Fragil detonieren
Benni ist ein Kind von wilder Energie; ein „Systemsprenger“. Nora Fingscheidt legt ein überwältigendes Debüt vor.
Hass wegwaschen Guy Nattiv legt mit „Skin“ eine Langfilmversion seines oscarprämierten Kurzfilms vor.
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ie klaut und pöbelt, stänkert, zerstört. Sie schafft es, dass selbst Sicherheitsglas Risse abkriegt. Ihre Betreuer/-innen nennt sie absichtlich provokant nicht beim Namen. Da heißt es nur: „Bleib hier, Erzieherin!“ – Um die „Erzieherin“ dann innig an der Hand zu halten und vorsichtig zu fragen, wo sie denn nun als Nächstes hinkomme. Das Jugendamt hat Benni durch sämtliche Möglichkeiten und „Maßnahmen“ geschleppt, aber nichts will fruchten, das erst neunjährige Mädchen bleibt aggressiv. Es will einfach nur zu seiner Mama. Aber die ist überfordert. Nora Fingscheidt legt eine intensive Wucht von einem Film vor: Sie erzählt von „Systemsprengern“, jenen Kindern, die überall rausfliegen, bei denen das Jugendamt an seine Grenzen kommt. Benni hat eine wilde Energie; es ist sagenhaft, wie Helena Zengel diese Figur spielt, die dem Publikum das Herz bricht. Sie explodiert – mit enormer Fragilität. Von Zengel wird man noch viel hören. Eben wurde sie für Paul Greengrass’ kommenden Film (News of the World) engagiert. Fingscheidt recherchierte fünf Jahre lang intensiv für ihre Arbeit – bis sie emotional einfach nicht mehr konnte. Sie legt ein unglaubliches Langspielfilmdebüt vor. Fingscheidts Film sorgte bei zahlreichen Festivals, etwa auch der Berlinale (Silberner Bär), für Furore – und vielleicht auch bei der kommenden Oscarverleihung: Zumindest wird Systemsprenger als deutscher Beitrag ins Rennen um eine Nominierung als bester fremdsprachiger Film geschickt. www.systemsprenger-film.de
SYSTEMSPRENGER KINOSTART 27.09., D 2019, REGIE Nora Fingscheidt, MIT Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriele Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, FILMLÄNGE 120 Min., © Filmladen
s ist nicht schwer, seine politische Gesinnung zu erraten: Er trägt den Hass, den er in sich trägt, auch offensiv zur Schau. Nicht nur durch seine Kleidung oder sein abrasiertes Haar. Nicht nur dadurch, dass seine Gesten oft aggressiv, seine Hände beispielsweise zur Faust geballt sind. Auch das Sichtbarste, das er nie ablegen kann, erzählt von seiner Haltung: seine Haut. Guy Nattiv erzählt von Bryon Widner, dessen Körper von Tätowierungen überzogen ist. Bryon ist wie seine Zieheltern (Vera Farmiga und Bill Kamp) rechtsradikal. Bis er auf die dreifache Mutter Julie (toll: Danielle Macdonald) trifft und plötzlich ein bislang schier unvorstellbares Gefühl aufkeimt: Liebe. Und Zweifel an seiner Ideologie. Nattiv erzählt den schwierigen Prozess von Bryons Ausstieg, den der Menschenrechtsaktivist Daryle (Mike Colter) unterstützt. Er bringt auch ein „Ausradieren“ der Zeichen auf seinem Körper mit sich. Nattiv begegnet dem Stoff zum zweiten Mal: Skin ist die Langfilmversion seines gleichnamigen, oscarprämierten Kurzfilmes. Den Mann, der seine Vergangenheit hinter sich lassen möchte, hat Nattiv nicht erfunden: Bryon Widner war lange Jahre eine treibende, immer gewaltbereite Kraft der US-Neonazis. Über ihn ist auch schon eine Doku erschienen: Erasing Hate (2011). Nun taucht Jamie Bell (Rocketman, Billy Elliot) ganz in diese dunkle Vita ein. www.a24films.com/films/skin
SKIN KINOSTART 04.10., USA 2018, REGIE Guy Nattiv, MIT Jamie Bell, Danielle Macdonald, Vera Farmiga, FILMLÄNGE 118 Min., © 24Bilder
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