Integration einer semantischen Interpretation in das Klinik-Informations-System: plug-and-play-and-pay-and-pray? Oertle M
Der Wert strukturierter Information kann fast nicht überschätzt werden. Obwohl im schweizerischen Umfeld aus ärztlicher Sicht der Umgang mit freitextlich verfassten Problem- und Diagnosenlisten (aber auch anderen Dokumentationen) zu Recht weitest verbreitet ist, wird im Hinblick auf eine weiterführende oder inhärente Nutzung der vorhandenen Information auf strukturierte Daten nicht verzichtet werden können. Wo andere Länder ihre Diagnosen und Prozeduren ausschliesslich kodiert erfassen, herrscht bei uns also Prosa (wohlgemerkt mit deren gewichtigen Vorteilen!). Die Spital Simmental-ThunSaanenland STS AG setzt seit 2 Jahren auf allen Problem- und Diagnoselisten eine integrierte, primär KIS-fremde, Software zur semantischen Interpretation ein. Dies geschieht mit grundsätzlich dreierlei Interessen: erstens können strukturierte Informationen bezüglich des aktuell hospitalisierten Patientengutes gewonnen werden, zweitens wird die Basis für eine real-time verfügbare DRG-Berechnung und die Unterstützung des professionellen Kodierteams erstellt und drittens kann der Grundstein für den Aufbau von Entscheidungsunterstützungsprozessen (decision support) gelegt werden. Die Integration der semantischen Interpretation stellt Anforderungen an alle Beteiligten, vom Design bis zur alltäglichen Nutzung. Die vorliegende Arbeit zeigt anhand von über 11‘000 analysierten Diagnosen exemplarisch einige Probleme auf. Einleitung und Zielsetzung
Lösungsansatz
Plug-and-play-and-pay-and-pray ?
In der Spital STS AG wird seit mehreren Jahren eine interdisziplinäre, elektronische Patientenakte geführt, die alle relevanten Teilschritte des Patientenprozesses im ambulanten und stationären Umfeld zu unterstützen versucht. Gerade im ärztlichen Bereich ist dabei die FreitextDokumentation (mit Ausnahme v.a. des Order-Entry-Bereichs inklusive Medikation, Allergie-Checks, und dem Scoring) vorherrschend. Insbesondere die Problemliste, ein vom ersten Moment bis zum Austritt des Patienten überarbeitetes und aktualisiertes mehrteiliges Dokument, beinhaltet dabei nicht nur aktuellst mögliche, sondern auch die wohl relevanteste Information bezüglich Qualitätssicherung, Entscheidungsunterstützung und DRG-Kalkulation. Ziel des vorliegenden Projektes war, durch den Einsatz einer semantischen Interpretation (semfinder®, Semfinder AG) eine laufende (bei jeder Aktualisierung) Überführung von Diagnose-Text in ICD-10 Codes zu erreichen. Durch eine nahtlose Integration ins Klinikinformations-System (phoenix®, Parametrix Solutions) soll der User dabei möglichst wenig im normalen Dokumentations-Alltag gestört werden.
Um technische Probleme bei Nicht-Verfügbarkeit des semantischen Interpreters zu vermeiden (die Problemliste ist ein zentrales Element der PatientenAkte) , wird ein time-lag implementiert und die Software physisch ausgelagert, sie läuft ohne lokale Installationen. Um der Arbeitsweise der Ärzte entgegen zu kommen (auf dem Notfall wird oft im Sinne einer aide-mémoire lediglich ein Stichwort als Diagnose eingetragen) und unnötige Rückfragen bei bruchstückhaften Textpassagen zu vermeiden, wird in einem ersten Durchgang (erste Bearbeitung der Problemliste) kein Kodierversuch unternommen. Erst ab der 2. Bearbeitung der ersten Zeile eines Problempunktes wird entsprechend ein Kodierversuch unternommen, mit dem Nachteil, dass – sofern keine Änderungen mehr vorgenommen werden – u.U. (zu Gunsten der usability)nicht kodiert wird. Die semantische Interpretations-Software erlaubt sowohl das weitere Navigieren innerhalb der verfügbaren Daten als auch einen Abbruch des Prozesses.
