pflichtlektuere 02/2015

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pflichtlektüre 022015

Studentenmagazin für Dortmund

AUFSTAND IN DER VWL Eine Theorie ist nicht genug

STANGENTANZ

Informatikstudentin macht Pole-Dance

GÜNTER AUF DER STRASSE Seit 20 Jahren Bodo-Verkäufer

MINI-ME AUSM DRUCKER 3D-Revolution im Alltag


Aus der redaktion B

eginnen Journalisten ein Thema zu recherchieren, sind sie gespannt, was sie wohl erfahren. Dass sie aber gar nichts herausbekommen und sogar bespuckt werden, ist eher selten – mir aber so passiert. Was sind die kuriosesten Wünsche, die Freier von Prostituierten gefordert haben? Diese Frage wollte ich von den Frauen beantwortet haben. Ich suchte verschiedene Bordelle auf. Mal redete man gar nicht mit mir. Mal sollte ich einer Prostituierten 150 Euro für eine Auskunft zahlen. Nach diesen Vorfällen habe ich die Recherche abgebrochen. So spannend der Artikel zum Thema „Sexuelle Vorlieben der Deutschen“ auch hätte werden können, in Gefahr begeben wollte ich mich nicht. Dafür warten noch zu viele gefahrenfreie Themen darauf, von uns Autoren entdeckt zu werden! Alina Fuhrmann

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ir vom Fotoressort müssen oft viel Überzeugungsarbeit leisten. So zum Beispiel, wenn wir für Umfragen auf dem Campus unterwegs sind – bewaffnet mit unserer Spiegelreflexkamera. „Hey, hast du kurz Zeit, uns ein paar Fragen zu beantworten?“ Nach dieser Frage bleibt der eine oder andere noch stehen. „Wäre mit Foto“, fügen wir vorsichtig hinzu – und schon sind die meisten schneller weg, als wir gucken können. Der oft letzte Versuch: „Wir können auch mehrere Aufnahmen machen und du darfst dir eine aussuchen.“ Doch böse sind wir trotzdem niemandem, denn auch wir sind nicht frei von Eitelkeit. Das Fotoressort gibt denen, die mitmachen, deshalb umso mehr den „Daumen hoch“! Miriam Wendland

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itten in den Arbeiten am finalen Feinschliff des vorigen Heftes wurden wir unverhofft von der eigenen Thematik „Flucht und Vertreibung“ eingeholt: Ein uns nicht näher bekannter, aber offensichtlich befugter Mann stand in der Tür und ordnete eine unverzügliche Evakuierung der Redaktionsräume an. Der Fußboden war mit etwa 1500 Litern Wasser unterspült, Heizungsrohre leckten. Die Fernseh-Kollegen von do1 gewährten uns Asyl, was der gesamten Idee einer multimedialen Woche eine ungeplante Metaebene verlieh – und uns Layoutern ein paar zusätzliche stressige Tage und Nächte einbrachte. Das Heft, das ihr gerade in den Händen haltet, ist aber glücklicherweise wieder zu fast hundert Prozent in den angestammten pflichtlektüre-Redaktionsräumen entstanden. Wer optische Unterschiede findet, darf sie behalten. Tobias Kreutzer


08 BUNT.BUNTER. BACHELOR.

Nachwuchskünstler an der TU

inHALt 04 HINGEGANGEN 05 MOMENTE 06 SAG MAL PROF 11 KLASSENKAMPF 12 „JO DIGGA“, WAS GEHT? 16 JOB OHNE FEIERABEND 19 OUT OF BOCHUM 20 POLE POSITION 24 OPAS HANDWERKTIPPS 27 GÜNTER UND BODO 28 BESSER ALS FOTOS 32 DER DIÄTEN-CHECK 34 ABGEFAHREN 37 HINGESCHAUT 38 APROPOS

Diesmal: Welcher Diätentyp bist du?

Kulturtipps im Ruhrgebiet und drumherum

EINS VORAB N

ach unserem vorigen Themenheft präsentieren wir euch nun eine bunte Ausgabe. Bei allen Themenvorschlägen hat uns diese Geschichte besonders begeistert: Eine Informatikerin macht Poledance. Viele Leute bringen Poledance mit Table-Dance-Bars in Verbindung. Dass diese „Akrobatik an der Stange“ etwas völlig anderes ist, fand unser Redakteur Johannes während seines Treffens mit Scarlett heraus. Diese sportliche Leidenschaft ist eine große Herausforderung und eine Disziplin der Deutschen Meisterschaften. Bei so viel sportlicher Betätigung muss Scarlett sich zum Glück keine Sorgen um ihre Figur machen. Doch wie bleibt man gesund und fit, wenn Sport eher die zweite Wahl ist? Der Sommer rückt näher und viele Frauenzeitschriften werben mit der einzigartigen, neuen und wirkungsvollsten Methode, abzunehmen. „Verlieren Sie Ihren Winterspeck in nur sechs Tagen!“ – das dies nicht funktionieren kann, bemerken wir erst, wenn der Jojo-Effekt einsetzt. Unser Diäten-Check zeigt euch, welche Methode sinnvoll ist.

Wenn die Freiheit am Regenbogen endet ... VON SARAH BREIDENSTEIN

Diesmal: Was macht mich wirklich wach?

Natürlich ist es nicht einfach während des Studiums auf gesunde Ernährung zu achten und in der Mensa gibt es meist wenig fettarmes Essen. Auch unsere Freizeit kommt, vor allem in der Klausurenphase, oft zu kurz. In der Emil-Figge-Straße 50 finden Nachwuchskünstler ihre Balance in der Kreativität. Nicole und Carina stellen ihre Bilder in Atelierboxen aus und empfinden die Arbeit daran als perfekten Gegenpol zu ihrem „eher stumpfen“ zweiten Fach Mathe. Beim Malen entspannen sie sich vom Unistress und arbeiten gleichzeitig an ihren Bachelorarbeiten. Vielleicht kann euch auch die pflichtlektüre beim Abschalten helfen oder sogar inspirieren. Viel Spaß beim Lesen wünscht

Neoklassik - und sonst so?

