Leseprobe Jan Weiler „Kühn hat Hunger“

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JAN WEILER K ÜHN HAT HUNGE R ROMAN

EXKLUSIVE E LESEPROB


Jan Weiler, Kühn hat Hunger

© Tibor Bozi

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JAN WEILER, 1967 in Düsseldorf geboren, ist Journalist und Schriftsteller. Er war viele Jahre Chefredakteur des SZ Magazins. Sein erstes Buch »Maria, ihm schmeckt’s nicht!« gehört zu den erfolgreichsten Büchern der vergangenen Jahrzehnte. Es folgten unter anderem: »Antonio im Wunderland« (2005), »Mein Leben als Mensch« (2009), »Das Pubertier« (2014), »Kühn hat zu tun« (2015) und »Im Reich der Pubertiere«(2016). Jan Weiler verfasst zudem Hörspiele und Hörbücher, die er auch selber spricht. Jan Weiler lebt in München. Zuletzt erschienen von ihm bei Piper »Und ewig schläft das Pubertier« sowie »Kühn hat Ärger«.

ühn hatte einsehen müssen, dass seine Frau ihn nicht mehr so begehrte wie früher. Das sei normal, dachte er sich. Nach achtzehn Jahren Ehe. Und 23 Jahren Beziehung. Da wird man nicht angesprungen, wenn man mit Lesebrille auf der Nase den Schnapper von der Haustür repariert. Man stürzt sich allerdings auch nicht mehr auf seine bügelnde Frau. Man schrumpft und runzelt gemeinsam in Würde. Dennoch verletzte ihn das mangelnde Interesse seiner Frau, denn es bestätigte seine Selbstwahrnehmung als alternder Ex-Gutaussehender. Nach seinem Zusammenbruch, der ein Jahr her war, hatte sich ihr Verhältnis nicht mehr richtig eingerenkt. Kühn hatte Susanne vor Monaten – und das war vorher noch nie geschehen – eine Affäre unterstellt und selber eine gehabt. Das hatte sein Selbstwertgefühl zwar mittelfristig aufpoliert, aber auch ein bemerkenswert am­ bivalentes Schuldgefühl ausgelöst: Natürlich tat es ihm leid, dass er seine Frau betrogen hatte. Aber gleichzeitig fand er, dass es nur dazu gekommen war, weil sie sich nicht für ihn interessiert hatte. Er war sozusagen zu gleichen Teilen schuld wie sie. Dennoch stand die gegenseitige Scham und ihr Gefühl der Unzulänglichkeit zwischen ihnen. Kühn nahm in den kommenden Wochen sukzessive an Gewicht zu. 3


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Außerdem nahm er mit außerordentlichem Gram zur Kenntnis, dass er offenbar zur sogenannten Biertitte neigte. Das machte ihn weiblicher, als es ihm gefallen hätte, und es brachte ihn ein wenig in die Defensive, wie er fand. Überhaupt geriet seine Männlichkeit in letzter Zeit in Gefahr, das spürte er sehr deutlich, und es irritierte ihn zunehmend. Er selbst hatte sich über die Stellungen des Mannes und der Frau in der Gesellschaft nie Gedanken gemacht. Er hätte nicht einmal gewusst, wozu das hätte gut sein können. Natürlich fand er es ungerecht, dass Frauen im Allgemeinen weniger Geld verdienten als Männer. Und er war durchaus der Meinung, dass Beamtinnen dieselben Aufstiegschancen zustanden wie ihren männlichen Kollegen. Mit Frauenrechten hielt er es wie mit der Mülltrennung: Beides fand er sehr sinnvoll. Weiter dachte er nicht, trennte Papier-, Rest- und Plastikmüll und ging respektvoll mit Kolleginnen und Nachbarinnen um. Sein Seitensprung war nicht als rücksichtslose Unterwerfung vonstattengegangen, sondern er war verführt worden. Von einer selbstbewussten Frau. Darauf legte er Wert, obwohl er fand, dass es ihm nicht schmeichelte. Ebenfalls wenig triumphal geriet ihm die Auseinandersetzung mit Susannes immer deutlicher zutage tretendem weiblichen Selbstbewusstsein. Anfangs hatte er sich 4

