Sonderausgabe: 1914 - 2014

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1996 wird mit dem Schaf Dolly erstmals ein Säugetier geklont – ein Durchbruch in der Gentechnologie, der sowohl utopische als auch verheerende Handlungsmöglichkeiten eröffnet

Warum man Brüderlichkeit nicht klonen kann Hilary Putnam

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Klonschaf Dolly ist 1996 das weltweit erste geklonte Säugetier

Allein im Jahre 1992 erliegen mehr als 32 000 Zuchtrinder der Krankheit BSE, einer Seuche, die bei den betroffenen Tieren zum Ausfall wesentlicher Hirnfunktionen führt. Lange ist die Ursache unklar, bis sich herausstellt, dass die Tiere mit Reststoffen aus der Rinderverarbeitung gefüttert wurden. Ein mythisches Sakrileg mit tödlichen Folgen. Nur wenige Jahre später gelingt es britischen Wissenschaftlern erstmals, ein Säugetier erfolgreich zu klonen. Wird dieses Verfahren bald auch bei Menschen angewendet?

1914–2014. Das Jahrhundert im Spiegel seiner großen Denker

ie Meldung letztes Jahr, dass ein Schaf erfolgreich geklont wurde, rief spontan heftige Reaktionen hervor, eine Furcht, dass etwas Schreckliches zu geschehen drohe. Ich sage „zu geschehen drohe“, weil sich die Sorge nicht auf das Schaf Dolly bezog, sondern auf die Wahrscheinlichkeit, dass jemand dereinst einen Menschen klonen werde. […] Manche Anwendungen des Klonens würden gegen die kantische Maxime verstoßen, eine Person niemals nur als Mittel zum Zweck zu behandeln – beispielsweise einen Menschen nur deshalb zu klonen, um ihn zum Nierenspender zu machen. Aber das waren nicht die Fälle, die den Kommentatoren in den Sinn kamen. Das Szenario, das die Leute am meisten fürchten, ist, dass wir lernen, wie man Menschen klont […].Es gibt rein utilitaristische Gründe dafür, sich Sorgen über den Missbrauch des Klonens zu machen. […] Wenn Klonen in großem Stil praktiziert würde, könnte der Verlust genetischer Vielfalt sehr bedenklich sein. Ich glaube, dass die Diskussion einer Gesetzgebung zum Klonen von dem bestimmt sein muss, was ich „eine moralische Vorstellung der Welt“ nenne. […] Lassen Sie uns annehmen, dass es salonfähig wird […], seine Kinder „auszusuchen“ (indem man aussucht, wen man klont: Verwandte, Freunde oder, wenn man viel Geld hat, Leute, die sich gegen Bezahlung klonen lassen). […] Was uns an diesem Szenario erschreckt, ist, dass Kinder darin Waren werden wie Teppiche. Die Maxime, andere Personen nicht als Mittel zum Zweck zu verwenden, wäre damit offenkundig verletzt. Wenn die Vorstellung der idealen Familie eine moralische sein soll, müssen die Familienmitglieder einander als menschliche Wesen achten, deren Pläne und deren Glück Werte an sich sind und nicht bloß den Zielen der Eltern dienen. Zudem sollte sie von der moralischen Vorstellung, die ich Kant zuschrieb, in- Hilary Putnam spiriert sein, die unserer Fähigkeit, in moralischen Fragen selbst(geb. 1926) ist ein ameriständig zu denken, einen unschätzbaren Wert zuspricht; ebenso kanischer Philosoph und von der Einsicht, dass es die Aufgabe guter Eltern ist, Kinder zur seit 1965 Professor in HarEigenständigkeit zu erziehen. […] vard. Putnams InteressensAber noch ein anderer Wert muss dazukommen, die Bereit- schwerpunkte liegen in der schaft, Vielfalt zu akzeptieren. […] Das heißt, wir sollten es be- Erkenntnis- und Sprachphigrüßen, nicht missbilligen, dass unsere Kinder nicht wir sind und losophie sowie in der Geschichte des amerikanischen nicht von uns designt sind, sondern radikal „anders“. Pragmatismus. Besonders Behaupte ich, dass moralische Ideale einer physisch oder bekannt wurde sein antipsychisch gleichartigen Familie zu Abscheulichkeiten wie der Eu- skeptisches Gedankenexperigenik-Bewegung und sogar zum Nationalsozialismus führen kön- ment des „Gehirns im Tank“ nen? Die Antwort ist: Ja, das können sie sehr leicht. Aber meine („brain in a vat“). Gründe, die Idee eines prädesignten Nachwuchses abzulehnen, sind nicht konsequenzialistisch. Was ist behaupte, ist, dass die UnTimes Higher Eduvorhersehbarkeit und Vielfalt unserer cation Nachfahren ein intrinsischer Wert ist. Londoner Magazin, das The„Why fraternity canUnd dass eine moralische Vorstellung men rund um Forschung not be cloned“ („Wader Familie, die ihn widerspiegelt, eng und Lehre an Hochschulen rum Brüderlichkeit zusammenhängt mit den moralischen behandelt. Bekannt ist es vor nicht geklont werden Vorstellungen von Gesellschaft, die allem für sein jährliches Unikann“), Times Higher unserem demokratischen Bestreben versitätsranking. Education, 2. Februzugrunde liegen. ar 1998 - 85 -

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