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Impressum Das Literaturmagazin poet erscheint halbjährlich. Alle Rechte liegen bei den Autoren bzw. den Verlagen. Auf postalischem Weg erfolgt keine Annahme unverlangter Manuskripte. Beiträge können als Anhang einer E-Mail an die Adresse des poetenladens (manuskripte@poetenladen.de) geschickt werden. In der Regel werden Einsendungen nicht kommentiert. Anfragen sind via EMail möglich (info@poetenladen.de). Verlag: poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig, Germany Redaktion: Andreas Heidtmann, Fechnerstraße 6, 04155 Leipzig poet im Internet: www.poet-magazin.de poetenladen im Internet: www.poetenladen.de Der Verlag im Internet: www.poetenladen-der-verlag.de Bestellungen des aktuellen Magazins sowie früherer poet-Ausgaben über den Buchhandel, beim poetenladen per E-Mail (shop@poetenladen.de) oder per Fax (0341 – 6407314) oder portofrei über den Internetshop des poetenladens (www.poetenladen-der-verlag.de/shop). Illustration und Umschlaggestaltung: Miriam Zedelius Druck: Pöge Druck, Leipzig poet nr. 18 Literaturmagazin Andreas Heidtmann (Hg.) Leipzig: poetenladen, Frühjahr 2015 ISBN 978-3-940691-63-7 Calwer Hermann-Hesse-Preis für Literaturzeitschrien Gefördert durch die Kulturstiung des Freistaates Sachsen www.kdfs.de Die Übersetzung des Dossiers wurde gefördert vom Flämischen Literaturfonds www.flemishliterature.be


EDIT

ORI

AL

Wir erleben nicht so sehr eine Krise des Schreibens als eine des Lesens. Woche für Woche erscheinen bemerkenswerte Romane und Gedichtbände von aufregendem Format, wobei literarische Preise und Festivals den Eindruck erwecken, die Literatur finde weit reichende Aufmerksamkeit. Doch vieles – etwa in der Lyrik – spielt sich im Innern eines kleinen Zirkels aus Literaten, Kritikern und Kennern ab. Der Kontrast zwischen der Hochtourigkeit des Betriebs und den Resonanzen, die seine Produktionen jenseits der professionellen Leserscha finden, könnte kaum größer sein. So wäre es auch eine Aufgabe von Literaturzeitschrien, ein wenig dazu beizutragen, diese Klu zu verkleinern. Illusorisch? Neben Beispielen deutschsprachiger Lyrik hält der poet nr. 18 ein ansehnliches Dossier von Gedichten aus Flandern bereit. Der Prosateil lässt ahnen, welche Vielfalt an literarischen Stimmen in der erzählenden Literatur hier und jetzt vorherrscht. Die Miniatur, von uns seit langem gepflegt, ist ebenso dabei wie der Romanausschnitt. Trotz Lesekrise also – es lohnt den literarischen Raum dieser Ausgabe zu durchschreiten, um Neues zu entdecken, ja, mag der Leser das Glück haben, auf Passagen zu stoßen, die, wie der Philosoph Marcus Steinweg es formuliert, wie ein Blitz einschlagen und die eigene Realität neu konfigurieren. Andreas Heidtmann, Frühjahr 2015


Splendid isolation. Ich, allein, mit einem Buch Hans Bender: Lyrik und Gespräch zum ema Lesen

Seite 40 u. 206

»Eines Abends las ich, wie so o schon, in den Aufzeichnungen von Olof Lagercrantz, wie er Joseph Conrads Herz der Finsternis rühmt; ich stieg hinab in den unteren Stock, holte das Buch aus dem Regal der englischen Autoren und las die Erzählung zum dritten Mal.«

Schoreide Neue Lyrik und ein Bekennerschreiben von Gerhard Falkner

Seite 8 u. 12

»Ich bekenne mich zum willentlichen und wissentlichen Versuch, das Naturgedicht auf neue Beine stellen zu wollen. Die Gründe hierfür sind zahlreich und vielfältig, einige davon möchte ich nennen ...«

