lest nicht w Kinder, zum Vergnßg noch wie die Streber, um zu lernen, nein, lest, um zu leben. Gustave Flau


IMPRESSUM

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Prof. Myriam Gautschi Wahlfach „Lese!buch“ gautschi@htwg-konstanz.de Prof. Myriam Gautschi, Alyssa Rau


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