DIE WAHLPROGRAMME DEUTSCHER PARTEIEN UNTER DER LUPE
von Jonas Freist-Held, Thore Hagemann, Lucas Rasche & Natalie Welfens
POLIS PAPER N 6
QUO VADIS MIGRATIONSPOLITIK?
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
INHALTSVERZEICHNIS ZUSAMMENFASSUNG ................................................................................3 1. DIE LAGE ...........................................................................................4 1.1. Wir müssen noch einmal über Migration reden ......................................... 4 1.2. Wahlprogramm als Spiegel der migrations- und flüchtlingspolitischen Debatte ....................................................................................................... 5 1.3. Wahlprogramme verstehen ..................................................................... 5 1.4. Wahlprogramme beurteilen – auch aus europäischer & globaler Perspektive 6 1.5. Wahlprogramme weiterdenken ................................................................ 6
2. AUF UMWEGEN – DAS RECHT AUF SCHUTZ ................................................. 7 2.1. Die bisherige Route ................................................................................. 7 Wer profitiert von den Schutzmöglichkeiten?........................................................ 8 Immer weniger Menschen erhalten Schutz in der EU - warum? ............................... 8
2.2. Das sagen die Parteien ........................................................................... 9 2.3. Was das bedeutet .................................................................................. 9 2.4. Hinterfragt: Der Kompass auf dem Prüfstand............................................11
3. KONTROVERSE SEENOTRETTUNG UND DAS RINGEN UM SICHERE ZUGANGSWEGE NACH EUROPA ...................................................................................... 12 3.1. DIE BISHERIGE ROUTE ....................................................................... 12 3.2. DAS SAGEN DIE PARTEIEN .................................................................. 13 3.3. WAS DAS BEDEUTET ......................................................................... 14 3.4. HINTERFRAGT: DER KOMPASS AUF DEM PRÜFSTAND ................................ 15 4. JUST MARRIED – ABER ZU WELCHEM PREIS? SICHERHEITSPOLITIK UND FLÜCHLINGSSCHUTZ ............................................................................... 16 4.1. Die bisherige Route ............................................................................... 16 1
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
Abkommen mit Herkunfts- und Transitstaaten ..................................................... 16 Der Kampf gegen die Schlepper ..........................................................................17 Der Schutz der EU-Außengrenze .........................................................................17
4.2. Das sagen die Parteien .......................................................................... 18 4.3. Was das bedeutet ................................................................................. 19 4.4. Hinterfragt: Der Kompass auf dem Prüfstand ..........................................20
5. FLUCHTURSACHEN - EINFACHE FORMELN TROTZ KOMPLEXER HERAUSFORDERUNGEN ........................................................................... 22 5.1. Die bisherige Route ............................................................................... 22 5.2. Das sagen die Parteien .......................................................................... 23 5.3. Was das bedeutet ................................................................................. 24 5.4. Hinterfragt: Der Kompass auf dem Prüfstand .......................................... 26
6. ÜBERFÄLLIG ODER ÜBERFLÜSSIG? - EIN EINWANDERUNGSGESETZ FÜR DEUTSCHLAND ...................................................................................... 28 6.1. 6.2. 6.3. 6.4.
Die bisherige Route .............................................................................. 28 Das sagen die Parteien ........................................................................ 29 Was das bedeutet ...............................................................................30 Hinterfragt: Der Kompass auf dem Prüfstand ....................................... 31
7. KOMMENTAR & AUSBLICK .................................................................... 32 8. DIE VERFASSERINNEN ......................................................................... 34
2
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ZUSAMMENFASSUNG In Zeiten einer Globalisierung, die vermehrte Arbeitsmigration mit sich bringt und große Fluchtbewegungen erlebt, muss sich Migrationspolitik auf nationaler und europäischer Ebene neu ausrichten. Was die etablierten Parteien in ihren Wahlprogrammen 2017 fordern, ist dabei nicht immer ausreichend. In diesem Polis Paper bilden daher fünf Themenkapitel (Kapitel 2-6) die aktuelle Debatte ab und geben evidenzbasierte Vorschläge, wie moderne Migrationspolitik weitergedacht werden kann.
KA PITE L 2: DI E REC HT LI CHE SI TUA TI ON VO N GEFL ÜCHT ETEN In der Theorie steht es um die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Schutz von Flüchtlingen gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention, subsidiären Schutz gemäß der EU-Richtlinie 2011/95/EU und Asyl nach dem deutschen Grundgesetz gut. Doch was nützt der progressive Rechtsrahmen, wenn er kaum Anwendung findet und die EU und Deutschland stattdessen versuchen, den Flüchtlingsschutz abzuschwächen oder ihn so weit wie möglich auszuhebeln, indem sie die Außengrenzen abriegeln? Wir fordern eine langfristige Neuausrichtung in der Anwendung des internationalen Flüchtlingsschutzes – die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen anwendbar bleiben, sonst sind sie nutzlos. Um zumindest kurzfristig den Schutz von Geflüchteten sicherzustellen, sollte die Finanzierung des UNHCR überdacht werden.
KA PITE L 3 : S EENO TRETT UNG & HUM ANIT ÄR E W EGE IN DIE EU Die aktuelle Lage für Flüchtlinge ist paradox: Für sie gibt es nur sehr selten die Möglichkeit auf ein Visum, mit dem sie per Flugzeug oder Schiff auf legalem und sicherem Wege nach Europa kommen könnten. Aber einen Asylantrag kann nur stellen, wer sich auf europäischem bzw. deutschem Boden befindet. So begeben sich Geflüchtete unter anderem auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer. Die von uns vorgeschlagenen Lösungen sind Instrumente zur Öffnung legaler und sicherer Wege. Richtwerte für Kontingente sowie Aufnahmekategorien sollten sich ausschließlich nach humanitären Kriterien und nicht nach europäischen oder deutschen Eigeninteressen richten. Für komplexere Einzelfälle, die nicht von den Aufnahmekriterien abgedeckt werden schlagen wir einen von Deutschland initiierten Vorstoß vor, ein EU-Botschafts-Asyl einzurichten. Für die, denen nur die riskante Überfahrt über das Mittelmeer bleibt fordern wir ein europäisches, von Frontex unabhängiges Seenotrettungsprogramm. Und jene, deren Herkunftsländer als ‚sicher’ gelten und die deshalb wenig Chancen auf Asyl oder humanitären Schutz haben, sollten im Rahmen eines Pilotprojekts beispielweise für eine Berufsausbildung einreisen können.
KA PIT EL 4: S IC HERHEI TS POLI TI K VS . FL ÜC HT LI NGSSC HUTZ Unter der Führung Deutschlands hat sich die Architektur der europäischen Flüchtlingspolitik seit dem Sommer 2015 kräftig verändert – Migrationspolitik wurde zu Sicherheitspolitik. Die EU verbindet ihre gesamte Entwicklungszusammenarbeit zunehmend mit politischen Bedingungen, die ihre Partnerländer dazu verpflichtet, irreguläre Migration zu unterbinden – eine klassische sicherheitspolitische Angelegenheit. Dieser Ansatz ist alles andere als nachhaltig. Die EU sollte ihren sicherheitspolitischen Fokus durch einen kohärenten und holistischen Ansatz ersetzen: Menschenrechte nicht durch Abkommen mit Drittstaaten und die Externalisierung der eigenen Grenzen in Partnerländer umgehen, selbst beeinflusste Fluchtursachen aufgrund einer fehlgesteuerten Handelspolitik durch faire Handelsabkommen korrigieren und sich als Mediator und Schutzgarant für Frieden positionieren, anstatt als einer der führenden Rüstungsexporteure in Krisengebiete zu fungieren.
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KA PITE L 5 : FL UC HT URSAC HE N BE KÄM PFEN Die Parteien sind sich einig, dass die Minderung von Fluchtursachen ein Ziel deutscher Entwicklungspolitik sein muss. Für eine effektive Entwicklungszusammenarbeit gilt, dass nur durch ein langfristiges Engagement Fluchtursachen wirklich behoben werden können. Aktuelle Entwicklungszusammenarbeit verfolgt vorrangig das Ziel, potentielle Migranten durch wirtschaftliche Anreize dort zu halten, wo sie herkommen. Entwicklungszusammenarbeit wird unweigerlich zum Instrument einer Ausweitung europäischer Außengrenzen. Eine eindeutige Positionierung der neuen Bundesregierung zu diesem Thema würde der deutschen Entwicklungspolitik mehr Glaubwürdigkeit verleihen. Für einen strukturellen Umschwung empfehlen wir außerdem: langfristig mehr Arbeitsplätze schaffen durch ‚local ownership‘ in der Vergabe und Durchführung von Projekten. Entwicklungspolitische Gelder und Projekte dürfen Regime mit fragwürdigen Menschenrechtsstandards nicht weiter stützen. Der UNHCR soll außerdem reformiert werden: Geflüchteten soll es möglich werden, Lager schneller wieder zu verlassen und nicht abgeschottet und desintegriert in einem Zustand des ständigen Wartens zu verharren.
KA PITE L 6: EI N NEUES E INW ANDE RUNGS GES ETZ FÜ R DE UTSC HLAND Wir schlagen, um Transparenz zu schaffen, die Reformierung und Vereinfachung des aktuellen Zuwanderungsrechtes durch ein Einwanderungsgesetz vor. Die bisherige Konzentration auf hochqualifizierte Einwanderer lehnen wir ab. Stattdessen müssen die Vorteile der Zuwanderung geringer qualifizierter Menschen diskutiert werden. Denn die Anwerbung von Hochqualifizierten allein bedeutet die gleichzeitige Abschottung gegenüber allen anderen. Die Lösung muss in jedem Fall eine europäische sein. Die Blue-Card hat Reformbedarf, bzw. muss flächendeckend umgesetzt werden. Im Falle ihrer Reform sollte unmittelbar mitgedacht werden, reguläre Arbeitsmigration auch auf minderqualifizierte Drittstaatenangehörige auszuweiten.
1. DIE LAGE Von Natalie Welfens
1.1. W IR M ÜSSEN NOCH EINM AL ÜBER
einmal musste man eine Position zu Obergrenzen, Ab-
M IGRATION REDEN
schiebungen, dem sogenannten Dublin-System und dem
Der Sommer 2015 gilt inzwischen als historisches Ereig-
sich überschlagenden politischen Diskussionen einord-
Arbeitsmarktzugang für Flüchtlinge entwickeln, um die
nis. Seinen Ruhm verdankt er einer Abfolge von Ereig-
nen zu können. Ein Themenbereich, der in der Regel
nissen, die inzwischen unter dem Begriff ‘europäische
selbst in Rechts- und Politikwissenschaften eher am
Flüchtlingskrise’ zusammengefasst werden. Gemeint ist
Rande behandelt wird, wurde über Nacht zur Kampflinie
meist die im Sommer 2015 besonders hohe Zahl derer,
zwischen den Parteien, zur Munition für den Kampf um
die sich angesichts von Krieg, Verfolgung und humanitä-
Wählerstimmen.
ren Notständen in Flüchtlingslagern auf den Weg nach
Mit der Krisenrhetorik begann auch ein erbitterter Kampf
Europa machten, auf Schlauchbooten über das Mittel-
um die Deutungshoheit über die Ereignisse, Ursachen
meer oder zu Fuß über die sogenannte ‘Balkanroute’
und Lösungen zwischen Parteien, Regierung, Ländern,
kamen, viele von ihnen mit dem Ziel: Deutschland.
Kommunen, Nichtregierungsorganisationen (NROs) und
Der Satz “Wir schaffen das” von Bundeskanzlerin Angela
anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Wer sich im
Merkel sowie etliche Bilder von Elend, Leid und Hoff-
Internet auf die Suche macht, findet zahllose Infografi-
nung gingen um die Welt. Die Themen Flucht, Migration,
ken, Statistiken, Analysen, Prognosen, Halbwahrheiten
Integration dominierten die Schlagzeilen, Talkshows und
und Faktenchecks – viele von ihnen widersprüchlich
politischen Debatten. Noch nie haben wir so viel über
oder allzu einfach. Nur selten erreichten fundierte und
Flucht und Migration diskutiert – und gestritten. Auf
4
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differenzierte Analysen die breitere Öffentlichkeit. Allzu
analysiert. Die Themenschwerpunkte unserer Kapitel
oft wurden populistischen StimmungsmacherInnen statt
haben sich aus den dominanten Themen der Wahlpro-
wissenschaftlichen
Bühnen
gramme ergeben. Durch dieses Vorgehen werden teil-
überlassen. Vor allem, wenn man mit scheinbar einfa-
weise kontroverse politische Kategorien und Diskurse in
chen und radikalen Lösungen trotz aller Komplexität der
unseren Analysen übernommen, obwohl sie an und für
Problematik “Auflage machen” und Wählerstimmen
sich schon eine kritische Auseinandersetzung verlangen
gewinnen kann, bleibt für eine tiefergehende Analyse
würden. So könnte man beispielsweise debattieren,
wenig Platz.
inwiefern die kategorische Trennung von Arbeits- und
ExpertInnen
die
großen
Zwangsmigration der Realität gerecht wird und politisch Sinn macht. Ebenso werden andere Themen, die bislang
1.2. WAHLPROGRAMME ALS SPIEGEL DER
keinen Eingang in die deutsche migrationspolitische
MIGRATIONS- UND FLÜCHTLING-
Debatte gefunden haben, in diesem Rahmen nicht disku-
SPOLITISCHEN DEBATTE
tiert. Eine entsprechende Auseinandersetzung würde den
Die Vorschläge und Forderungen deutscher Parteien zur
Vorschläge orientieren sich also größtenteils an den
Rahmen dieses Papers sprengen. Unsere Analysen und
Bundestagswahl 2017 spiegeln viele Punkte der aktuellen
aktuellen politischen Rahmenbedingungen und mögli-
migrationspolitischen Debatte wider. Sie geben uns ei-
chen Opportunitätsfenstern.
nen Eindruck davon, wohin sich die Diskussion in den
Die Ergebnisse sind die Auseinandersetzungen und Re-
letzten Jahren bewegt hat und wohin sie uns führen
flektionen vier verschiedener AutorInnen mit fünf unter-
wird. Die Wahlprogramme der beiden regierenden, oft-
schiedlichen Themen, die teils mehr, teils weniger Erklä-
mals als Volksparteien klassifizierten CDU/CSU und SPD
rungen bedürfen. Daraus ergeben sich Unterschiede in
sind dafür exemplarisch: Im Unions-Wahlprogramm von
der Länge und im Stil der Beiträge, aber auch eine ab-
2013 wurde Flüchtlingspolitik noch im Kapitel ‚4.3. Viel-
wechslungsreiche Zusammenstellung. Das Paper liest
falt bereichert – Willkommenskultur schaffen‘ bei der
sich ebenso gut als themenspezifisches Dossier, wie
SPD im Kapitel ‚III.5 Gleichberechtigte Teilhabe: Für eine
auch als zusammenhängendes Gesamtwerk.
moderne Integrationspolitik‘ diskutiert. Vier Jahre später rückt die Union unter der Kapitelüberschrift ‚Europa: Mit Sicherheit!‘ das Thema in ein sicherheitspolitisches Licht.
1.3. W AHLPROGRAM M E VERSTEHEN
Bei der SPD finden sich unter dem Titel „Es ist Zeit für eine geordnete Migrationspolitik“ Forderungen, Migrati-
Zwei Jahre Debatte über Flucht, Migration und Integrati-
onsbewegungen besser zu steuern und stärker zu kon-
on. Zwei Jahre mit zahlreichen politischen Neuerungen
trollieren, wer nach Europa kommt und wer zurück in
auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene,
sein Heimatland muss. Die Ereignisse der letzten Jahre
zwei Jahre, an deren Ende trotzdem für viele immer
haben ihre Spuren in der migrationspolitischen Debatte
noch mehr Fragen als Antworten stehen. Wer gilt in
und in der Parteienlandschaft hinterlassen. Den Stand
Deutschland nun eigentlich als Flüchtling? Warum er-
dieser politischen Debatte festzuhalten und kritisch zu
trinken nach wie vor Menschen im Mittelmeer und was
beleuchten erscheint somit wichtiger denn je. Wer re-
kann die Politik dagegen tun? Was ist mit dem “Kampf
cherchiert schon auf eigene Faust die Details parteipoli-
gegen Fluchtursachen” gemeint und wie könnte ent-
tischer Forderungen, die sie oder er nicht ganz verstan-
schieden werden, wer als “EinwandererIn” in die Bun-
den hat? Wer fragt sich vor der Wahl so genau, ob die
desrepublik darf? Nur wer sich durch die Irrungen und
Forderungen aus wissenschaftlicher Perspektive eigent-
Wirrungen dieser Debatten kämpft, kann verstehen –
lich umsetzbar und aus europäischer und globaler Sicht
und bewerten! – was die Parteien in ihrem Wahlkampf
wünschenswert wären? Und wer beobachtet und disku-
für die Bundestagswahl 2017 fordern: Kontingente, Punk-
tiert im Anschluss an die Wahl, welche der Forderungen
tesysteme, die Harmonisierung des Gemeinsamen euro-
und Vorschläge letztlich Eingang in Koalitionsvertrag,
päischen Asylsystems (GEAS), Abkommen mit Drittstaa-
politische Diskussionen und Gesetzesentwürfe finden?
ten und “Non-Refoulement”. Mit den fünf Themen-
Wir.
Kapiteln (1) „Auf Umwegen - Das Recht auf Schutz“, (2) „Kontroverse Seenotrettung und das Ringen um sichere
Unser Vorgehen
Zugangswege nach Europa“, (3) „Just Married - Aber zu
Als Team von vier AutorInnen haben wir die migrations-
welchem
und flüchtlingspolitischen Aspekte der Wahlprogramme
5
Preis?
Sicherheitspolitik
und
Flüchtlings-
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
schutz“, (4) „Fluchtursachenbekämpfung – Einfache
schen Pläne zum “Kampf gegen Fluchtursachen” sein
Formeln trotz komplexen Herausforderungen“ und (5)
könnten. Aus diesem Grund haben wir nach bestem
„Überfällig oder überflüssig? - Ein Einwanderungsgesetz
Wissen und Gewissen wissenschaftliche Erkenntnisse zu
für Deutschland“ wollen wir einen Überblick zu zentralen
den verschiedenen Themen zusammengetragen. Sie
Elementen der aktuellen Migrations- und Flüchtlingspoli-
bilden die Basis für unsere Kurzanalysen, die sich in
tik geben. Unsere einleitenden Zusammenfassungen in
jedem Kapitel hinter der Überschrift ‚Was das bedeutet’
den jeweiligen Themengebieten sollen Licht ins begriffli-
verstecken. Darin analysieren wir die Forderungen der
che Dunkel deutscher, europäischer und internationaler
Parteien aus wissenschaftlicher Perspektive.
Migrations- und Flüchtlingspolitik bringen. Damit wollen
Die letzten Jahre haben ebenfalls klargemacht, dass die
wir zu einer informierten Auseinandersetzung mit den
deutschen Debatten und Entscheidungen von zentraler
parteipolitischen Forderungen beitragen.