Obwohl die reine Funktionalität des semantischen Interpreters bestechend ist, zeigt die Integration in die alltägliche Dokumentation einer Patientenakte einige Punkte , die gezielt gelöst oder beachtet werden müssen. Der richtige Zeitpunkt der semantischen Interpretation kann gerade im Falle von Notfall-Stationen zu einem echten Hindernis werden, da hier oft provisorische Einträge in die Problemliste gemacht werden. Das System selbst kann aber ohne Beihilfe nicht zwischen provisorischen und definitiven Einträgen unterscheiden. Auf der anderen Seite hat der initial gewählte Ansatz (Interpretation erst ab der ersten Änderung der Problemliste) zu einer erheblichen NichtKodierungs-Rate geführt (von den 20% NichtKodierungen könnten anhand einer folgenden Analyse viele direkt kodiert werden!), dies zu Gunsten eines möglichst User-freundlichen Ansatzes für die NotfallStation. Weitere Probleme bieten sich durch die erhöhte Vulnerabilität des zentralen Arbeitsinstrumentes Problemliste: Zugriffs-Probleme, Verzögerungen oder Fehler aufgrund von z.B. nicht verfügbarem Service dürfen auf keinen Fall auftreten und stellen nochmals erhöhte Anforderungen an die Systemlandschaft.
Abbildung 1 Zwischen Juni 2008 und Juni 2009 wurden insgesamt 11‘654 Problemlisten-Einträge der in diesem Zeitraum auf der Medizinischen Kliniik hospitalisierten Patienten analysiert. 39% aller aktiven Probleme konnten direkt im Hintergrund durch den semantischen Interpreter kodiert werden. Bei 41% wurden Zusatz-Rückfragen (1-4) nötig, um einen korrekten ICD-10 Code eruieren zu können. Bei den in diesem Zeitraum nicht kodierten 20% (v.a. aufgrund der gewählten Implementierungs-Art mit nicht erfolgter Interpretation beim ersten SpeicherVorgang oder durch einen Abbruch des Kodiervorgangs durch den User) zeigt eine Stichprobe von 100 Patienten, dass mehr als 2/3 dieser unkodierten Fälle mit einem anderen Implementierungs-Approach – wenn auch vielleicht mit nicht optimaler Genauigkeit – dennoch kodiert werden könnten, was dann einer Gesamt-Kodierung von 94% entsprechen würde.
Abbildung 2 Die Analyse der insgesamt 4785 indirekt kodierten Problemlisten-Punkte bestätigt die initiale Vermutung, dass die meisten Problemlisten mehrfach überarbeitet werden. Die Verteilung in dieser Abbildung betrifft ausschliesslich die erste Zeile des Problem-/Diagnosepunktes und damit der Hauptaussage. 52% dieser Problempunkte wurden zweimal verändert,weitere 18% bzw 15% je zwei- oder einmal. Da in der vorliegenen Implementierungs-Art der erste Speichervorgang nicht berücksichtigt wurde, kann definiert werden, dass 85% der Problempunkte dieses samples bis zu dreimal verändert werden, bevor keine weiteren Anpassungen erfolgen. Nur wenige Problempunkte werden in relevanter Weise mehr als 4 mal verändert.
Integrationskonzept
Resultate
Einblick und Ausblick
Die Problemliste ist das Arbeitsinstrument des Internisten schlechthin. Obwohl ein einziger Diagnose- oder Problempunkt meist aus mehreren Zeilen (im Sinne der chronologischen und Krankheits-assoziierten Auflistung relevanter Fakten) besteht, bietet sich die erste Zeile eines jeden Problempunktes zur Bezugnahme für eine ICD-basierte Kodierung an. Die gewählte Integration sieht wie folgt aus: wenn ein Problempunkt bearbeitet wird, vergleicht das KIS die jeweils erste Zeile des Problempunktes oder der Diagnose mit dem bisherigen Eintrag. Im Fall von Abweichungen wird die gesamte erste Zeile dem semantischen Interpreter übertragen. Dort wird versucht, direkt einen ICD-10/CHOP Code zu generieren. Falls das nicht möglich ist, wird das User Interface des semantischen Interpreters gestartet und der User muss gemäss den Rückfragen der semantischen Interpretation den korrespondierenden (einzig richtigen oder am besten passenden) Code definieren. In beiden Fällen steht der ermittelte Code inklusive der offiziellen Text-Bezeichnung anschliessend parallel zum Freitext zur Verfügung. Optional kann (z.B. bei Operationsbezeichnungen) die Text-Bezeichnung übernommen und der bisherige Freitext damit überschrieben werden. Die ICD-10/CHOP Daten stehen ab diesem Moment für weitere Verwendungen zur Verfügung und werden angepasst, sobald Änderungen in der Problemliste auftreten.