eingebildet, dass sich diese Zeichen weiblicher Selbstbe­hauptung erst durch die Verfehlung mit Ulrike Leininger als eine Form der Widerständigkeit bei Susanne herausgebildet hatten. Aber dann schwante ihm allmählich, dass seine Frau sich ganz einfach veränderte. Sie nahm chauvinistische Sprüche an ihrem Arbeitsplatz nicht mehr gelassen hin, sondern konterte scharf. Sie beschwerte sich bei der Schulleitung, weil Alinas Klassen­ lehrerin vor den zehnjährigen Kindern erklärt hatte, dass nur alleinstehende Frauen zur Arbeit gehen sollten. Sie reagierte zunehmend spöttisch auf ihren Mann, wenn er in ihren Augen Ansichten vertrat, die nicht zeitgemäß waren. Kühn spürte, dass sie ihn manchmal regelrecht mied, und er konnte sie nicht mehr damit zum Lachen bringen, dass er o-beinig durchs Wohnzimmer ging, grunzte und sich dabei in den Schritt griff. Das hatte sie früher witzig gefunden, jetzt verdrehte sie die Augen. Und dann waren sie aus dem Kino gekommen. Es hatte einen politischen Film gegeben, nicht gerade die größte Leidenschaft des Martin Kühn, dem im Kino sehr an einfachen Konfliktlösungen gelegen war, gerne im Weltraum oder in mittelalterlich anmutenden Fantasiewelten. Aber Susanne hatte sich gewünscht, etwas Relevantes zu sehen. Also hatten sie sich einen amerikanischen Film angeschaut, in welchem Politiker vom alten Schlag 5


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die Welt unter sich aufteilten. Kühn konnte der Handlung nur schwer folgen und drohte einzuschlafen, was er sich aber nicht traute, weil er dann geschnarcht hätte. Also hielt er durch, und als sie das Kino verließen, heuchelte er Begeisterung, um größeren Debatten aus dem Weg zu gehen. Aber Susanne war verärgert, und alles, was sie über den Film sagte, war: »Keine einzige starke Frauenrolle.« Diese Kritik irritierte Kühn, denn darüber hatte er sich wirklich keine Gedanken gemacht. Und genau das war es dann auch, was seine Frau ihm vorwarf. Nach diesem Kinobesuch mehrten sich die Anlässe, bei denen sie ihn anklagte, sich nicht deutlich genug pro Frau zu positionieren. Wenn er es versuchte, glaubte sie ihm nicht. Das verunsicherte Kühn. Und er, der seine Männlichkeit immer für ein großes Plus hielt und nicht weiter erwähnenswert fand, stand unter einem Druck, den er sich kaum erklären konnte und dem er weder emotional noch vom Verstand her gewachsen war. Nachdem nun auch noch sein Gürtel verrücktspielte, beschloss er, dem Ungemach diszipliniert entgegenzutreten. Teils, um sich wohler zu fühlen, teils um Susanne zu beweisen, dass er durchaus bereit war, sich für sie zu schinden, und außerdem, weil er sich einbildete, mit einer zumindest periodischen Konzentration aufs Körperliche seine Prostata zu befrieden.

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Vor fünf Monaten hatte ihm der Arzt eröffnet, dass es dort zu einer ungestümen Zellteilung kam und der PSAWert besorgniserregend erhöht sei. Daraufhin hatte Kühn Panik bekommen und auch deshalb diese Nacht mit seiner Kollegin Leininger verbracht. Er wollte einfach sehen, ob noch alles funktionierte. Danach hatte er sämtliche Gedanken an eine mögliche Erkrankung ganz weit nach hinten in seinen Kopf verbannt. Kühn hatte sich die Auswahl der richtigen Diät nicht leicht gemacht und sorgfältig recherchiert. Es gab solche, bei denen man keine Kohlenhydrate, aber Fett zu sich nehmen durfte. Oder kein Fett, keinen Zucker, keinen Alkohol, aber Huhn und Fisch. Problematisch an den meisten Programmen fand er, dass dort dauernd gekocht werden musste. Das ging ja nicht in der Dienststelle. Und er wollte auch nichts Eingetuppertes von zu Hause mitbringen. Das war unter seiner Würde. Die Caparacq-Methode überzeugte ihn dadurch, dass er einfach gar nichts essen würde. Und was es später gab, konnte man unauffällig ins Büro schleusen. Er wollte als Chef nicht, dass seine Ernährung in der Abteilung zum Thema wurde. Es war ihm peinlich. In München wird, gerade in Relation zur doch eindrucksvollen Einwohnerzahl von fast eineinhalb Millionen Menschen, nicht allzu oft unter Fremdeinwirkung gestorben. Und so dachte Kühn, dass jetzt ein guter 7