Bedeutung für die europäische und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik sind: Was heute in Berlin entschieden wird, hat morgen Auswirkungen in Ungarn,
1.4. W AHLPROGRAM M E BEURTEILEN –
Griechenland, Tunesien und Libyen. Gleichzeitig wurde,
AUCH AUS EUROPÄISCHER & GLOBALER
wie in kaum einer anderen Debatte der letzten Jahre,
PERSPEKTIVE
immer wieder auf die europäische und globale Solidarität gepocht, die zum Beispiel zentrales Argument für das
Wer die deutsche Flüchtlingspolitik der letzten Jahre
EU-interne ‚Relocation‘-Programm ist, bei dem Geflüch-
betrachtet und sich ausgehend von den politischen Ent-
tete aus Italien und Griechenland in andere EU-Staaten
scheidungen ein Urteil darüber machen möchte, was zu
umgesiedelt werden. Als Mitglieder eines europa- und
tun ist, wird sich schnell verlieren. Wo gestern noch für
außenpolitischen Grassroots-Thinktank, Polis180, sind
eine liberale, humanitäre Asylpolitik innerhalb Europas
wir deshalb bemüht, in unseren Analysen auch die euro-
geworben wurde, wird heute über Obergrenzen und
papolitische und globale Dimension der parteipoliti-
restriktivere Gesetze für Familienzusammenführung ver-
schen Forderungen und Vorschläge zu betrachten.
handelt. Was im Sommer 2015 noch als einzig richtige und humanitäre Lösung gefeiert wurde, muss heute mit aller Kraft verhindert werden. Die Forderungen der Par-
1.5. W AHLPROGRAM M E W EITERDENKEN
teien skizzieren von einer vollkommenen Abschottungspolitik bis hin zur Grenzöffnung für Schutzsuchende
Aus der Geschichte wissen wir nur allzu gut, dass nicht
verschiedenste Szenarien als die einzig ‚richtigen‘ Lösun-
alles, was anlässlich einer Wahl versprochen wurde,
gen. Spätestens seitdem Begriffe wie ‚post-faktisch‘ und
auch letztendlich umgesetzt wird oder werden kann – sei
‚fake news‘ an der Idee rütteln, dass es eine objektive
es, weil man es als Partei nicht in die regierungsbildende
und allgemeingültige Wahrheit gibt, die den rational
Koalition schafft, weil die eigene Verhandlungsposition
denkenden Menschen zur ‚richtigen‘ Entscheidung führt,
zu schwach ist oder sich die Einstellungen der Wähler-
werden die Konturen von ‚richtigen’ und ‚falschen‘ poli-
schaft ändern. Vorschläge und Forderungen werden
tischen Lösungen für viele unscharf. Ein Blick auf die
vergessen, verwässert, erweitert und umgeworfen. Des-
Meinungen derer, die mit ihren Einschätzungen keine
halb wollen wir in den folgenden Jahren beobachten,
Wahlen gewinnen müssen, könnte sie wieder schärfen:
ob und wie sich die Vorschläge der Parteien zu konkre-
Flucht und Migration sind Jahrtausende alte Phänomene
ten Politik-Vorhaben entwickeln. In einer gesunden De-
die lange vor dem Sommer 2015 WissenschaftlerInnen
mokratie liegt die Frage, ob und wie sich politische Plä-
weltweit interessierten. In jahrelanger, akribischer Re-
ne konkretisieren jedoch nicht nur in den Händen der
cherche haben sie zu vielen der Fragen, die auch im
Parteien, ParlamentarierInnen und der Regierung. Im
Jahre 2017 noch die deutsche Debatte prägen, geforscht,
Sinne unseres Kampagnen-Slogans ‚Demokratie braucht
Bücher, Aufsätze und Vorlesungen mit ihrem Wissen
dich‘ wollen wir vor allem junge Menschen dazu einla-
gefüllt. Trotz aller Bemühungen, ihre Expertise in die
den, gemeinsam mit uns über zukünftige Entwicklungen
Welt zu tragen, erreichen ihre Analysen oft nicht die
und Entscheidungen in der deutschen Migrations- und
breite Öffentlichkeit. So kann man es kaum jemandem
Flüchtlingspolitik nachzudenken, zu diskutieren und
verübeln, dass man den zwanzigseitigen, hinter einer
Ideen an EntscheidungsträgerInnen heranzutragen. Unse-
Pay-Wall versteckten Aufsatz zum Zusammenhang zwi-
re Denkanstöße sind ein erster Schritt, um über den
schen Entwicklungsarbeit und Migration nicht liest, um
Tellerrand der Wahlprogramme zu blicken. Ihr seid an-
einschätzen zu können, wie aussichtsreich die politi-
6
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
DANK
derer Meinung oder habt andere Ideen für die deutsche, europäische und globale Migrations- und Flüchtlingspo-
Wir danken allen ExpertInnen, die uns inhaltlich beim
litik von morgen? Immer her damit! Lasst uns diskutie-
Erstellen dieses Papers unterstützt haben. Unser Dank
ren, streiten, Ideen entwickeln und sie in den politischen
gilt außerdem der Hertie Stiftung und dem gesamten
Diskurs tragen.
Team von Polis180.
2. AUF UMWEGEN – DAS RECHT AUF SCHUTZ Von Jonas Freist-Held
2.1. DIE BISHERIGE ROUTE
erfüllen.
2
Dann erhält sie mindestens drei Jahre
Schutz und hat das Recht, ihre Familie nachzuholen.
In Deutschland kann eine geflüchtete Person auf drei
Menschen, die aus einem Kriegsgebiet fliehen und
Arten Schutz erhalten: als Flüchtling gemäß der
dort einer ernsthaften Gefahr für Leib und Leben aus-
Genfer Flüchtlingskonvention, subsidiären Schutz
gesetzt sind, die aber keine individuelle Verfolgung
gemäß EU-Richtlinie 2011/95/EU und Asyl, wie im
nachweisen können, steht gemäß der EU-Richtlinie
deutschen Grundgesetz verankert.
3
subsidiärer Schutz zu. Dieser wird häufig für zunächst ein Jahr mit Option auf zweijährige Verlänge-
Als Mitglied der EU unterliegt Deutschland verschie-
rung gewährt. In Deutschland ist für diese Gruppe seit
denen globalen, regionalen und nationalen Konven-
der Verschärfung der Asylgesetze durch das Asylpa-
tionen, Verträgen und Gesetzen, die Implikationen für
ket II im Februar 2016 die Familienzusammenführung
den Schutzstatus und die Rechte von Geflüchteten
für zwei Jahre ausgesetzt.
haben. Auf globaler Ebene sind die Genfer Flücht-
4
Darüber hinaus haben
nach Artikel 16a des deutschen Grundgesetzes von
lingskonvention (1951) und ihr zusätzliches Protokoll
einem Drittstaat politisch Verfolgte das Recht auf drei
(1967) die zentralen Dokumente für den Flüchtlings-
Jahre Asyl in Deutschland. Seine Anwendung wurde
schutz. Mit der Europäischen Menschenrechtskon-
allerdings bereits 1993 im sogenannten Asylkompro-
vention, aufbauend auf der Universellen Erklärung der
miss durch eine Änderung des Grundgesetzes einge-
Menschenrechte (1948), gibt es zusätzlich einen regio-
5
schränkt. Menschen, die keinen Schutzstatus erhal-
nalen Rechtsrahmen, dem 47 Staaten unterliegen. Die
ten, sind ausreisepflichtig. Gibt es jedoch Abschie-
dort verankerten Rechte können vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sowohl von Individuen als auch von Staaten eingeklagt werden.
2
Artikel 1 der Genfer Flüchtlingserklärung definiert einen Flüchtling als Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ ihr Land verlassen musste und für die eine Rückkehr eine Gefahr darstellt. Die Verfolgung muss nicht von einer staatlichen Stelle ausgehen, sondern es reicht, wenn die staatlichen Strukturen nicht in der Lage sind, die Person zu schützen. 3 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Subsidiärer Schutz. http://www.bamf.de/DE/Fluechtlingsschutz/AblaufAsylv/Schutzf ormen/SubsidiaererS/subsidiaerer-schutz-node.html 4 Pro Asyl: Asylpaket II in Kraft: Überblick über die geltenden asylrechtlichen Änderungen. https://www.proasyl.de/hintergrund/asylpaket-ii-in-kraftueberblick-ueber-die-geltenden-asylrechtlichen-aenderungen/ 5 Bundeszentrale für politische Bildung: Vor zwanzig Jahren: Einschränkung des Asylrechts 1993. http://www.bpb.de/politik/hintergrundaktuell/160780/asylkompromiss-24-05-2013
Zusätzlich verpflichtet sich die EU in der 2009 verabschiedeten Charta der Grundrechte der Europäischen Union zur Einhaltung der Menschenrechte. Im Vertrag von Lissabon visiert sie eine gemeinsame Flüchtlingspolitik an. Daher definiert seit 2011 die Richtlinie 2011/95/EU für alle 28 Mitgliedstaaten verbindliche Minimalstandards, um den Schutz von Flüchtlingen zu gewährleisten.
1
Um als Flüchtling anerkannt zu werden, muss eine Person die in Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention definierten Bedingungen individueller Verfolgung
1
Die Richtlinie löste die Vorgängerrichtlinie (2004/83/EG) ab.
7
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bungshindernisse wie fehlende Reisedokumente oder
Eine Abschiebung schutzberechtigter Menschen ist
gesundheitliche
diese
völkerrechtswidrig (Prinzip des non-refoulement). Das
Menschen eine Duldung. Erst wenn die Hindernisse
Einschränkungen,
erhalten
gilt bereits für Menschen, die in internationalen Ge-
beseitigt wurden, kann eine Abschiebung erfolgen.
wässern von europäischen Schiffen in Seenot gerettet werden (vgl. Kapitel 3).
W er profitiert von den Schutzm öglichke iIm m er w eniger M enschen erhalten Schutz
ten?
in der EU - w arum ?
Noch nie waren mehr Menschen auf der Flucht als heute. Laut UNHCR waren es 2016 65,6 Millionen,
Einerseits haben EU-Staaten und allen voran Deutsch-
darunter über 40,3 Millionen, die ihr Heimatland nicht
land die Staaten Bosnien-Herzegowina, Mazedonien,
verlassen haben, sogenannte Binnenvertriebene. Die
Serbien, Montenegro, Kosovo, Albanien sowie Ghana
größten Gruppen von Geflüchteten kommen aus Syri-
und den Senegal unter der Annahme, dass eine politi-
en (5,5 Millionen), Afghanistan (2,5 Millionen) und
sche Verfolgung dort nicht stattfindet, zu sicheren
dem Südsudan (1,4 Millionen). Neun von zehn Ge-
Herkunftsländern erklärt - die Chance für Menschen
flüchteten leben in Entwicklungsländern (vgl. Kapitel
aus diesen Ländern auf Schutz tendiert gegen Null.
5). Die Türkei hat in absoluten Zahlen weltweit mit 2,9
Andererseits kann nach der bestehenden Gesetzge-
Millionen Menschen die meisten Schutzsuchenden
bung eine Person nur dann internationalen Schutz
aufgenommen. Die Ankunft in Europa ist vergleichs-
beantragen, wenn sie sich in einem EU-Mitgliedsland
weise gering – 1,8 Millionen Menschen laut UNHCR
befindet. Reguläre Möglichkeiten, die EU zu errei-
im europäischen Rekordjahr 2015.
Davon kamen
chen, gibt es jedoch kaum (vgl. Kapitel 3). Ein paar
890.000 nach Deutschland. 2016 sank die Zahl der in
Tausende haben von der freiwilligen Teilnahme eini-
Deutschland
ger Mitgliedstaaten an Resettlement-Mechanismen,
6
neu
registrierten
7
Geflüchteten
auf
280.000, im ersten Halbjahr 2017 auf etwa 90.400.
8
beispielsweise des UNHCR, profitiert. Doch für die
2016 erhielt mehr als ein Drittel der AntragstellerInnen
Mehrheit der Schutzsuchenden bleibt nur der irregulä-
in Deutschland den Flüchtlingsstatus nach Genfer
re und oftmals tödliche Weg über das Mittelmeer. Seitdem 2015 mehr als 1,2 Millionen Menschen Schutz 10 in der EU beantragt haben , versucht die EU, diese Routen systematisch zu schließen und Menschen daran zu hindern, sich überhaupt auf den Weg in die EU zu machen (vgl. Kapitel 4). Wenn Menschen die EU dennoch erreichen, sind nach der Dublin IIIVerordnung allein die Erstaufnahmestaaten dazu verpflichtet, jeden Einzelfall zu prüfen und gegebenen11 falls adäquaten Schutz zu gewähren. Die Verordnung wird seit Jahren als höchst unsolidarisches Instrument kritisiert, da einige wenige Länder die Herausforderung alleine bewältigen müssen. Zwar machte Deutschland 2015 kurzzeitig Gebrauch von einer sogenannten Ermessensklausel (Artikel 17) und setzte damit das System aus, um die Einreise Hunderttausender Schutzsuchender, die an den europäischen Außengrenzen gestrandet waren, zu erlauben. Doch konnten sich die EU-Staaten bis heute nicht auf die Reform der Dublin-Verordnung und ein solidarisches
Flüchtlingskonvention (36,5%), ein Fünftel subsidiären Schutz nach der EU-Richtlinie (22,1%) und lediglich 0,3% Asyl nach dem deutschen Grundgesetz.
9
Die
Reihenfolge blieb im ersten Halbjahr 2017 gleich, wenngleich
insgesamt
weniger
AntragstellerInnen
einen positiven Bescheid erhielten (20,3% Flüchtling, 17,3% subsidiärer Schutz, 0,5% Asyl). Menschen syrischer Nationalität, mit Abstand die größte BewerberInnengruppe, erhalten zu knapp 98% einen Schutzstatus. Davon erhielt 2016 noch eine Mehrheit den Flüchtlingsstatus, seit Anfang 2017 wird allerdings vermehrt nur noch subsidiärer Schutz gewährt.
6
UNHCR: Zahlen und Fakten: https://www.unofluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html 7 UNHCR: Operational Portal: http://data.unhcr.org/mediterranean/regional.php 8 Bundesministerium des Innern: 90.389 Asylsuchende im ersten Halbjahr 2017, Pressemitteilung, 07.07.2017. http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/20 17/07/asylantraege-juni-2017.html?nn=3315588 9 Bundesministerium des Innern: 280.000 Asylsuchende im Jahr 2016, Pressemitteilung, 11.01.2017. http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/20 17/01/asylantraege-2016.html
10
UNHCR: Global Trends, Forced Displacement in 2015, S. 35. http://www.unhcr.org/576408cd7.pdf 11 Ausnahmen gibt es beispielsweise bei der Familienzusammenführung.
8
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
Verteilungssystem einigen. Darunter leidet heute ins-
widrige Rücknahmeabkommen mit Herkunftsstaaten.
besondere Italien enorm.
Um einen „uneingeschränkte(n) Zugang zu einem fai-
12
ren Asylrechtsverfahren“
19
für Schutzbedürftige si-
cherzustellen, fordern sie eine Ausweitung des Resett-
2.2. DAS SAGEN DIE PARTEIEN
lement-Programms des UNHCR und die Schaffung legaler Fluchtrouten nach Europa. Auch die Grünen
Dass die Zahl der Schutzberechtigten in Deutschland
fordern mehr Solidarität innerhalb der EU.
13
„wirksam reduziert“ wurde, sieht die CDU/CSU als Erfolg ihrer Politik. Sie möchte die Liste sicherer Her-
Das Menschenrecht auf Asyl sei nicht verhandelbar,
kunftsstaaten auf Algerien, Marokko und Tunesien
sagt auch die FDP und lehnt jegliche Obergrenzen als
ausweiten und die Zahlen weiter senken. Menschen
grundgesetzwidrig ab. Allerdings möchten die Freien
ohne Schutzanspruch sollen „von der Überfahrt nach
Demokraten „effektive Mechanismen zur Entschei-
Europa abgehalten werden“. Ihren humanitären Ver-
dung über die Schutzbedürftigkeit“
pflichtungen möchte sie über Resettlement- und Relo-
und zwischen individuell Verfolgten, Kriegsflüchtlin-
cation-Programme nachkommen.
gen und dauerhaften EinwandererInnen klar unter-
14
20
weiterentwickeln
scheiden. Für Kriegsflüchtlinge soll ein eigener, tem-
Für die SPD muss das Recht auf Asyl „auch in Zu-
porärer Status geschaffen werden, „der auf die Dauer
15
kunft unangetastet bleiben“ . Gemeinsam mit dem
des Krieges begrenzt ist“.
UNHCR müsse man die Situation der Menschen auf
21
der Flucht verbessern und sichere Möglichkeiten
Die AfD
schaffen, um internationalen Schutz zu beantragen.
Schutz- und Asylgarantie abschaffen. Angesichts der
Sie unterstreicht das Gebot der Nicht-Zurückweisung
heutigen „massenhaften (…) Wanderungsbewegun-
(non-refoulement) und knüpft eine Kooperation mit
gen“
Drittstaaten an deren Einhaltung der Menschenrechte
nur möchte sie den „massenhaften Missbrauch des
und der Genfer Flüchtlingskonvention. Zudem setzt
Asylgrundrechts“
sie sich für ein solidarisches Verteilungssystem in der
beenden, sie möchte auch die „veraltete Genfer
EU ein. Wer mehr als zwei Jahre in Deutschland ar-
Flüchtlingskonvention und supra- und internationale
beitet oder zur Schule geht, ohne straffällig zu wer-
Abkommen“
den, soll bleiben dürfen.
Zurückweisung lehnt sie ab und will Geflüchtete un-
22
will die 1949
geschaffene
individuelle
sei diese unmöglich aufrechtzuerhalten. Nicht
24
23
durch eine Grundgesetzänderung
neu verhandeln. Das Prinzip der Nicht-
mittelbar in ihre Herkunftsländer oder in Aufnahme-
Mehr Solidarität in Europa fordert die Linke. Zudem
zentren nach australischem Vorbild zurückführen.
fordert sie ein Ende des Massensterbens auf dem Mittelmeer und der Akzeptanz von „rechtsfreien Räumen in Auffanglagern und Abschiebezentren vor den Grenzen der EU“
16
2.3. W AS DAS BEDEUTET
. Das Recht auf internationalen
Schutz müsse wahrgenommen werden können: „Die
Alle Parteien differenzieren zwischen Flucht und Mig-
Grenzen der EU müssen für schutzsuchende Menschen offen sein.“
ration. Dabei wird insbesondere Migration als eine
17
vorübergehende Störung der natürlichen Ordnung wahrgenommen, die es auf unterschiedliche Art und
Die Menschenrechte sind das Leitbild des außenpoli-
Weise zu steuern, zu begrenzen oder gar zu unterbin-
tischen Engagements der Grünen. Die Partei kritisiert die “inhumanen Asylrechtsverschärfungen”
18
den gilt. Während Geflüchtete als Opfer stilisiert wer-
durch
den, werden MigrantInnen als Störer empfunden.
die aktuelle Bundesregierung und menschenrechts-
Dabei geht oft verloren, dass Geflüchtete nicht nur Schutz, sondern auch eine wirtschaftliche Perspektive
12
brauchen. Gleichzeitig können aber auch als „Wirt-
The Economist: Italy is facing a surge of migration across the Mediterranean, 20.07.2017. https://www.economist.com/news/europe/21725327-economicmigrants-piling-up-italy-eu-doing-little-help-italy-facing-surge 13 CDU/CSU Wahlprogramm 2017, S. 62. 14 CDU/CSU, S. 63. 15 SPD Wahlprogramm, S. 74. 16 Die Linke, Wahlprogramm 2017, S. 107. 17 Die Linke, S. 108. 18 Grüne Wahlprogramm 2017, S. 99.
schaftsflüchtlinge“ denunzierte Migrantinnen politi19
Grüne, S. 99. FDP Wahlprogramm 2017, S. 59. 21 FDP, S. 34. 22 AfD Wahlprogramm 2017, S. 27. 23 AfD, S. 29. 24 Ibid. 20
9
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
sche Gründe haben, zu migrieren. Zudem sehen die
ge, sie zeigt aber zumindest ein selektives Verständnis
Parteien Flucht und Migration als zeitlich begrenzte
internationaler Schutzverantwortung. Die Zahl der
Phänomene. Dass sie aber eine unausweichliche Fol-
Geflüchteten in Deutschland möchte sie dauerhaft
ge der voranschreitenden Globalisierung sind , geht
niedrig halten. Der bestehende Rechtsrahmen ver-
aus ihren Programmen größtenteils nicht hervor.
pflichtet Deutschland jedoch, in Not geratenen Men-
25
schen den entsprechenden Schutz zu gewähren. Al-
Die Positionen der Parteien lassen sich grob in drei
lerdings wurde in den letzten Jahren ein sehr teures
Gruppen einordnen. SPD, Grüne, Linke und die FDP
und ausgefeiltes Abwehrsystem eingerichtet (vgl. Ka-
bekennen sich klar zum internationalen Flüchtlings-
pitel 4), das die am stärksten Schutzbedürftigen sys-
schutz und betonen die internationale Verantwortung
tematisch davon abhält, die EU zu erreichen. Diesen
Deutschlands. Die legalen Möglichkeiten in der EU
Weg möchte die CDU/CSU weitergehen.
Schutz zu beantragen, wollen sie ausbauen. Eine Kooperation mit Staaten, die Menschenrechte und die
Weit rechts: Die AfD. Sie stellt den bestehenden
Genfer Flüchtlingskonvention missachten, lehnen die
Rechtsrahmen auf allen Ebenen in Frage, lehnt grund-
SPD, Grüne und Linke zumindest auf dem Papier ab.
legende Menschenrechte ab und will bestehende
Faktisch findet solch eine Kooperation unter der der-
Abkommen und Gesetze neu verhandeln oder bei
zeitigen Bundesregierung, der auch die SPD angehört,
nicht abnehmender Zuwanderung das Recht auf Asyl
allerdings bereits statt. Ebenso fordern die Parteien
gleich ganz abschaffen. Das hätte weitreichende Kon-
einen solidarischen Verteilungsmechanismus in der
sequenzen für zahlreiche Verpflichtungen und Ab-
EU und eine Stärkung des UNHCR. Die FDP möchte
kommen, die Deutschland nach dem 2. Weltkrieg
einen eigenen, temporären Status für Kriegsflüchtlinge
eingegangen ist. Würde Deutschland diesen Weg
schaffen und suggeriert durch den Vorschlag Innova-
gehen, würde es fundamentale Grundbedingungen der
tion. Nur: Derartiges wurde bereits 1993 durch den
EU-Mitgliedschaft aufkündigen.