Sind wir für Jugendsprache schon zu alt?

Lisa führt Touris durchs Westfalenstadion

Wie die Revierunis das Opelgelände nutzen können

Informatikstudentin tanzt an der Stange

Werner baut einen Kicker

Seit zwanzig Jahren unzertrennlich

Wie 3D-Drucker den Alltag revolutionieren

Was es alles so gibt und was das Ganze bringt

Filmmuseum Düsseldorf: Träume zu verkaufen

Filmkritiker gesucht!


APROPOS ... DIÄTEN Salat, Pizza oder ein stilles Wasser – was bestellst du beim Italiener und was sagt das über dein Essverhalten? Finde es in unserem Selbsttest heraus. TEXTLAURA BETHKEILLUSTRATIONANJA KNAST

Ja Nein

Du bist beim Italiener. Was bestellst du? ein stilles Wasser

Salat

Schnappst du dir nach dem Salat ein doppeltes Dessert?

„Jetzt ist alles egal, her mit der Tüte Chips!“

Ausgewogenheit ist wohl nicht so deine Stärke. Schau dir doch mal unseren Diäten-Check auf Seite 34 an.

Pizza

Bekommst du schlechte Laune, wenn du Hunger hast?

Ist dein Tag gelaufen, wenn 300 Gramm mehr auf der Waage sind?

Hast du den Heißhunger auf Pizza lange unterdrückt?

Bist du zufrieden mit deinem Körper?

Alles in Ordnung, weiter so. Je bunter du isst, desto besser!

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rein

Entspann dich mal! Essen ist ein Genuss und ein paar Kilos zu viel sind kein Weltuntergang.


HINGEGANGEN Designobjekte in einer alten Zeche oder das Thema Fleisch im Museum für Kunst und Kulturgeschichte: Im Ruhrgebiet mangelt es nicht an interessanten Ausstellungen. Beim Dortmunder Poetry Slam oder bei der Münsteraner Krimitour gibt es zudem Unterhaltsames für die Ohren. TEXTMORITZ MAKULLA FOTOSVERANSTALTER

„Design On Stage“

Münsteraner Krimitour

Im ehemaligen Kesselhaus sind mehr als 600 Designobjekte ausgestellt. Zu den Projekten gehören Apps, Werbekampagnen und Designs wie interaktive digitale Wissenschaftsposter oder verrückte Verpackungsideen, bei denen Duschköpfe durch ihre Verpackung wie Abbilder bekannter Persönlichkeiten aussehen. Noch bis zum 3. Mai, dienstags bis sonntags, 11 bis 18 Uhr, im Zollverein Areal A, Gelsenkirchener Straße 181, Essen Eintritt: 9 Euro (ermäßigt 4 Euro) Mehr Infos: www.red-dot-design-museum.de

Diese etwas andere Stadtführung durch Münster führt in eineinhalb Stunden zu Schauplätzen realer Krimifälle und beschäftigt sich mit deren Opfern, Tätern oder auch Justizirrtümern. Außerdem besuchen die Teilnehmer Drehorte des bekannten MünsterKrimis „Wilsberg“ und mehrerer „Tatort“-Folgen. Samstags und sonntags ab 15 Uhr, Start in der Bürgerhalle des Rathauses (Prinzipalmarkt 10) in Münster Gebühr: 9 Euro (ermäßigt 8 Euro) Mehr Infos: www.stadt-lupe.de

Poetry Slam im FZW

Darf‘s ein bisschen mehr sein?

Mittlerweile gibt es Poetry Slams in vielen Clubs in Dortmund. Der größte monatliche Slam im Ruhrgebiet hat sich im Freizeitzentrum West (kurz FZW) etabliert und wird von den bekannten Vertretern der Szene, Patrick Salmen und Philipp Zymny, moderiert. Im Mai treten unter anderem Jesko Habert, Olga Lakritz, Zwergriese und Andreas Weber auf. Mittwoch, 7. Mai, um 20 Uhr im FZW, Ritterstraße 20, Dortmund Eintritt: 5 Euro Mehr Infos: www.fzw.de

Vegan und vegetarisch zu leben scheint immer beliebter zu werden: Die Ausstellung im Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund thematisiert ethische und gesundheitliche Fragen des Fleischkonsums beziehungsweise des Verzichts auf eben diesen. Sie zeigt auch, wie sich die Fleischproduktion entwickelt hat. Noch bis zum 10. Mai, montags bis sonntags 10 bis 17 Uhr (samstags 12 bis 17 Uhr) im Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Hansastraße 3, Dortmund Eintritt: 6 Euro (ermäßigt 3 Euro) Mehr Infos: http://bit.ly/1CxUgRz

Dialoge über Bücher im Dortmunder U Sind Bücher ein veraltetes Medium? Das Institut für Buchforschung der FH Dortmund zeigt im Dortmunder U eine Ausstellung über das Lesen. Dort werden unter anderem Lesetechniken und neue Ansätze der Buchgestaltung thematisiert. Zudem werden Hochschulprojekte, Workshop-Ergebnisse und Werke internationaler Künstler gezeigt, die Bücher in allen Formen beleuchten. Neben den Kunstwerken gibt es außerdem Vorträge über neue Forschungsansätze und die Relevanz des Mediums. Vom 25. April bis zum 7. Juni, dienstags und mittwochs und samstags und sonntags, 11 bis 18 Uhr, donnerstags und freitags, 11 bis 20 Uhr, im Dortmunder U Eintritt: frei Mehr Infos: www.dortmunder-u.de