Poesie aus Flandern Ein Dossier von Hans ill und Stefan Wieczorek

Seite 68

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Inhalt

»Brüssel« steht stellvertretend für ein offenbar gesichtsloses riesiges Gebilde namens Europa. Höchste Zeit, finden Hans ill und Stefan Wieczorek, Texte vorzustellen, die »aus dem Fleisch der Sprache gemacht sind«, Gedichte auf Niederländisch und auf Deutsch, von belgischen Autoren und von deutschen, die nach Belgien hinüberblicken. Mit Erstaunen sieht man eine poetische Welt, reich an diesseitigem Leben mit keiner geringen Freude am Exotischen, einem Sinn für Epiphanisches im Alltag und auch fürs Absurde. Els Moors aus Brüssel


GEDICHTE GERHARD FALKNER: Schoreide: Gedichte · Bekennerschreiben RON WINKLER: Karten aus Gebieten 18 CHRISTIAN SCHLOYER: zeitgitterstörung 24 MÓNIKA KONCZ: Das Tier kommt, um zu staunen 30 TABEA XENIA MAGYAR: au revoir, simone 35 HANS BENDER: Jahreszeiten · Vierzeiler 40 MARCUS ROLOFF: martin luther auf dem totenbett 44 HANS GEORG BULLA: Auf dem Weg 50 THEO BREUER: war das ein beflocktes geblute 56 MARKUS HALLINGER: Gesummsel 60 GUNDULA SELL: Auf dem Platz 64

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POESIE AUS FLANDERN HANS THILL: Einführung: Und es bewegt sich doch! 68 PAUL BOGAERT: Unsere Sehnsucht 71 TOM VAN DE VOORDE: Fragen an Shiva 82 HANS THILL: Semper reciprocanda serra 94 CHRISTIAN FILIPS: zum Starrsinn, der tippenden Finger 102 ELS MOORS: Lieder eines kenternden Pferdes 109 ELKE ERB: Seltsam 120 MARC KREGTING: Totes Vögelchen 129 STEFAN WIECZOREK: Nachwort: Mit einem feinen Sinn für das Absurde

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Geister und Außerirdische Einblicke in neue Romane

Seite 190

Katharina Hartwell wurde 1984 in Köln geboren. 2009 gewann sie den MDR-Literaturpreis und debütierte 2010 mit dem Erzählungsband Im Eisluballon (poetenladen). 2013 folgte ihr Roman Das Fremde Meer (Berlin Verlag). Der poet stellt einen Auszug aus ihrem zweiten Roman Der Dieb in der Nacht vor, der im Sommer 2015 im Berlin Verlag erscheint. Gleichermaßen empfohlen zur Lektüre seien die anderen Texte des Prosateils, darunter zwei weitere Romane, Erzählungen sowie Prosa-Miniaturen.

Was liest du gerade?

Seite 200

Der poet hat Autorinnen und Autoren gefragt, wie die nächste Generation lesen wird. Oder sind wir schon am Ende der Lesekultur angelangt? Markus Hallinger meint: »Echtes Lesen setzt voraus und lehrt, was heute gesellschalich als unerwünscht oder als Anachronismus angesehen wird: Langsamkeit.«

Literatur und Lesen

Seite 234

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Inhalt

Lesen fügt der Realität etwas hinzu Mit Ina Hartwig kommt eine Kritikerin zu Wort, die nicht nur professionell liest, sondern auch das schöne Schweifen des privaten Lesens schätzt. Wenn es auch Spekulation ist, inwieweit Lesen unsere Haltung prägt, beeinflusst es doch unsere Wahrnehmung. So gibt es immer wieder Szenerien und Momente, die durch eine zweite Empfindungsebene aus unseren Lektüren neu belichtet und atmosphärisch bereichert werden.