Asylkompromiss sowie 2011 von der EU (subsidiärer
Die Erfahrungen des zweiten Weltkriegs haben die
Schutz, s.o.) eingeführt. Zudem basiert dieser Vor-
internationale Staatengemeinschaft dazu veranlasst,
schlag auf einer unrealistischen Vorstellung: ein Ende
einen weitreichenden rechtlichen Rahmen zu schaf-
bewaffneter Konflikte in Syrien, Afghanistan, dem
fen, der jedem Individuum ein Leben in Würde und
Südsudan oder Somalia ist nicht in Sicht. Stattdessen
körperlicher Unversehrtheit zusichern soll. In der EU
sollte die Politik passende Angebote schaffen, damit
wurde dieses Versprechen in die Gesetzgebung auf-
Geflüchtete in Deutschland ein neues Leben aufbauen
genommen. Auf dem Papier kann der Flüchtlings-
können.
schutz in der EU und Deutschland als einer der pro-
Alle vier Parteien wollen die Lebensbedingungen der
gressivsten weltweit bezeichnet werden. „Jeder hat
Menschen vor Ort verbessern und so die Anzahl der
das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Per-
zur Flucht gezwungenen Menschen reduzieren, je-
son“. So steht es in Artikel 3 der universellen Men-
doch nicht zu Lasten der gegenwärtigen humanitären
schenrechtserklärung, die somit einen Minimalstan-
Verantwortung. Sie versprechen einen offeneren und
dard definiert. Das Recht auf Leben hat auch die EU
humanitäreren Ansatz, als es die derzeitige Bundesre-
2009 noch in ihre Charta der Grundrechte der Euro-
gierung tut. Fraglich ist, ob solch eine Politik langfris-
päischen Union aufgenommen. In der Realität verhin-
tig wirklich zu weniger Migration führen würde, so-
dert die EU durch ihre Abschottungspolitik (vgl. Kapi-
lange die wirtschaftlichen Ungleichgewichte auf glo-
tel 4), dass Menschen diese Rechte überhaupt in An-
baler Ebene derart massiv sind (vgl. Kapitel 5).
spruch nehmen können und nimmt in Kauf, dass sie beim Versuch ihre Rechte zu erreichen, im Mittelmeer
Ein solch klares Bekenntnis zum Flüchtlingsschutz
ertrinken. Die deutsche Bundesregierung unter Füh-
lässt die Union in ihrem Wahlprogramm vermissen.
rung der CDU/CSU unterstützt den eingeschlagenen
Zwar stellt sie internationale Abkommen nicht in Fra-
Weg der EU ausdrücklich und gestaltet ihn maßgeblich mit. Zwar fordert ihr Koalitionspartner, die SPD
25
Morazán, Pedro & Mauz, Katharina: Migration und Flucht in Zeiten der Globalisierung, Südwind Institut, Bonn, 2016.
eine humanitäre Ausrichtung der Flüchtlingspolitik. Die Entscheidungen der vergangenen Jahre hat sie
https://suedwindinstitut.de/files/Suedwind/Publikationen/2016/201624%20Migration%20und%20Flucht%20in%20Zeiten%20der%20Gl obalisierung.pdf
aber größtenteils widerspruchslos mitgetragen.
10
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
2.4. HINTERFRAGT: DER KOM PASS AUF
zu schützen und die internationale Lastenteilung fairer zu gestalten.
DEM PRÜFSTAND
“Global Compact on Refugees”, der die Rechte von
kaum Anwendung findet und die EU und Deutschland
Geflüchteten manifestiert und Staaten in die Pflicht
stattdessen versuchen, den Flüchtlingsschutz abzu-
nimmt, diese auch zu gewähren und ein “Global
schwächen oder ihn so weit wie möglich auszuhe-
Compact for safe, orderly and regular migration”, um
beln, indem sie die Außengrenzen abriegeln? Seit
MigrantInnen, die nicht unter den Schirm des interna-
2014 sind mehr als 12.000 Menschen im Mittelmeer
tionalen Schutzes fallen, besser zu schützen. Dabei ist
ertrunken. 2015 lag die Wahrscheinlichkeit, bei der
der Ansatz, zwischen Flucht und Migration zu unter-
Überfahrt zu ertrinken, bei 1/269. 2016 war sie bei 26
scheiden, zumindest aus humanitärer Sicht fragwür-
Ein massiver Anstieg.
dig. Denn: Kein Leben ist mehr wert als ein anderes.
Viele der Menschen, die jetzt aus Libyen über die
Es bleibt abzuwarten, worauf die Staaten sich einigen.
gefährliche zentrale Mittelmeerroute nach Europa
Klar ist jedoch: Es müssen großzügige legale Wege
aufbrechen, kommen aus Subsahara-Afrika und ha-
geschaffen
ben unter dem bestehenden Rechtsrahmen nur wenig
gen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Solange es diese
Nordafrika nach Perspektiven gesucht haben, wird oft
Perspektive nicht auch für Menschen mit weniger
Aufgrund der unmenschlichen Situation in
Qualifikationen gibt, wird sich auch das Schlepperwe-
Libyen, werden sie jedoch zu Geflüchteten – dann
sen halten und es wird weiter Tote im Mittelmeer
bleibt nur das Mittelmeer, denn der Weg zurück Grenzsicherungspolitik
auf
geben.
Anstatt die
Um zum indest kurzfristig den Schutz von Ge-
Subsahara-Afrika
flüchteten sicherzustellen, sollte die Finanzie-
auszuweiten und dam it der M obilität in einer ganzen
Region
den
Riegel
rung des UNHCR überdacht werden. Die Orga-
vorzuschieben,
nisation muss endlich mit einem eigenen operativen
sollte die EU den M enschen vor Ort und auch durch
legale
und
transparente
ihre
Wege geben, die EU zu erreichen und auf dem dorti-
ursprünglich nicht nach Europa wollten, sondern in
28
Schutzbedürftige
henden Schutzrahmen fallen, muss es mehr legale
hindern. Dass viele Menschen aus Subsahara-Afrika
durch die Sahara ist noch gefährlicher.
damit
Aber auch für Menschen, die nicht unter den beste-
die Union, diese Menschen gleich an der Überfahrt zu
27
werden,
Rechte in der EU auch in Anspruch nehmen können.
Aussicht auf Schutz. Deswegen fordert beispielsweise
ignoriert.
Bis Ende 2018 sollen auf VN-Ebene
dafür zwei “Global Compacts” erarbeitet werden: Ein
Was nützt der progressive Rechtsrahmen, wenn er
1/88.
29
Budget ausgestattet werden und politisch unabhängig
M igrations-
als Garant der internationalen Schutzrechte auftreten.
m öglichkeiten in die EU Perspektiven bieten.
Vorschläge wie dieser sind seit Jahren in der Diskus-
Sonst werden die Menschen weiter fliehen – auch wenn ihre Aussicht auf Schutz in Europa gering ist.
sion und werden in Teilen von SPD, Grünen, Linke
Daher bedarf es einer grundlegenden Neuau s-
den Status Quo. Ihr Fokus auf eine Reduzierung der
und FDP aufgegriffen. Die Union hingegen verwaltet
richtung des internationalen Flüchtlingsschut-
Schutzbedürftigen auf deutschem Boden ist ange-
zes – nicht der bestehenden Rechte, denn sie
sichts weltweit steigender Flüchtlingszahlen zynisch
sind heute w ichtiger denn je – aber des Rah-
und keinesfalls nachhaltig. Die AfD möchte sich gleich
m ens ihrer Anwendung. Im September 2016 ver-
ganz jeglicher internationaler Verantwortung entziehen
pflichteten sich die Mitgliedstaaten der Vereinten
und stellt damit eine der bedeutendsten humanitären
Nationen (VN) in der “New York Declaration for Refu-
Errungenschaften nach dem Ende des Zweiten Welt-
gees and Migrants”, Menschen auf der Flucht besser
kriegs in Frage. Der internationale Rechtsrahmen ist kein Legokasten,
26
UNHCR: Mediterranean death toll soars, 2016 is deadliest year yet, 25.10.2016. http://www.unhcr.org/news/latest/2016/10/580f3e684/mediterra nean-death-toll-soars-2016-deadliest-year.html 27 Kingsley, Patrick: The European Odyssey - the Story of Europe’s Refugee Crisis, London: Faber, 2016. 28 Kingsley, Patrick: 'They were psychopaths': how chaos in Libya fuels the migration crisis, The Guardian, 17.06.2017. https://www.theguardian.com/world/2016/jun/17/they-werepsychopaths-how-chaos-in-libya-fuels-the-migration-crisis
aus dem man sich passende Teile bei Bedarf heraussuchen kann. Die Schutzverantwortung gilt uneinge-
29
UNHCR: New York Declaration for Refugees and Migrants. http://www.unhcr.org/new-york-declaration-for-refugees-andmigrants.html
11
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
schränkt. Die Rechte erreichbar zu machen, ist Aufgabe der Politik.
3. KONTROVERSE SEENOTRETTUNG UND DAS RINGEN UM SICHERE ZUGANGSWEGE NACH EUROPA von Natalie W elfens
3.1. DIE BISHERIGE ROUTE
7000,- pro Person.
tikinstrumente, um der aktuellen Situation zu begegnen.
schem bzw. deutschem Boden befindet. Die Einreise ist
Gegenwärtig operieren im Mittelmeer keine staatlichen
jedoch nur mit einer gültigen Einreisegenehmigung
bzw.
möglich, z.B. einem Tourismusvisum. Für Geflüchtete
EU-Seenotrettungsmissionen.
Alle
sogenannten
„Search and Rescue“-Missionen werden von Nicht-
gibt es nur sehr selten die Möglichkeit, ein Visum zu
Regierungsorganisationen (NROs) durchgeführt. Die ab
bekommen, mit dem sie per Flugzeug oder Schiff auf
Oktober 2013 von Italien initiierte Mission ‚Mare Nost-
legalem und sicherem Wege nach Europa kommen könnten. Die sogenannten „Carrier Sanctions“
Seenotrettungsmissionen sowie die
Schaffung legaler Zugangswege sind zwei zentrale Poli-
Einen Asylantrag kann nur stellen, wer sich auf europäi-
30
32
rum‘, die rund 130.000 Menschen vor dem Ertrinken
verhin-
retten konnte, wurde nach einem Jahr eingestellt. Grund
dern, dass Beförderungsunternehmen, z.B. Fluggesell-
dafür war die mangelnde Bereitschaft der EU-Staaten,
schaften, Menschen ohne die erforderliche Erlaubnis
Mare Nostrum in eine europäische, EU-finanzierte Mis-
nach Deutschland bringen. Andernfalls muss das Unter-
sion zu überführen. An ihre Stelle trat die Frontex-
nehmen Bußgelder zahlen, die Rückbeförderung über-
Mission Triton, die jedoch in einem weit kleineren Radi-
nehmen und kann auch für die Kosten einer Zurückoder Abschiebung verantwortlich gemacht werden.
us operiert und primär der Grenzkontrolle statt der See-
Aus diesen Gründen müssen viele Geflüchtete irregulär
gestartete Frontex-Mission „Poseidon“, an der griechi-
31
notrettung dient. Gleiches gilt für die ebenfalls in 2015
auf dem See- oder Landweg einreisen. Nur: Das wird
schen Seegrenze zur Türkei sowie weitere Frontex-
durch die Grenzpolitik der EU und Deutschland weitest-
33
Missionen im westlichen Mittelmeer. Hinzu kommt die
gehend verhindert (vgl. Kapitel 4). Geflüchtete müssen
Mission EU EUNAVFOR MED („Sophia“), die vorrangig
deshalb auf sogenannte Schlepper, Menschen, die ihnen
dem Kampf gegen Schlepper-Fluchthelfer dienen soll.
gegen Geld helfen, die Grenze irregulär zu überqueren,
Die gezielte Seenotrettung erfolgt somit durch NROs und
zurückgreifen. Die Flucht wird teuer und gefährlich: Die
private Initiativen. Inzwischen ist das Mittelmeer zur
Kosten für die Flucht nach Deutschland belaufen sich einer aktuellen Studie zufolge auf durchschnittlich €
32
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 2016, http://doku.iab.de/kurzber/2016/kb2416.pdf. 33 Europäische Kommision, 2016, https://ec.europa.eu/homeaffairs/sites/homeaffairs/files/what-we-do/policies/securing-euborders/factsheets/docs/20161006/eu_operations_in_the_mediterranean_sea_ de.pdf.
30
Diese sind im EU-Recht und im Aufenthaltsgesetz § 63 und 64 der Bundesrepublik festgeschrieben. 31 Die Summe der verhängten Zwangsgelder ist in den letzten Jahren stark gestiegen und belief sich 2014 auf 2,6 Millionen Euro. 2008 waren es noch 326 000 Euro.
12
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
„tödlichsten Grenze“ bislang 2169
35
34
weltweit geworden. 2017 sind
den seit 2012 20.000 Menschen Schutz gewährt. Mit
Menschen im Mittelmeer gestorben; die
dem zweiten Programm wurde humanitäre Aufnahme
Sterblichkeitsrate ist damit von 0.37% in 2015 auf 2,3% in
mit einer privaten Sponsorship-Komponente ergänzt.
2017 gestiegen.
Seit 2012 nimmt der Bund außerdem eine festgelegte
36
2016 war das bislang tödlichste Jahr,
mit mehr als 5000 Toten trotz sinkender Überfahrten.
Quote besonders schutzbedürftiger Geflüchtete im Rahmen vom Resettlement auf. Auch die EU bemüht sich
Legale und sichere Zugangswege verfolgen zwei Ziele: einerseits
ermöglichen
sie
bestimmten,
seit 2015, die Resettlementkontigente zu vergrößern und
besonders
Standards zu vereinheitlichen.
schutzbedürftigen Geflüchteten die legale und sichere Einreise. Andererseits sind sie eine Möglichkeit, den Zugang von Geflüchteten zu regulieren und zu kontrollie-
3.2. DAS SAGEN DIE PARTEIEN
ren. Je nach Programm kann dies auch mit verstärkter Grenzkontrolle und Rückführungen gekoppelt sein, wie
Die
beim Abkommen zwischen der EU und der Türkei.
CDU/CSU
fordert
eine
effektive
EU-
Außengrenzkontrolle, u.a. durch eine Stärkung der
Es lassen sich vier bislang bekannte/praktizierte Instru-
Grenzschutzagentur Frontex. Die Zahlen, derer die nach
mente zur Öffnung legaler und sicherer Wege nach Eu-
Deutschland kommen, sollen dauerhaft niedrig bleiben,
ropa unterscheiden:
damit man „den humanitären Verpflichtungen durch Resettlement und Relocation nachkommen“ könne. Zum
Humanitäre Visa werden in Einzelfällen erteilt, wenn
Thema Seenotrettung äußert sich die Partei in ihrem
sich eine Person in einer konkreten Notsituation befindet
Wahlprogramm nicht.
und sie unmittelbar, konkret und ernsthaft an Leib und
Die SPD möchte neben der Reduzierung der Einwande-
Leben bedroht ist.
rung nach Deutschland durch Abkommen mit Drittstaa-
Resettlement (dt. Neuansiedlung) bezeichnet nach der
ten
Terminologie des UNHCR die Auswahl und den Transfer
37
auch feste Aufnahmekontingente durchsetzen, bei
denen Frauen, Kinder und Familien vorrangig aufge-
verfolgter Personen aus einem Staat, in dem die Be-
nommen werden sollen. Dadurch könne man insbeson-
troffenen Schutz gesucht haben, in einen Staat, der ihrer
dere besser kontrollieren und steuern, wer nach Europa
Aufnahme als Schutzbedürftige zugestimmt hat und in
einreist. Zudem fordert sie ein europäisches Seenotret-
dem sie sich dauerhaft niederlassen und integrieren
tungsprogramm.
können.
Die Linke fordert sichere Fluchtwege, um das Sterben
Humanitäre Aufnahme ist ein Prozess, durch den ein
im Mittelmeer zu beenden. Grenzen sollten für schutzsu-
Land eine Gruppe von gefährdeten Geflüchteten, die sich
chende Menschen offen sein. Die Vorschläge der Euro-
in Drittländern befinden, anerkennt und ihn einen tempo-
päischen Kommission seien von „Repressionen und
rären Schutz aus humanitären Gründen gewährleistet.
Überwachung, Entmündigung und Entrechtung“ geprägt.
Private Sponsorship Programme bieten die Mög-
Die Grenzkontrollagentur Frontex will sie durch ein eu-
lichkeit der legalen und sicheren Einreise für Individuen
ropäisch koordiniertes Seenotrettungsprogramm erset-
bzw. Familien, sofern sich Privatpersonen im Aufnahme-
zen.
land verpflichten, die Aufnahme- und ggf. Lebenshal-
Die Grünen wollen großzügige Kontingente für eine
tungskosten zu decken.
legale Einreise von Geflüchteten aus den Anrainerstaaten
In den vergangenen Jahren hat sich die Bundesrepublik
nach Europa, auch aus der Türkei. Konkret verweisen sie
Deutschland insbesondere durch Resettlement und hu-
auf ein baden-württembergisches Aufnahmeprogramm
manitäre Aufnahmeprogramme für legale Zugangswege
für vom sogenannten Islamischen Staat (IS) verfolgte
eingesetzt. Im Rahmen von drei humanitären Aufnahme-
Frauen und Kinder als gutes Beispiel. Auch für humani-
programmen des Bundes für syrische Geflüchtete wur-
täre Visa will sich die Partei einsetzen. Darüber hinaus sollen Seenotrettungsprogramme wiedereingeführt werden.
34
International Organization for Migration (IOM), 2017, https://missingmigrants.iom.int/latest-global-figures. 35 IOM, 30.06.2017, http://missingmigrants.iom.int/. 36 Townsend: Mediterranean death rate doubles as migrant crossings fall, 20.03.2017, https://www.theguardian.com/world/2017/jun/03/mediterranean -refugees-migrants-deaths.
37
Im Gegensatz zur Union fordert die SPD, dass diese lediglich mit Staaten geschlossen werden sollten, die Menschenrechte achten.
13
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Die FDP schlägt humanitäre Visa nach Schweizer Vor-
Aktuelle Forschungsergebnisse widerlegen diese Thesen
bild sowie mehr Arbeitsmarkt- und Ausbildungsvisa als
jedoch: Obwohl 2016 nahezu keine Seenotrettungspro-
sichere Wege nach Europa vor. In Herkunfts- und Anrai-
gramme mehr im westlichen Mittelmeerraum operierten,
nerstaaten müsse für reguläre Migration geworben und
stieg die Zahl afrikanischer MigrantInnen um rund 46%.
darüber aufgeklärt werden. Frontex sei an die europäi-
Die Ursachen dieses Anstiegs hängen folglich mit der
sche Charta der Grundfreiheiten gebunden und solle
Situation in den Herkunftsregionen und nicht mit der
deswegen auch die Aufgabe der Seenotrettung wahr-
Präsenz von Seenotrettungsmissionen zusammen.
nehmen.