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Schöner Wohnen

Am Ende des Regenbogens wartet nicht immer ein Topf voll Gold, manchmal steht dort auch einfach ein Eigenheim. Die Benennung von Straßen folgt in Deutschland – natürlich – strengen Grundsätzen. Doch manchmal rebellieren die Bürokraten und deklarieren die „Schöne Aussicht“. FotosSTINA BERGHAUS&MIRIAM WENDLAND



Bunt. Bunter. Bachelor. Im Schummerlicht der Bibliothek graue Theorie pauken? Da muss fast jeder im Studium durch. Wenn man sich an der TU Dortmund genauer umschaut, entdeckt man aber auch das völlige Gegenteil: tropfende Pinsel in Händen von Nachwuchskünstlern ­– und das in eigenen Ateliers. TEXTannika frank Fotosmiriam wendland

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unte Spritzer an den Wänden, auf dem Boden, auf der Kleidung der pinselnden Studenten. Es riecht nach frischer Farbe und Holzspänen. Im vierten Stock der Emil-Figge-Straße 50 stehen in einem großen Seminarraum kleine Atelierboxen, in denen Studenten der Malerei einen Raum für ihr künstlerisches Schaffen bekommen. Und hier geht es – im Gegensatz zu den ansonsten eher einheitlich mit Tischen, Stühlen und Beamer ausgestatteten Räumen – kreativ und praktisch zu.

Zwei Boxen weiter werkelt Hanna Rodewald. Sie studiert Kunst im achten Fachsemester und hat 2013 den Editionspreis Kunst der TU Dortmund gewonnen. Das ausgezeichnete Bild hat sie 30 Mal vervielfältigt und hängt nun in den Fluren und Wohnzimmern von Freunden und Förderern der Universität. Neben Pinsel und Farbe fällt in Hannas Atelier vor allem eins ins Auge: eine Sammlung von PET-Flaschen aus verschiedensten Ländern. Sie beschäftigt sich mit der Projektion dieser Flaschen auf Plexiglasplatten und experimentiert dabei mit Lichteinfällen und Objektformen. Ein genaues Ziel hat Hanna dabei noch nicht vor Augen. Sie ist gerade von einem Auslandsaufenthalt in Iowa zurückgekommen: „Ich muss erst einmal wieder richtig ankommen. Ich besuche in diesem Semester nur wenige Seminare und möchte mich ganz der Vorbereitung meiner Bachelorarbeit widmen, dafür ist die Box perfekt.“ Sie vergleicht die Arbeit im Atelier mit einer Hausarbeit, die man auch besser in der Bibliothek schreibt: „Ich sehe immer andere, die auch etwas tun. Dadurch bin ich konzentrierter. Und wenn man gerade nicht weiterkommt, kann man sich austauschen, gegenseitig helfen oder Tipps annehmen.“

Kreative Kunst vs. stumpfe Mathematik Carina Nord und Nicole Zerweck wollen an ihren Bachelorarbeiten werkeln. Die Freundinnen haben sich deshalb an der Fakultät für Kunstwissenschaften gemeinsam für eine dreimal drei Meter kleine Box beworben. „Man muss schon einen guten Grund haben, um für ein eigenes Atelier auf Zeit ausgewählt zu werden. In unserem Fall ist das die Vorbereitung auf den Abschluss“, erklärt Carina. Damit die Räume mehr Licht haben, sind die Boxen zu einer Seite hin offen, so dass sich die beiden auf drei Wänden künstlerisch „austoben“ können. Carinas anderthalb Wände hängen schon fast voll mit Leinwänden, in der Ecke stehen weitere. Alle zeigen Menschen vor neonfarbenen Hintergründen. „Ich hab‘ schon immer am liebsten Menschen gemalt. Die hier auf den Bildern sind inspiriert von alten Familienfotos.“

Künstlerische Freiheit im eigenen „Einsau-Raum“ Das geht hier so gut, weil die Ateliers Teil eines großen Malerei-Raums sind, in dem unter der Woche auch Seminare stattfinden. „Das ist schon ein Platz auf dem Präsentierteller hier. Da muss man dann auch der Typ für sein“, meint Hanna. Wenn ihr die Fragen zu viel werden, steckt sie sich einfach ihre Kopfhörer in die Ohren und entspannt mit den „Drei Fragezeichen“.

Ihre Freundin Nicole malt eher abstrakt. Sie beschäftigt sich mit Farbe an sich und probiert verschiedene Spachteltechniken aus. Nicole und Carina sehen die Kunst als perfekten Ausgleich zu ihrem „eher stumpfen“ (Zitat Carina) zweiten Fach Mathe. Die Box zu teilen macht den beiden Lehramtsstudentinnen nichts aus. „Klar, manchmal tritt man sich schon auf die Füße bei dem begrenzten Platz. Vor allem, wenn die Leinwände zum Ende des Semesters immer mehr Platz beanspruchen“, sagt Nicole. Aber wenn im angrenzenden Seminarraum gerade keine Kurse stattfinden, könnten die beiden sich auch mal dort ausbreiten.