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Zeitpunkt war, weil kein Ermittlungsdruck auf ihm lastete. Also kaufte er das Buch in der Shoppingmall der Weberhöhe und legte es unter den missbilligenden Blicken seiner Frau auf seinen Nachttisch. Susanne hielt Caparacq für einen chauvinistischen Idioten und sein Buch für einen Angriff auf die Frauen und den Feminismus. Mit dieser Meinung stand sie nicht alleine. In den Medien tobte ein vehementer Streit darüber, ob Caparacq die Männer in die Steinzeit oder in die Zukunft führte. Es meldeten sich auch ein paar Kritiker, die behaupteten, dass das Buch einfach ein genialer Marketingcoup und das pseudo-männliche Gefasel des Autors nur verkaufsförderndes Gewäsch seien. Das konnte durchaus sein, denn Ferdie Caparacq trat in mehreren Talkshows auf, um dort seine Sprüche zu klopfen, was sich tatsächlich enorm verkaufsfördernd auswirkte. Kühn fand den Text nach der Lektüre des Vorwortes auch etwas dämlich, aber er las sich unterhaltsam. Und Susanne würde vermutlich nichts mehr einwenden, wenn ihr Mann in drei oder vier Wochen um zehn Kilo erleichtert vor ihr stand. Zehn Kilo waren keine unrealistische Zielsetzung. Kühn wog bei 198 Zentimetern Körpergröße 115,2 Kilo. Das entsprach einem Body-Mass-Index von 29,3, was wiederum ein kleines Übergewicht dokumentierte. Normal war bei seiner 8

Länge und in seinem Alter ein BMI von 22 bis 28 Punkten. Nach dem Verlust von zehn Kilo würde er auf einen BMI von 24,5 kommen, also genauso schön dünn sein wie vor 25 Jahren. Kühn war nicht eitel, aber diese Vorstellung gefiel ihm sehr. Er begann also seine Diät, indem er nichts zu sich nahm außer einem Glas warmen Leitungswassers und dem Caparacq’schen Tagesmotto, welches heute lautete: »Ganz tief verborgen steckt ein Mensch. Hol ihn raus!« Dann sah er in den Spiegel und sagte leise »Ho, ho, hu, du geiler Typ«. Er schaute in seinen Zahnzwischenräumen nach, ob dort noch etwas zu essen war, denn bei dem Gedanken, dass er jetzt den ganzen Tag nichts mehr zu sich nehmen sollte, bekam er augenblicklich schlechte Laune. Kühn stellte sich darauf ein, den ersten Tag seines neuen Lebens als Hungerkünstler damit zu verbringen, seinen Schreibtisch aufzuräumen und einige der Memos und Mails zu lesen, die er in den vergangenen drei Wochen ignoriert hatte. Er rechnete damit, dass ein geruhsamer Fastentag vor ihm lag. Nun kann man jedoch den Menschen kaum vorschreiben, wann sie ihre Straftaten begehen sollen. Und so kam es, dass genau am ersten Tag von Kühns Diät nach der Caparacq-Methode gegen zwanzig nach elf das Telefon im Kommissariat klingelte und der Fund einer leblosen Person gemeldet wurde, was Kühns Plan, 9