Forderung der AfD, in Seenot geratene Geflüchtete zu-
39
Die
rück in ihre Heimat- und Transitländer zu bringen, auch
Die AfD vertritt die Meinung, dass Asylanträge außer-
Push-Back Verfahren genannt, würde internationales
halb Europas gestellt werden sollen und das europäische
Recht verletzen und ist mit den menschenrechtlichen
Recht entsprechend angepasst werden solle. Geflüchtete
Pflichten Europas und der Bundesrepublik nicht verein-
sollen durch eine strenge Grenzschutzpolitik und extra-
bar.
territoriale Verfahren an der Einreise nach Europa gehindert werden (vgl. Kapitel 4). Die aktuellen Frontex- und
Die explizite Forderung nach Seenotrettungsprogrammen
Bundeswehrmissionen bezeichnet sie als „Schlepper-
aller anderen Parteien beschränkt sich weitestgehend
Hilfsdienste“
und fordert, dass man Geflüchtete in ihr
darauf, dass diese „europäisch“ (SPD) bzw. „europäisch
Heimat- bzw. Transitland zurück, statt nach Europa brin-
koordiniert“ sein sollten. Der genaue Umfang und die
gen solle. Das Gemeinsame europäische Asylsystem der
meist strittige Finanzierung eines solchen Programms
EU lehnt die AfD ab.
werden nicht näher diskutiert. Die unter Berufung auf die
38
europäische Grundrechtecharta formulierte Forderung der FDP, Seenotrettung müsse Aufgabe von Frontex
3.3. W AS DAS BEDEUTET
sein, erscheint angesichts Frontex bisheriger Ausrichtung und institutioneller Entwicklung wenig realistisch. Gemäß
Während das Thema Seenotrettung in den Wahlpro-
internationalem Recht sind Frontex-Missionen, ebenso
grammen 2013 noch keine Rolle spielte und die direkte
wie alle anderen Schiffe auf internationalen Gewässern,
Aufnahme von Schutzbedürftigen aus Drittstaaten im
zur Seenotrettung verpflichtet. Die ausdrückliche Priori-
CDU/CSU-Wahlprogramm von 2013 noch als „neue
40
tät von Frontex ist jedoch Grenzkontrolle.
Form des Schutzes“ bezeichnet wurde, sind beide The-
Es ist außer-
dem fraglich inwiefern eine Kombination von Grenzkon-
men inzwischen zu zentralen Elementen der parteipoliti-
trolle und Seenotrettung im Mandat von Frontex tatsäch-
schen Forderungen geworden.
lich wünschenswert wäre. Dies würde faktisch zu einer
Aus den Vorschlägen der Parteien wird jedoch auch
paradoxen Vermischung von sicherheitspolitischer Ab-
ersichtlich, dass die Vorstellungen zur genauen Ausge-
schottungs- und scheinbar humanitärer Aufnahmepolitik
staltung dieser politischen Instrumente variieren und sehr
führen.
vage bleiben. Dies gilt vor allem für den Punkt Seenot-
Die Vorschläge zu sicheren und legalen Zugangswegen
rettung, der zwar – mit Ausnahme der Union – von allen
für Schutzsuchende sind ähnlich wie beim Thema See-
Parteien angesprochen, jedoch nicht konkretisiert wird.
notrettung insgesamt vage formuliert, unterscheiden sich
In fast allen Fällen handelt es sich lediglich um eine klare
jedoch hinsichtlich der konkreten Instrumente. Die Grü-
Aussprache für (Die Linke, Die Grünen, FDP und SPD)
nen, SPD und Union fordern Kontingente, d.h. eine ent-
oder gegen (AfD) solche Programme.
weder langfristige (Resettlement) oder temporäre Auf-
Die AfD rechtfertigt ihre Ablehnung damit, dass diese
nahme
(humanitäre
Aufnahme)
„Schlepper-Hilfsdienste“ seien. Damit ist gemeint, dass
Schutzbedürftigen.
Schlepper weiterhin Menschen auf seeuntaugliche Boote
meinstrument bleibt auch die genaue Zahl, Herkunfts-
lassen würden, die, wenn sie in internationalen Gewäs-
bzw. Aufenthaltsregion und Auswahlverfahren weitest-
sern in Seenot geraten, von einer etwaigen Seenotret-
gehend unklar.
Neben
dem
von
ausgewählten
genauen
Aufnah-
tungsmission gerettet werden würden. Damit würde also eine Art Anreiz, ein sogenannter „Pull-Faktor“, für den
39
Goldsmith University/Forensic Architecture, 2017, https://blamingtherescuers.org/report/. 40 Kingsley & Trainor: EU borders chief says saving migrants' lives 'shouldn't be priority' for patrols, 22.04.2015, https://www.theguardian.com/world/2015/apr/22/eu-borderschief-says-saving-migrants-lives-cannot-be-priority-for-patrols.
irregulären Weg über das Mittelmeer geschaffen.
38
AfD Wahlprogramm 2017, S. 29.
14
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Das aktuell auf europäischer Ebene debattierte Resettle-
te – in Kombination mit einem humanitären Aufnahme-
mentprogramm wird von keiner der Parteien erwähnt.
programm - das Asylsystem entlastet werden. Die For-
Lediglich die Auswahlkriterien werden vereinzelt ange-
derung der Linken, europäische Grenzen müssten für
sprochen. Die von der SPD vorgeschlagene und von den
Schutzsuchende grundsätzlich offen sein, erscheint im
Grünen angedeutete Priorisierung von Frauen, Kindern
Vergleich wenig konkret und angesichts der aktuellen
und Familien entspricht zwar der dominanten humanitä-
politischen Lage unrealistisch. Eine ausschließlich für
ren Logik anderer Aufnahmeprogramme, reicht aller-
Schutzsuchende offene Grenze würde immer noch Ver-
dings zur Bestimmung eines besonderen Schutzbedarfs
fahren erfordern, um zu ermessen, wer als schutzsu-
nicht aus. Frauen und Kinder per se als besonders
chend gilt, und wer nicht. Damit einher geht die Frage,
schutzbedürftig zu sehen und sie deshalb für die sichere
wo diese Verfahren praktiziert werden.
Einreisemöglichkeit zu bevorzugen, zeichnet ein zu simplistisches Opferbild und spricht männlichen Ge-
3.4. HINTERFRAGT: DER KOM PASS AUF
flüchteten die besondere Schutzbedürftigkeit faktisch ab.
DEM PRÜFSTAND
Die von der CDU/CSU gewählte Formulierung legt nahe, dass eine Reduzierung der Asylbewerberzahlen Grund-
Sowohl Seenotrettung als auch sichere Zugänge nach
voraussetzung für die Einrichtung weiterer humanitärer
Europa werden kaum europäisch gedacht, obwohl
Aufnahme- und Resettlementprogramme sei. Diese soll-
gleichzeitig stets auf die europäische Dimension gepocht
ten jedoch von ihrem Grundgedanken her zusätzlich für
wird und die EU, z.B. im Bereich Resettlement, aktuell
besonders Schutzbedürftige und nicht anstatt des eigent-
konkrete Vorschläge ausarbeitet. Ein generelles Be-
lichen Asylrechts Schutz bieten. Im Gegensatz zur An-
kenntnis zu sicheren und legalen Wegen wird zwar deut-
nahme einer gruppenspezifischen Schutzbedürftigkeit
lich, allerdings kaum mit konkreten Vorschlägen zu Aus-
gehen die von der FDP und den Grünen vorgeschlage-
gestaltung und Laufzeit. Besonders bedenklich sind je-
nen humanitären Visa auf die individuelle Schutzbedürf-
doch jene Forderungen, welche die Steuerungsfunktion
tigkeit ein. Dieses Verfahren findet kaum Anwendung in
stärker als die humanitäre Dimension in den Vorder-
Europa; die letzten Jahre zeichnen einen deutlichen
grund stellen und sie faktisch als Alternative zum Grund-
Trend zu Resettlement und humanitärer Aufnahme ab.
recht auf Asyl präsentieren.
Auch ob und wie genau die Erteilung humanitärer Visa
Mittel- und langfristige Perspektiven in den Bereichen
möglich wäre, ist angesichts des letzten Urteils des Eu-
Seenotrettung und sichere Zugangswege müssten, so-
ropäischen Gerichtshofs (EuGH) schwierig zu beurteilen.
lange an bestehenden politischen Kategorien für Migran-
Dieser hatte hinsichtlich der Klage einer syrischen Fami-
tInnen und an der generellen Abschottungslogik festge-
lie, die in einer belgischen Botschaft humanitäre Visa
halten wird, den diversen Situationen Schutzsuchender
beantragt hatte, vor kurzem entschieden, dass der EU41
Visakodex nicht anwendbar sei.
gerecht werden und mehrere, ineinandergreifende Maß-
42
nahmen
Die AfD-Forderungen sind in diesem Punkt unklar und
sowie
sehr vage formuliert. Ihr Verweis auf das „australische
anvisieren.
schließlich
Modell“ suggeriert allerdings, dass sie die Anzahl der in
Richtwerte
Aufnahmekategorien nach
für
Kontingente
sollten
humanitären
sich
aus-
Kriterien,
und
nicht nach europäischen oder deutschen Eigen-
Europa ankommenden Schutzsuchenden maximal redu-
interessen richten. Eine Kombination von vier unter-
zieren und das Recht auf Asyl faktisch aushebeln will.
schiedlichen Maßnahmen könnte im zukünftigen Koaliti-
Der FDP-Vorschlag, auch über Arbeits- und Ausbil-
onsvertrag festgehalten werden:
dungsvisa sichere Zugänge zu schaffen, würde eine reale
Für besonders schutzbedürftige Personengrup-
Alternative für diejenigen bieten, die primär vor Armut
pen: Kontingente, die sich nach dem vom UN-
und nicht vor Krieg und Verfolgung fliehen. Damit könn-
HCR berechneten Resettlement-Bedarf und den offiziellen
UNHCR-Auswahlkriterien
richten,
unabhängig von der Zahl, die sich selbstständig
41
Dieser wird jedoch aktuell überarbeitet. 42 Für eine detaillierte Diskussion dieser Frage siehe Endres de Olivieira, 2017, http://verfassungsblog.de/humanitaere-visa-fuerfluechtlinge-nicht-mit-der-eu/ und Ziebritzki, 2017, http://fluechtlingsforschung.net/humanitarevisa-fur-fluchtlinge-wirklich-keine-angelegenheit-der-eu/.
auf den Weg nach Europa und Deutschland macht. Für komplexere Einzelfälle, die nicht von den Aufnahmekriterien abgedeckt werden: Ein von
15
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
Deutschland
initiierter
Vorstoß,
EU-
Für jene, die wenig Chancen auf Asyl oder hu-
Botschafts-Asyl einzurichten, bei dem Antrags-
manitären Schutz haben: Menschen, deren Her-
stellerInnen in ihrem Heimatland oder einem
kunftsländer als ‚sicher’ gelten und die deshalb
Drittstaat außerhalb
wenig
der EU
ein
Asyl beantragen
können.
Chancen
auf
Asyl
oder
humanitären
Schutz haben, dürfen im Rahmen eines Pilotprojekts beispielweise für eine Berufsausbildung
Für die, denen nur die riskante Überfahrt über
einreisen (vgl. Kapitel 6).
das Mittelmeer bleibt: Ein europäisches, von Frontex unabhängiges Seenotrettungsprogramm, das von allen EU-Staaten finanziert wird.
4. JUST MARRIED – ABER ZU WELCHEM PREIS? SICHERHEITSPOLITIK UND FLÜCHLINGSSCHUTZ Von Jonas Freist-Held
4.1. DIE BISHERIGE ROUTE
Auf der einen Seite hat eine zunehmend polarisiert geführte öffentliche Debatte dazu beigetragen, dass die
In Deutschland jahrelang ein vernachlässigtes Politikfeld,
Themen Flucht und Migration immer wieder in den Kon-
hat die Flüchtlingspolitik seit der Ankunft von 890.000 Flüchtlingen im Jahr 2015 ein Revival erlebt.
43
text von Bedrohungen wie Terrorismus gesetzt wurden.
Aus hu-
Als Konsequenz wurden Forderungen laut, die unkon-
manitären Gründen entschied Bundeskanzlerin Angela
trollierte Einreise müsse unterbunden werden, um Ter-
Merkel (CDU) im August 2015 die Dublin III-Verordnung
roranschläge zu verhindern. Hinzu kommt die abstrakte
der Europäischen Union (EU) – sie regelt, dass Geflüch-
Angst vor einer vermeintlichen „Überfremdung“ der
tete in dem EU-Land, in dem sie ankommen Schutz be-
deutschen Gesellschaft durch die Aufnahme von Men-
antragen müssen – auszusetzen. Damit ermöglichte sie
schen aus anderen Kulturkreisen.
Hunderttausenden an den europäischen Grenzen ge-
Während kurzfristig humanitäre Überlegungen im Vor-
strandeten Schutzsuchenden die Einreise nach Deutschland.
dergrund standen, bestimmten die Reduzierung der
Doch seitdem hat sich der Ton verändert. Bereits Ende
cherheit der europäischen Grenzen die öffentliche De-
Flüchtlingszahlen und die als gefährdet betrachtete Si-
September 2015 kündigten mehrere EU-Staaten temporär
batte. Fazit: Irreguläre Migration muss unterbunden wer-
interne Grenzkontrollen im Schengen-Raum an, darunter
den. Problem: Geflüchtete haben keine Chance auf ein
Deutschland. Die Begründung: Der Schutz der öffentli-
Visum, das eine reguläre Einreise in Europa ermöglichen
chen Sicherheit und Ordnung. Auf der einen Seite zeigte
würde – und sichere Fluchtrouten sind kaum vorhanden.
sich der deutsche Staat überfordert mit der Registrierung
Für die, die sich auf den Weg nach Europa machen,
und Versorgung der ankommenden Menschen. Das
bleiben damit nur irreguläre Routen über das Mittelmeer.
bürokratische Chaos wurde als Legitimation gesehen, die
Abkommen mit Herkunfts- und Transitstaa-
Zahl der ankommenden Menschen stärker zu regulieren.
ten
43
Bundesministerium des Innern: 280.000 Asylsuchende im Jahr 2016, Pressemitteilung, 11.01.2017. http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/20 17/01/asylantraege-2016.html
Unter der Führung Deutschlands hat sich die Architektur der europäischen Flüchtlingspolitik seit dem Sommer
16
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
Der Kampf gegen die Schlepper
2015 kräftig verändert. Migrationspolitik wurde zu Sicherheitspolitik. Im März 2016 wurde das EU-Türkei-
Hotspot Libyen: aus keinem anderen Land brechen der-
Abkommen verabschiedet, in dem sich die Türkei – ein
zeit mehr Menschen in Richtung Europa auf als aus dem
wichtiges Transit- und Aufnahmeland, insbesondere für
vom Bürgerkrieg geplagten Staat in Nordafrika. 181.000
syrische Geflüchtete – dazu verpflichtet, seine Außen-
waren es laut UNHCR 2016, gut 95.000 bereits in diesem
grenzen besser zu sichern und Geflüchtete, die aus der Türkei in Griechenland ankommen, zurückzunehmen.
48
Jahr.
44
Im Gegenzug versprach die EU Geldleistungen in Höhe
dafür verantwortlich, dass so viele Menschen den ge-
von 6 Milliarden Euro für die Versorgung auf türkischem
fährlichen Weg über die zentrale Mittelmeerroute auf
Boden. Während 2015 laut UNHCR etwa 850.000 Men-
sich nehmen. Bereits im Herbst 2015 rief sie daher die
schen über die östliche Mittelmeerroute Griechenland erreichten, 12.000.
45
waren
es
2017
bisher
lediglich
Für die EU ist klar: die kriminellen Schlepper, die
sich an der libyschen Küste ausgebreitet haben, sind
Militäroperation EUNAVFOR MED, besser bekannt als
knapp
Operation Sophia, ins Leben, um zunächst die Aktivitä-
Das Abkommen gilt als Blaupause für die
ten der Schlepper zu beobachten und anschließend mit
Flüchtlingspolitik der EU, trotz massiver Kritik von Men-
Militärschiffen auf hoher See zu unterbinden.
schenrechtsorganisationen, die unter anderem die Ein-
49
Da den-
noch immer mehr Menschen in Italien ankamen, wurde
stufung der Türkei als sicheren Drittstaat anzweifeln.
die Operation im Juni 2016 ausgeweitet. Im Zuge der
Der Europäische Rat visiert ein ähnliches Abkommen mit
Mandatserweiterung beschloss die EU die libysche
Libyen an.
Auch mit Jordanien, dem Libanon, Tunesien
Grenz- und Küstenwache auszubilden, um besser gegen
sowie Niger, Nigeria, Senegal, Mali und Äthiopien sol-
die Schlepper und damit gegen die irreguläre Migration
len sogenannte Migrationspartnerschaften abgeschlos-
vorzugehen. Während in internationalen Gewässern
sen werden. Offiziell will die EU mit den Abkommen
operierende Schiffe unter EU-Flagge Menschen in See-
einen Beitrag zur Bekämpfung der Fluchtursachen leisten
not laut internationalem Recht auf EU-Territorium brin-
(vgl. Kapitel 5). Letztendlich sind die versprochenen fi-
gen müssen, darf die lybische Küstenwache Menschen
nanziellen Mittel jedoch an verschärfte Grenzkontrollen
nach Libyen zurückführen. Das macht sie zu einem at-
in den jeweiligen Staaten geknüpft. Die Ausreise potenti-
traktiven Partner gegen irreguläre Migration – und ist
46
47
eller Geflüchteter soll verhindert werden.
hochumstritten. Denn: Tausende Menschen werden in libyschen Lagern unter schlimmsten Bedingungen fest-
Damit nicht genug: die EU verbindet ihre gesamte Ent-
gehalten und gequält, wie unter anderem der VN-Bericht
wicklungszusammenarbeit zunehmend mit politischen
„Detained and Dehumanized“ (Eingesperrt und ent-
Bedingungen, die ihre Partnerländer dazu verpflichtet,
menschlicht) dokumentiert. Doch: Als Sicherheitsinteres-
irreguläre Migration zu unterbinden. Eine klassische
se deklarierte Migrationsabwehr geht vor Menschen-
sicherheitspolitische Angelegenheit. Und auch die Bun-
rechten. Die EU richtet ihre Sicherheitspolitik so auch
desregierung schließt bilaterale Abkommen und knüpft
gegen MigrantInnen.
die Zahlung von Entwicklungsgeldern an verschärfte Grenzkontrollen und die Rücknahme von „irregulären“ MigrantInnen.
Der Schutz der EU-Außengrenze Nicht ohne Stolz verkündete EU-Migrations-Kommissar Dimitris Avramopulos im Oktober 2016 den Start des Europäischen Grenz- und Küstenschutzes.
44
Europäischer Rat: Erklärung EU-Türkei, Pressemitteilung, 18.03.2016. http://www.consilium.europa.eu/de/press/pressreleases/2016/03/18-eu-turkey-statement/ 45 UNHCR: Operational Portal Mediterranean. http://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean 46 Europäischer Rat: Informelles Treffen auf Ebene der Staatsund Regierungschefs der EU, Malta, 03.02.2017. http://www.consilium.europa.eu/de/meetings/europeancouncil/2017/02/03-informal-meeting/ 47 Europäische Kommission: Kommission stellt neuen Migrationspartnerschaftsrahmen vor: Zusammenarbeit mit Drittländern verstärken, um Migration besser zu steuern, Pressemitteilung, 07.06.2016. http://europa.eu/rapid/press-release_IP-162072_de.htm
50
Die umge-
baute Nachfolgeorganisation der Grenzschutzagentur Frontex soll an den externen Grenzen der EU „illegale“
48
UNHCR: Operational Portal Mediterranean. http://data2.unhcr.org/en/situations/mediterranean 49 European External Action Service: EUNAVFOR MED operation SOPHIA. https://eeas.europa.eu/csdp-missionsoperations/eunavfor-med_en 50 Europäische Kommission: Sicherung der Außengrenzen Europas: Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache nimmt ihre Arbeit auf, Pressemitteilung, 06.10.2016. http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-3281_de.htm
17
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
Grenzüberschreitungen verhindern. Sogenannte Interven-
Sicherheit an den europäischen Außengrenzen spielt auch
tionsteams sollen sich illegal in Europa aufhaltende
für die SPD eine tragende Rolle. Dort will sie die Kontrol-
Menschen in ihre Herkunftsländer zurückbringen. Dabei
len verstärken, damit Kriminelle und Terroristen draußen
arbeitet das EU-Personal auch mit Behörden aus Staaten
bleiben. Die Rolle des europäischen Polizeiamts Europol
zusammen, die oft undemokratisch und menschen-
und der Grenzschutzagentur Frontex soll gestärkt werden.
rechtsverletzend agieren, um die irreguläre Ausreise vor
Allerdings bekennt sie sich zu einer humanitären Flücht-
Ort zu unterbinden. Das Ganze dient dem Schutz der
lingspolitik. Geflüchtete sollen in der EU solidarisch verteilt
inneren Sicherheit, wie die EU betont. Insbesondere
werden. Die Gefahren für Flüchtende möchte sie reduzie-
grenzübergreifende Kriminalität und Terrorismus sollen
ren und ein europäisches Seenotrettungsprogramm ein-
so unterbunden werden.
führen. Für die Versorgung in der Region soll UNHCR mit einer kontinuierlichen Finanzierung ausgestattet und das
Es ist nicht neu, dass die EU gegen irreguläre Migration
humanitäre Engagement Deutschlands insgesamt ausge-
vorgeht. Doch seit 2015 hat die Intensität der Bemühun-
baut werden. Bereits auf den Fluchtrouten sollen Flücht-
gen an Fahrt gewonnen. Das Ziel ist klar: am besten
lingen Anlaufstellen zur Migrationsberatung und Versor-
sollen die Menschen gar nicht mehr irregulär nach Euro-
gung offenstehen. Abkommen mit Drittstaaten eröffnen
pa kommen. Während die EU-Mitgliedsstaaten massiv in
Chancen,
sicherheitspolitische Maßnahmen investieren, sind humanitäre Organisationen, die Flüchtlinge direkt in ihrer
51
scher Geflüchteter gedeckt , für sudanesische gar nur
vorgehen. Eine Verknüpfung von Entwicklungsgeldern mit „Maßnahmen des Grenzschutzes und der Migrationskon-
Teil einer militärischen Strategie sein“
Militäroperation Sophia einstellen und Frontex durch ein
und MigrantInnen
Seenotrettungsprogramm ersetzen. Die Partei steht für eine Flüchtlingspolitik der offenen Grenzen für Schutzsu-
abzuhalten. Für Letzteres möchte sie „gemeinsam mit 54
chende und will die Mittel für UNHCR deutlich anheben.
die Lebensbedingungen
vor Ort verbessern. Das EU-Türkei-Abkommen sieht sie
Die Grünen versprechen, dass eine Bundesregierung
als Vorbild für weitere Verträge mit afrikanischen Staaten.
unter ihrer Beteiligung eine humanitäre Führungsrolle ein-
Ihr Hauptziel: „dass die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, dauerhaft niedrig bleibt“.
