Nr. 4 /2018

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Zeitgeist

Perspektive

Rahel Jaeggi

„Ich halte nichts von Showkämpfen zwischen links und rechts“ Die Neue Rechte fordert die Kritische Theorie heraus: Das sagt die Philosophin Rahel Jaeggi, Direktorin des neu gegründeten Center for Humanities and Social Change. Was kann die Philosophie zur Lösung der Demokratiekrise beitragen? Das Gespräch führte Svenja Flaßpöhler

Wie genau kann das Philosophieren über die Krise in die Wirklichkeit eingreifen? Sozialphilosophie leistet Begriffsarbeit, sie stellt Konzepte bereit, mit denen Problemstellungen, Krisen, soziale Erosionserscheinungen aufgespürt, sortiert und interpretiert – und letztendlich gesellschaftliche Verhältnisse verstanden, bewertet und kritisiert werden können. Philosophische Begriffe machen auf besondere Weise Erfahrungen artikulierbar, sie haben für die Praxis der Kritik eine erschließende und mobilisierende Kraft – und können so im besten Fall als Katalysatoren für Dynamiken sozialer Kämpfe und sozialer Veränderung wirken. Soziale Akteure machen keine „nackten“ oder unmittelbaren Erfahrungen sozialen Leids oder gesellschaftlichen Unwohlseins. Es sind immer auch Begriffe wie Ausbeutung, Entfremdung, Verdinglichung, Beschleunigung oder Entwürdigung, die dafür sorgen, dass bestimmte Erfahrungen überhaupt verstanden werden können. So etwas entfaltet im Zweifelsfall

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eine kollektiv mobilisierende Kraft. Auch das ist etwas, das wir im Center tun wollen: einen Austausch ermöglichen zwischen Theorie und Praxis, also auch: mit denen reden, die mit den Schlüsselproblemen unserer Gesellschaft täglich zu tun haben. Nun beanspruchen auch rechte Bewegungen für sich, gesellschaftliche Verhältnisse zu kritisieren. Und ein Viktor Orbán oder ein Alexander Gauland würden ebenfalls behaupten, dass ihre ausländer­feindliche Politik einen Wandel zum Besseren anstößt. In der Tat! Das ist eine herausfordernde Situation. Die, die Kritik üben, kommen nicht mehr verlässlich von links, soziale Bewegungen auch nicht. Aber so neu ist das auch wieder nicht. Eigentlich waren die Auseinandersetzung mit dem Faschismus und die Erfahrung rechter Massenbewegungen ja die Geburtsstunde der Kritischen Theorie. Aber ja, wir haben jetzt eine Rechte, die sich in ihren Protestformen an denen der Linken orientiert und um Hegemonie und Anerkennung kämpft. Es ist offensichtlich, dass diese Bewegungen nicht für Freiheit, Gleichheit oder Demokratie stehen, sondern für Ausschluss, Diskriminierung, Unfreiheit und Unterdrückung und eine Art von Gemeinschaft, die auf aggressiver Ausgrenzung beruht. Aber damit hat man eben noch nicht viel gesagt und nicht viel verstanden. Hier werden einige Züge der frühen Kritischen Theorie wieder sehr aktuell: Faschismus als Regressionsphänomen zu verstehen und nicht nur als Ausdruck des absolut Bösen war der Schlüssel zu einem Verständnis, das über die moralische Bewertung hinausging. Was genau unterscheidet denn Fortschritt und Regression? Fortschritt lässt sich als ein Prozess der Anreicherung begreifen, innerhalb dessen Probleme auf immer komplexeren Niveaus gelöst werden. Regression, und hier verorte ich die Neue Rechte, meint das genaue Gegenteil: Bestimmte Erfah-

Rahel Jaeggi Rahel Jaeggi ist Professorin für Praktische Philosophie an der HumboldtUniversität Berlin und Direktorin des Center for Humanities and Social Change. Ihr Buch „Fortschritt und Regression“ erscheint im Oktober bei Suhrkamp

Foto: Hans Christian Plambeck/laif; Autorenfoto: Gene Glover/Agentur Focus

Frau Jaeggi, wie kam es zur Gründung des Centers for Humanities and Social Change? Rahel Jaeggi: Durch eine Spende von Erck Rickmers, einem vermögenden Hamburger Reeder, der mit seiner Stiftung Humanities and Social Change weltweit vier solche Center gegründet hat. Das Berliner Center wird sich mit der Krise der Demokratie und des Kapitalismus aus der Perspektive einer kritischen Theorie der Gesellschaft beschäftigen. „Demokratie“ verstehen wir dabei nicht nur als Regierungsform, „Kapitalismus“ nicht lediglich als ökonomische Formation, sondern als vielfältiges Geflecht von unterschiedlichen sozialen Institutionen und Praktiken, als gesellschaftlich-kulturelle Lebensform. Verstehen und Kritisieren sind hier eng miteinander verbunden. Und im Fluchtpunkt eines solchen Unternehmens steht natürlich die Hoffnung, durch solche Analysen und die Verständigung über die aktuellen Krisenerscheinungen etwas verändern zu können.


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