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geruhsam ins Idealgewicht zu trödeln, augenblicklich vereitelte. Der Kollege Steierer trat in Kühns Büro und sagte: »Frauenleiche auf einer Baustelle in Obermenzing. Sieht nach Tötungsdelikt aus.« Kühn erhob sich, nahm seine Jacke, und sie fuhren los. Die Arbeit der Ermittlung begann bereits mit der Anfahrt zum Fundort der Leiche. Oft erzählte die Umgebung etwas von der Tat, und Kühn versuchte, alles in sich aufzunehmen, was auch Täter und Opfer vor ihm gesehen hatten. Er konzentrierte sich, um Zusammenhänge herzustellen. Eine Autobahnauffahrt in der Nähe konnte zum Beispiel darauf hinweisen, dass man den Ablageort seines Opfers nach günstigen Fluchtmöglichkeiten ausgesucht hatte. Doch der Ort, den sie nach zwanzigminütiger Fahrt erreichten, bot sich dafür nicht an. Er war nur über eine schmale Straße zu erreichen. In der Nachbarschaft gab es bloß das Gelände einer Großbrauerei und ein Gartencenter sowie den Lärm von der Autobahn, die am Gelände vorbeiführte. Kühn hatte gesehen, dass auf der anderen Seite des Grundstücks ein Campingplatz lag. Das fand er interessant. Der Fundort der Leiche war noch keine richtige Baustelle, wie Steierer gesagt hatte, eher so etwas wie eine offene Wunde in der Landschaft, die man geöffnet hatte, um einen Baumarkt hineinzupflanzen. Die Erdarbeiten waren abge­ 10

schlossen, das Material für die Fundamente lag schon bereit, aber nach dem Aushub war der Winter mit Massen von Schnee über München gekommen, und man hatte die Arbeiten unterbrochen. Nun waren sie wieder aufgenommen worden. Man hatte gleich am ersten Tag die Funktionsfähigkeit der bereits fertiggestellten Wasserversickerung überprüfen wollen und darin den toten Frauenkörper entdeckt. Manchmal konnte Kühn einem Tatort ansehen, was geschehen war. Wenn er zum Beispiel in ein Einfamilienhaus kam, in dem der Vater die Mutter erschlagen hatte, erzählten die Erbsensuppe, die Fernbedienung des Flatscreens, die geöffnete Mahnung und der Schürhaken des unbenutzten und unbezahlten Kamins ihm ganze Romane. Wenn er den erschöpften Vater in der fürs Wohnzimmer zu groß geratenen Couchgarnitur hocken sah, Blut an den Händen und am Kopf, den er in diesen Händen zu verbergen versucht hatte, dann musste er kaum Fragen stellen. Der Ort verriet ihm schon alles. Hier schwieg er jedoch. Was dem Frauenkörper widerfahren war, den man aus einer Sickergrube geborgen hatte, das hatte nichts mit diesem leeren Ort zu tun. Sie fühlte sich gespenstisch an, diese völlige Abwesenheit von Inhalt, von Zusammenhang, dieses totale Fehlen einer Geschichte, fand Kühn. Aber vielleicht lag das auch nur an seinem Hunger. Er versuchte trotzdem, sich 11


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auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Und die Aufgabe bestand darin, diese fehlende Geschichte zu entdecken und sie von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende zu erzählen. Naturgemäß war es immer am schwersten, den Anfang der Geschichte zu finden. Den Moment, an dem alles begonnen hatte, was auf dieser Baustelle sein Ende gefunden hatte. Kühn ließ seinen Blick über das Gelände schweifen, dann wieder auf die tote Frau, die vor ihm auf einer Plastikplane lag, verkrümmt, Kleidung und Gesicht verschmutzt. Sie war bekleidet, aber nicht für dieses Wetter angezogen. Kühn betrachtete die Wunden in ihrem Gesicht und am Schädel. Die blutigen Haare waren zu einem dunkelbraunen wirren Knäuel verflochten, der Blick in ihren halb offenen Mund legte die Vermutung nahe, dass ihr Zähne fehlten. Auch ohne Gerichtsmediziner und Spurensicherer konnte sich Kühn ein Bild machen, indem er versuchte, sich die Frau lebend vorzustellen. Du trägst silberne Hotpants über Fischnetz-Strümpfen und so ein dünnes Oberteilchen. Vielleicht bist du ausgegangen, hast Freude am Leben gehabt und dann jemanden getroffen, der dir nicht gutgetan hat? Oder das ist Berufskleidung. Hast du angeschafft? Bist du Deutsche? Wir werden sehen, ob dich jemand vermisst. Jeder sollte 12