55
, sondern sich
betroffenen Menschen orientieren. Die Linke will die EU
der
ohne Schutzanspruch von der Überfahrt nach Europa internationalen Organisationen“
59
allein am Gebot der Hilfe für die von Hunger und Krieg
eingeschlagenen Weg der EU-Flüchtlingspolitik. Sie künSchleuser energisch [zu] bekämpfen“
lehnt sie ebenso ab wie die Zusammenarbeit im
men mit Drittstaaten. Internationale Hilfe dürfe „niemals
Die CDU/CSU bekennt sich in ihrem Wahlprogramm zum Aktivitäten
58
Sicherheitsbereich mit autoritären Regimen und Abkom-
4.2. DAS SAGEN DIE PARTEIEN
53
und
57
trolle“
menschenverachtenden
Europa
Fluchtwege zu blockieren“ , will sie gegen Fluchtursachen
sen ist, wird sich die Situation zeitnah nicht verbessern.
„die
nach
Jedoch möchte die SPD
desregierung. Statt „Flüchtende zu bekämpfen und deren
träge von staatlichen und privaten Geldgebern angewie-
an,
56
Die Linke kritisiert die eingeschlagene Politik der Bun-
Da UNHCR nach wie vor über kein festes operati-
ves Budget verfügt und Jahr für Jahr auf freiwillige Bei-
digt
Migration
Flüchtlingskonvention einhalten, zusammenarbeiten.
war nur 61% des Finanzbedarfs für die Versorgung syri52
„illegale
nur mit Staaten, welche Menschenrechte und die Genfer
Herkunftsregion versorgen, weiter unterfinanziert. 2016
25%.
um
Deutschland einzudämmen“.
nehmen werde. Dafür soll unter anderem die Rolle von
Das will sie errei-
UNHCR gestärkt und ein festes jährliches humanitäres
chen, indem die irreguläre Einreise von Menschen unter-
Budget von weit über einer Milliarde Euro zur Verfügung
bunden werden soll. Dafür ist sie bereit, sicherheitspoliti-
gestellt werden. Die von der EU betriebene Abschottung
sche (Grenzschutz-) Maßnahmen auszubauen.
finden die Grünen unmenschlich. Der „uneingeschränkte Zugang zu einem fairen Asylrechtsverfahren muss garantiert“
60
und die Entwicklungszusammenarbeit darf nicht an
Rückübernahmeabkommen gekoppelt sein. Abkommen
51
UNHCR: Syria Situation 2016. https://data2.unhcr.org/en/documents/download/55859 52 UNHCR: South Sudan Situation 2016. http://reliefweb.int/report/south-sudan/unhcr-south-sudansituation-2016-funding-update-20-december-2016-0 53 CDU/CSU Wahlprogramm 2017, S. 62. 54 CDU/CSU, S. 63. 55 Ibid.
56
SPD Wahlprogramm 2017, S. 75. Die Linke, Wahlprogramm 2017, S. 97. 58 Die Linke, S. 98. 59 Die Linke, S. 95. 60 Grüne Wahlprogramm 2017, S. 99. 57
18
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
mit Drittstaaten wie den EU-Türkei-Deal, die „Umwidmung
Ausweitung und Auslagerung des Grenzschutzes legiti-
entwicklungspolitischer
mieren soll.
Gelder
für
61
menschenrechtlich
problematische Grenzschutzprojekte“ und die „De-facto-
Die irreguläre Einreise zu unterbinden steht für die Union
Auslagerung der europäischen Außengrenzen durch Mig62
rationspartnerschaften“
an erster Stelle. Sie ordnet Deutschlands humanitäre
lehnen sie entschieden ab.
Verantwortung dieser Priorität unter. Das Asylrecht stellt die Partei zwar nicht in Frage, doch die Anzahl der an-
Frontex stärken für einen effektiven Schutz der EU-
kommenden Flüchtlinge soll auf einem niedrigen Niveau
Außengrenzen, sagt die FDP – jedoch will sie die Struktur
gehalten werden. Abkommen mit Drittstaaten, stärkere
der Agentur europäisieren und das Mandat um die Hoch-
Grenzkontrollen und der militärische Einsatz gegen
seenotrettung ergänzen, um weitere Tote im Mittelmeer zu
Schlepper sind für die Union legitime Mittel, um dieses
verhindern. Das Grundrecht auf Asyl ist für sie unantastbar
Ziel zu erreichen. Damit offenbart die Union eine selekti-
und Schutzsuchenden sollen Asylanträge bereits im Ausland stellen können.
ve Auslegung internationalen Rechts (vgl. Kapitel 2). Ihre
Die AfD befürchtet massive Migrationsbewegungen von
cken sich mit dem auf der EU-Ebene eingeschlagenen
überschaubaren Ausführungen im Wahlprogramm de-
“wanderungswillige(n) (...) junge(n) Männer(n)” aus dem “Armenhaus”
63
Weg der Grenzsicherung und Migrationskontrolle mithil-
Afrika und warnt vor einer Destabilisierung
fe sicherheitspolitischer Maßnahmen. Der Einfluss von
Europas. Daher fordert sie eine umgehende Schließung
Merkels Bundesregierung auf die EU-Politik wird deut-
der Grenzen. Die EU-Staaten sollen ihre Zusammenarbeit
lich.
im Wesentlichen auf die „Sicherung der europäischen
Für die SPD heiligt der Zweck nicht die Mittel. Die euro-
64
Außengrenze konzentrieren“ . Deutsche Grenzübergänge
päischen Außengrenzen sollen besser geschützt werden,
65
sollen durch „integrierte Sicherungssysteme“ , darunter
jedoch nicht auf Kosten von Geflüchteten. Das mag zu
Zäune, streng kontrolliert werden. Frontex und die Bun-
einer paradoxen Situation führen: Wie Grüne, FDP und
deswehr sollen auf dem Mittelmeer aufgenommene Men-
CDU/CSU fordert auch die SPD, Frontex zu stärken.
schen direkt zurück in ihre Heimatländer oder nach australischem Vorbild in „außereuropäische Aufnahmezentren“
Dabei wurde die Agentur bereits Ende 2016 in den Euro-
66
päischen Grenz- und Küstenschutz umgewandelt, hat
überführen. Ländern, die sich gegen die Rückübernahme
neue Kompetenzen erhalten und soll vordergründig dazu
wehren, sollen die Entwicklungsgelder gestrichen werden.
beitragen, die irreguläre Einreise zu unterbinden. Da es
Ganz allein lassen möchte die AfD die Flüchtlinge aber
für Geflüchtete allerdings fast nur irreguläre Routen in
nicht: auch sie möchte die Mittel des UNHCR erhöhen, um geflohenen Menschen in „heimat- und kulturnahen“
die EU gibt, werden auch sie Ziel dieser Politik. Die So-
67
zialdemokraten wollen, dass Menschen bereits vor Er-
Regionen eine sichere Aufnahmemöglichkeit zu gewähren.
reichen der europäischen Grenzen durch verbesserte Beratungsangebote entlang der Fluchtrouten von ihrem Fluchtvorhaben nach Europa abgebracht werden.
4.3. W AS DAS BEDEUTET
Während die SPD sich mit konkreten Vorschlägen für
Alle Parteien plädieren für einen stärkeren Schutz der
eine bessere Zusammenarbeit auf EU-Ebene von der
europäischen Außengrenzen (wobei die AfD die deut-
CDU/CSU abgrenzt und eine humanitäre Flüchtlingspoli-
schen Grenzen schützen möchte). Die Sicherheit der
tik umreißt, hat sie den Kurs der Union in den vergange-
europäischen Grenzen wird dabei insbesondere von
nen Jahren meist widerstandslos mitgetragen. Die FDP
Union, SPD, FDP und AfD in den Kontext der irregulären
positioniert sich ähnlich wie die SPD und will parallel die
Einreise von MigrantInnen und Geflüchteten gesetzt.
reguläre Arbeitsmigration ausbauen.
Welche Gefahr von diesen Menschen ausgehen soll,
Dagegen lehnen die Grünen und die Linke den einge-
lassen die Parteien aber offen. Vielmehr entsteht ein
schlagenen Weg deutlich ab. Ihre Ansätze kämen einer
schwammiges Bild einer abstrakten Bedrohung, die eine
fundamentalen Neuausrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik gleich. Die Grünen wollen Deutschland als
61
Grüne, S. 104. 62 Ibid. 63 AfD Wahlprogramm 2017, S. 27. 64 AfD, S. 29. 65 Ibid. 66 Ibid. 67 Ibid.
humanitäre
Führungsmacht positionieren. Das
Pro-
gramm der Linken ist von klassisch links-idealistischen und pazifistischen Standpunkten geprägt. Die Partei fordert einen offenen Zugang für alle Schutzsuchenden und Fähren statt Frontex. Beide Parteien lehnen die si-
19
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
69
cherheitspolitische Ausrichtung der Migrationspolitik,
ins Kriegsgebiet
die Auslagerung von Außengrenzen und militärische
Mittelmeer, setzen die Staats- und Regierungschefs der
Einsätze in diesem Kontext ab. Ihre Forderungen unter-
EU den eingeschlagenen Kurs fort. Dabei scheuen sie
mauert die Linke jedoch mit wenig konkreten Maßnah-
auch nicht davor zurück, einst selbst gesetzte Prinzipien
men; im Gegensatz zu den Grünen, die mit konkreteren
auszuhebeln. Die Knüpfung von entwicklungspolitischen
Vorschlägen aufwarten – vorausgesetzt ein potentieller
Leistungen an sicherheitspolitische Verpflichtungen wie
Koalitionspartner macht mit. Dennoch: Sowohl eine
Migrationsprävention und Grenzkontrolle für Partnerlän-
Regierungsbeteiligung der Grünen als auch der Linken
der – oftmals gegen den Willen der jeweiligen Regierung
könnte zu einer stärkeren humanitären Ausrichtung der
– steht im Widerspruch zum Vertrag von Lissabon. Er
Flüchtlingspolitik führen. Auch die SPD und FDP unter-
verpflichtet Mitgliedstaaten dazu, die Entwicklungszu-
stützen grundsätzlich eine humanitäre Ausrichtung, in
sammenarbeit auf die Armutsbekämpfung, die Förde-
der Rolle als Juniorpartner der Union würden sie aller-
rung von Demokratie und den Schutz der Menschen-
dings wohl andere Prioritäten setzen.
rechte auszurichten.
Weit rechts von der CDU/CSU positioniert sich die AfD.
Stattdessen fördern die EU und die deutsche Regierung
Sie verspricht eine fundamentale Abkehr in der Flücht-
nun repressive Sicherheitsapparate. Offiziell verkauft
lingspolitik. Im Gegensatz zu den anderen Parteien
sich die EU zwar nach wie vor als Hüterin der Genfer
spricht sie nicht von der Sicherung der europäischen
Flüchtlingskonvention, doch die Möglichkeit überhaupt
Grenzen; die Sicherung der deutschen Grenzen hat für
Asyl in Europa zu beantragen, wird zunehmend er-
sie oberste Priorität. Migrationsbewegungen werden als
schwert. Es ist legitim die europäischen Außengrenzen
apokalyptische Bedrohung konstruiert. Statt Kooperation
vor Sicherheitsbedrohungen zu schützen. Es ist ebenso
und internationaler Verantwortung setzt sie auf massive
legitim den Überblick behalten zu wollen, wer in die EU
Abschottung. Dabei stellt sie den aus den Lehren des
ein- und ausreist. Allerdings ist der sicherheitspolitische
Zweiten
Weltkriegs
hervorgegangenen
und neuer Rekordzahlen von Toten im
humanitären
Ansatz der EU eindimensional und bietet keine Lösung
Rechtsrahmen offen in Frage (vgl. Kapitel 2). Das würde
für die humanitären Probleme. Der Kampf gegen die
Deutschlands Rolle in der Welt fundamental verändern.
Schlepper ist eine reine Bekämpfung der Symptome
Deutschland, im Herzen Europas, würde sich isolieren.
eines Systems, das Menschen in Not alleine lässt. Ihre Motivation zu fliehen verändert sich dadurch nicht. Die Not der Fliehenden ist der Nährboden für die Aktivität
4.4. HINTERFRAGT: DER KOM PASS AUF
der Schlepper. Solange diese Not fortlebt, wird es auch
DEM PRÜFSTAND
Schlepper geben. Da kann die europäische Militäroperation Sophia noch so viele Schlauchboote zerstören.
Fortress Europe – Festung Europa. Das ist die Bezeich-
Als Ergebnis einer solchen Politik werden Menschen, die
nung, die sich die EU durch die Flüchtlingspolitik der
sich trotz dieser Hürden und Hindernisse auf den Weg
vergangenen Jahre verdient hat. Zwar ist diese Beschreibung
nicht
neu
–
bereits
vor
2015
haben
nach Europa machen, als illegale EinwanderInnen de-
EU-
nunziert und unter Generalverdacht gestellt ein Sicher-
Mitgliedsstaaten, beispielsweise Spanien an seiner südli-
heitsrisiko zu sein. Ihre (humanitären) Bedürfnisse sind
chen Grenze, massive Abschottungsprogramme ohne
zweitrangig. Das ist absurd und pervertiert den Gedan-
großen Einspruch aufgebaut. Doch die Dimension und die Geschwindigkeit der sicherheitspolitischen Maß-
ken der internationalen Schutzverantwortung.
nahmen haben in den letzten zwei Jahren deutlich zuge-
So ein Ansatz ist alles andere als nachhaltig. Die EU
nommen. Fast gleichgültig gegenüber den zahlreichen
sollte ihren sicherheitspolitischen Fokus durch
Berichten über massive Menschenrechtsverletzungen
einen kohärenten und holistischen Ansatz erset-
68
und Sklavenhandel in libyschen Camps , der illegalen
zen und:
Ausweisung syrischer Geflüchteter aus der Türkei zurück
●
Menschenrechte nicht durch Abkommen mit Drittstaaten und die Externalisierung
69
Amnesty International: Turkey: Illegal mass returns of Syrian refugees expose fatal flaws in EU-Turkey Deal, Pressemitteilung, 01.04.2016. https://www.amnesty.org/en/pressreleases/2016/04/turkey-illegal-mass-returns-of-syrianrefugees-expose-fatal-flaws-in-eu-turkey-deal/
68
OHCHR: Detained and Dehumanised, Report on human rights abuses against migrants in Libya, 13.12.2017. http://www.ohchr.org/Documents/Countries/LY/DetainedAndDe humanised_en.pdf
20
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der
eigenen
Grenzen
in
Partnerländer
Aber: Migrationsbewegungen sind kein temporäres Phä-
umgehen ●
nomen. Der eingeschlagene Weg ist weder zielführend, noch löst er nachhaltig die Herausforderungen. Nur ein
Dem europäischen Grenz- und Küsten-
kohärenter Gesamtansatz kann die Chancen von Migra-
schutz ein klares Mandat zur Seenotret-
tionsbewegungen zur Geltung bringen und die Risiken
tung geben ●
für Menschen auf der Flucht und auf der Suche nach
aufhören, entwicklungspolitische Gelder
Perspektiven minimieren. Das Leben und die Unver-
für
sehrtheit dieser vulnerablen Menschen zu schützen ist
sicherheitspolitische
wehrinfrastruktur
Migrationsab-
zweckzuentfremden
eine
und sich an die ODA-Richtlinien für Entwicklungszusammenarbeit
der
OECD
70
und den Vertrag von Lissabon halten ●
in Bildung, Gesundheitsversorgung, öffentliche Infrastruktur usw. investieren
●
selbst beeinflusste Fluchtursachen aufgrund einer fehlgesteuerten Handelspolitik durch faire Handelsabkommen korrigieren
●
nachhaltige Perspektiven für die Menschen vor Ort schaffen, anstatt die Gewinnabschöpfung multilateraler Konzerne in Drittstaaten zu erleichtern
●
die Rolle von UNHCR stärken und die Organisation durch die Einrichtung eines festen
operativen
Budgets
von
politi-
schen Zwängen befreien ●
großzügige, glaubhafte und vor allem sichere Schutzkanäle für Menschen und insbesondere Familien und Kinder auf der Flucht vor Krieg einrichten
●
legale Arbeitsmigration massiv fördern und somit Menschen eine realistische Chance auf ein Leben in der EU bieten
●
humanitäre
Verantwortung,
der
die
Deutschland immer weniger gerecht werden.
sich als Mediator und Schutzgarant für Frieden positionieren anstatt einer der führenden Rüstungsexporteure in Krisengebiete zu sein
Die Liste ließe sich fortsetzen. Die Ideen sind nicht neu. Doch der in den vergangenen Jahren eingeschlagene Weg setzt auf kurzfristige Lösungen, um die Flüchtlingszahlen in der EU zu minimieren. Migration wird als vorübergehende Störung der natürlichen Ordnung aufgefasst, als Aktivität, die grundsätzlich verboten gehört. 70
OECD: Official development assistance – definition and coverage. http://www.oecd.org/dac/stats/officialdevelopmentassistancede finitionandcoverage.htm
21
EU
und
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5. FLUCHTURSACHEN - EINFACHE FORMELN TROTZ KOMPLEXER HERAUSFORDERUNGEN von Lucas Rasche & Thore Hagemann
5.1. DIE BISHERIGE ROUTE
schwung auf dem afrikanischen Kontinent zu sorgen. Eine verbesserte Perspektive vor Ort soll die Men-
Die individuellen Motive der vielen nach Europa
schen schließlich davon abhalten, ihre Heimat zu
kommenden MigrantInnen lassen sich oftmals nicht
verlassen und sich auf den Weg nach Europa zu ma-
eindeutig kategorisieren. Eine klare Linie zu ziehen
chen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zu-
zwischen denen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen
sammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat deshalb
und solchen Menschen, die der wirtschaftlichen Per-
eine ‚Ausbildungsinitiative für Afrika’ ausgerufen. Das
spektivlosigkeit in ihrer Heimat zu entkommen versu-
Projekt soll besonders der jungen Bevölkerung eine
chen, ist in der Realität nahezu unmöglich. Denn beide
verbesserte wirtschaftliche und soziale Perspektive
Fluchtursachen treten häufiger gemeinsam als getrennt auf.
bieten und „adressiert damit eine Ursache von Wirt-
Aufgrund dieser recht problematischen
schaftsmigration“.