Ulvis Müller nutzt das einzige Atelier mit Fenstern. Er liebt seinen „Einsau-Raum“, wie er ihn scherzhaft nennt – auch weil er nichts dafür zahlen muss. „Ein Atelier zu mieten ist sehr teuer und für Studenten quasi unbezahlbar, selbst wenn man sich zusammenschließt“, erzählt er. Ulvis ist einer der Mitbegründer der Kunststudentengruppe „Neuer Graben“, die im 09

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vergangenen Sommer eine Ausstellung in Schwerte organisiert hat. „Unser Ziel ist es, die heimische Kunstszene zu repräsentieren und damit auch neue Studenten zu inspirieren“, erklärt Ulvis. Doch auch für eine Gruppe bleibe das Problem der fehlenden Räumlichkeiten. Daher ist er sehr dankbar, für seine Werke einen Platz im Atelier bekommen zu haben. Seine Bewerbung war nun schon zum dritten Mal erfolgreich. „Im Vergabeverfahren geht es natürlich auch um Engagement. Wer macht viel und wer hat wirklich Bedarf?“ Aber auch ohne Mietkosten für das Atelier bleibt Kunst ein teures Fach. Die Studenten müssen ihr Material selbst zahlen. Nur die Farbe, die sie in einem Seminar benutzen, wird von der Uni gestellt. Doch Not macht erfinderisch: Um Geld zu sparen, baute Ulvis seine Leinwandrahmen selbst und kam dabei auf die Idee, auch mit diesen Formen zu spielen und nicht nur Standardrahmen herzustellen. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass seine mit Bleistift gezeichneten Bilder nicht nur zweidimensional zu betrachten sind. Die Stützkreuze weisen die verschiedensten Muster und Ornamente auf und sind dabei auf die Zeichnungen auf der Stoffseite der Leinwand abgestimmt. Wenn die Leinwand bei einer Ausstellung von hinten angestrahlt wird, ergibt das ein dreidimensionales Werk. „Vieles entwickelt sich eben aus der Laune heraus. Erst baut man die Stan-

dard-Rahmen und plötzlich merkt man, wie viel sich bei einem Bild auch noch hinter der Leinwand abspielen kann“, sagt Ulvis. „So ähnlich war es auch bei den Zeichnungen, die wollte ich erst mit Bleistift skizzieren. Mittlerweile ist aus dem Skizzieren fast eine Art Tätowieren von Bleistift in den Leinwandstoff geworden“. Auch er profitiert bei seiner Arbeit von dem laufenden Feedback der anderen Studenten. Dadurch, dass Kunst ein eher kleiner Studiengang ist, kennen sich viele untereinander und scheuen sich nicht, Fragen zu den Arbeiten im Atelier zu stellen. Ulvis erklärt: „Wenn ich merke, dass ich die einzelnen Schritte nicht nachvollziehbar erläutern kann, ist die Arbeit nicht stimmig. Dann suche ich den Fehler. Das ist nicht anders als bei einer Matheformel.“

einem eigenen Atelier zu arbeiten. Die Fachschaft für Kunst ist immer auf der Suche nach leerstehenden Räumen auf dem Campus und gibt die Hoffnung auf ein eigenes Gebäude nicht auf. „Früher gab es einige Ateliers in den Pavillons auf dem Südcampus“, erzählt Olivia Malek aus dem Kunstsekretariat. „Das war schon insofern super, als dass es abschließbare Räumlichkeiten waren. In denen konnte man seine Sachen einfach liegen lassen, da niemand Zugang hatte.“ Aber natürlich seien sowohl Studenten als auch die Fakultät froh, überhaupt die fünf Atelierboxen zu haben. Und wenn man sich mit einem guten Grund bewerbe, würde man mit etwas Glück einen Platz erhalten – auch wenn man sich den kleinen Raum dann vielleicht mit ein oder zwei anderen teilen müsse.

Immer auf der Suche nach neuen Räumlichkeiten

Zum jeweiligen Semesterende werden die Boxen geräumt und sauber hinterlassen. Sie stehen dann für die Ausstellung der Prüflinge in der ersten Vorlesungswoche des Semesters bereit. Diese ist nicht nur frei zugänglich, sondern vor allem sehenswert.

Pro Woche verbringen die Studenten je nach kreativer Phase mehr als 20 Stunden hier. Wenn es sich einrichten lässt, nehmen sie sich dann den kompletten Tag Zeit, um an ihren Bildern zu arbeiten. „Für zwei Stunden lohnt es sich kaum, Farbe anzumischen“, erzählt Hanna. „Aber wenn man mal zwei Freistunden hat, kann man durch die Nähe des Ateliers auch gut Hilfsarbeiten erledigen, wie zum Beispiel Leinwände bespannen.“ Klar, dass gern noch viel mehr Studenten die Möglichkeit bekommen würden, in 10

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Noch bis Mitte April haben Kunststudenten die Möglichkeit, sich bei Professor Kolata und SHK David Mellin (david. mellin@tu-dortmund.de) für ein eigenes Atelier zu bewerben. Gegen Ende des Monats werden die frisch gestrichenen Wände dann wieder von neuen Nachwuchskünstlern bekleckst.


SAG MAL, PROF Was macht mich wirklich wach? TEXT&FOTOLAURA BETHKE ILLUSTRATIONENALINA FUHRMANN

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ine Frage, die sich sicher jeder müde Student schon einmal gestellt hat. Die Professorin für Ernährungsmedizin an der Fachhochschule Münster, Heike Englert, klärt auf: Was können Kaffee und Co. wirklich und was hilft noch viel besser gegen Müdigkeit? „Einen kleinen Kaffee zum Mitnehmen bitte.“ Mit diesem Satz kommt wohl der eine oder andere von uns zu seinem allmorgendlichen Genuss, der Kaffee in unsere Mägen und das Koffein durch das Blut ins Gehirn. „Koffein sorgt dafür, dass wir uns weniger schlapp und müde fühlen. Ist das Koffein im Gehirn angekommen, dockt es an bestimmten Rezeptoren an und klaut damit dem Enzym Adenosin den Platz“, erklärt Professorin Englert. Adenosin ist ein körpereigener Stoff, der vor Überreaktionen im Gehirn schützt und Blutdruck und Puls senkt. Koffein macht also kurzfristig tatsächlich wach. Langfristig bildet das Gehirn mehr Rezeptoren, an denen der beruhigende Stoff Adenosin wirken kann. „Hat sich der Körper also an eine bestimmte Menge Koffein pro Tag gewöhnt und zusätzliche Rezeptoren gebildet, empfindet man ein tägliches Verlangen, auch Genusssucht genannt“, sagt Professorin Englert. „Das heißt nicht, dass der Körper immun wird, denn es steht nicht mehr Adenosin zur Verfügung als vorher.“ Das Gehirn schützt sich durch die Bildung von zusätzlichen Rezeptoren vor einer Überreizung.

