Ich Bin Meine Familie

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Selbstportrait als Marcos José Goldchain Liberman, geboren in Bolimów, Polen 1902, gestorben in Santiago, Chile, 1959.

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Der chilenisch-kanadisch-jüdische Fotograf Rafael Goldchain über sein Familienalbum-Projekt „I Am My Family“, für das er in die Rollen tatsächlicher und fiktiver Vorfahren geschlüpft ist. Von Peter Schuffelen

Die Ausgangslage Ich bin 66 Jahre alt und kann schon jetzt auf ein recht bewegtes Leben zurückblicken – und für meine Vorfahren, die aus Europa, vornehmlich aus Polen, kamen, gilt das noch sehr viel mehr. Ich selbst bin in Santiago de Chile aufgewachsen, 1971 für fünf Jahre nach Jerusalem gezogen und von da aus nach Toronto, aus persönlichen Gründen wie aus kreativen (das Ambiente in Nordamerika erschien mir inspirierender als das in Israel). Als Sohn jüdischer Eltern teile ich das Schicksal vieler Juden: Ein großer Teil meiner polnisch-jüdischen Vorfahren wurde während der Schoah umgebracht – all jene, die in den 1930er-Jahren in Europa geblieben waren. Mit ihrer Vernichtung durch die Deutschen verschwanden auch die Bilder, die Fotos, die Familienalben. Ein anderer Teil meiner Familie wanderte nach Argentinien, Brasilien, Israel, Mexiko, die USA und eben nach Chile aus. Aber auch die Bilder jener Familienmitglieder, die dem Holocaust entkommen sind, gingen in den Wirren des Kriegs und der Auswanderung größtenteils verloren. Als mein Sohn geboren wurde – ich hatte mich bereits erfolgreich als Fotokünstler etablieren können –, dachte ich erstmals intensiver über die Bedeutung von Familienbildern nach: ihren Stellenwert für die Selbstdefinition, für das Weitergeben des eigenen Selbstverständnisses, die Suche nach der eigenen Identität. Mein Sohn wuchs heran, und er wollte mehr über seine Geschichte wissen, seine Familie. Er fragte mich Dinge, auf die ich keine Antworten hatte. So kam mir die Idee, Bilder von meinen Vorfahren zu erschaffen: solche, deren Lebensumstände ich rekonstruieren konnte, aber auch von jenen, deren Vita im Vagen blieb, sowie von imaginären.

Das Konzept Ich betrieb genealogische Studien, versuchte, das Leben direkter Verwandter nachzuzeichnen. Ich brachte in Erfahrung, wer in den verschiedenen Teilen der Welt den ziemlich seltenen Nachnamen Goldchain

Oben: Selbstportrait als Naftuli Goldszajn, geboren in Krasnik, Polen, Anfang 19. Jh., gestorben in Krasnik, Polen, Ende 19. Jh. | Unten: Selbstportrait als Pola Baumfeld, geboren in Ostrowiec, Polen 1910, gestorben in Polen, Anfang der 1940er-Jahre.

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trug, also möglicherweise mit mir verwandt war. Bei den Rekonstruktionen ließ ich dort, wo es nicht anders möglich war, meiner Fantasie freien Lauf. Als konzeptuelle Basis für dieses Fotoprojekt erstellte ich eine Art Stammbaum mit verschiedenen Protagonisten. Was die ästhetische Umsetzung betrifft, so habe ich mich auch am typischen Portraitstil der jeweiligen Zeit orientiert und dabei auch auf Vorbilder anonymer Fotografen aus dieser Zeit zurückgegriffen. Man kann sagen: Ich habe dabei von ihnen gelernt.

Die Umsetzung 1998 bin ich dann zusammen mit einem Make-up- und einem Hair-Stylisten ins Studio gegangen und habe mich das erste Mal in einen meiner Ahnen verwandelt. Es war eine künstlerische, eine konzeptuelle Entscheidung, im Studio zu arbeiten. Zuvor hatte ich nur „on location“ gearbeitet. Jetzt also Studiofotografie – und dann gleich ein persönliches Thema. Eins das aus meiner Geschichte erwuchs. Die Bilder habe ich im Format 4 x 5 Inch auf Farbnegativfilm geschossen und jene dann mit einem Heidelberg-Trommelscanner digitalisiert und ins Schwarzweiße konvertiert. Die meiste Verwandlungsarbeit ist tatsächlich über Requisiten, Make-up und Styling passiert. In der Postproduktion habe ich mich vor allem auf die Beautyretusche konzentriert und wann immer nötig meine Gesichtsform angepasst – etwa bei einer fiktiven Vorfahrin, die zwischen 1860 und 1930 in Polen lebte und offensichtlich Hunger gelitten hat, wie sich an ihrem ausgemergelten Gesicht ablesen lässt.