einen Menschen haben, dem er fehlt. Eltern. Geschwister. Vielleicht hattest du einen Mann. Kollegen, Nachbarn. Auf jeden Fall gibt es jemanden, der weiß, dass du hier drin gelegen hast. Jemanden, der sich vorstellt, dass du hier zerfällst. Das ist kein schöner Gedanke, aber die müssen auch gedacht werden. Jemand hat ein Schuldbewusstsein und die Gewissheit, dich zerstört zu haben. Man glaubt bloß immer, es gäbe den kaltblütigen, vollkommen gleichgültigen Mord. Wie im Film, wo sie die Schusswaffen so albern in der Hand verdrehen und einander umbringen, als würden sie Fliegen erschlagen. Aber so einfach ist das nicht. Die wenigsten Mörder laufen unbeschwert herum. Da sind Bilder und Töne. Irgendwer hat dich durch diese Öffnung geworfen wie Altglas. Vielleicht hast du festgehangen, und er musste nachhelfen, damit du reinfällst. Du wirst auf den kalten Boden geklatscht sein, das macht ein Geräusch. Das geht ihm im Kopf herum, für den Rest seines Lebens. Kühn wusste, dass das eher eine Hoffnung war als eine sichere Annahme. Er hatte schon Beschuldigte erlebt, die völlig glaubhaft versicherten, sich an nichts zu erinnern, dabei war ihre Tat durch einen riesigen Haufen von Beweisen belegt. Aber sie selbst hatten die Details so weit hinten im Archiv verborgen, dass sie nicht mehr hinkamen. Selbst unter Folter hätten sie nichts davon preisgeben können. Aber dann schreckten 13


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sie z­ usammen, wenn eine Tür zufiel oder jemand von einem bestimmten Automodell sprach, denn das löste bei ihnen eine Kette von Empfindungen aus, und die Verdrängungsarbeit stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Oder du bist einfach entsorgt worden. Von Männern, die dich loswerden wollten. Es sind immer Männer. Keine Frau tut einer Frau so etwas an. Mir soll niemand erzählen, es gäbe keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Nur Männer prügeln auf Frauen ein und schmeißen sie in einen Schacht aus Beton. Kühns Kollege Steierer kam mit dem Beamten heran, der als Erster in die Sickergrube hineingesehen hatte. Er war sichtlich schockiert, ein Mann von vielleicht dreißig Jahren namens Wagner. »Wie hat sie da drin gelegen?«, fragte Kühn. »So zusammengekauert irgendwie, zusammengerollt wie ein Paket«, sagte Wagner. »Wir haben die Auffindesituation fotografiert und auf Video festgehalten. Es war nicht einfach, sie da wieder rauszubekommen, also in einem Stück.« Die Erinnerung an die komplizierte Bergung des zur Hälfte schon in Verwesung übergegangenen Leichnams kehrte zurück, und Wagner musste sich abwenden. Später würde sich Kühn das Video ansehen, in dem festgehalten war, wie drei Spezialisten die junge Frau anhoben und vorsichtig versuchten, sie anzuseilen. Das funktionierte aber nicht, weil der 14