GESCHICHTEN STEFANIE BLASER: Mein sprödes Glück 146 MARIE T. MARTIN: Kennen wir uns? 155 SARAH J. ABLETT: Yanod 160 MARGRET KREIDL: Leitsätze · Traumsätze 168 ANTJE HEUER: Berlin wird am Meer liegen 172 NADINE KEGELE: Schwarz-weiß 178 JOSEFINE RIEKS: Flapmmo 183 KATHARINA HARTWELL: Geister und Außerirdische und plötzliche, unerklärliche Todesfälle sind möglich 190

GESPRÄCHE – Literatur und Lesen EINFÜHRUNG: Die eigene Realität neu konfigurieren

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UMFRAGE: Was liest du gerade? Oder: Wer nimmt sich Zeit zum Träumen? 200 HANS BENDER im Gespräch mit eo Breuer 206 Splendid isolation. Ich, allein, mit einem Buch MARCUS STEINWEG im Gespräch mit Jan Kuhlbrodt Risikolektüren

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INA HARTWIG im Gespräch mit Sibylla Vričić Hausmann Lesen fügt der Realität etwas hinzu NADINE KEGELE im Gespräch mit Katharina Bendixen Lesen hat mich kämpferisch gemacht

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Foto: Jim Rakete

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Gerhard Falkner | Schoreide

Gerhard Falkner Geboren 1951, Lyriker, Prosaautor, Dramatiker, Essayist und Übersetzer. Er gilt als einer der einflussreichsten und stilprägenden zeitgenössischen deutschen Lyriker. 2009 erhielt er für seinen Gedichtband Hölderlin Reparatur den Peter-Huchel-Preis. Ebenso trat er als Prosaautor hervor, etwa mit

der Novelle Bruno, die mit dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem August-Graf-von-Platen-Preis ausgezeichnet wurde. Zuletzt veröffentlichte er die Gedichtbände Pergamon Poems (kookbooks 2012) sowie Ignatien. Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs (starfruit publications 2014).


Verlandschalichung von Libellen, neurologischem Gras und Denkmodellen

Schoreide (1)

Le ciel est bleu. Die Hunde funkeln: hinaus in die verzwickte Natur! Die Heide brütet vor sich hin Tief atmet mein Gehirn die laue Lu. Meine Seele besteht nur noch aus Zündhölzern Endlich ein Raum, der leer ist von Vergnügungen der auf sich selbst beruht. Die Glut der Sonne verlötet meine DNA mit den Rotlichtspuren blühenden Mooses Die Äste ticken in den Bäumen Zeit ist das aber nicht: zuviel Entrücktheit zu viele Pausen zwischen den Lücken


POESIE AUS FLANDERN Einführung von Hans ill

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Hans ill | Einführung

Und es bewegt sich doch!

Belgien, ein Staat, als nicht existent verschrien. Die Hauptstadt Brüssel, dagegen, kommt einem vor wie eine Metropole, die in den Lüen schwebt und gleichzeitig die Schwere eines Erdteils besitzt. Eines bürokratischen Erdteils, der für viele Bürger die ganze Welt bedeuten kann. »Brüssel« steht stellvertretend für ein offenbar gesichtsloses riesiges Gebilde namens Europa. Eine Hyperbürokratie, die immerzu das zu tun scheint, was keiner will. Damit ist Brüssel eine Stadt, mehr als nur eine Stadt und keine Stadt. Es ist so sehr Zeichen aus dem Werkzeugkasten journalistischer Trivialrhetorik, dass es längst alle Stofflichkeit hinter sich gelassen zu haben scheint. Wie bei allen Prägungen der Informationsindustrie haben wir es hier mit einem anschwellenden Gemeinplatz zu tun, einem Joker der Gedankenleere. Höchste Zeit, Texte vorzustellen, die aus dem Fleisch der Sprache gemacht sind. Gedichte auf Niederländisch und auf Deutsch, von belgischen Autoren und von deutschen, die nach Belgien hinüberblicken. Mit Erstaunen sieht man eine poetische Welt, reich an diesseitigem Leben mit keiner geringen Freude am Exotischen (Tom Van de Voorde: »Unterdessen im Dschungel / beten Farben um Glück«), einem Sinn für Epiphanisches im Alltag (Els Moors: »ich erdulde dass ich erschaffen wurde«) und auch fürs Absurde (Marc Kregting: »Ein Pferd reckte seinen Hals nach draußen, das Schild verriet MEERSCHWEIN«; Paul Bogaert: »So gleitet der Zweifel in den Handstand«). Es sind Gedichte unmittelbarer Zeitgenossenscha, sie finden ihre Entsprechung in den


