Amen Magazin - Winterausgabe 2022 - Ausharren

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A U SG S GABE 43 WH ERB IN T ESRT 2 02 21 WWW. AM EN - MAG A Z I N . C H

SERAINA DECKER

DANIEL ZINDEL

PETER HÖHN

VOM MUT, AM PLAN GOTTES FESTZUHALTEN

ALLE GROSSEN DINGE BRAUCHEN ZEIT

WIE GUTES WARTEN GELINGEN KANN

AUSHAR R EN


IN H A L T 04 D IE K UNST D E S WA R T E NS von Peter Höhn

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B E Z IE H UNGSW E ISE

Kolumne von Sabine Fürbringer

08 IC H W IL L JA A N GO T T GL A UB E N! Portrait von Thomas Zurbrügg

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E INE F R A U M IT L A NGE M AT E M

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B L IC K P UNK T W E L T

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L E B E N A UF C H R IST US Z U

von Tamara Boppart

Kolumne von Christoph Rhyner von Andreas «Boppi» Boppart

20 UND T R O T Z D E M : IC H B L E IB E .

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Interview mit Mike Zurbrügg

23 GE M E IND E L E B E N

Kolumne von Leonardo Iantorno

ICH WILL JA AN GO TT GLAUBEN! Portrait von Thomas Zurbrügg

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D E R M A NN M IT D E N B Ä UM E N von Stefan Pahl

28 M IR IST SO L A NGW E IL IG! von Alexandra Kämpf

30 L E B E N IM A L A R M Z USTA ND

Portrait von Seraina & John Decker

34 GE B E T

von Tamara Boppart

35 2000 JA H R E A UF E R ST E H UNG: SAVE T H E D AT E Interview mit Olivier Fleury

36 A L S F ÜH R UNGSK R A F T D R A NB L E IB E N Interview mit Daniel Zindel

4 0 K L A R H E IT VE R SUS VE R T R A UE N

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von Andreas Fürbringer

42 L EBEN A U F C HRI S TUS Z U

von Andreas «Boppi» Boppart

W E IT E R GL A UB E N!

Portrait von Michel Fischer

4 6 K UR Z UND GUT

mit Simea Gut

4 8 WA S C A M P US B E W IR K T 53 A UT O R E N/ IM P R E SSUM 55 P E R SÖ NL IC H

von Angela Schmidt

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D AS MAGAZIN VO N

DER MA N N MI T DEN BÄUMEN

von Stefan Pahl

Amen ist hebräisch und bedeutet fest, verlässlich, treu und ist verwandt mit Begriffen wie Glauben, Wahrhaftigkeit und Treue. Das Magazin Amen, voll Glauben leben inspiriert mit Lebensberichten und geistlichen Impulsen zu authentischer, verbindlicher und glaubwürdiger Jesus-Nachfolge.


EDITORIAL

WARTEZEITEN UMARMEN Da sass ich, kurz vor dem Gipfel, das Profil meines linken Wanderschuhs in den Händen haltend. Gerade mal zwanzig Minuten trennten mich von meinem Tagesziel, das Kreuz auf der Bergspitze war zum Greifen nah. Doch der letzte Teil des Aufstiegs entlang gesicherter Halteseile hatte es in sich. Meine Schuhe hätten sich wahrlich keinen besseren Zeitpunkt für ihr Dahinscheiden aussuchen können. «Das war’s dann mit dem Panoramablick», dachte ich enttäuscht und trat innerlich schon den Rückweg an.

sen. Ich bin dankbar, dürfen wir seine Unfallgeschichte, deren Auswirkungen ihn bis heute in einer Art Ausharr-Zustand halten, hier im Amen abbilden.