Körper durch die Seile rutschte und abermals zu Boden fiel. Auf dem Film sah es fast aus, als wollte die Tote in ihrem Verlies bleiben. Schließlich wurde eine demontierte Hebebühne herabgelassen, in dem engen Schacht wieder zusammengesetzt und die Frau darauf bis in 3,50 Meter Höhe gefahren. Die Beteiligten entwickelten in dieser Zeit fast so etwas wie eine Beziehung zu der Toten. Ihre Bergung war wie der verzweifelte Versuch, ihr Leben zu retten. Dabei ging es nur darum, sie überhaupt aus dem Loch zu bekommen und dabei eventuelle Spuren zu sichern. Letzteres war auf jeden Fall gescheitert. »Hier haben mindestens ein Dutzend Männer im Gelände rumgetrampelt«, sagte Steierer. »Ich glaube kaum, dass wir verwertbare Spuren finden. Reifenabdrücke oder so was. Aber die Baustelle wird trotzdem abgesucht. Vielleicht finden wir ja etwas, das als Tatwaffe in Betracht kommt«, fügte er hinzu. Steierer konnte es nicht gut ertragen, wenn niemand etwas sagte, und so redete er immer weiter, während sein Chef schwieg. Kühn sog die kalte Luft ein und blickte sich um. »Meinst du, sie ist hier ermordet worden?«, fragte er. Steierer zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Auf jeden Fall hört dich hier keiner schreien. Oder man hat sie nach der Tat hierhergebracht, um sie verschwinden zu lassen.«

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»Dann war das aber keine gute Idee«, sagte Kühn. »Wenn sie niemand hätte finden sollen, hätte man sie besser verbrannt. Oder irgendwo versteckt oder vergraben, wo man sie nicht findet, sobald der Schnee getaut ist. Das waren keine Profis. Aber sie wussten, dass es hier diese Betongruben gibt. Die sind ja nicht zufällig mit der Frau in diesem Niemandsland gelandet. Wir brauchen eine Liste von allen Leuten, die hier zu tun hatten, bevor die Arbeiten unterbrochen wurden.« Steierer machte sich Notizen. »Und dann lass uns mal sehen, was es hier in einem Umkreis von einem Kilometer alles gibt. Lokale, Geschäfte, Vereinsheime und so.« »Hinter den Bäumen ist ein Campingplatz«, sagte Steierer. »Ja, habe ich gesehen. Wir brauchen eine Aufstellung von allen Leuten, die dort dauerhaft was gemietet haben.Vielleicht überwintert da jemand und hat was gesehen.« Steierer schrieb auch dies auf. Neben ihnen wurde der Leichnam der Frau vorsichtig von der Plane in einen Plastiksack gehoben. »Haben Sie etwas Auffälliges an ihr entdeckt?«, fragte Kühn. »Ihr Zustand ist noch relativ gut«, sagte der Beamte, der hinter seinem Mundschutz nur schwer zu verstehen war. »Sie hat schwere Kopfverletzungen, aber ich kann nicht sagen, ob die vom Sturz in dieses Loch kommen oder von einer Gewalteinwirkung.« 16

»Was glauben Sie, wie lange sie in dem Loch lag?« »Ein paar Wochen bestimmt. Etwas schwer zu sagen, weil es fast die ganze Zeit gefroren hat. Das hat sie konserviert. Dass wir keine Fußspuren gefunden haben, spricht dafür, dass Schnee lag, als sie hierherkam. Aber ob sie hierhergelaufen ist oder schon tot hergebracht wurde, das weiß ich nicht. Ich meine, im Moment könnte es auch ein Unfall gewesen sein.« Steierer lachte kurz auf und sagte: »Klar. Ein Unfall. Madämchen wollte mitten im Winter in dieser beschissenen Einöde einfach mal in so ein Loch gucken, hat den Holzdeckel weggeschoben und ist dann vor lauter Neugier in den Schacht geplumpst. Ganz bestimmt.« Der Beamte zog den Verschluss des Leichensacks nach oben und erwiderte nicht ohne einen gewissen Trotz: »Mag nicht wahrscheinlich sein, ist aber nicht auszuschließen.« Steierer zog die Nase hoch, was Kühn missbilligend zur Kenntnis nahm, und sagte: »Wenn du mich fragst, geht die Geschichte so: Unsere verfrorene Roxana hier hat sich bei ihrem Chef unbeliebt gemacht. Vielleicht wollte sie nach Hause abhauen, oder sie hat damit gedroht, ihn anzuzeigen, oder sie hat ihn beklaut. Oder sie wurde von einem Konkurrenten ihres Zuhälters aus dem Spiel genommen. Oder sie hat im Job schlappgemacht und wurde hier in Rente geschickt. Ist doch im17