Gedichten von Elke Erb (»in Wirklichkeit sind wir zu lachen bereit«) und Christian Filips (»hoch, die! / immer höher / schwindelnde / wendelnde Treppe! – / hat Zeit.). Filips, der in Belgien aufgewachsen ist, zeigt sich hier als ein Urenkel Paul van Ostaijens. Dass Belgien, was Literatur und Kunst angeht, bei weitem kein Niemandsland ist, kann man den Ausführungen von Stefan Wieczorek entnehmen, die unser Dossier im Poeten abschließen. Wieczorek hat auch die Gedichte aus dem flämischen Niederländisch ins Deutsche übersetzt. Die Literatur Belgiens erstaunt den Beobachter durch eine Vitalität, die man den politischen Verhältnissen des Landes abspricht. Es hat vielfältige Literaturen aufzuweisen, eine fruchtbare Mehrsprachigkeit, und befindet sich somit tatsächlich an der Nahtstelle zweier Sprachfamilien. Wenn wir uns in diesem Schwerpunkt aufs flämische Niederländisch beschränken, so mit dem ausdrücklichen Hinweis auf eine Anthologie, in der beide Literatursprachen vertreten sind.1 In ihrem Nachwort zur Anthologie, die als Ergebnis der Übersetzerwerkstatt »Poesie der Nachbarn – Dichter übersetzen Dichter« im pfälzischen Edenkoben publiziert wurde, gehen Beate ill und Stefan Wieczorek gleich zu Beginn auch auf die elementare Frage nach dem nationalen Selbstverständnis der Dichter Belgiens ein: »›Es gibt keine belgischen Dichter, belgische Dichter sind wir nur im Ausland‹ – während der Übersetzungswerkstatt in Edenkoben war dies die wohl deutlichste Formulierung, um die Situation der flämischen und wallonischen Autoren zu beschreiben. Sie zeugt von einer höchst interessanten Position der Dichter im nationalen und kulturellen Kontext, zumal diese Selbstverortung mit Selbstbewusstsein und kaum als die Erfahrung eines Defizits vorgebracht wurde.«2

Reizvoll für diesen Schwerpunkt erschien es uns, flämisch-niederländische Gedichte mit deutschen zu konfrontieren. Die Zeiten, als man beide Sprachen so nah beieinander sah, als handle es sich in Wirklichkeit um eine, sind längst vorbei. Im 17. Jahrhundert konnte Martin Opitz sein


großes Vorbild Daniel Heinsius (1580 geboren in Gent) der literarischen Gemeinde als den Dichter präsentieren, der den Beweis erbrachte, dass die deutsche Sprache für die von Petrarca entwickelten Formen hoher Poesie durchaus geeignet sei.

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Hans ill | Paul Bogaert

1 Hans Thill (Hrsg.): Meine schlichten Reisen. Gedichte aus Belgien, übersetzt nach Interlinearversionen von Beate Thill und Stefan Wieczorek. Poesie der Nachbarn Bd. 23, Heidelberg (Wunderhorn) 2011. Mit Texten von Dirk van Bastelaere, Eric Brogniet, Karel Logist, Els Moors, Erik Spinoy, Liliane Wouters übersetzt von Gerhard Falkner, Zsuzsanna Gahse, Norbert Lange, Ulrike Almut Sandig, Michael Speier, Hans Thill. 2 Meine schlichten Reisen S. 171.