Beeindruckt hat mich ausserdem die Geschichte der Künstlerin Carmen Herrera, die allen Trends und Entwicklungen zum Trotz ihrer Kunst und somit sich selbst ein Leben lang treu geblieben ist. Tamara Boppart hat Herreras grosse Biografie nicht nur in wenigen Worten feinsinnig auf den Punkt gebracht, sondern ihr auch ein paar Während ich da hockte und leicht konster- kluge Lernschritte entlockt. niert auf ein Schuhsohlen-Wiederherstellungswunder wartete, erinnerte ich mich Mit diesen und all den anderen Beiträan die Beiträge dieser Amenausgabe und gen dieser Ausgabe wollen wir uns für die mein Selbstbemitleidungsanflug verpuffte in Verruf geratene, aber zutiefst geistliche im Nu. Was jammerte ich da vor mich hin, Disziplin des «Ausharrens» – andere Wörter als stünde ich vor einem unüberwindbaren wären «durchhalten, warten, sich gedulden» Problem? Es gibt Menschen, die vor weit- oder auch «darunter bleiben», wie es Boppi aus schwierigeren Entscheidungen stehen. in seinem Artikel ausführt – stark machen Oder deren Situation ausweglos scheint. und einen Gegenpol setzen zu der leicht reaDie wirklich wissen, was es heisst, durch- litätsfremden One-click-buying-Mentalität halten zu müssen. unserer Zeit, die uns sofortige Bedürfnisbefriedigung verspricht. Meine Gedanken wanderten dabei zu Familie Decker, die jahrelang und teils bis zur Er- Wartezeiten gehören zum Leben dazu. Lasst schöpfung um das Überleben ihrer ältesten, sie uns lernen zu umarmen und gut zu nutschwerstkranken Tochter kämpfte. Scho- zen. Wie das gehen kann, führt Peter Höhn nungslos ehrlich berichten John und Serai- auf den nächsten paar Seiten aus. Einfach na über ihr Elternsein im Daueralarmzu- einmal umblättern! stand und wie sie Gottes Präsenz in all den In diesem Sinne: Eine frohe Adventszeit! Jahren erleben durften. Auch erinnerte ich mich an das Gespräch mit Thomas Zurbrügg. Es war eine dieser seltenen Begegnungen, die einen aufgewühlt und beschenkt zugleich zurücklas- Angela Schmidt


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DIE KUNST DES WARTENS von Peter Höhn

Warten kann nerven wie kaum eine andere «Tätigkeit». Doch das müsste nicht sein. Die Adventszeit ermutigt dazu, Warten von der Bibel her als zentrale geistliche Lebensaufgabe zu sehen, den Segen des Wartens zu entdecken und in jeder Situation «gut» warten zu lernen. Eine der wichtigsten Aussagen über das riationen: Wir warten als Kinder, wenn sere Zukunft hoffen. Warten lässt uns Warten findet sich im achten Kapitel die Schule langweilig ist, auf den Gong, schmerzlich spüren, dass wir – als bedes Römerbriefes. Paulus schreibt, dass sehnen uns, bis die Ferien beginnen dürftige, uns sehnende, einander Wardie ganze Schöpfung sehnsüchtig da- und Weihnachten kommt. Wir warten ten zumutende und von Gottes Gnade rauf wartet, dass sie von der Last der auf den Zug, im Stau am Gotthard und abhängige Menschen – immer noch der Vergänglichkeit befreit wird und von am Limmattalerkreuz. Wir warten an Vergänglichkeit der Schöpfung unterGott zu einem neuen Himmel und ei- der Kasse, in der Warteschlaufe am Te- worfen sind, aber auch die Verheissung ner neuen Erde umgestaltet wird. Dass lefon, im Wartezimmer beim Arzt. Wir haben, dass Gott einmal alles gut wersie jetzt noch unter ihrem Zustand warten auf das Wochenende, den Ab- den lässt! seufzt, als würde sie in Geburtswehen schluss der Ausbildung, auf einen Partliegen. Und dass auch wir als Christen ner, das erste Kind, die nächsten Fe- WARTENDE IN DER BIBEL innerlich seufzen, weil die volle, leibli- rien, die Pensionierung. – Manchmal In diesem Sinn erzählt auch die Bibel che Erlösung noch aussteht, zu der wir ist das Warten besonders mühsam: bis von vielen Menschen, die, von Gott als Gottes Söhne und Töchter bestimmt das Resultat der Wahlen klar ist, das «verordnet», warten: Abraham wartet Visum kommt oder das Testergebnis auf den verheissenen Sohn. Isaak wartet sind (Römer 8,18-25). vorliegt. In der Krankheit warten wir auf Kinder – seine Frau Rebekka blieb TEIL DER SCHÖPFUNG auf Heilung, in der schlaflosen Nacht lange kinderlos. Jakob wartet zweimal SEIN BEDEUTET WARTEN auf den Morgen, in der Arbeitslosigkeit sieben Jahre auf Rahel. Josef wartet im Alles Warten auf dieser Erde ist im auf eine neue Stelle. Gar nicht zu re- Gefängnis. Das Volk Israel wartet auf Grund ein Abbild dieses Wartens auf den vom endlosen Warten der Flücht- das verheissene Land, David auf das unsere Erlösung, und das in allen Va- linge und Migranten, die auf eine bes- versprochene Königtum, die Israeliten