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mer dasselbe. Keiner vermisst die, und am Ende habe ich mir hier völlig umsonst die Hosen versaut, weil wir nicht einmal rauskriegen, wer sie überhaupt ist, geschweige denn, wer sie loswerden wollte.« Kühn atmete tief ein. Mehrmals, um die Wut, die in ihm hochstieg, zu unterdrücken. Der sarkastische Ton von Thomas Steierer ging ihm zunehmend auf die Nerven. Was der da sagte, war nicht bloß rassistisch und frauenverachtend. Damit hätte Kühn leben, es als Form beruflicher Deformation abtun und überhören können. Es war aber auch noch unprofessionell. Kühn wusste, und Steierer wusste eigentlich auch, dass man vorurteilsfrei an die Arbeit gehen musste. Alles andere verengte den Blick und schränkte ihn darauf ein, was man in einem Opfer oder an einem Tatort sehen wollte. So wie Steierer sich hier aufführte, würde er leicht Details übersehen, weil sie nicht in sein Bild passten. Das ärgerte Kühn am meisten. Der Mangel an Empathie kam noch hinzu, und Kühn zählte innerlich bis zehn, um den aufkommenden Zorn zu zügeln. Er kam bei diesem inneren Countdown auch auf den Gedanken, dass Steierer ihn mit seinem Gerede provozieren wollte. Ihr Verhältnis war in den letzten Monaten deutlich abgekühlt. Das hatte damit begonnen, dass sich Steierer auf den Posten des Ersten Kommissars beworben hatte, einem Rang, der eigentlich Kühn zustand. Die18

ser hatte sich seit seinem Zusammenbruch verletzlich gezeigt, seine Position war nicht unumstritten gewesen, und die Tatsache, dass Kühn vor Monaten ein Mörder durch Flucht ins Ausland in letzter Minute entwischt war, machte es Steierer leichter, sich in Szene zu setzen. Wenn er nun also betont borniert über einen Fall sprach, der gerade erst vor ihren Füßen gelandet war, gab er nicht nur simple Theorien zum Besten, sondern testete auch die Stärke seines Chefs, der selbst eher widerwillig seine Bewerbung für den Ersten Kommissar abgegeben hatte. Falls Kühn nun explodierte, zeigte er Nerven vor dem Team. Er pfiff Atem durch die Zähne und sagte nur: »Ja, Thomas, so wird es wohl sein.« Er hatte Hunger. In den guten Zeiten wären sie nun zu einer Tankstelle gefahren. Sie hätten einen Milchkaffee gekauft, eine Käse­ semmel gegessen und vielleicht noch einen Schokoriegel mitgenommen. Sie hätten im Auto über Tatabläufe theoretisiert oder über ganz andere Dinge gesprochen. Über Fußball, über die Bürokratie im Präsidium oder über Ulrike Leininger. Dass Kühn der eine Seitensprung, den sein Leben für ihn bereitgehalten hatte, mit ihr unterlaufen war, das hätte Kühn seinem Freund Steierer in den guten Zeiten vielleicht sogar erzählt. Und Steierer hätte die Augenbrauen hochgezogen und sich nach Minuten des Schweigens nicht entblödet nachzufragen, 19