Foto: Tineke de Lange

Paul Bogaert Paul Bogaert, geboren 1968, ist Dichter. Bisher veröffentlichte er fünf Gedichtbände. Für de Slalom so (2009) wurde ihm der Flämische Kulturpreis für Poesie verliehen, der alle drei Jahre vergeben wird. Der So-Slalom (übersetzt von Christian Filips) war 2013 eine der Lyrik-Empfehlungen der Stiung Lyrik Kabinett und der Deutschen Akademie für Sprache

und Dichtung. Sein letzter Gedichtband, Unsere Sehnsucht, wurde mit dem Herman de Coninckpreis 2014 für den besten Gedichtband ausgezeichnet. Bogaert macht auch Poesieclips, die unter anderem auf dem Zebra Poetry Film Festival Berlin zu sehen waren. Er arbeitet in Brüssel und wohnt in Löwen.


Foto: Marco Frauchiger

Stefanie Blaser

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Stefanie Blaser

Geboren 1989 in Ruswil, lebt heute in Biel. Berufslehre als Malerin. Studium an der Hochschule der Künste Bern, Literarisches Schreiben. Schreibt Prosa

und anderes, das man o stehend vorträgt, auf Hochdeutsch und in Schweizer Mundart. Letzte Veröffentlichung: la liesette littéraire (2014).


Mein sprödes Glück

Die rote Bahn kriecht aus dem Tunnel. Ich drücke auf den Knopf. Ich will aussteigen. Ich steige aus. Die rote Bahn fährt weiter. Ich stehe da, im Regen stehe ich da und denke: Es regnet auf meinen Kopf, meine Schuhe sind nicht regendicht. Dann denke ich: Das heisst wasserdicht. Ich gehe auf dem Weg. Rauf. Runter. Rechts. Dann sitzt ein Frosch auf dem Boden. Ein grosser Frosch sitzt auf dem Boden. Ein schöner Frosch. Ein Frosch von besonderer Schönheit, ein Schönling. Ich bestaune den schönen Frosch. Ich gehe weiter. Dann kommt ein Haus. Dann kommt wieder ein Haus. Dann kommt das Haus, von dem ich denke, dass ich es suche. Im Dunkeln steht es da. Man kann es fast nur erahnen. Das Haus, das ich wahrscheinlich suche, ist fast nur zu erahnen. Ich öffne die Tür, trete ein. Dann ist es trocken und ich denke: Das ist mein trockener Segen. Das ist mein sprödes Glück. °°° Es gibt nur wenige Dinge, die man hier oben tun muss. Hier oben ist nichts zu tun. Hier oben ist nichts zu machen. Ich denke, dass dies mit dem Ort zusammenhängt. Je höher ein Ort ist, umso weniger gibt er zu tun. Ich öffne das Gästebuch und schreibe mit dem blauen Kugelschreiber: Je höher ein Ort, umso schwieriger das Leben. Dann denke ich, dass dies eventuell nicht der Wahrheit entspricht. °°°


»Was liest du gerade?«

Auch Autorinnen und Autoren, die mit Lyrik oder Prosa im Magazin vertreten sind, stellte der »poet« zwei Fragen zum ema Lesen.

1. POET: Wie wird die nächste Generation lesen?

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Literatur und Lesen

JOSEFINE RIEKS: Mit den Augen. RON WINKLER: Es ist vorstellbar, dass Tiefenlektüren etwas Geheimbünd-

nerisches haben werden. Leseclubs als säkulare Klöster der Wenigen: der Neugierige und Eskapisten, der Phantasten und Analysewilligen. Wenn ich zwei Generationen weiterdenke: Vielleicht ist Lesen dann schon Teil eines Hypnose-Erlebnisses. Oder man kann mit dem Lesegerät über seine Erfahrungen diskutieren. MARCUS ROLOFF: Ich hoffe, sie tut es überhaupt. Ich sehe mich an und bemerke, dass die Wirklichkeit immer mehr verpixelt. Das ist erst mal nichts Schlimmes, sondern nur die Geschwindigkeit Erhöhendes. Das aber setzt bei mir die Konzentrationsfähigkeit herab, ich konnte mich schon als Kind nie lange auf eine Sache konzentrieren. Die Nachricht, der Tweet, der Post treten an die Stelle der verewigenden Schau, der Kontemplation, des versunkenen Brütens über den Welträtseln. Mich legt diese sich furchtbar profanisierend in jeden Lebensbereich hineindrückende digitale Gleitcreme lahm. Überall auf Gorillaglas glotzende Leute, in jedem möglichen und unmöglichen Augenblick zieh ich selbst das Smartphone raus, um zu checken, was es Neues gibt. Diese völlig leerlaufende, sich selbst fütternde Gier nach Neuem. Aber das Buch gibt mir Halt, wenn auch oft nur in Gedanken. Ein analoges Ding. Seine jahrhundertealte Ruhe. Bücher und Museen – die beruhigen mich. Und auch das Starren auf meine Bibliothek, meine ruhig dastehenden Buchrücken. Weil ich alle Töne meines Smartphones abgestellt habe, hil es nichts, ich muss es wieder aus meiner rechten


