Philosophie Magazin Nr. 6 / 2015

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Der Kommentar von S. Flaßpöhler

Phallisches Kräftemessen

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„Die Konkurrenz unter den Ärzten war hart“ Chloé H. 30 Jahre, Assistenzärztin, hat das Universitätskrankenhaus ver­ lassen, um im Südsudan für Ärzte ohne Grenzen zu arbeiten

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ünf Jahre lang habe ich als Assistenzärztin in einem großen Universitätskrankenhaus gearbeitet. Alles lief reibungslos, „ doch ich fühlte mich zunehmend unwohl. Die Konkurrenz unter den Ärzten war hart. Über uns herrschten Chefs, die jedes Privatleben für ihre Stelle aufgegeben hatten und keine Schwächen duldeten. Ich fing an, Gefühle wie Empathie zu verstecken und immer so zu tun, als ob ich alles wüsste. Irgendwann lebte ich in dauernder Angst, Fehler zu begehen. Ich entschied mich, etwas zu verändern, und bewarb mich für einen Auslandseinsatz bei Ärzte ohne Grenzen. Im Südsudan habe ich das Gegenprogramm zum Krankenhaus erlebt: viel Eigenverantwortung, sehr schwierige Bedingungen und einfachste Mittel. In einem Bürgerkriegsland geht es nicht um Hierarchien

im Team, denn jeder sieht den unmittelbaren Sinn seines Handelns: Wenn sich keiner um das kranke Kind kümmert, wird es sterben. Wir alle hatten das Ziel direkt vor Augen: den Patienten heilen. Dieser Druck tat mir gut. Er ersetzte die Angst vor den Kollegen durch das Engagement für den Patienten. Ärztin sein heißt für mich, sich selbst genug zu lieben, um anderen Menschen Aufmerksamkeit, Zeit und Pflege geben zu können. Einfach „geben“: In einem großen Krankenhaus ließ sich das nicht verwirklichen. Ich bin gerade nach Deutschland zurückgekehrt und fürchte den nächsten Job in einer westlichen Einrichtung. Ich weiß jetzt allerdings besser, was ich suche: eine kooperative Arbeitsatmosphäre, in der ich den Anforderungen nicht von ambitionierten Kollegen, sondern von Patienten gerecht werden muss.“

hloé H. beschreibt eindrücklich, wie ein Übermaß an Konkurrenz der Sache, um die es eigentlich gehen sollte, eher schadet als nützt. Der Zweck des eigenen Tuns gerät gänzlich aus dem Blick, weil der Mensch nur damit beschäftigt ist, sich am anderen zu messen und sich dabei möglichst nicht zu blamieren. Dass Arbeit aber gerade dann wertvoll ist, wenn die phallische Lust am Wettkampf überwunden wird, zeigt Freud anhand einer kleinen, unterhaltsamen Kulturhistorie. Der Urmensch habe eine „infantile Lust“ befriedigt, indem er eine „züngelnde (…) sich in die Höhe reckende (…) Flamme“ durch seinen Urinstrahl auslöschte. Dieses „Feuerlöschen durch Urinieren“ deutet Freud als Konkurrenzkampf mit einem mächtigen Gegenüber. Der Kampf „war also wie ein sexueller Akt mit einem Mann, ein Genuss der männlichen Potenz im homosexuellen Wettkampf“. Aber: Erst wer „auf diese Lust verzichtete, das Feuer verschonte, konnte es mit sich forttragen und in seinen Dienst zwingen. Dadurch, dass er das Feuer seiner eigenen sexuellen Erregung dämpfte, hatte er die Naturkraft des Feuers gezähmt.“ Das Feuer forttragen kann nur, wer auf die Lust des Kräftemessens verzichtet. Chloé H. hat genau diese Erfahrung gemacht.

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