Atomenergie nach Tschernobyl und Fukushima

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Astrid Sahm

Atomenergie nach Tschernobyl und Fukushima Reaktionen in Ost- und Westeuropa Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl führte in ganz Europa zu einem mehrjährigen faktischen AKW-Baustopp. Der Super-GAU im AKW Fukushima Daiichi hat bisher keinen solchen Effekt ausgelöst. Zwar besannen sich mehrere Staaten nach Fukushima erneut auf das Ziel des Atomausstiegs. Andere Staaten setzen aber nach wie vor auf den Ausbau der Atomenergie. Unter den Ausstiegsstaaten findet sich kein einziger osteuropäischer Staat. Die größere Rolle der EU in Energie- und Klimaschutzfragen sowie die sinkende Rentabilität des AKW-Betriebs zeigen jedoch auch den ausbauwilligen Staaten die Grenzen der Atomenergie auf. Ambitionierte Ausbaupläne verfolgt lediglich Russland.

Wenige Tage nach dem Super-Gau im japanischen AKW Fukushima Daiichi erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 14. März 2011, ihre Regierung werde die bisherige Atomenergiepolitik revidieren. Als erster Schritt wurden sieben Atomreaktoren älterer Bauart vom Netz genommen. In den folgenden Monaten erarbeitete die Regierung ein neues Gesetz, das den vollständigen Ausstieg aus der Atomenergie bis 2022 vorsieht. Dieses verabschiedete der Bundestag am 30. Juni 2011. Damit vollzog Deutschland innerhalb von nur Monaten eine doppelte Energiewende, denn am 28. Oktober 2010 hatte der Bundestag mit der Mehrheit von CDU/CSU und FDP noch eine Verlängerung der Laufzeit der bestehenden AKWs um zwölf Jahre beschlossen. Deutschland war freilich nicht das einzige europäische Land, das nach Fukushima eine Energiewende beschloss. So entschied das Schweizer Parlament im Juni 2011, auf den Bau neuer AKWs zu verzichten sowie keine weiteren Laufzeitverlängerungen von AKWs mehr zuzulassen. Demnach wird die Schweiz bis 2034 aus der Atomenergie aussteigen. Ebenfalls im Juni 2011 kippten in Italien die Bürger per Referendum die AKW-Baupläne der Regierung Berlusconi. Und im Oktober 2011 erklärte die belgische Regierung, den Atomausstieg in ihrem Land bis 2025 vollziehen zu wollen.1 ———  Astrid Sahm (1968), Dr. phil., Internationales Bildungs- und Begegnungswerk (IBB), Berlin Von Astrid Sahm ist in OSTEUROPA erschienen: Simulierter Wandel? Belarus ’08, in: OE, 12/2008, S. 51–58. – Im Banne des Krieges. Gedenkstätten und Erinnerungskultur in Belarus, in: OE, 6/2008, S. 229–246. – Schwierige Nachbarschaft. Die polnische Belarus-Politik, in: OE, 11–12/2006, S. 101–126. – Auf dem Weg in die transnationale Gesellschaft? Belarus und die internationale Tschernobyl-Hilfe, in: OE, 4/2006, S. 71–80. – Gesellschaft als eigenständige Veranstaltung, in: OE, 2/2004, S. 96–110. 1 Mycle Schneider, Antony Froggatt: The World Nuclear Industry Status Report 2012, Paris, 5 July 2012, S. 29, 71, 80, <www.worldnuclearreport.org/The-World-Nuclear-Industry-Status54.html#euas>. OSTEUROPA, 63. Jg., 7/2013, S. 101-121


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