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im Exil auf die Rückkehr ins Land. Im Wichtigkeit und den Wert von Sehn- gar die Dinge selbst und vor der Zeit in Neuen Testament lesen wir, wie Simeon sucht und unerfüllten Wünschen. Wer die Hand nimmt, weil man das Warten und Hanna bis ins hohe Alter auf den alles hat, wer auf nichts mehr wartet nicht mehr aushält. Je nach PersönlichMessias warten. Später im Evangelium und keine Sehnsucht kennt, ist wie tot. keit sind wir anfällig für die eine oder nimmt Jesus immer wieder dieses TheWarten heisst ein Ja zur Päda- andere Art destruktiven Wartens, und ma des notwendigen Wartens auf: in gogik Gottes zu haben, dass uns im wir müssen spüren, wann für eine Saden Gleichnissen von der selbstwach- Leben ohnehin alles Wesentliche ge- che der kairós, der göttliche Zeitpunkt, senden Saat, vom Senfkorn, vom Sä- schenkt wird und Gott uns alles, was gekommen ist. mann oder von den zehn Jungfrauen, wir brauchen, zu seiner Zeit zuteilen Zum destruktiven Warten gehödie auf den Bräutigam warten. Später wird (Römer 8,32). Darum bedeutet ren auch alle unnötigen Wartezeiten: nach der Auferstehung von Jesus war- warten auch loslassen und offen sein Zeitverluste, die wir vermeiden können – ten die Jünger zehn Tage auf den Hei- für das, was Gott hier und heute schen- durch antizyklisches Einkaufen, frühes ligen Geist. Und bis heute warten alle, ken möchte. Losfahren für Unternehmungen, zeitidie an Jesus glauben, auf sein Wiederges Aufbrechen für Wanderungen usw. kommen und das Reich seines Friedens. Schliesslich kann sich destruktives Warten auch darin äussern, dass WARTEN ALS man in einer Opferhaltung verharrt und passiv auf Veränderung von MenGEISTLICHES PRINZIP schen oder Umständen hofft, statt aus Advent ist die Zeit im Jahr, da uns «Warder Zwiesprache mit Gott Eigenverantten» als geistliches Prinzip vor Augen geführt wird – sozusagen als erste Diswortung zu übernehmen. Dazu mehr ziplin im Kirchenjahr. Was das bedeuim nächsten Abschnitt. tet, hat Dietrich Bonhoeffer auf schöne Weise ausgedrückt: 3. MEIN WARTEN IN «Advent feiern heisst warten könGOTTES HAND LEGEN nen. Auf die grössten, tiefsten, zartesten Psalm 31,16 sagt: Meine Zeit steht in Dinge in der Welt müssen wir warten. deinen Händen. Auch ich als Wartender Da geht’s nicht im Sturm, sondern nach bin in Gottes Hand. Andrew Murray, den göttlichen Gesetzen des Keimens ein südafrikanischer Geistlicher (1828– 1917), definierte vier hilfreiche Schritund Wachsens und Werdens.» te, um sich das in jeder Lage bewusst Advent erinnert uns, dass Gott die zu machen: meisten Dinge – von Ausnahmen abge× Ich bin hier durch Gottes Führung sehen – stetig und langsam werden lässt. 2. DESTRUKTIVES WARGott verwendet keinen 3D-Drucker, TEN ENTLARVEN (das heisst: Gott ist auch jetzt da, und sondern lässt die Dinge wachsen, reifen Destruktives Warten widerspiegelt sich ich bin nicht allein). und ihre Frucht bringen in Geduld und in Redensarten wie «Daumen drehen», × Gott sieht mich, ich stehe unter sei zu ihrer Zeit. Darum stellt sich die Frage «Probleme aussitzen» oder «Zeit totner Aufsicht und Bewahrung. nicht, ob wir warten wollen oder nicht, schlagen». Im Schauspiel Warten auf × Ich werde von ihm erzogen. sondern wie wir es gut und konstruktiv Godot wird das auf die Spitze getrie- × Und das, solange er es will – und tun können. Dazu vier Gedanken. ben. Die Protagonisten verlieren sich in dann wird er mich auch wieder herNebensächlichkeiten, um sich vor der aus- und weiterbringen! 1. WARTEN ALS GEISTLIkonkreten Verantwortung im Hier und Gleichzeitig ist es wichtig, meiJetzt zu drücken. Warten ist dann nichts nen Wartefrust, meine schlechten GeCHEN WEG ANNEHMEN Als Erstes ist es wichtig, dass wir ein anderes als «Aufschieberitis», um dem fühle und enttäuschten Erwartungen grundsätzliches Ja zum Warten finden. Unangenehmen auszuweichen und sich aktiv mit Gott zu besprechen, ihm Wir sollten Warten nicht als lästigen nicht dem zu stellen, was jetzt von mir mein Leid zu klagen und zu hören, Bestandteil unseres Lebens betrachten, gefordert ist. Oft ist es schlicht Flucht was er mir zeigt, was ich (inzwischen sondern als Mittel zum Wachsen und aus dem Alltag: «Es will und will nicht trotzdem) tun kann? Dann geht es daReifen der eigenen Persönlichkeit an- Freitag werden.» Oder: «Wenn das und rum, wirklich zu erwarten und zu vernehmen, im Wissen: Warten lässt uns das endlich vorbei ist, dann …!» – Des- trauen, dass Gott mir einen nächsten suchend, demütig, erwartungsvoll, in- truktives Warten kann sich allerdings Schritt zeigt, den ich in dieser Wartenovativ – und damit lebendig – bleiben. auch in einer Flucht nach vorne äus- zeit tun kann. Denn auch Gott wartet Man weiss in der Psychologie um die sern, dass man wie Abraham mit Ha- darauf, dass er uns seine Gnade erweisen