Die Abb.1 und 2 zeigen die Resultate der semantischen Interpretation bei insgesamt 11‘654 Problempunkten (ohne Nebenproblem und anamnestischen Angaben) im Zeitraum zwischen Juni 2008 und Juni 2009 von Patienten der medizinischen Klinik des Spital Thun. Insgesamt können 39% der eingetragenen Problempunkte direkt semantisch interpretiert und kodiert werden. In 41% der Fälle sind Präzisierungsfragen durch den semantischen Interpreter nötig, meist weil der Freitext zu wenig konzis ist (Bsp.: „Niereninsuffizienz“: dies kann nicht direkt kodiert werden, da eine wesentliche Code-Differenz zwischen einer akuten und einer chronischen Niereninsuffizienz besteht). 80% aller Problemlisten-Einträge konnten damit so kodiert werden. In 20% der Fälle wurde durch das gewählte Integrationsverfahren (ausschliessliche Kodier-Versuche nach der 2. Änderung des Problempunktes) keine Interpretations-Vorgang gestartet oder es kommt zum Abbruch durch den User. Eine Stichproben-Analyse bei 100 Fällen zeigt, dass in der Mehrzahl dieser Situationen (70%) eine Kodierung möglich wäre, in ca. 30% der nicht kodierten Fällen kam es zu einem Abbruch des Interpretations-Ablaufes durch den User. Die Analyse der via Rückfrage kodierbaren ProblemlistenPunkte zeigt, dass naheliegende Vermutung der repetitiven Überarbeitung stimmt: 70% dieser Problemlisten-Einträge wurden 2x oder 3x verändert und es musste ein NeuInterpretation erfolgen.
Optimale Arbeits-Effizienz, User-Freundlichkeit und maximale Güte der Information sind im Gesundheitswesen nur schwierig erreichbar. Die Generierung von hochwertigen strukturierten Daten aus Freitext kommt der traditionellen Dokumentations-Art eigentlich entgegen und bietet auch die Möglichkeit, diese zu verbessern (z.B. durch gezielte Hinweise, wie eine Freitext-Diagnose besser formuliert oder präzisiert werden könnte). Auf der anderen Seite ist es ein Eingriff in die bekannten Abläufe und setzt hohe Anforderungen an Usability und Stabilität auf der einen Seite, Güte des Ergebnisses in Form von ICD-10 und CHOP-Codes auf der anderen Seite. Die aktuellen Resultate zeigen, dass selbst mit diesem kodier-unfreundlichen und User-freundlichen Ansatz 80% aller Freitext-Diagnosen direkt oder indirekt kodiert werden können. Unmittelbar nach der Auswertung der Daten wurde der Ansatz insofern geändert, als dass eine – falls direkt möglich- Erst-Kodierung ebenfalls erzwungen wurde. Das dürfte die Rate von unkodierten Diagnosen weiterhin senken und Grundlage für eine hochwertige Daten-Interpretation im Sinne einer realtimeDRG-Berechnung sein.
Literatur van Ginneken AM et al. A multi-disciplinary approach to a user interface for structured data entry Stud Health Technol Inform. 2001;84(Pt 1):693-7. Moorman PW et al.. A model for structured data entry based on explicit descriptional knowledge. Methods Inf Med. 1994 Dec;33(5):454-63. Straub HR et al. Simplified representation of concepts and relations on screen. Stud Health Technol Inform. 2005;116:799-804.
Korrespondenz: Dr.med. Marc Oertle, Leitender Arzt Medizin & MedizinInformatik, Spital STS AG, Krankenhausstrasse 12, 3600 Thun. marc.oertle@spitalstsag.ch