Das Fazit

Oben: Selbstportrait als Pesia Krongold, geboren in Polen, 1860er-Jahre, gestorben in Polen, 1930er-Jahre. | Unten: Selbstportrait als Rachelle Goldszajn (Braut), geboren in Warschau, Polen, Anfang 20. Jh., gestorben in Polen, Anfang der 1940er-Jahre.

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Alte Familienbilder haben mich schon immer fasziniert, weil sie Fragen in meinem Kopf aufwerfen: Wer waren diese Menschen? Wie waren sie miteinander verwandt? Wie war ihr Leben? In „I Am My Family“ habe ich eine Antwort auf diese Fragen gesucht. Neun Jahre lang, zwischen 1998 bis 2007, habe ich nach und nach verschiedene Charaktere fotografisch nachgezeichnet bzw. erschaffen. Es gibt Köche, Militär-Angehörige, Musiker, Landwirte, Unternehmer und natürlich auch Ehefrauen. Viele von ihnen sehen bodenständig aus, andere halbseiden, sie tragen ärmliche oder gutbürgerliche Kleidung, schauen ernst oder melancholisch drein, grinsen in sich hinein oder in die Kamera. Und einer, ein Berufsfotograf, hält eine


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„I Am My Family“, Behind-the-Scene: Neun Jahre lang verwandelte sich Goldchain mithilfe von Make-up und Styling in unterschiedlichste Familienmitglieder. Für die Umsetzung betrieb er Ahnenforschung und orientierte sich anhand von Vergleichsstudien am typischen Portraitstil der jeweiligen Zeit.

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Links: Selbstportrait als Don Mauricio Goldchain Precelman, geboren in Buenos Aires, Argentinien, 1925, gestorben in Washington, D. C., Vereinigte Staaten, 2007. | Rechts: Selbstportrait als Don Isaac Goldszajn (Fotograf), geboren in Warschau, Polen, Ende der 1890er-Jahre, gestorben in Buenos Aires, Argentinien, 1960er-Jahre.

Leica in seinen Händen. Irgendwann, als ich 56 Portraits geschaffen hatte, sagte ich mir: jetzt reichts! 2008 wurden die Bilder in einem Buch unter dem Titel „I Am My Family: Photographic Memories and Fictions“

(Princeton Architectural Press) veröffentlicht, einige von ihnen auch in anderen Büchern. Außerdem waren sie in mehreren Ausstellungen zu sehen, darunter in der National Gallery of Canada, im Museum für

zeitgenössische kanadische Kunst in Toronto und im Gro­pius-Bau, Berlin. „I Am My Family“ war mein bislang größtes Projekt, und es hat mir unglaublich viel Freude bereitet.

RAFAEL GOLDCHAIN

Foto: Jean Hynes, 2008

wurde 1953 in Santiago, Chile, geboren, lebte eine Zeit lang in Jerusalem, Israel und Mittelamerika, bevor er nach Toronto zog. Er erwarb einen Master of Arts in Kunstgeschichte (University of Toronto, 2017), einen Master of Fine Arts in Bildender Kunst (York University, 2000) und einen Bachelor of Applied Arts in Photographic Studies (Ryerson University, 1980). Er hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Duke-and-Duchess-of-York-Preis für Fotografie des Canada Council for the Arts. Seine Fotografien wurden in Kanada, Chile, den USA, Kuba, Deutschland, Italien, der Tschechischen Republik und Mexiko und in zahlreichen privaten und öffentlichen Sammlungen ausgestellt, darunter in der Bibliothèque Nationale in Paris, im kanadischen Museum für zeitgenössische Fotografie in Ottawa, im Museum of Modern Art in New York und im Museum für bildende Künste in Houston. Goldchain ist Professor und Programmkoordinator des Bachelor of Applied Arts – Fotografie am Sheridan Institut für Technologie und fortgeschrittenes Lernen in Oakville, Ontario, Kanada. rafael-goldchain.squarespace.com

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Selbstportrait als Motl Yosef Goldszajn Liberman, geboren in Bolimรณw, Polen, 1902, gestorben in Santiago, Chile, 1959.

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