ADVENT FEIERN HEISST WARTEN KÖNNEN. AUF DIE GRÖSSTEN, TIEFSTEN, ZARTESTEN DINGE IN DER WELT MÜSSEN WIR WARTEN.


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kann (Jesaja 30,18). Er wartet darauf, dass wir uns zu ihm und an ihn wenden, um bei ihm für den nächsten Schritt Hilfe, Weisheit, Ermutigung und Kraft zur Umsetzung zu finden.

ten» Gott überlassen und uns von ihm in der Kunst des Wartens trainieren lassen – im Kleinen und Grossen, im Ausserordentlichen und Alltäglichen, im Mühsamen und im Hoffnungsvollen. Dabei gilt es immer, sowohl mit 4. WARTEN ALS FREIZEIT Gottes Hilfe für die Gegenwart zu rechnen – wie etwa Psalm 33,20 verheisst: GENIESSEN Jemand drückte es so aus (Quelle nicht Unsere Seele wartet auf den Herrn, er ist mehr auffindbar): «Wir dürfen lernen, unsere Hilfe und unser Schild – als auch dass Warten keineswegs nerven muss. die Ewigkeitsperspektive wachzuhalLeerlauf, in welcher Form auch immer, ten, wie Jesus in Lukas 12,36 sagt: Ihr kann das Leben bereichern. Warten sollt Menschen gleich sein, die auf ihren kann zu einer Kraftquelle werden. Es Herrn warten. muss einem nur gelingen, jede Wartezeit als geschenkte Zeit zu empfinden, als willkommene Gelegenheit zum Innehalten, zum Schauen, zum Nachdenken, zum Träumen, zum Pläneschmieden, um Menschen zur Kenntnis zu nehmen. Ich habe mir zur Angewohnheit gemacht, jede Wartezeit – und sei es auf einer zugigen Bank auf dem Bahnhof – bewusst wahrzunehmen und als ‹Freizeit› zu empfinden. Auch als Freizeit vom Handy etwa, das ich dann auch wirklich nur bei Nachrichten an mich in die Hand nehme. Kurz gesagt: Schau öfter mal in die Luft, und sei glücklich dabei.» – Ich würde anfügen: Schau zum Himmel und nutze die Gelegenheit, in diesem Warten drin Gott zu sehen und darauf zu achten, worauf er dich aufmerksam macht, womit er dich jetzt beschenken will.