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wie es gewesen sei. Aber nun hatte sich ihr Verhältnis geändert. Nicht nur der Konkurrenz wegen, in der sie sich befanden. Kühn hatte auch das Gefühl, sich schon lange in Steierer geirrt zu haben. Er fand ihn seit einigen Monaten regelrecht unangenehm. Zu laut, zu borniert und auf eine eklatante Weise beruflich überfordert. Kühn musste sich zügeln, den untergebenen früheren Freund nicht bei jeder von dessen zahllosen Dummheiten vor dem Team zu maßregeln. Er hielt an sich, um ihn nicht zu blamieren und um nicht den Eindruck zu erwecken, er wolle seinen Mitbewerber diskreditieren. Kühn war kein Meister der Diplomatie. Die künstliche Zurückhaltung, mit der er Steierer begegnete, strengte ihn an, sodass er von Zeit zu Zeit versuchte, den Umgang mit ihm zu normalisieren. Als sie im Auto saßen und der Hunger in Kühn herumtobte wie ein schreiendes Kleinkind, war ihm danach, einfach irgendetwas zu sagen, um sich davon abzulenken. Er sah aus dem Fenster, und dann fiel ihm der Satz ein, den er morgens bei Caparacq gelesen hatte. Kühn hätte sich selbst als leidenschaftlich unspirituell bezeichnet, aber das fand er jetzt seltsam. Er dachte länger darüber nach, und dann sagte er: »Weißt du, was ich heute als Tagesmotto hatte?« »Du hast ein Tagesmotto?«, fragte Steierer, als hielte Kühn ein kleines rosa Einhorn im Garten. 20

»Ja, ein Tagesmotto. Aus so einem Buch. Ist ja auch egal. Jedenfalls: Soll ich dir mal verraten, was mein Tagesmotto für heute ist?« »Unbedingt«, sagte Steierer, den bereits die Tatsache überforderte, mit seinem Chef eine völlig unkontroverse Unterhaltung zu führen. »Ganz tief verborgen steckt ein Mensch. Hol ihn raus!« »Das steht in einem Buch?« »Ja, komisch, oder?« »Na, wenn das dein Tagesmotto war, kannst du ja jetzt Feierabend machen«, sagte Steierer und freute sich über seinen Witz so sehr, dass er Kühn sogar auf den Oberschenkel schlug. Das befremdete Kühn noch mehr als die wenig einfühlsame Antwort des Kollegen. Eine Weile standen sie schweigend im Stau auf der Landsberger Straße. Dann fragte Steierer: »Was ist denn das für ein Buch?« »Ach, nur so ein Diätbuch von diesem Caparacq.« »Das ist dieser Franzose, der den Frauen mal richtig Bescheid sagt. Oder?« »Belgier.« »Egal, ist doch dasselbe. Jedenfalls finde ich den großartig. Und du machst diese Diät!? Schon was abgenommen?« Kühn ärgerte sich darüber, dass er Steierer die Information über seine Diät in die Hände gegeben hatte. 21


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Doch dann fiel ihm ein, dass er mit dieser Diät womöglich eine besondere Stärke zum Ausdruck bringen konnte: Disziplin, die Steierer in jeder Hinsicht fehlte. Thomas Steierer gehörte zu jener Sorte Kollegen, die kalte Pizzareste von fremden Tellern nahmen. Kühn würde seine Diät mit eisernem Willen durchziehen, schon um Steierer zu ärgern. Er würde dabei von Tag zu Tag an Körperspannung gewinnen und den leicht ins Pyknische spielenden Steierer durch seine bloße Erscheinung, ja was eigentlich? Dominieren, schoss es Kühn durch den Kopf, und er musste lächeln. Dann sagte er: »Ist heute der erste Tag. Da kann man noch nicht viel sagen. Aber es fühlt sich schon wahnsinnig gut an, wenn man weiß, dass man sich später keine Currywurst in den Wanst stopft. Wahnsinnig gut.«

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DAS LEBEN GEHT ZWAR IMMER WEITER, ABER ES WIRD NICHT UNBEDINGT LEICHTER Jedenfalls nicht für jeden von uns: Kommissar Kühn zum Beispiel hat das Gefühl, schwerer zu sein, als es ihm gut tut. In der Seele und um die Hüfte rum. Während er sich damit abplagt, Gewicht zu verlieren, um interessanter für seine Frau Susanne zu werden, muss er sich gegen die Intrigen seines vermeintlich besten Freundes und Kollegen Thomas Steierer wehren: Seine Karriere bei der Mordkommission hängt an einem immer dünneren Faden – und er bekommt es mit einem Mörder zu tun, der ihm zeigt, wie tief man als Mensch sinken kann. Mit Empathie und einzigartigem Esprit erzählt Jan Weiler von Martin Kühn, dem sich die schwere Frage nach der Leichtigkeit des Lebens stellt.

EAN 4043725004089

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