Hosentasche ziehen und mich in der Dunkelheit des Winterabends vom eiskalten Displaylicht beleuchten lassen. ANTJE HEUER: Jetzt braucht man sogar schon zum Lesen eine Batterie, hat ein Freund bedauert. Doch in welchem Umfang auch immer die nächste Generation mit Akkus lesen wird, das Bedürfnis nach echten Büchern wird bleiben. MARGRET KREIDL: Die nächste Generation gibt es nicht. Deutschland und Österreich gehören zu den europäischen Ländern, in denen Bildung und Leseverhalten am stärksten sozial vererbt werden. Kinder aus bildungsfernen (wie es heute so treffend heißt) Schichten lesen weniger und anders als Kinder aus bildungsbürgerlichen Schichten. Hartz-IVKinder, Kinder von MigrantInnen, von Alleinerzieherinnen usw. haben nur in Ausnahmefällen, durch Glück und Zufall, Zugang zu einer Welt vielfältiger Lektüren. Ich weiß, wovon ich spreche als Kind eines Hilfsarbeiters. In Zukun wird sich diese Spaltung noch verschärfen: Die Kinder der Armen als Ramsch- und Schlagzeilenleser, für die Erben der Leistungsträger eine reiche Auswahl an bibliophil ausgestatteten Büchern: ein Kanon des Wahren und Schönen, mit dem man sich vom Plebs absetzen kann. MARKUS HALLINGER: Vor einigen Tagen erklärte in einer Kultursendung des Bayerischen Rundfunks (BR2) ein Romanautor, dessen Name mir entfallen ist, jedes Buch als nicht lesenswert, in dem auf den ersten Seiten nicht etwas ganz Besonderes geschehe. Er meinte Action und ging sogar so weit, Bücher, die sich in Orts- oder Personenbeschreibungen ergössen, sofort wieder aus der Hand zu legen. Der Moderator, ohne nachzuhaken, ergab sich in Zustimmung. Kultursendung wohlgemerkt und Autor. Ähnliches war vor Kurzem in der Süddeutschen Zeitung zu lesen: Der deutsche Roman könne Story nicht, Langweile. Sicher, diese Auffassungen sind nicht gerade neu, zeigen aber doch, wo der Hase mit der Literatur hinläu, eigentlich längst hingelaufen ist: Lesen als Mittel zum Kick. Literatur als Teil der Erregungs- und Aufregungskultur, und damit in Konkurrenz mit Fernsehen und Internet. (Ein Wettbewerb, den sie nur verlieren kann). Jeder aber, der vor dem Inter-


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Literatur und Lesen

netzeitalter und dem Privatfernsehen mit Büchern aufgewachsen ist, weiß, dass Lesen etwas anderes ist. Echtes Lesen setzt voraus und lehrt, was heute gesellschalich als unerwünscht oder als Anachronismus angesehen wird: Langsamkeit – die Fähigkeit, sich mittreiben zu lassen und die Fragen und Schicksale, die in Büchern gezeigt werden, sich zu eigen zu machen. Gibt es die noch, frage ich mich, die nächtelangen Gespräche über Literatur und Leben, wie ich sie aus meiner Jugend kenne, über Albert Camus, Christa Wolf, Hermann Hesse? Ich zweifle. Literatur als Erkennungsmerkmal, gerade in der Jugend, die Frage unter Freunden »Was liest du gerade?« – wie o gibt es das noch?