ADVENTLICH LEBEN

Das vorliegende Heft erscheint pünktlich zum Advent und gibt Gelegenheit, über diese Zeit hinaus das adventliche Leben zu üben: gut warten zu lernen, indem wir uns bei jeglichen «Leerzei-


BEZIEHUNGSWEISE

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FESTHALTEN ODER LOSLASSEN Sabine Fürbringer

ist Psychologin, arbeitet als Referentin und Beraterin und leitet bei Campus für Christus den Arbeitszweig Campus WE.

Punkto Ausharren lernte ich eine wichtige Lektion als junge Mutter. Unsere Wohnsituation war zwar gut, die Siedlung, in der wir hausten, aber überaltert. Ich fühlte mich isoliert und mit unserem verspielten kleinen Kind als Fremdkörper. Ich sehnte mich nach Veränderung und studierte monatelang die Wohnungsanzeigen der Region – erfolglos. Diese Tatsache und noch ein paar andere ungünstige Rahmenbedingungen liessen mich fast verzweifeln. Gleichzeitig konnten wir als Familie aus der Enge nicht einfach aussteigen. Damals hatte ich den Eindruck, dass ich trotz der misslichen Umstände einen Weg in die Zufriedenheit und Gelassenheit finden müsste. Es war ein geistlicher Prozess, in welchem ich beispielsweise Dankbarkeit einübte. Nicht eine Dankbarkeit für die Schwierigkeiten per se, sondern für das Gute in meinem Leben und dafür, dass Gott mich hält. Über die Monate hinweg hat sich so beides eingestellt, die Ruhe über dem Zustand – und schliesslich die ersehnte, äussere Veränderung.

hen will: Was hoffe ich, im Neuen zu finden? Kann mir eine neue Umgebung das überhaupt bieten? Ich nehme mich selbst ja mit, und wenn da Dinge in mir drin ungeklärt sind, werden sie das auch im neuen Umfeld sein. Ich möchte Wege finden, im Hier und Jetzt verantwortlich und zufrieden zu leben. An diesen Punkt zu kommen, kostet immer wieder Kraft und braucht Biss. Doch ich habe den Eindruck, dass das sowohl die konstruktivste Haltung für notwendiges Ausharren in gegebenen Umständen als auch die beste Vorbereitung für allfällige Neuerungen ist. Denn selbst wenn das Neue tatsächlich kommt, ist die Kraftübung noch nicht zu Ende. Neues ist mit Risiko verbunden, das Unbekannte kann Angst auslösen. Ich kenne mich noch nicht aus, muss mich an Menschen oder Rahmenbedingungen gewöhnen, und werde auch Fehler machen. Gerade dann, wenn das Neue sich als schwieriger entpuppt als erhofft, aktiviert sich der «Zurück-nach-Ägypten»-Reflex in Windeseile: So schlimm war’s doch gar nicht vorher!

Bis heute prägt mich diese Erfahrung. Stellt sich Unzufriedenheit oder Unruhe über einem Thema oder Lebensbereich ein, nehme ich diese Gefühle als Einladung entgegen, gut hinzuschauen. Offenbar soll sich etwas bewegen – in meinem Innern. Und vielleicht stehen auch äusserlich Veränderungen an. Ich versuche zu ergründen, wovor ich in der aktuellen Situation allenfalls flie-

Darum tun wir in Zeiten der Unsicherheit gut daran, weder im Alten noch im Neuen das Heilmittel zu sehen, sondern eng an Gott dranzubleiben. Er ist der Anker für unsere Seele. Er gibt uns Kraft zum Dranbleiben. Er wird uns spüren lassen, wenn es Zeit ist zum Aufbruch. Und er ist unsere Orientierung, damit wir uns im Neuen gut zurechtfinden.


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ICH WILL JA AN GOTT GLAUBEN! von Angela Schmidt

Als Thomas Zurbrüggs Leben zum zweiten Mal an einem seidenen Faden hängt, vermag ihn sein Gottesbild nicht mehr zu tragen. Eine Zeit der ehrlichen Revision – des Aussortierens und Neuzusammensetzens – beginnt. Sie hält bis heute an. Ich bin froh, hartnäckig an ihm dran geblieben zu sein, und dankbar, dass Thomas Zurbrügg mir nun vis-à-vis sitzt. Seine anfängliche Skepsis dem Interview gegenüber ist nachvollziehbar. Ein Unfall vor dreieinhalb Jahren hat schlimme Folgen mit sich gezogen, an denen er noch heute schwer zu tragen hat. Während unseres zweieinhalbstündigen Gesprächs muss er denn auch mehrmals Ritalin nachwerfen, um seine Konzentration aufrechtzuerhalten. Doch das Interview dauert nicht etwa wegen seiner mentalen Beeinträchtigungen länger – die bemerkt man kaum. Sondern deshalb, weil Thomas unglaublich viel zu erzählen hat, und ich nicht anders kann, als ihm anteilnehmend zuzuhören.