Dass der Genuss auch negative Folgen haben kann, zeigen Studien, die vor einer Überdosis Koffein warnen. Ein Gramm am Tag sollte nicht überschritten werden, sonst macht der Kaffee nicht nur wach, sondern auch zittrige Hände, Kopfschmerzen

oder sogar einen dauerhaft erhöhten Blutdruck. Der Klassiker, Filterkaffee, hat auf 100 Milliliter 40 Milligramm Koffein. Auch in 100 Gramm Schokolade sind 88 Milligramm Koffein. Isst man also zusätzlich zu drei Tassen Kaffee noch eine Tafel Schokolade, werden die 1000 Milligramm überschritten und man spricht von einer Überdosis. „Heißt also: Nach dem dritten Kaffee ist Schluss“, sagt Professorin Englert. „Die Ursache für die Müdigkeit, die den Griff zur Kaffeekanne nötig macht, ist häufig deutlich einfacher zu bekämpfen.“ Sie empfiehlt, sich auf die Basics zu konzentrieren und es mit einem reichhaltigen Frühstück zu versuchen, auch wenn die der Hunger morgens noch nicht allzu groß ist. „Eine Schüssel Müsli mit frischem Obst und Milch und dazu ein Kaffee und Wasser sind ein ideales Frühstück, da es den Blutzuckerspiegel lange auf einem gesunden Niveau hält.“ Bei Energy-Drinks wie Red Bull wirkt zusätzlich zu 32 Milligramm Koffein auf 100 Millilitern noch die organische Säure Taurin, die die belebende Wirkung im Körper verstärkt und bei dem einen oder anderen schon nach einer Dose zum „Flattermann“ führt. Mate-Tees und auch Coca-Cola sind hingegen nur dank einer guten Marketingstrategie als Wachmacher bekannt, denn sie enthalten nur acht Milligramm Koffein beziehungsweise Tein auf 100 Millilitern. Die Versorgung mit Nährstoffen und Flüssigkeit ist vor allem in Prüfungssituationen entscheidend, eineinhalb Liter Wasser und fünf handgroße Portionen Obst und Gemüse täglich können wahre Wunder bewirken und die Müdigkeit ganz ohne Koffein, Tein oder Taurin bekämpfen. Ist die Nacht mal wieder zu kurz gewesen, setzt Professorin Englert auf einen Vitamin-Boost durch einen selbstgemachten Smoothie aus Beeren (gerne auch tiefgefroren), Apfel und Banane. „Der schmeckt nicht nur gut, sondern hilft auch durch den Uni-Tag“, sagt Englert.


Eine Theorie ist nicht genug Spätestens seit der Finanzkrise 2008 hinterfragen kritische Wirtschaftsstudenten die veralteten Lehrinhalte ihres Fachs. Sie fordern eine vielfältigere Forschung und Lehre. An Unis gründen sich Initiativen, die sich für mehr Pluralität in ihrer Disziplin einsetzen. Auch im Ruhrgebiet. TEXTJulia Körner&Christoph Peters ILLUSTRATIONPierre Pauma | www.caricactus.canalblog.com

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ils Heininger ist unzufrieden. Sein VWL-Studium hatte er sich anders vorgestellt. Der 25-Jährige studiert Politik und Wirtschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. „Die Politikwissenschaft behandelt sehr viele Theorien. Man diskutiert die Studieninhalte aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven“, sagt Nils. „In der Volkswirtschaftslehre gibt es auch eine Menge Theorien und Denkschulen. Warum stehen die nicht auch auf dem Lehrplan?“, fragt er. Nils

ist einer von vielen Wirtschaftsstudenten weltweit, denen ihre Lehrpläne zu einseitig sind. Die heutige Volkswirtschaftslehre ist vor allem von einer Denkrichtung getrieben: der Neoklassik. Sie betrachtet wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme fast ausschließlich mathematisch. Ihre Modelle stützen sich auf Annahmen, die für viele strittig sind. Seit den 1980er Jahren ist die Neoklassik in den Lehrplänen verankert. Die meisten Grundlagenvorle12

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sungen und Lehrbücher basieren darauf, so dass die Neoklassik zum „Mainstream“ in den Wirtschaftswissenschaften geworden ist. Um das zu ändern, sind an vielen Universitäten Hochschulgruppen und Studenteninitiativen entstanden. Sie protestieren gegen die Einseitigkeit der Lehre. Oft organisieren sie Vortragsreihen, Blockseminare und Diskussionen, um über den Tellerrand der für sie engstirnigen Volkswirtschaftslehre zu schauen. „Trotzdem