2.

Wenn man bedenkt, dass Bücher oft wichtige Denkanstöße gaben – welche Auswirkungen hätte das Ende der Lesekultur auf die Gesellscha? JOSEFINE RIEKS: Wenig. Die Lesekultur spielt schon in der Gesellscha, wie sie jetzt ist, keine Rolle mehr. Was auch daran liegt, dass das meiste, was es zu lesen gibt, keine Rolle spielt und eine Entspannungsvariante auch keine gesellschaliche Rolle spielt, denn die ist durch ein Bad ersetzbar oder ein angeleitetes workout. Wer trotzdem liest und anders liest, wird das als derselbe Nerd, der er jetzt schon ist, auch weiterhin tun (außer es wird, per Überwachung kontrolliert, verboten). Und auch Ingeborg-Bachmann-Preise kann es weiterhin geben, wie es das Reichstagsgebäude weiterhin gibt. Lesen stand einmal, wie jede Kunstrezeption, außerhalb eines wirtschalichen oder selbstmodulierenden Zwecks, für einen Wert, der sich nicht in die Logik des Nutzens einordnen lässt und darum etwas mit Freiheit zu tun hat. Das ist längst nicht mehr so, und wird auch nie wieder so sein. MARCUS ROLOFF: Ein Ende der Lesekultur sehe ich nicht. Und wenn es die BILD-Zeitung im ePaper-Abo-Format ist, die überlebt, und wenn es die flackernden Werbeanzeigen sind, die wir lesen, um das nächste Schnäppchen nicht zu verpassen, die runzlig und rostig dastehenden verbeulten Straßenschilder und Digitalanzeigen der Uhrzeiten und Buslinien – gelesen wird das alles werden. Die Besserverdiener werden mit ihren Tablets hantieren, irgendwas Kanonisiertes beäugen, ansonsten nur Zahlenkolonnen konsumieren. Literatur wird so eine Art Schmuck werden, den man sich umhängt. Absolut ohne jeden Denkanstoß, vollkommen ohne Wirkung, nur als Geschwätzvorlage der Besserverdiener. Aber das ist ja schon jetzt so. SARAH JANE ABLETT: Ein Ende der Lesekultur sehe ich nicht. Es wird mehr gelesen. Werden Bücher gelesen? Ja, auch das. Den für Deutschland so typischen Kulturpessimismus halte ich für überzogen. In den USA und Großbritannien haben Autoren wie David Mitchell oder Greig POET:


Literatur und Lesen

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Taylor längst das digitale Storytellingpotential in Form von twitterfiction, micro-narratives etc. für sich entdecken können. Um allerdings auf einem solchen Niveau agieren zu können, müssen Menschen eine Ausbildung im Wahrnehmen, Lesen und Nachdenken erfahren haben, sie brauchen Räume dafür und vor allem Zeit. Ein reflektierendes Bewusstsein: Informationen ≠ Fakten, Informationen = Möglichkeiten. MARGRET KREIDL: Wo ist von Literatur die Rede? Geben Ratgeber wichtige Denkanstöße? Wer lernt Gedichte auswendig? Wer nimmt sich Zeit zum Träumen? Welche Seiten werden aufgezogen? Lesen Sie im Gehen? Wie kommen Sie zu Ihrem Happy End? So viele Bücher. So viele Fragen. ANTJE HEUER: Auch elektronisches Lesen kann natürlich wichtige Denkanstöße geben, es bedingt nur einfach eine Lesekultur anderer Ausprägung, die gut neben der traditionellen existieren kann. Ich gehe davon aus, dass sich Ideen sowie Differenziertheit und Präzision des Denkens bei jeder Art des Lesens entwickeln lassen. Eigenständiges Denken wäre durch ein Ende des Lesens gefährdet, nicht aber durch die Änderung der Art des Lesens. Ein Ende des Lesens selbst sehe ich nicht. Das Wegbrechen traditioneller Lesekultur zieht wirtschaliche Veränderungen nach sich und den Verlust bestimmter sinnlicher und praktischer Qualitäten, einen Verlust damit an Unmittelbarkeit. Das Über-den-(konkreten)Einband-Streichen, die handschriftliche Widmung auf Seite fünf, der optisch wahrnehmbare Lesestapel für die nächsten vier Wochen, die Möglichkeit des Weiterverschenkens. Das Gespräch mit dem kauzigen Buchhändler in einer fremden Stadt, dessen persönlicher Empfehlung man sich nicht entziehen kann und dessen Buch einen (auch gegenständlich) begleiten wird.