Unterscheidung steht den oft irreführend als ‚Wirt-
71
Im Rahmen drei sogenannter
‚Sonderinitiativen’ versucht das BMZ seit 2014, durch
schaftsflüchtlinge’ bezeichneten Menschen jedoch
die Förderung beruflicher Perspektiven und der Redu-
kein Recht auf Asyl in Deutschland zu (vgl. Kapitel 2).
zierung von Armut und Unterernährung, möglichen
In der Hoffnung diese, mehrheitlich aus Afrika kom-
Ursachen von Flucht und Migration entgegenzuwir-
mende, Migrationsbewegung nach Europa reduzieren
72
ken.
zu können, engagieren sich die EU und ihre Mitglied-
Es kann also festgehalten werden, dass sich die euro-
staaten deshalb verstärkt im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit.
päische und deutsche Entwicklungszusammenarbeit
Dieses Engagement folgt einer recht simplen Annah-
struktureller Fluchtursachen widmet.
in den letzten Jahren verstärkt einer Minderung solch
me: Durch eine verstärkte Entwicklungszusammenar-
Der aktuelle entwicklungspolitische Ansatz ist jedoch
beit sollen Armut und Perspektivlosigkeit in den Her-
umstritten. Zum einen ist unklar, in welcher Form eine
kunftsstaaten verringert werden. Der erhoffte wirt-
wachsende Wirtschaftsleistung überhaupt zur Redu-
schaftliche Aufschwung würde dann dazu führen, dass weniger Menschen zur Ausreise bewegt werden.
zierung der Migration beisteuern kann.
Entsprechende
armen Ländern zu einer (zumindest mittelfristig) zu-
Maßnahmen
auf
Kritiker be-
haupten, dass ein Mehr an Wirtschaftswachstum in
europapolitischer
Ebene sind der ‚EU Emergency Trust Fund for Africa’
nehmenden Migration beiträgt.
und das ‚New Migration Partnership Framework’. In
73
Laut diesem Argu-
beiden politischen Leitlinien lässt die EU einer Minderung der Fluchtursachen (root causes) in den Her-
71
GIZ: Ausbildungsinitiative für Afrika. https://www.giz.de/de/weltweit/43341.html. 72 BMZ : Fluchtursachen mindern – Aufnahmeregionen stabilisieren – Flüchtlinge unterstützen. http://www.bmz.de/de/themen/Sonderinitiative-Fluchtursachenbekaempfen-Fluechtlingereintegrieren/deutsche_politik/index.jsp. 73 de Haas, Hein, 2005: International Migration, Remittances and Development: myths and facts.
kunftsstaaten oberste Priorität zukommen. Auch die Bundesregierung hat sich dieser Strategie verschrieben. Mit dem Vorschlag eines ‚Marshallplan mit Afrika’ verfolgt Deutschland das Ziel, besonders durch privatwirtschaftliches Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit für einen wirtschaftlichen Auf-
22
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
ment wird die Wahrscheinlichkeit einer Ausreise
Kapitel 4). Die Instrumentalisierung von Entwicklungs-
durch die zusätzlich verfügbaren finanziellen Ressour-
politik zum Zweck des Grenzschutzes ist eine der
cen, eine verbesserte Technologie, Landflucht sowie
zentralen Kritiken am aktuellen entwicklungspoliti-
durch die wachsenden Ansprüche der Menschen
schen Konsens. Darüberhinaus machen sich die eu-
verstärkt.
ropäischen Staaten durch solche Praktiken abhängig
74
Zum anderen kann ein Schwerpunkt auf
wirtschaftliche Zusammenarbeit zwar sinnvoll sein –
von der Kooperationsbereitschaft korrupter Regime.
allerdings nur dann, wenn er von politischen Reformprozessen begleitet wird. Es ist richtig, Länder aus
5.2. DAS SAGEN DIE PARTEIEN
denen Menschen aufgrund mangelnder Perspektiven fliehen, wirtschaftlich zu unterstützen und dazu beizu-
Im Namen der Humanität möchte die CDU/CSU bes-
tragen, der Bevölkerung vor Ort ein würdevolles Le-
sere Perspektiven in den Heimatländern - besonders
ben zu ermöglichen. Zur Nachhaltigkeit einer solchen
auf dem afrikanischen Kontinent - bieten. Der bereits
Strategie zählt jedoch auch, dass Korruption bekämpft
von der deutschen Regierung ins Leben gerufene
und Rechtsstaatlichkeit gleichermaßen gestärkt wer-
‚Marshallplan mit Afrika’ ist laut Union das adäquate
den. Auch stellt sich die Frage, ob das Privileg ausrei-
Mittel dafür und steht für die zentralen Vorhaben der
sen zu dürfen, nicht genauso zu einer selbstbestimm-
CDU/CSU. Er soll eine unternehmerische Kultur mit
ten Existenz gehört, wie die Chance auf wirtschaftli-
mittelständischen
che Teilhabe in der Heimat. Ebenso birgt eine ver-
Unternehmen
als
eigenständiger
Hauptstütze der Wirtschaft in afrikanischen Ländern
stärkte Einbindung des Privatsektors in die Entwick-
entstehen lassen. Hierfür sollen vor allem private In-
lungszusammenarbeit das Risiko, dass private Inves-
vestitionen mobilisiert werden. Des Weiteren soll im
toren weniger an der wirtschaftlichen Entwicklung
Rahmen der EU-Migrationspartnerschaften an einer
eines Landes, als an den eigenen Profiten interessiert
Minderung
sind. Der im Rahmen des ‚Marshallplan mit Afrika’
struktureller
Fluchtursachen
gearbeitet
werden.
präsentierte ‚Africa Agriculture and Trade Investment Fund’ (AATIF) verdeutlicht die Probleme solch in-
Die SPD fordert einen Ausbau der Entwicklungszu-
transparenter Praktiken. Laut eines aktuellen Berichts,
sammenarbeit, gemeinsam mit den Gewerkschaften,
hat das Engagement eines privaten Investors in Sam-
Kirchen, Unternehmen und Nichtregierungsorganisati-
bia zu 20 Prozent weniger Arbeitsplätzen innerhalb
onen, um "zerfallende Staaten zu stabilisieren und
eines lokalen ‚Vorzeigeprojekts’ geführt.
75
Wichtig ist
Gewalt und Bürgerkriege einzudämmen".
76
Entwick-
deshalb, dass der Verlust von Arbeitsplätzen durch
lung in ländlichen Regionen soll durch eine Förderung
einen strukturellen Wandel der Wirtschaft anderweitig
der Kleinbauern und -bäuerinnen gestärkt werden.
kompensiert wird. Auch öffentliche Investoren haben
Entsprechend einer auf VN-Ebene vereinbarten Quo-
dies in der Vergangenheit zu oft versäumt.
te, sollen hierfür mindestens 0,7 Prozent des BIP aufgebracht werden – ausschließlich der Ausgaben für in
Hinzu kommt, dass die eigentliche Zielsetzung Flucht-
Deutschland aufgenommene Flüchtlinge. Geflüchteten
ursachen zu reduzieren, zunehmend dazu missbraucht
Menschen soll frühzeitig in ihren Herkunftsregionen
wird, Europa immer weiter abzuschotten. Besonders
geholfen werden. Dafür sollen Anlaufstellen entlang
problematisch ist hierbei der Versuch, entwicklungs-
der Fluchtrouten geschaffen werden, an denen Nah-
politische Zusammenarbeit abhängig von der Koope-
rung, medizinische Versorgung sowie eine Beratung
rationsbereitschaft im Bereich des Grenzschutzes und
über die Alternativen zur Flucht angeboten werden.
der Rücknahme von MigrantInnen zu machen (vgl.
Die SPD setzt sich dafür ein, Fluchtursachen einzudämmen, indem vor Ort Perspektiven geschaffen
http://policydialogue.org/files/events/de_Haas_International_Mig ration_Remittances_Development.pdf. 74 Clemens, M.A., 2014: Does Development Reduce Migration? http://ftp.iza.org/dp8592.pdf; Clemens, M.A., 2016: Development Aid to Deter Migration Will Do Nothing of the Kind. https://www.newsdeeply.com/refugees/community/2016/10/31/ development-aid-to-deter-migration-will-do-nothing-of-thekind. 75 MONITOR: G20 Gipfel: Wer profitiert vom „Marshall Plan“ für Afrika?, 06.07.2017. http://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/afrika-politik104.html.
werden, z. B. durch faire Partnerschaftsabkommen der EU mit afrikanischen Staaten und die Errichtung einer afrikanischen Freihandelszone. Die Linke fordert eine Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit, die sich zum Ziel setzt, Reichtum radikal umzuverteilen, Landraub zu verhindern
76
23
SPD Wahlprogramm 2017, S.58.
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
und weltweite Handels- und Wirtschaftsbeziehungen
einer rasch wachsenden Bevölkerung, fehlender Ge-
so zu gestalten, dass alle Menschen sich sozial, kultu-
burtenkontrolle
rell und politisch entfalten können. Als Referenz gel-
standsgefälles zu Europa gezeichnet. Die AfD schluss-
ten die nachhaltigen Entwicklungsziele der VN für
folgert, dass sich Deutschland in naher Zukunft mit
deren Umsetzung Deutschland 0,7 Prozent des BIP
den "Dimensionen einer Völkerwanderung" konfron-
aufbringen sollte. Die Linke sieht Fluchtursachen vor
tiert sehe, die mit einer "Selbstzerstörung unseres
allem als Resultat der Ungleichheit zwischen Arm und
Staates" einher gehe.
Reich und unfairen Handelsbeziehungen. Geflüchtete
zuwenden erklärt sich die AfD bereit, "ökonomische
über viele Jahre in Flüchtlingslagern unterzubringen
Fluchtursachen zu vermeiden" und fordert eine Erhö-
schaffe Probleme anstatt diese zu beheben. Die Un-
hung der finanziellen Mittel für den UNHCR. Dieser
terfinanzierung
der
internationalen
sowie
80
eines
bestehenden
Wohl-
Um ein solches Szenario ab-
Flüchtlingshilfe
soll allerdings hauptsächlich in sogenannten "heimat-
müsse deshalb beendet und der UNHCR gestärkt
und kulturnahen Regionen" für Aufnahmemöglichkei-
werden
ten von Geflüchteten sorgen.
81
Die Grünen fordern, dass Entwicklungspolitik die strukturellen Ursachen der Zerstörung von Lebens-
5.3. W AS DAS BEDEUTET
grundlagen, wie z.B. Ungleichheit, Armut, Hunger, Klima- und Ressourcenkrisen sowie gewaltsame Kon-
Auf
flikte langfristig behebt. Sie orientieren sich dabei an den nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs). Die Grü-
Beiträge
für
die
Diskurses
kerungsgruppen, schlechte Regierungsstrukturen und
gestellt werden und sprechen sich für eine Stabilisiehumanitären
wissenschaftlichen
sind Probleme wie Armut, Diskriminierung von Bevöl-
leistung für die Entwicklungszusammenarbeit bereitder
des
und akuten Fluchtursachen. Strukturelle Ursachen
nen versprechen, dass 0,7 Prozent der Wirtschafts-
rung
Grundlage
ergibt sich eine Unterscheidung zwischen strukturellen
Klimaveränderungen.
VN-
Von
akuten
Fluchtursachen
spricht man bei gewaltsamen Konflikten oder Genozi-
Hilfsorganisation von weit über eine Milliarde Euro
den. Es bleibt jedoch anzumerken, dass auch den
aus. Darüber hinaus setzt sich die Partei für eine akti-
‘akuten’ Fluchtursachen strukturelle Probleme zu-
vere EU-Politik zur Bewältigung von Krisen und Krie-
grunde liegen und diese Unterscheidung deshalb in
gen ein, besonders durch zivile Krisenprävention im
der Praxis äußerst fragwürdig bleibt. Auf den ersten
Rahmen der VN. Des Weiteren soll ein „Rat für Frie-
Blick wird klar: Für die unterschiedlichen Ursachen
den, Nachhaltigkeit und Menschenrechte“ der Bun-
müssen auch unterschiedliche Lösungen her. Ein ge-
desregierung mit Blick auf Widersprüche von Han-
waltsamer Konflikt lässt sich nicht ausschließlich mit
dels-, Agrar- und Außenpolitik prüfend und beratend
Geld oder Entwicklungshilfe lösen, wie der Bürger-
77
zur Seite stehen.
krieg in Syrien momentan beweist. Diese Unterscheidung findet sich, wenn auch weniger direkt, in den
Die FDP fordert eine europäisch abgestimmte Entwicklungszusammenarbeit, die eine "Integration der
Parteiprogrammen wieder.
deutschen
Die Grundidee einer Minderung struktureller Proble-
kann.
78
und
lokalen
Privatwirtschaft"
initiieren
Durch Entwicklungspartnerschaften mit der
me nehmen alle Parteien mehr oder weniger explizit
Hilfe neuer Geber soll die lokale Wirtschaft stärker
auf. Die Parteien weichen dabei kaum vom bestehen-
werden. Gleichzeitig soll eine Überprüfung der Agrar-
den Ansatz der europäischen Entwicklungszusam-
und Exportsubventionen Deutschlands und der EU
menarbeit ab. Entsprechend werden häufig die öko-
stattfinden, um eine kohärente Entwicklungspolitik zu
nomischen Fluchtursachen in den Vordergrund ge-
ermöglichen. Des Weiteren beabsichtigt die FDP Kri-
rückt. Geldtransfers oder Wirtschaftswachstum wer-
senprävention und Konfliktbewältigung zu stärken.
den als vergleichsweise einfache Lösung im Umgang mit Fluchtursachen präsentiert. So wollen alle Parteien – mit Ausnahme der AfD – Entwicklungsgelder
Laut AfD stellt der afrikanische Kontinent ein "Armenhaus der Welt" dar.
79
generell anheben und der Entwicklungszusammenar-
Entsprechend wird das Bild
beit eine gewichtigere Rolle zugestehen. Mit Bezug auf ein prognostiziertes Bevölkerungswachstum be-
77
Grüne Wahlprogramm 2017, S.81. FDP Wahlprogramm 2017, S.60. 79 AfD Wahlprogramm 2017, S.28. 78
80 81
24
AfD Wahlprogramm 2017, S.28 Ibid.
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
85
hauptet lediglich die AfD, „dass die Dimension des
beenden“.
afrikanischen Problems“ zu gewaltig sei, als das mit
Probleme einer privat finanzierten Entwicklungszu-
Entwicklungspolitik geholfen werden könne.
sammenarbeit verdeutlichen, dass mehr Transparenz
plädiert für eine „Hilfe zur Selbsthilfe“.
82
83
Sie
und Nachhaltigkeit erforderlich sind, wird von keiner der übrigen Parteien ein konstruktiver Vorschlag ge-
Dahingehend, wie diese strukturellen Fluchtursachen behoben
werden
sollen,
unterscheiden
Während die oben angesprochenen
sich
macht, wie dies zu erreichen wäre. Die zum Teil prob-
die
lematischen Zielsetzungen einer Entwicklungspolitik,
Wahlprogramme der einzelnen Parteien. Die Pro-
die durch öffentliche Mittel finanziert ist, werden je-
gramme der CDU/CSU, der SPD und der FDP legen
doch ebensowenig angesprochen. Um den wirtschaft-
besonderen Wert darauf, die lokale Wirtschaft zu
lichen und politischen Herausforderungen auf dem
stärken und sprechen sich somit für den bestehenden
afrikanischen Kontinent gerecht werden zu können,
entwicklungspolitischen Konsens aus. Die Linke hin-
reichen öffentliche Gelder allein nicht aus. Parteiüber-
gegen fordert eine grundsätzliche, globale Umvertei-
greifend scheint hier eine gewisse Ratlosigkeit zu exis-
lung des Reichtums. Mit Hinblick auf die Einhaltung
tieren.
nachhaltiger Entwicklungsziele schlagen die Grünen die Schaffung eines ‚Rats für Frieden, Nachhaltigkeit
Auffällig ist außerdem, dass sich das linke Parteien-
und Menschenrechte’ vor. Damit positionieren sich
spektrum (Linke, die Grünen und SPD) gemeinsam mit
die Grünen am eindeutigsten für eine Entwicklungspo-
der FDP dafür ausspricht, aktuelle internationale Han-
litik, die nicht vordringlich wirtschaftlichen Überle-
delsbeziehungen zu überdenken. Die genannten Par-
gungen folgt. Diese Auffassung wird gestützt von ver-
teien räumen ein, dass der internationale Handel die
schiedenen Studien, nach denen es einen “Zusam-
Länder des globalen Südens benachteiligt und somit
menhang zwischen (ziviler und politischer) Gewalt und
die dortigen Lebensbedingungen verschlechtert. Ein
Flucht gibt, während ökonomische Aspekte eher eine
solches Argument bestätigt, dass bestehende Verträge
untergeordnete Rolle spielen”.
84
Der Zusammenhang
die Länder des globalen Südens in eine Abhängigkeit
zwischen wirtschaftlichem Wohlstand und politischer
zu den entwickelten Industrienationen stellen. Als
Stabilität und Sicherheit kommt hier allerdings etwas
Beispiel dient hier das 2014 in Kraft getretene Fische-
zu kurz. Denn entscheidend wäre es an dieser Stelle
reiabkommen der EU mit Senegal, durch das tausende
zu überlegen, wie wirtschaftliches Wachstum als poli-
lokale Fischer ihre Existenzgrundlage verloren haben
tischer Stabilisator wirken könnte, um entwicklungs-
und schlussendlich ihre Heimat verlassen mussten.
politische Ziele nachhaltig umzusetzen.
86
Erst dann
Ein weiterer Aspekt, der von fast allen Parteien (AfD,
kann Entwicklungspolitik relevant für die Ursachen
Grüne, Linke, SPD) im gleichen Atemzug mit der Min-
von Flucht und Migration sein.
derung von Fluchtursachen genannt wird, ist die Un-
Der Vorsatz, Fluchtursachen mit Hilfe von Krisenprä-
terstützung der internationalen Flüchtlingshilfe. Der
vention zu lindern findet sich in allen Wahlprogram-
UNHCR soll mit höheren Geldern ausgestattet werden,
men wieder. Außer der AfD und der FDP setzten die
um den internationalen Fluchtbewegungen gerecht zu
Parteien dabei explizit auf eine zivile Krisenprävention.
werden und Geflüchtete humanitär zu versorgen. Eine größere Unterstützung für den UNHCR ist zwar wich-
Ein weiterer Unterschied zwischen den Wahlpro-
tig, allerdings kann dies kein Mittel zur Minderung
grammen besteht hinsichtlich der Finanzierung ent-
von Fluchtursachen darstellen. Die Forderungen der
wicklungspolitischer Projekte. Die CDU/CSU, ebenso
Parteien würden schließlich nichts daran ändern, dass
wie die FDP, sprechen sich besonders für ein ver-
Geflüchtete zum Teil jahrzehntelang in Camps ver-
stärktes privatwirtschaftliches Engagement aus. Die
bringen, ohne dass ihnen eine wirkliche Perspektive
Linke hingegen lehnt öffentlich-private Partnerschaf-
geboten wird.
ten ab und will „den undemokratischen Einfluss priva-
87
Auch sollte eine verstärkte Unterstüt-
ter Stiftungen in der Entwicklungszusammenarbeit 85
Die Linke, Wahlprogramm 2017, S.104. Zeit Online: Die Fischräuber, 05.06.2014. http://www.zeit.de/2014/24/fischerei-abkommen-senegalueberfischun, Brot für die Welt, 11.07.2014. https://www.brotfuer-die-welt.de/pressemeldung/2014-ueberfischung-dermeere-gefaehrdet-nahrungsgrundlage-weiter/ 87 Diese Forderung der Oppositionsparteien beruht auch darauf, dass ausbleibende Zahlungen an den UNHCR (auch von der
82
86
AfD Wahlprogramm 2017, S.21. 83 Ibid. 84 Sachverständigen Rat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, 2017. Chancen in der Krise: zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa. http://www.boschstiftung.de/content/language1/downloads/SVR _Jahresgutachten_2017.pdf, S.62.
25
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
90
zung des UNHCR mit mehr Engagement im Bereich
Leben eingehaucht worden sei.
Allerdings verpassen
Resettlement einhergehen. Für eine solche vermehrte
es die Parteien hier, wirklich konkrete und innovative
Umsiedlung von Geflüchteten in aufnahmebereite
Vorschläge zu entwickeln. Darüber hinaus werden die
Drittstaaten, in denen sie Asyl erhalten oder temporä-
grundlegenden Fragen zum Zusammenhang zwischen
ren Schutz genießen, verlangt es jedoch mehr politi-
Entwicklungspolitik und Migration von keiner der
schen Willen der europäischen Staaten.