ist die Neoklassik wichtig. Man muss sie verstanden haben, um sie kritisieren zu können“, sagt Jan Conrad, der sich an der Universität Witten/Herdecke in einer solchen Initiative engagiert. Die protestierenden Studierenden finden: Das neoklassische Denken sei geprägt von vielen Annahmen, die selten der Realität entsprächen. Die Neoklassik geht davon aus, dass auf den Märkten grundsätzlich vollkommene Konkurrenz zwischen Unternehmen herrscht. Jeder Wirtschaftsteilnehmer ist im Besitz vollständiger Informationen über Güterangebot, -nachfrage und Preise und handelt ausschließlich rational. Schließlich regulieren sich die Märkte selbstständig, das perfekte Gleichgewicht ist nur eine mathematische Ableitung weit entfernt. Der „Homo Oeconomicus“ ist als strikt rational handelndes Individuum ständig dabei, seinen Nutzen zu maximieren. Doch das ist nur ein Idealbild. Und die Finanzmärkte tauchen in den alten Modellen nicht auf. „Es wird immer viel von den Finanzmärkten geredet, aber ihr Einfluss auf die Wirtschaft, Politik und Gesellschaft wird uns im Studium nicht vermittelt“, kritisiert Nils Heininger. So mancher, der glaubt, im Studium der Wirtschaftswissenschaften schnell Ant-

worten auf Fragen zur Energiewende, zu den Folgen des demografischen Wandels und zu der anhaltenden europäischen Staatsschuldenkrise zu finden, wird schon früh enttäuscht. „Zuallererst müssen die Grundlagen vermittelt werden, bevor man über die komplexen Probleme der Welt sprechen kann. Das ist in anderen Studiengängen schließlich genauso“, sagt Makroökonomie-Professor Michael Roos aus Bochum. Nur selten nehmen sich Professoren die Zeit, abseits des Lehrplans über aktuelle Wirtschaftsthemen zu sprechen, berichten hingegen viele VWL-Studenten von verschiedenen Universitäten.

Mathematische Formeln alleine reichen nicht aus Deshalb gründeten Nils und einige Kommilitonen vor einem Jahr die „Initiative Plurale Ökonomik Münster“ – und stießen auf großes Interesse. Bisher organisierten sie ein Blockseminar, eine Podiumsdiskussion und eine Vortragsreihe zu Themen wie Plurale Ökonomik, Postwachstumstheorie und Finanzmärkte aus verschiedenen interdisziplinären Perspektiven. Sie sind der Meinung: Weder

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der Mensch noch seine Handlungen lassen sich ausschließlich durch mathematische Formeln abbilden. Das genau ist es, was viele Studenten als Kernproblem der VWL betrachten: Sie sehen sie als eine Sozialwissenschaft, die man nicht wie eine Naturwissenschaft mit festen Gesetzmäßigkeiten behandeln dürfe. Als 65 Gruppierungen aus 30 Ländern im Mai 2014 einen offenen Brief verfassten, erreichte das Thema die breite Öffentlichkeit. „Niemand würde eine Psychologie ernst nehmen, die sich nur auf Freud fokussiert“, heißt es in dem Schreiben der International Student Initiative For Pluralism In Economics (ISIPE). Am Jahrestag der Veröffentlichung des Manifestes soll am 5. Mai mit einem so genannten „Global Action Day“ an den internationalen Aufruf erinnert werden. Viele deutsche Hochschulgruppen planen dazu Aktionen an ihren Unis. Was sich sonst zwei Semester nach der Veröffentlichung getan hat, fasst Jakob Hafele vom Netzwerk für Plurale Ökonomik mit gemischten Gefühlen zusammen: „Zum einen haben wir sehr viel Zuspruch und Engagement von immer mehr Studierenden erfahren, die unsere Forderungen teilen. Durch ihre


Aktionen und Veranstaltungen verändern sie bereits die Hochschullandschaft und das Bildungsangebot an deutschen Unis.“ So konnten zum Beispiel die OikosGruppen in Köln und Witten/Herdecke ihre alternativen Vorträge in Ringvorlesungen oder Seminaren in das Curriculum integrieren, in dem Studenten dafür Credit Points bekommen. „Damit hatten wir sogar bis zu 200 Teilnehmer“, erinnert sich Moritz Linder von der OikosGruppe an der Universität Köln. Oikos ist altgriechisch für Plural. Die ersten Oikos-Gruppen gründeten sich in den 80er Jahren, ihr Fokus lag damals auf den

Aspekten Umwelt und Nachhaltigkeit im Wirtschaftsstudium. Auf der anderen Seite sieht Jakob Hafele noch immer große Widerstände seitens der Professoren. Diese wollten den Forderungen der Studenten nicht nachkommen. Was in einer Lehrveranstaltung passiert, entscheidet der Professor. Es gilt der Grundsatz der Freiheit von Lehre und Forschung. „Bis sich an unseren Lehrplänen etwas ändert, sind noch einige dicke Bretter zu durchbohren“, sagt Hafele. Trotzdem ist er optimistisch, dass sich langfristig etwas ändern wird. Besonders

in Anbetracht des steigenden öffentlichen Drucks durch den internationalen Aufruf und der medialen Debatte. Aber: „Verändert hat sich nur wenig“, sagt Professor Michael Roos. „Viele Ökonomen tendieren leider dazu, eine Wagenburg-Mentalität an den Tag zu legen. Sie igeln sich ein. Denn oft betrachten Forscher die Kritik der Studenten als unqualifiziert.“ Roos findet jedoch, dass die Forschung nicht jegliche Kritik von sich weisen könne. „Es ist zu wenig Bereitschaft da, sich auch mal auf alternative Denkmodelle einzulassen.“ Ein Problem sieht Jakob Hafele auch in der Art und Weise, wie

Die Geschichte der Bewegung Schon in den 2000er Jahren, noch vor der Finanzkrise, formierte sich erster Widerstand unter europäischen Wirtschaftsstudenten. Unter anderem in Frankreich, dann in Deutschland kamen in der ersten Hälfte des Jahrzehnts „Postautistische Ökonomik“-Gruppierungen auf. Aus weiteren Gründungen entstand 2007 der bundesweit agierende Verein Real World Economics mit Hauptsitz in Heidelberg. Die junge Bewegung sorgte für