Thilo Krause · Um die Dinge ganz zu lassen · Gedichte 96 S. · 17.80 EUR · Hardcover · poetenladen Verlag 2015


Foto: Renate von Mangoldt

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Hans Bender | Gespräch

Hans Bender im Gespräch Hans Bender wurde 1919 in Mühlhausen im Kraichgau geboren und lebt seit 1959 in Köln. Nach der Kriegsgefangenscha in Rußland setzte er das Studium der Literatur- und Kunstgeschichte in Heidelberg fort. Er war Herausgeber der Literaturzeitschriften Konturen (1952/53) und Akzente (1954–1980) sowie zahlreicher Anthologien, darunter Mein Gedicht ist mein Messer (1955/61), Widerspiel (1961), In diesem Lande leben wir (1978) und Was sind das für Zeiten (1988). Seit

1951 hat er Gedichte, Erzählungen, Kurzgeschichten und zwei Romane veröffentlicht. Zuletzt erschienen u.a. Wie es kommen wird (2009), O Abendstunde (2011), Auf meine Art (2012) sowie Aufzeichnungen (2014). Hans Bender ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Akademie der Wissenschaen und der Literatur Mainz. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Kulturpreis der Stadt Köln und die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiung von 1859.


»Splendid isolation. Ich, allein, mit einem Buch.«

THEO BREUER: Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt – lese ich bei Jorge Luis Borges. Leben wir beide also mitten im ›Paradies‹? HANS BENDER: Ich bin mir da nicht so sicher. Bücher aus den Regalen unserer Wohnung verschwinden! Wir haben sie weder verschenkt noch verliehen, auch nicht zum Antiquar gebracht. Sie stehen nicht mehr an ihrem Platz, geordnet nach Ländern und Epochen. Ich vermute, sie haben sich davon gemacht, enttäuscht, weil wir sie viel zu lang nicht mehr herausgeholt, nicht mehr gelesen und gelobt haben. T. BREUER: Was wir aber doch jedes Mal tun, wenn ich hier bin. Eben erst hatte ich wieder Bücher von Jean Améry, Elias Canetti – das Buch der Bücher: Die Blendung –, Hermann Hesse, Ricarda Huch, Hans Henny Jahnn, was für ein Fluß ohne Ufer!, Walter Kappacher, Annette Kolb, omas Mann, Arnold Stadler, Robert Walser in der Hand, dann Das steinerne Herz, mein liebstes Buch von Arno Schmidt – oder hier: Otto Zoffs Tagebücher aus der Emigration 1939– 1944 ... Und am Ende des Tages wird der Tisch wieder bücherübersät sein – wie jedes Mal, wenn wir beisammensitzen. Bücher haben die natürliche Tendenz zu verschwinden, steht übrigens in Burkhard Spinnens Kram und Würde … (Schmunzelt.) Ich muß also offenbar noch öer kommen … H. BENDER: Ja, das mußt du. (Lacht.) Reich mir doch bitte das Buch, da ist eine Stelle, die ich dir vorlesen will: September 1939, Nizza. Zoff schreibt: »Ich sitze lange in einem Café auf der Straße, eine Barockkirche gegenüber, Balkons mit Vorhängen, ziegelrote Fassaden, Blumenstände voller Nelken, ein Teil des Marktes mit der Platanenreihe. Mittagswärme. Und es gibt Leute, die den Krieg vorziehen.« Nie habe ich diesen Eintrag vergessen, seit ich ihn las vor vielen Jahren, jeden Abend denke ich daran



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