Parteien überdacht. Wenn Entwicklungszusammenarbeit wirksam ist, wirkt sie dann fördernd oder verhin-
Denn in letzter Konsequenz würde ein verstärktes
dert sie Migration? Sie wirkt fördernd. Bedeutet eine
finanzielles Engagement für den UNHCR in seiner
wachsende globale Mittelschicht mehr oder weniger
bestehenden Struktur dazu führen, Geflüchtete weiter-
Migration? Mehr Migration. Und können europäische
hin vorrangig in Entwicklungsländern zu halten und
Staaten ihren Vorsatz, Migration zu ‘steuern’, in Be-
ihre Weiterreise nach Europa zu verzögern. Finanziel-
tracht solcher Entwicklungen besser umsetzen oder
le Unterstützung für den Flüchtlingsschutz ist wichtig
schlechter? Schlechter.
und der UNHCR sollte freigesprochen werden von jedem Vorwurf, an einer Schließung europäischer
Für eine effektive Entwicklungszusammenarbeit gilt,
Außengrenzen interessiert zu sein oder gar bewusst
dass nur durch ein langfristiges Engagement Fluchtur-
daran mitzuarbeiten. Bezüglich der Instrumentalisie-
sachen wirklich behoben werden können. Eine solche
rung entwicklungspolitischer Mittel für die Abschot-
Feststellung fehlt in allen Wahlprogrammen. Mit Aus-
tung Europas vertreten jedoch lediglich die Grünen
nahme der Grünen und der Linken verpassen es die
und die Linke eine klare Position. Beide Parteien leh-
Parteien außerdem, sich klar gegen den Missbrauch
nen „die Umwidmung entwicklungspolitischer Gelder
von
für menschenrechtlich problematische Grenzschutz-
sicherheitspolitische
projekte“ sowie für „Maßnahmen des Grenzschutzes
Kapitel 4). Denn klar ist, dass die momentane Ent-
und der Migrationskontrolle“ ab.
88
Entwicklungszusammenarbeit Zwecke
für
kurzsichtige
auszusprechen
(vgl.
Unter der großen
wicklungszusammenarbeit vorrangig das Ziel verfolgt,
Koalition aus CDU/CSU und SPD ist genau dies hin-
potentielle MigrantInnen durch wirtschaftliche Anreize
gegen erst jüngst, ohne weitere Diskussion, zugelas-
dort zu halten, wo sie herkommen. Dies bedeutet,
sen worden.
dass Menschen ihre Herkunftsregionen gar nicht erst
89
verlassen und die Entwicklungszusammenarbeit somit unweigerlich zum Instrument einer Ausweitung euro-
5.4. HINTERFRAGT: DER KOM PASS AUF
päischer Außengrenzen wird. Eine eindeutige Positio-
DEM PRÜFSTAND
nierung der neuen Bundesregierung zu diesem Thema würde
Die Parteien sind sich einig, dass die Minderung von
der
deutschen
Entwicklungspolitik
mehr
Glaubwürdigkeit verleihen.
Fluchtursachen ein Ziel deutscher Entwicklungspolitik
Vor diesem Hintergrund bleibt es dennoch wichtig,
sein muss. Dabei ist die Prominenz, die das Thema in
sich auch weiterhin für bessere wirtschaftliche und
den aktuellen Parteiprogrammen zur Bundestagswahl
soziale Perspektiven in den Herkunftsländern einzu-
einnimmt erstaunlich. Denn der Einsatz entwicklungs-
setzen.
politischer Gelder für einen wirtschaftlichen Auf-
Um
langfristig
m ehr
Arbeitsplätze
schaffen zu können, sollte dabei verstärkt auf
schwung im globalen Süden ist kein neues Phäno-
‚local ownership‘ in der Vergabe und Durch-
men. Es scheint jedoch so, als ob der lange Zeit ver-
führung von Projekten geachtet werden. Die
nachlässigten Verknüpfung von Entwicklungspolitik
Vergabe der finanziellen Mittel bestehender Entwick-
und Migration im aktuellen Wahlkampf wieder neues
lungs-Fonds sind oftmals mit einem zu großen bürokratischen und logistischen Aufwand verbunden, als dass sich kleinere Unternehmen und Organisationen vor Ort darauf bewerben könnten. Obwohl der ‚EU
Bundesregierung) dazu geführt haben, dass sich die Lage in den Flüchtlingslagern im Libanon, Jordanien und der Türkei so drastisch verschlechtert hat, dass sich mehr Menschen als sonst im Sommer 2015 auf den Weg nach Europa, und schließlich nach Deutschland, gemacht haben. 88 Bündnis 90/Die Grünen: Wir schützen Geflüchtete und bekämpfen Fluchtursachen, 16.- 18. Juni 2017. 89 Brot für die Welt (28 Oktober 2016), https://info.brot-fuer-diewelt.de/blog/eu-entwicklungsgelder-militaerfinanzierung.
Emergency Trust Fund for Africa’ über ein Budget von knapp 3 Milliarden Euro verfügt, sind auch aus die-
90
De Haas, H., 2008. Migration and Development: A Theoretical Perspective. https://www.imi.ox.ac.uk/publications/wp-0908.
26
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sem Grund bisher kaum Projekte abgerufen worden. Entsprechend
Zu
einer
M inderung
der
Vergabekriterien
Fluchtursachen würde eine solche Initiative aber nicht führen. Stattdessen wäre es kons e-
Organisationen durchgeführt, denen jedoch die lokale
quent, über eine Reform des UNHCR nachzu-
Verankerung fehlt. Eine wirkliche Veränderung der
denken. Eine solche Reform sollte es Ge-
Lebensumstände vor Ort findet deshalb oft nicht statt.
flüchteten m öglich m achen, Lager schneller
In diesem Zusammenhang sollte auch die Einbindung
wieder zu verlassen und nicht abgeschottet
privater Unternehmen in die Entwicklungshilfe über-
und desintegriert in einem Zustand des stän-
dacht werden und mehr Sicherheiten für lokale Ar-
digen W artens zu verharren.
beitnehmerInnen geschaffen werden.
krimineller Akt – die Genfer Flüchtlingskonvention
hinaus
komplizierten
bereitzustellen.
werden viele Projekte von großen, internationalen
Darüber
der
91
ist
Rahm enbedingungen
es
essentiell,
für
einen
dass
zu
denken,
dass
ein
Entwicklungspolitik, zum Beispiel im Rahmen von
wirtschaftlibloßer
Flucht ist kein
stellt das seit 1951 fest. Des Weiteren sollte in der
die
zirkulärer Migration, auch über legale Wege für Mig-
chen Aufschwung gestärkt werden. Es ist zu einfach
94
rantInnen in die EU gesprochen werden.
W irt-
schaftsaufschw ung alle Problem e löst - das gilt weder für Europa noch für andere Länder auf der W elt. Fehlende Rechtsstaatlichkeit, Korruption, sowie die system atische Ausgrenzung von gesellschaftlichen M inderheiten sind alles Gründe, die einen sozialen W andel stagnieren lassen und eine partizipative Politik verhindern.
Nur
w enn
Reform en
in
diesen
Bereichen als ebenso relevant für die w irtschaftliche Leistung eines Landes betrachtet werden,
kann
Entwicklungspolitik
effektiv
sein. Deshalb ist es wichtig in den Migrationspartnerschaften mit Herkunftsländern auf Nachhaltigkeit und Legitimität solcher Abkommen zu achten.
92
Entwicklungs-
politische Gelder und Projekte dürfen Regime mit fragwürdigen Menschenrechtsstandards nicht weiter stützen. Ansonsten werden Fluchtursachen nicht verringert, sondern verstärkt. Hier kann es hilfreich sein, auf gezielte Reform en staatlicher Sektoren als Teil der Entwicklungszusam m enarbeit 93
zu setzen.
Auch in Bezug auf die Unterstützung der internationalen Flüchtlingshilfe fehlt es den Parteien an innovativen Vorschlägen. Zwar besteht Einigkeit darüber, m ehr finanzielle M ittel für den UNHCR 91
European Commission: The EU Emergency Trust Fund for Africa. https://ec.europa.eu/europeaid/regions/africa/euemergency-trust-fund-africa_en. 92 Angenendt, S. & Kipp, D., 2017. Better Migration Management. https://www.swp-berlin.org/publikation/better-migrationmanagement/. 93 Gamso, J. & Yuldashev, F., 30.11.2016. Development Aid May Not Deter Migration, But Governance Aid Will. https://www.newsdeeply.com/refugees/community/2016/11/30/ development-aid-may-not-deter-migration-but-governanceaid-will.
94
Betts, A. UN and White House summits could off a ray of hope to those stuck in camps, 17.09.2016. https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/sep/17/sum mit-migration-refugees-un-obama.
27
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6. ÜBERFÄLLIG ODER ÜBERFLÜSSIG? - EIN EINWANDERUNGSGESETZ FÜR DEUTSCHLAND von Thore Hagemann
6.1. DIE BISHERIGE ROUTE
bestehenden Zuwanderungsgesetzes gelten daher für sie nicht (vgl. Kapitel 2).
Die Debatte um ein Einwanderungsgesetz ist, beson-
Lange Zeit verstand sich die Bundesrepublik Deutsch-
ders im Kontext einer stark angestiegenen Zuwande-
97
land keineswegs als Einwanderungsland.
rung, nicht neu. Spätestens seit Einführung des sogenannten Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2005 disku-
aus dem Europäischen Ausland, speziell aus Marok-
tieren die etablierten Parteien, ob und wie ein Gesetz
ko, Tunesien, den Staaten des ehemaligen Jugoslawi-
aussehen könnte, das die Einwanderung grundlegend
en und der Türkei
und ganzheitlich steuert. Gegenstand der Diskussion
98
angeworben, um die vielen Ar-
beitsplätze zu füllen, die durch das enorme Wirt-
ist ein neues Einwanderungsgesetz, das den Flicken-
schaftswachstum der Nachkriegszeit entstanden wa-
teppich zusätzlicher Gesetze und Verordnungen, wel-
ren. Die Betonung lag aber stets auf der Silbe ‘Gast’ -
che die Aufnahme und Integration von MigrantInnen in Deutschland regeln, ersetzt und ergänzt.
Zwar wur-
den in den 1950er Jahren zahlreiche GastarbeiterInnen
nach Erfüllung ihres Vertrages sollten die Gastarbeite-
95
rInnen wieder in ihre Heimat zurückkehren. Drei der
Bei der Debatte um Einwanderung muss unter ande-
14 Millionen angeworbenen GastarbeiterInnen blieben
rem zwischen Arbeits- und Fluchtmigration unter-
jedoch in Deutschland und holten teilweise ihre Fami-
schieden werden. In der Europäischen Union (EU)
lien nach. 1973 verhängte Deutschland einen Anwer-
besteht Freizügigkeit. Das bedeutet, alle Arbeitnehme-
bestopp für ArbeitsmigrantInnen. Die Bundesrepublik
rInnen aus EU-Staaten (sowie Norwegen, Island und
war ein Einwanderungsland ohne Einwanderungsge-
Liechtenstein) dürfen sich frei in der EU bewegen,
setz geworden.
ohne Angabe von besonderen Gründen. Sogenannte
99
Heute beträgt der Anteil der Bevöl-
kerung mit Migrationshintergrund an der Gesamtbe-
‘Drittstaatsangehörige’ (Personen, die keine Staatsan-
völkerung 21,0 Prozent.
gehörigen eines EU Mitgliedstaates sind) profitieren
100
Auch Spitzen-PolitikerInnen bezeichnen die Bundes-
nicht von dieser Freizügigkeit. Um einen Aufenthaltsti-
101
republik mittlerweile als Einwanderungsland.
tel zu bekommen, müssen sie einen bestimmten “Auf-
Entge-
enthaltszweck” vorweisen können, wie eine Erwerbstätigkeit, ein Studium oder eine Ausbildung.
96
Migrati-
97
Die Migrationsgeschichte der DDR wird hier aus Platzgründen ausgeklammert. 98 Komplette Liste: Italien, Griechenland, Spanien, Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien 99 Bade, K.,: Als Deutschland zum Einwanderungsland wurde, 24.11.2013. http://kjbade.de/wpcontent/uploads/2013/11/20131124_deutschlandeinwanderungsland_ZEIT.pdf. 100 Statistisches Bundesamt, 2017. https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bev oelkerung/MigrationIntegration/MigrationIntegration.html;jsessionid= DC8A8AC54567C07E409097116CA9F292.cae2. 101 Bundeskanzlerin Angela Merkel konstatierte im Jahr 2015: “Wir sind im Grunde schon ein Einwanderungsland”.
on nach Europa ‘einfach so’ steht ihnen nicht zu. Ganz anders sieht es für geflüchtete Menschen aus: Sie stehen laut Genfer Flüchtlingskonvention unter besonderem Schutz. Die Paragraphen des aktuell
95
Eine komplette Übersicht stellt der Jährliche Bericht 2016 der deutschen nationalen Kontaktstelle für das Europäische Migrationsnetzwerk (EMN) bereit. https://ec.europa.eu/homeaffairs/sites/homeaffairs/files/11b_germany_apr_part2_de.pdf 96 Anerkennung in Deutschland. https://www.anerkennung-indeutschland.de/html/de/drittstaaten.php.
28
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
gen vieler Behauptungen existiert in Deutschland zwar
rung des Lebensunterhalts sind Bedingungen für Zu-
aktuell
wanderung.
kein
flächendeckender
Fachkräftemangel.
Arbeitsmigration wird, angesichts der bestehenden
Die SPD fordert ein Einwanderungsgesetz nach kana-
Engpässe in einigen Berufsgruppen (besonders im
dischem Vorbild. Dies soll Deutschland im Wettbe-
Gesundheitssektor sowie in technischen Berufen) und
werb um Fachkräfte stärken. Dabei werden Kriterien
in Betracht der schrumpfenden Bevölkerung, aller102
wie berufliche Abschlüsse, Berufserfahrung, Sprach-
Im öffentlichen Diskurs werden die verschiedenen
tigt. Wer ausreichend fachliche Qualifikationen und
Motive der Migration häufig vermischt. Entsprechend
ein Jobangebot hat, kann nach Deutschland einwan-
ist oftmals von sogenannten ‘Wirtschaftsflüchtlingen’
dern. Eine unabhängige ExpertInnenkommission soll
die Rede. Damit sind Menschen gemeint, die nicht vor
jedes Jahr eine Zuwanderungsquote für das System
Krieg oder Verfolgung fliehen, sondern versuchen der
festlegen. Die Vielzahl bestehender Regelungen und
wirtschaftlichen und sozialen Perspektivlosigkeit in
Aufenthaltstitel soll entsprechend gebündelt werden.
ihrer Heimat zu entkommen. Der Begriff ist jedoch
Ein ‘Spurwechsel’ zwischen unterschiedlichen Aufent-
irreführend, da diese Menschen rechtlich nicht als
haltstiteln (vom Geduldeten oder AsylbewerberInnen
Flüchtlinge anerkannt werden. Fehlende Perspektiven
zum Erwerbsmäßigen Status) wird geprüft.
dings als Chance gesehen.
kenntnisse, Alter und Integrationsfähigkeit berücksich-
aufgrund mangelnder Arbeitsplätze im Heimatland gelten
nach
bestehender
Gesetzeslage
nicht
Von der Linken wird kein konkreter Plan für ein
als
Einwanderungsgesetz entworfen. Stattdessen sieht die
Fluchtgrund. Es lohnt sich, dies beim Thema Arbeits-
Linke Verbesserungen an vielen Stellen vor. Sie for-
migration genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn
dert ein Ministerium für Migration und Integration auf
generell geht es bei der Debatte über ein Einwande-
Bundesebene und die Abschaffung des Aufenthalts-
rungs- oder Zuwanderungsgesetz laut §1 Aufenthaltsgesetz
103
gesetzes, welches bisher die Einwanderung nach
um wirtschaftliche Aspekte: Zur Debatte
Deutschland an Bedingungen wie Berufsqualifizierun-
steht, welche Arbeitskräfte die deutsche Wirtschaft
gen und Einkommen knüpft. Einwanderung nach
benötigt und welche nicht. Entsprechend wird die
Wirtschaftskriterien lehnt die Linke ab und fordert
Frage gestellt: Wer darf per Gesetz einwandern und
offene Grenzen für alle. Die Linke möchte Geflüchtete
wer darf es nicht?
schnell und fair in den Arbeitsmarkt integrieren; momentan irregulär in Deutschland lebende MigrantInnen sollen legalisiert werden. Aktives und passives
6.2. D A S SA GEN D IE P A R TEIEN Die
CDU/CSU
fordert
ein
Wahlrecht soll auf “alle hier lebenden Menschen” ausgeweitet werden.
“Fachkräfte-
104
Allen soll es möglich sein, ihre
Zuwanderungsgesetz”, welches sich am Bedarf der
Familien nachziehen zu lassen.
deutschen Wirtschaft orientiert und aktuelle Gesetze
Die Grünen sehen Einwanderung als Chance für
und Verordnungen zusammenfasst. Ziel des Gesetzes
Vielfalt. Sie fordern einen gesunden Wettbewerb, der
ist die Begrenzung von irregulärer Zuwanderung und
Fachkräfte durch ein Punktesystem anwerben soll,
gezielte Anwerbung von Fachkräften für Arbeitsplätze
um den demografischen Wandel auszugleichen. An-
in der Bundesrepublik. Ein Arbeitsplatz und die Siche-
geworben werden sollen Fachkräfte, ausländische Studierende und Personen, die sich in der Berufsausbildung befinden. Eine Änderung des Aufenthaltsstatus (‘Spurwechsel’ s.o.) soll möglich sein, um eine
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/angelamerkel-sieht-deutschland-als-einwanderungsland13623846.html. 102 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), 2014. https://www.diw.de/de/diw_01.c.434984.de/presse/diw_roundup /die_debatte_ueber_den_fachkraeftemangel.html. 103 „Das Gesetz dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland. Es ermöglicht und gestaltet Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland. https://www.buzer.de/s1.htm?g=AufenthG&f=1
Bleibeperspektive zu geben. EinwanderInnen sollen sich darüber hinaus lange im Ausland aufhalten können, ohne ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren. Die Grünen fordern des Weiteren ein “Einwanderungsund Integrationsministerium”.
104 105
29
105
Die Linke, Wahlprogramm 2017, S.9. Grüne Wahlprogramme 2017, S.112.
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
109
Die FDP fordert die Schaffung eines Einwanderungs-
Zuwanderung.
rechts zur Anwerbung von Fachkräften. Die ,Blue-
Kategorie: Sie schlägt kein Punktesystem vor, den-
Card’ zur Anwerbung von hochqualifizierten Fachkräf-
noch geht es der Union im Kern auch darum, hoch-
ten soll reformiert werden.
qualifizierte
106
Ein Punktesystem soll
Die Union ist ein Sonderfall dieser
MigrantInnen
anzuwerben.
Potentielle
geschaffen werden, das Menschen nach Bildungs-
EinwanderInnen sollen sich bereits im Heimatland
grad, Alter, Sprachkenntnissen und beruflichen Quali-
bewerben können. Bei einem Punktesystem werden
fikationen bewertet und ggf. eine Einwanderung er-
für Qualifikationen, Sprachfähigkeiten, Alter und teil-
möglicht. Nach entsprechender Qualifikation soll
weise sogar für Integrationswilligkeit Punkte vergeben.
auch Geflüchteten ein ‘Spurwechsel’ ermöglicht wer-
Die Regierung soll jedes Jahr eine Quote für Einwan-
den. Ausländische Berufs- und Bildungsabschlüsse
derung festlegen. Die erzielten Punkte bestimmen das
sollen einfacher und schneller anerkannt werden.
Schicksal der einzelnen BewerberInnen. Hauptargu-
Anerkannten Flüchtlingen soll eine schnelle Eingliede-
ment für solch ein System sei der internationale
rung in den Arbeitsmarkt ermöglicht werden.
Wettbewerb um Fachkräfte, sowie der demographische Wandel in Deutschland. Die Parteien unter-
Die AfD ist der Meinung, dass Zuwanderung vor al-
scheiden sich lediglich in Nuancen, was die Ausarbei-
lem Probleme verursacht. Dabei versteift sie sich auf
tung und Freizügigkeit eines Punktesystems betrifft.
AsylbewerberInnen, die laut Aussage der Partei unge-
So fordern beispielsweise Grüne und FDP die Mög-
bildet seien und aufgrund ihrer Armut die Sozialsys-
lichkeit eines ‘Spurwechsels’ – also die Möglichkeit
teme Deutschlands missbrauchen würden. Ziel einer
für qualifizierte Geflüchtete eine Tätigkeit aufzuneh-
Einwanderungspolitik soll eine sogenannte “Minuszuwanderung” sein.
107
men, die auch regulären ArbeitsmigrantInnen zur Ver-
Ausschließlich qualifizierte, für
fügung steht. Die SPD ‘prüft’ diese Möglichkeit und
den Arbeitsmarkt dringend benötigte Fachkräfte dürfen
immigrieren.