Schlagzeilen, als sie 2012 eine Konferenz veranstaltete – parallel zur Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, in dem viele etablierte Ökonomen Mitglied sind. Kurz darauf entstand daraus schließlich das Netzwerk für Plurale Ökonomik, das sich als Dachorganisation der mittlerweile 23 Initiativen im deutschsprachigen Raum versteht. Die Zahl der Interessierten und der Engagierten wächst stetig: „Allein im vorigen halben Jahr sind fünf neue Grup-

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pen hinzugekommen, zwei davon sind aus Österreich“, sagt Jakob Hafele, Sprecher des Netzwerkes. Er freut sich, dass auch einige Doktoranden und Professoren zu seinen Mitgliedern zählen. Der neue Zustrom mag bei vielen Studenten auch an den Eindrücken der Wirtschaftsund Finanzkrise gelegen haben, die von vielen Ökonomen nicht vorhergesehen wurde. Das Fach und seine Vertreter waren seither oft kritisiert worden.


wirtschaftswissenschaftliche Lehrstühle besetzt werden. Beste Chancen auf eine Professur hätten diejenigen, die regelmäßig und viel in den Top-5-Fachzeitschriften veröffentlichten. „Diese sind aber allesamt rein neoklassisch geprägt, so dass bereits bei der Lehrstuhlbesetzung klar ist, was die Inhalte im Studium sein werden“, erklärt er. „Alternative Theorien abseits vom Mainstream werden oft nur in Nischen-Fachzeitschriften publiziert“, sagt Professor Roos. Er hält die Abwehrhaltung vieler seiner Kollegen für paradox. „Wir Ökonomen predigen einerseits den Wettbewerb, und andererseits wird der Wettbewerb verschiedener Theorien in unserem Fach als störend empfunden.“ Master-Student und Oikos-Mitglied Jan Conrad meint hingegen: „Es wäre aber zu leicht, nur den Universitäten oder den Professoren die Schuld daran zu geben. Die Studenten sollten auch Eigenverantwortung übernehmen.“

ForDErungEn DEs inTErnATionALEn AuFruFs 1. Theorienpluralität Die „International Student Initiative For Pluralism In Economics“ (ISIPE) fordert eine Vielzahl von Herangehensweisen. So gibt es neben dem „Mainstream“ noch weitere ökonomische Denkschulen, die in die Lehre mit einfließen sollen. Beispiele: die klassische, post-keynesianische, institutionelle, feministische, ökologische, marxistische und die österreichische Schule. 2. Methodenvielfalt Damit einher geht die Forderung nach einer Methodenvielfalt, wie sie ebenfalls in allen anderen Sozialwissenschaften etabliert ist. Eine rein quantitative Analyse der Gesellschaft sei unzureichend und könne nicht alle Phänomene

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erklären: Zum Verstehen von Institutionen und Kulturen, die in Volkswirtschaften eine große Rolle spielten, seien oft auch qualitative Methoden nötig, die jedoch kaum ein VWL-Student jemals lernt. 3. Transdisziplinarität Die Studenten fordern, dass sich ihr Fach hin zu angrenzenden Disziplinen öffnet, damit ökonomische Entscheidungen besser in den sozialen Kontext gesetzt und nicht länger in einem Vakuum betrachtet werden wie bisher. Ökonomische Theorien sollten nicht nur aus Mathematik und Statistik bestehen, sondern auch die Sozial- und Geisteswissenschaften mit einbeziehen.


„Jo Digga, was geht?“ Wer als Student Teenagern in der Bahn lauscht, kommt sich schnell alt vor. Mit der Jugendsprache von heute identifizieren wir uns meist nicht mehr. Gibt es die eine Jugendsprache überhaupt und sind wir wirklich schon zu alt dafür? TEXTMoritz Makulla FotoWWU Münster, Germanistisches Institut ILLUSTRATIONenMartin Schmitz

Dr. Nils Uwe Bahlo ist Sprachwissenschaftler an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster und beschäftigt sich mit Sprachstilen. In seiner Forschungsarbeit konzentriert sich Bahlo unter anderem auf die Jugendsprache und Kommunikation via Internet und Smartphone. Im Interview erklärt der 36-Jährige warum wir mit zunehmendem Alter nicht einfach aufhören, Jugendsprache zu benutzen. Wie kann man Jugendsprache definieren? Dr. Nils Uwe Bahlo: Es gibt nicht die Jugendsprache an sich, genauso wenig wie es die Sprache an sich gibt oder die Jugend. Wir gehen bei der Definition von zwei unterschiedlichen Sichtweisen aus: Einmal gibt es die Sprache als Stil. Als bewusstes Mittel, um sich zu identifizieren, zu provozieren oder abzugrenzen. Dann gibt es noch die Jugendsprache als Varietät (Anm. der Redaktion: Ausprägung der Sprache, vergleichbar mit einem Dialekt). Aber weder der Stil noch die Varietät werden dem Begriff Jugendsprache ganz gerecht. Man müsste sich Jugendsprache vielmehr vorstellen wie Mode, die sich relativ oft und situativ ändert. Wenn man zum Beispiel zu einem Opernball geht, würde man sicher einen Anzug anziehen. Wenn man aber mit Freunden skaten gehen will, trägt man eher lockere Kleidung. Und so ist das auch mit der Sprache. Wenn man mit seinen Freunden redet, wird man meistens etwas kollegialer. Wenn man aber an der Uni ist, pflegt man andere Sprachstile.