DIE GLETSCHERSPALTEN«ERFOLGSSTORY» Thomas ist Flugbegleiter aus Leidenschaft, ein Lebemann, stets seine Inlineskates mit im Gepäck. Auf denen macht er die Grossstädte dieser Welt unsicher. Er sucht den Kick, die Abwechslung. Zweimal dieselbe Strecke mit dem Bike fahren? Geht gar nicht. Irgendwie naheliegend, dass er mit diesem Lebenstempo schon so manchen Unfall verursacht hat – was, wie er meint, viel über seine Persönlichkeit aussagt.

Zwei der etlichen Unfälle haben es besonders in sich. Sie kosten ihm beinahe das Leben. Der erste ereignet sich im März 2016. Die Rettung wird per Zufall live aufgezeichnet. Ein RedBull-Filmteam dokumentiert an diesem Tag gerade die Arbeit der Bergrettung Air Zermatt, die zur Bergung eines verunfallten Alpinisten am Louwitor im Jungfrau-Aletsch-Gebiet gerufen wird. Thomas, dreissig Meter tief unter der Oberfläche in einer Gletscherspalte gefangen, hält sich an einer unsicheren, improvisierten Sicherung fest, hoffend, dass ihn die Schneebrücke hält, welche seinen Fall vorerst gestoppt hat. Unter ihm das dunkle Nichts der noch tiefer reichenden Gletscherspalte. So harrt er über zwei Stunden aus. Die Hoffnung auf Rettung schwindet mit jeder Minute. Thomas schliesst mit seinem Leben ab, zieht Bilanz. Und nimmt eine Sprachnachricht auf: Falls er es nicht lebend hinausschafft, würde man sich im Himmel wiedersehen, da sei es ja auch schön. Doch Thomas wird gefunden. In unversehrtem Zustand, was Retter und Ärztinnen mehr als erstaunt – man ging von einer Tot-Bergung und entsprechendem Abtransport im Leichensack aus. Die Erfolgsstory erfährt ein grosses mediales Echo, mit der perfekten Mes-

sage: Gerettet durch Gottes Hand. Davon ist auch Thomas überzeugt. «Das Erlebnis brachte eine tiefere Gottesbeziehung mit sich. Eine grössere Gewissheit, dass das, was ich glaube, wahr ist, Gott da ist und in schwierigen Situationen trägt.» Das Erlebte führt dazu, dass Thomas zum ersten Mal anderen überzeugt von Gott erzählt. Ein paar Jahre später. Ein weiterer Videodreh für das Fenster zum Sonntag ist geplant. Nach dem ersten Dreh über seine wundersame Rettung aus dem Gletscher will man einen weiteren Bericht über seinen zweiten schweren Unfall bringen. Den Ort besuchen, an dem er auf seinen Skates verunfallt ist, von seinem erneuten Überleben und darüber berichten, wie Gott wieder eingegriffen hat. Doch Thomas spürt, dass das dieses Mal keine Happy-God-Story werden wird. Er sagt ab. Was war passiert?

DER ZWEITE UNFALL 17. Juni 2019: Thomas, seine Frau Tanja und Freunde sind nach einem Wandertag zurück beim Auto. Im Kofferraum: Thomas’ geliebte Skates. Er will am Abend noch zu einer dieser InlineNights, wo man mit hunderten anderen Bewegungsfreudigen gemütlich durch


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Thomas Zurbrügg (1987) lebt heute mit Frau Tanja und Sohn Timeo in seinem Geburtsort Frutigen. Der studierte Betriebsökonom wuchs in evangelikalen Freikirchen auf, arbeitete als Banker und Flugbegleiter und beschreibt sich als freiheitsliebend, voller Bewegungsdrang und Abenteuerlust. Sein momentaner Status: auf der Suche nach einem «neuen», mit Freude und Sinn erfüllten Leben.

Während er auf Rettung wartet: Gletscherspalten-Handyfoto


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