Beim
Thema
die CDU/CSU erwähnt solch eine Option nicht. Ab-
Staatsbürgerschaft
grenzung erfolgt in dieser Kategorie besonders durch
macht sich die AfD für eine Rückkehr zum Abstammungsprinzip stark.
die Darstellung der inhaltlichen Schwerpunkte eines
108
solchen Punktesystems: Während FDP, CDU/CSU und SPD sich auf den wirtschaftlich positiven Aspekt versteifen, ‘verpacken’ die Grünen ein fast identisches
6.3. W A S D A S B ED EU TET
Konzept mit den Worten ‘Chance’ und ‘Vielfalt’.
Die Vorschläge der Parteien lassen sich in drei Kate-
Die dritte Kategorie wird allein von der Linken vertre-
gorien aufteilen: (1) Zuwanderungsverweigerer, (2)
ten. Die Linke wendet sich aktiv gegen die Idee einer
Punktesystembefürworter und (3) Verfechter offener
selektiven, nach wirtschaftlichen Aspekten geregelten
Grenzen. Die erste Kategorie wird hauptsächlich von
Einwanderungspolitik und grenzt sich damit bewusst
der AfD vertreten. Nur die nötigsten Fachkräfte, die
110
von der “Verwertungslogik des Kapitals” ab.
der deutschen Wirtschaft dienen, dürfen demnach
Migra-
tion stehe allen zu und Grenzen seien offen zu halten.
einwandern. Ihr Wahlprogramm lässt jedoch vor al-
Wer grenzenlose Migration möglich macht, benötige
lem durchblicken, dass die AfD bewusst Arbeitsmig-
kein klassisches Einwanderungsrecht, sondern lege
ration mit Schutzsuchenden vermischt. Asylbewerbe-
deutlich mehr Wert auf ein Staatsbürgerschaftsrecht,
rInnen werden diffamiert und als ‘Problemverursache-
das eine schnelle Einbürgerung von MigrantInnen
rInnen’ dargestellt. Dieses Image wird auf alle Migran-
gewährleistet. Es dürfe keinen Unterschied zwischen
tInnen übertragen, was die Schlussfolgerung sugge-
MigrantInnen und der Aufnahmegesellschaft geben.
riert, dass Zuwanderung schädlich sei.
Die vorliegenden Ergebnisse sind nicht überraschend.
In der zweiten Kategorie buhlen SPD, Grüne und FDP
Auch unter migrationspolitischen Aspekten lassen
um die beste Auslegung eines Punktesystems für
sich die hier analysierten Parteien in Mainstream und Außenseiter einteilen, wobei die AfD und die Linke sich politisch rechts und links von den Mainstream-
106
Bei der ’Blue Card’ handelt es sich um ein Nachweisdokument für Angehörige von Drittstaaten innerhalb der EU zum Zwecke der Erwerbstätigkeit. 107 AfD Wahlprogramm 2017, S.29. 108 Das Abstammungsprinzip besagt, dass ein Staat die Staatsbürgerschaft nur an Kinder aussprechen kann, deren Eltern bereits aus Staatsbürger dieses Staates sind.
109
Für eine Übersicht zu dem, oftmals als Vorbild für Deutschland betrachtete, Punktesystem in Kanada: http://www.bpb.de/apuz/31674/einwanderungsland-kanada-einvorbild-fuer-deutschland?p=all. 110 Die Linke, Wahlprogramm 2017, S.69.
30
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
Parteien abgrenzen. Auf der rechten Seite steht die
wirtschaftliche Perspektive geboten. Stattdessen wer-
AfD als Hardliner mit einem Plädoyer gegen Zuwan-
den sie entweder direkt von der Einreise abgehalten,
derung, dem die Linke eine ‘open borders’-Einstellung
oder anschließend abgeschoben. Der Zuwachs von
entgegenhält. Die Einwanderungs-Mainstream Partei-
irregulärer Migration wird dadurch nur weiter ange-
en streiten sich vornehmlich um die Ausführung und
facht. Man muss sich deshalb fragen, wie man diesen
kleinere Details eines Einwanderungsgesetzes mit
Menschen eine bessere Perspektive bieten kann. Hö-
Punktesystem. Die CDU/CSU hält sich auf Distanz zu
here Hürden allein stellen keine Lösung dar.
einem Punktesystem und möchte bloß eine kohärente
Hier wird in Zukunft eine Debatte stattfinden müssen,
Zuwanderungspolitik erreichen.
die mehr beantwortet als die bloße Forderung nach
Die Idee eines Einwanderungsgesetzes für Deutsch-
mehr Fachkräften und der Frage nach einer Lösung
land ist an sich nichts Neues. Eine unabhängige
für den demografischen Wandel. Die Flüchtlingslage
Kommission beriet bereits in den Jahren 2000 - 2001
2015 und die aktuelle Situation in den Aufnahmezen-
unter Leitung der ehemaligen Bundestagsvorsitzenden
tren für Geflüchtete auf der ganzen Welt zeigt ein-
Rita Süssmuth (CDU) über die Einführung eines ‘Zu-
drucksvoll, dass sich Menschen nicht einfach davon
wanderungsmodells’. Tatsächlich liegt die Vermutung
abhalten lassen zu flüchten/migrieren – ob vor Krieg
nahe, dass die Vorschläge von SPD, Grünen und der
und Zerstörung, oder Armut und mangelnder wirt-
FDP auf genau diesem Modell beruhen. Denn auch in
schaftlicher Perspektive (vgl. Kapitel 5). Wer weiterhin
dem
Süssmuth-
vor Armut flüchtende Menschen als Sozialschmarot-
Kommission ist von einem Punktesystem die Rede,
zer diffamiert, verschließt die Augen vor dieser Reali-
ein ‘Spurwechsel’ ist auch dort schon diskutiert wor-
tät. Die meisten dieser Menschen kommen aus dem
den. Vor allem aber ist die Anwerbung von Fachkräf-
globalen Süden aus ehemaligen Europäischen Kolo-
ten und die erleichterte Einwanderung von ‘Spitzen-
nien. Selbst die Bundeskanzlerin gibt zu, dass die EU
kräften’ (Blue-Card Reformvorschlag der FDP) bereits
eine historische Verantwortung gegenüber Afrikani-
von der Kommission vorgeschlagen worden.
schen Staaten habe, auch weil viele europäische
Zuwanderungsmodell
der
Mächte aufgrund ihrer kolonialistischen Ausbeute zur aktuellen, globalen Ungleichheit und Perspektivlosig-
6.4. H IN TERFRA G T: D ER K O M PA SS
111
keit im globalen Süden beigetragen haben.
A U F D EM PRÜ FSTA N D
wicklung begegnen kann und das Migrationsrecht
Die Anzahl hochqualifizierter MigrantInnen ist in
entsprechend anpasst.
Deutschland im internationalen Vergleich nicht sehr
Ein
hoch. Um m ehr Fachkräfte nach Deutschland her. Ein Punktesystem
m odernes
Einwanderungsgesetz
sollte
sich nicht bloß auf hochqualifizierte Arbeits-
zu holen, m uss ein besseres, transparenteres System
Es stellt
sich somit die Frage, wie die EU der aktuellen Ent-
m igration beschränken. Offene Grenzen für alle,
bietet m ehr
wie die Linke es fordert, sind jedoch politisch nicht
Klarheit für potentielle EinwanderInnen und
möglich. Dafür findet sich keine Mehrheit. Auch
ist som it ein guter Ansatz für ein erfolgreiche-
könnte die Bundesrepublik solch einen Vorschlag in
res Fachkräfte-Anwerbesystem . Es muss sich
der EU nicht durchsetzen. Dennoch muss man sich
aber auch die Frage gestellt werden, warum die Zah-
fragen, welche zusätzliche Bereicherung auch geringer
len tatsächlich so drastisch niedriger sind als in den
qualifizierte Zuwanderung bieten kann. Denn die An-
USA oder Kanada. Potentielle Gründe, die Hochquali-
werbung von Hochqualifizierten allein bedeutet die
fizierte abschrecken, müssen herausgestellt und entsprechend angegangen werden.
gleichzeitige Abschottung gegenüber allen anderen.
Wenn die EU, und damit auch Deutschland, sich vor-
einen migrationspolitischen Alleingang wie im Jahr
Die Lösung muss in jedem Fall Europäisch sein –
nimmt hauptsächlich HochschulabsolventInnen anzu-
2015 kann sich die Bundesrepublik auf Dauer nicht
werben, werden niedriger Qualifizierte dadurch von
leisten. Mit der Blue-Card widmet sich die EU bereits
der Zuwanderung faktisch ausgeschlossen. Niedriger
dem Thema Arbeitsmigration. Die Blue-Card hat Re-
Qualifizierte Menschen begeben sich aber eventuell dennoch auf die Reise nach Deutschland. Diesen oft
111
ZEIT Online: Afrika Politik: "Mitleid ist nicht mein Motiv", 20.10.2016). http://www.zeit.de/2016/42/afrikafluechtlingspolitik-angela-merkel/komplettansicht.
irreführend als ‘Wirtschaftsflüchtlinge’ bezeichneten Menschen wird jedoch in Deutschland kaum eine
31
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
formbedarf, bzw. muss flächendeckend umgesetzt
minderqualifizierte Drittstaatenangehörige auszuwei-
werden. Im Falle einer Reform sollte gleich mitge-
ten.
dacht werden, reguläre Arbeitsmigration auch auf
7. KOMMENTAR & AUSBLICK von Natalie Welfens & Jonas Freist-Held
Zwei Jahre mediale, politische, gesellschaftliche De-
schaffen das’ mit der Kondition, die Zahlen zu dros-
batte über Migration und Flucht; enormer Druck für
seln. Nach vier Jahren großer Koalition ist auch das
europäische Regierungen, Lösungen für komplexe
migrationspolitische Chamäleon der SPD vom Sicher-
Herausforderungen zu finden; etliche wissenschaftli-
heitsdenken und Forderungen nach kontrollierter und
che Analysen und Handlungsempfehlungen, wie man
gesteuerter Migration gefärbt. Die AfD macht das
es anders und besser machen könnte. Wo sind wir
Chamäleon zum bedrohlichen Monster, um damit
mit alledem im Jahre 2017 angekommen? Sieht man
eine faktische Aushöhlung des Flüchtlingsschutzes zu
die Wahlprogramme zur Bundestagswahl 2017 als
propagieren. Die Grünen sehen Flüchtlinge als huma-
Spiegel der migrationspolitischen Debatte, wo stehen
nitäre Aufgabe, für die Linke sind sie ebenso wie
wir dann? Und wohin führt der Weg in den kommen-
Langzeitarbeitslose und andere marginalisierte Bevöl-
den vier Jahren für Deutschland, Europa und die in-
kerungsgruppen Ausdruck für eine unsolidarische
ternationale Staatengemeinschaft?
Politik. Wenn man sich bei der Problemdefinition schon nicht einig ist, wird es kaum erstaunen, dass auch die Lösungsvorschläge in unterschiedliche Rich-
7.1. M IGRA TIO N S- U N D FLÜ C H TLIN G -
tungen weisen. Die eine Seite hält Abkommen mit
SPO LITIK A LS C H A M Ä LEO N D ER
Drittstaaten für unabdingbar, die andere lehnt sie ka-
PO LITISC H EN D EBA TTE
tegorisch ab. Für die einen retten Seenotrettungspro-
Im Querschnitt der Wahlprogramme betrachtet er-
man damit das Geschäftsmodell ‚krimineller Schleu-
gramme Menschenleben, für die anderen unterstützt
scheint das Thema Migrations- und Flüchtlingspolitik
serbanden‘. Bislang hat den eingangs erwähnten
wie ein Chamäleon der politischen Debatte, das sich
Kampf um Deutungshoheit also scheinbar niemand
ohne weiteres der Parteicouleur anpasst. Geflüchtete
gewonnen; die richtige Lösung scheint es so nicht zu
und MigrantInnen können von ökonomischer Berei-
geben. Gemein ist dem Großteil der Forderungen
cherung, über terroristische Gefahr bis hin zu humani-
jedoch, dass Migration und Flucht nicht als Normali-
tärer Verpflichtung alles sein. Mal sind die Geflüchte-
tät begriffen werden und viele Forderungen an wis-
ten, mal die deutsche Asylpolitik, mal der Mangel an
senschaftlichen Erkenntnissen und politischen Realitä-
Solidarität innerhalb der EU, mal der Klimawandel und
ten vorbeigehen.
seine Folgen, und mal der Abbau des Wohlfahrtsstaats und die Prekarisierung der Lebensverhältnisse das Problem. Somit wird Migrations- und Flücht-
7.2. M IGRA TIO N U N D FLU C H T A LS
lingspolitik ein Stück weit auch zur Stellvertreterde-
STÖ RFA LL
batte für andere Schwerpunktthemen der Parteien. Die
Soweit manche der parteipolitischen Vorschläge auch
FDP beleuchtet das Thema durch die Brille des Hu-
auseinanderliegen, sie alle betrachten freiwillige sowie
mankapitals, passend zur wirtschaftsnahen Ausrichtung der Partei. Die CDU stellt, unter dem Druck von
auch Zwangsmigration als Ausnahmeerscheinung, als
AfD-Wahlerfolgen auf Landesebene und Forderungen
Abweichung von der Norm, die es zu regulieren und
nach Obergrenzen Flüchtlingspolitik in ein sicher-
kontrollieren gilt. Die Ereignisse des Sommers 2015
heitspolitisches Schlaglicht und versieht das ‘Wir
schweben wie ein Schatten über der Debatte, der
32
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
daran erinnern will, dass eine solche Situation in je-
Ende von langjährigen Konflikten in Syrien, Afghanis-
dem Fall vermieden werden muss, sei es durch gere-
tan oder dem Südsudan ist nicht in Sicht. Und solange
gelte legale Zugangswege, humanitäre Aufnahmepro-
sich wirtschaftliche Ungleichheiten auf nationaler und
gramme oder Externalisierungen von Grenzkontrollen,
internationaler Ebene manifestieren, solange die Per-
die eine etwaige Ankunft auf deutschem Boden von
spektiven, ein würdevolles Leben zu führen grenz-
vornerein verhindern. Einen wirklichen Perspektiv-
übergreifend so fundamental unterschiedlich bleiben,
wechsel, der Migration als Normalfall und globales
solange werden sich auch Menschen auf die Suche
jahrtausendealtes Phänomen betrachtet, bietet keine
nach einem besseren Leben machen. Das ist histo-
der Parteien an. Solange Deutschland als feste, (noch)
risch gesehen keine neue Entwicklung – gerade Euro-
sichere Entität konstruiert wird, kann Migration jeder
pa hat eine lange und ausgeprägte Migrationshistorie.
Form nur als Störfall politisch verhandelt werden.
Durch die Globalisierung wird nun auch Europa zum
Damit wird der Boden für die Aushöhlung von Flücht-
Ziel für viele Menschen aus dem Globalen Süden.
lingsschutz durch sicherheitspolitische Ziele geebnet.
Dieses Bewusstsein scheint in der politischen Realität in Deutschland und Europa noch nicht angekommen zu sein. Indem wir das „Problem“ vor uns herschie-
7.3. A M ZIEL V O R B EI
ben, gaukeln wir uns nur vor, eine einfache Lösung auf ein komplexes Problem gefunden zu haben: Ab-
Wenn viele der parteipolitischen Forderungen also
schottung – und das nimmt mittlerweile groteske Züge
primär darauf abzielen lediglich jene Symptome eines
an. Die aktuellste Entwicklung sieht vor, den Schutz
globalen Phänomens zu bekämpfen, die sich ‚akut‘
der europäischen Außengrenze bereits in Subsahara-
auf deutschem Territorium äußern, fehlt es nahezu
Afrika mit Grenzschutzanlagen zu beginnen. Das ist
zwangsläufig an politischer Weitsichtigkeit und Mut
eine der dunkelsten Stunden der europäischen Men-
sowie einer gesamteuropäischen und globalen Sicht
schenrechtsgeschichte.
auf aktuelle und zukünftige (!) Herausforderungen.
Die Politik lässt sich von einer polarisierten und oft-
Während im ‚Migrationssommer‘ von 2015 sich die
mals irrational geführten öffentlichen Debatte treiben.
Stimmen nach einheitlichen europäischen Standards
Insbesondere durch das (kurzzeitige) Hoch rechtspo-
und mehr europäischer Solidarität mehrten, finden
pulistischer Parteien in Europa haben sich viele Posi-
sich ähnliche Forderungen nur noch vereinzelt in den Wahlprogrammen. Asylsystem,
das
Das unter
Gemeinsame anderem
auf
tionen zum Thema Flucht und Migration drastisch
Europäische
nach rechts verschoben. Dabei ist eine langfristig
einheitliche
ausgelegte und holistische Auseinandersetzung mit
Schutzstandards abzielt, wird höchstens gestreift. Die
dem Thema unausweichlich. Anstatt den Fokus allein
potentiellen Veränderungen, die der Global Compact
auf die Abwehr von MigrantInnen zu legen, müsste
auf VN-Ebene mit sich bringen könnte, werden
die Politik endlich einen Gesamtansatz entwickeln, der
höchstens in ExpertInnenkreisen diskutiert. Es scheint
alle Dimensionen von Migration und Flucht tangiert.
als hätten die Stimmen, die in den vergangenen Jah-
Wenn auch unvollständig, liefert das vorliegende
ren immer lauter nach nationaler Souveränität insbe-
Papier ausgehend von den Parteiprogrammen eine
sondere in der Migrations- und Asylpolitik forderten,
erste Bestandsaufnahme. Darauf aufbauend werden
Gehör gefunden. Migration steuern, lenken, regulie-
wir nach der Bundestagswahl 2017 die Migrationspoli-
ren, auswählen, beschränken, verhindern, kontrollie-
tik weiter eng verfolgen und Vorschläge für eine Mig-
ren. Blendet man die transnationale und langfristige
rationspolitik machen, die den Bedürfnissen der Men-
Dimension aus, suggerieren diese Verben Kontrollge-
schen besser gerecht wird und die Chancen einer
winn, Souveränität und Ordnung. Doch ein Blick
progressiven Migrationspolitik für Deutschland auf-
durch die historische und wissenschaftliche Brille
zeigt.
zeigt die Oberflächlichkeit viele dieser Forderungen. Migrations- und Fluchtbewegungen werden in den nächsten Jahren jedoch eher noch zunehmen. Ein
33
Q UO VAD IS MIGR A TION SP O LITIK? – D IE WAHL PR O GR AMME DE UTS CHE R PAR TEIEN UNTER D ER LUP E
8. DIE VERFASSERINNEN JONAS FREIST-HELD Jonas hat in Berlin und Berkeley Politikwissenschaft studiert und absolviert derzeit einen Doppelmaster in International Relations, Human Rights und Humanitarian Action an der Sciences Po Paris und der Freien Universität Berlin. Bei Polis 180 engagiert er sich im EU- und Migrationsprogramm.
THORE HAGEM ANN Thore ist Co-Leiter des Programms Migration bei Polis180. Sein Studium der Sozialwissenschaften in Köln, Maastricht, Toulouse und Berlin ist der Ausgangspunkt für sein Engagement bei Polis180. Mit Erfahrungen im humanitären NGO Sektor, in einem Ministerium sowie in der wissenschaftlichen Politikberatung bereichert er Polis180 außerdem mit praktischem “Know-How”.
LUCAS RASCHE Lucas hat an der Maastricht University und am King’s College London Europastudien sowie Friedens & Konfliktforschung studiert. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) in Wien. Bei Polis180 engagiert sich Lucas im Programm Migration.
NATALIE W ELFENS Natalie hat in Amsterdam, Paris und Berlin Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Menschenrechte und Migration studiert. Derzeit promoviert sie an der Universität von Amsterdam zum Thema Resettlement und humanitäre Aufnahme in Europa. Als Mitgründerin von Polis180 und seinem Migrationsprogramm hat sie bereits verschiedene Projekte und Workshops mitgeplant und durchgeführt.
34
Berlin, September 2017 Veröffentlicht von Polis180 e.V. Dieses Polis Paper gibt ausschließlich die Meinung der Autorinnen und Autoren wieder. Die Verantwortung für den Inhalt liegt bei den AutorInnen.
POLIS180 Der Grassroots-Thinktank Polis180 übersetzt wissenschaftliche Erkenntnisse für politische EntscheidungsträgerInnen. Ideen, Analysen und Lösungsansätze unserer Generation bringen wir durch innovative, partizipative und inklusive Ansätze in den politischen Diskurs ein. In thematischen Programmen und mit neuen und kreativen Formaten entwickeln wir echte Alternativen für
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