Jugendsprache verändert sich also ständig? Die Jugendsprache variiert in vier Kategorien: hinsichtlich der Zeit, Jugendsprache war 1900 anders als 2010. Sie variiert auch hinsichtlich der Situation, in der man sich befindet. Außerdem hinsichtlich des Raumes, denn man spricht zum Beispiel in Berlin andere Stile als in Dortmund. Dann variiert sie noch in der Schicht, denn Jugendliche sprechen je nach Bildungsstand unterschiedlich. Lässt sich Jugendsprache denn zumindest alterstechnisch eingrenzen? Schwierig zu sagen. Jugendsprache sind Stile, die innerhalb bestimmter Gruppen Gleichaltriger gesprochen werden. Demnach würde man sein Leben lang Jugendsprache benutzen, wenn man mit seinen Freunden kommuniziert. Das Problem ist, dass Jugendsprache sich ständig verändert. Was für mich Jugendsprache war, würde heute vielleicht gar nicht mehr als solche erkannt werden. Insofern ist die Dimension Alter schon wichtig, aber das Alter ändert sich natürlich mit. Mit der nächsten Generation ist alles wieder anders. Es gibt keine starren Grenzen. Wenn man sich mit alten Freunden trifft, sollte man mal darauf achten, wie man sich unterhält. Mir ist beim 15-jährigen Abiturtreffen im vorigen Jahr aufgefallen, dass ich meine alten Freunde, mittlerweile promovierte Juristen oder Mediziner, immer noch mit „Jo digga, was geht?“ begrüßt habe. Oder mit dem alten „Wazzup“ aus der Budweiser-Werbung. Demnach schafft sich jede Generation ihren eigenen Stil, um sich abzugrenzen. Erfüllt dieser eigene Sprachcode noch andere Zwecke? 16

leben

Man lernt Sprache, indem man sie benutzt. Und das indirekte Ziel der Jugendsprache ist das kompetente Beherrschen von Sprache und das Annähern an Normen der Erwachsenen-Sprache. Normalerweise würde man behaupten, Jugendliche wollen sich durch ihren Sprachstil abgrenzen. Aber sie streben vielmehr mit ihrem eigenen Stil dahin, Sprache kompetent zu beherrschen. Das Paradoxe hierbei ist, dass sie dieses Ziel nie erreichen, weil sie die Sprache ja selbst beeinflussen und weiterentwickeln. Legen

yo Big dis Gönn dir!

Selfie sie als Erwachsene ihre Jugendsprache ab, ist diese mit der Sprache der tatsächlich Jugendlichen schon nicht mehr zu vergleichen. Vor dem Hintergrund Ihrer Aussagen: Wie stehen Sie zu den Jugendwörtern des Jahres? Die erscheinen ja auch immer wieder in Lexikonform bei verschiedenen Verlagen. Diese Bücher sollen natürlich einfach lustig sein. Die wissenschaftlichen Erhebungsmethoden sind allerdings problematisch, da man keine geschlosse-


Krass

Kellerkind

Tebartzen

Discopumper

abspacken

Beef Pornös Fail Gediegen isso Bro

Auf keinsten!

in your face

hartzen

abfucken

olo #Hashtag slike Leider geil chillen

Wat´is denn los mit dir?

no shit, sherlock! Semigeil

Babo

Lässig

Bulimielernen

Swag

fancy fame 17

leben


KOMMENTAR

trollen FUSSHUPE

GAmmELfLEIScHpArtY

RUMOXIDIEREN

HOMIE

NIVEAULIMBO

Gibt es auch eine spezielle Studentensprache? Das ist eine spannende Frage und ich habe mir schon oft überlegt, diesen Bereich zu untersuchen, also die Postadoleszenz, die Zeit nach der Jugend. Man ist ja nach der Schule nicht einfach erwachsen und die Studentenzeit nimmt schon einen besonderen teil des Lebens ein. Aber die Frage ist schwer zu beant-

worten, da mir noch keine Forschung dazu bekannt ist. Studentensprache wäre wohl so etwas wie ein Schmelztiegel. Aus vielen verschiedenen Regionen kommen Studenten an der Universität zusammen und bringen einen gemeinsamen Kern mit, woraus sich dann mehr entwickelt. Dieses thema wäre wohl eine Masterarbeit wert.

DIGGEr

ne Kontrollgruppe hat und nicht weiß, woher die Wortvorschläge kommen. Außerdem kann man, wie gesagt, den jugendsprachlichen Wortschatz nicht einfach in einem Lexikon festhalten, da diese Sprache weitaus mehr ist als eine Sammlung von Wörtern. Da gehören zum Beispiel Dinge wie Medienwissen dazu, weil Redewendungen aus Filmen, der Werbung oder dem Internet stammen. Der positive Effekt solcher Bücher ist natürlich, dass man sich wunderbar über Sprache unterhalten kann. Dank ihnen werden bestimmte Begriffe an die Öffentlichkeit gebracht und diskutiert.

von Moritz Makulla

Zwischen rTl und hausarbeit

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er als Student am campus zu viele Jugendwörter benutzt, läuft Gefahr, belächelt zu werden. Denn die meisten Studenten sind keine teenager mehr und identifizieren sich deshalb auch nicht mehr mit den neuesten Sprachtrends. Und wer bewusst versucht, diese zu meiden, bemerkt oft gar nicht, dass er sie doch in seine Sprache einfließen lässt. Zum Smalltalk in der Uni gehört für mich das Lästern über neue Wörter dazu. Auf Facebook werden die seltsamsten Wortschöpfungen und Abkürzungen geteilt und gelangen so, gewollt oder ungewollt, in den täglichen Sprachgebrauch. Mit meinen 23 Jahren käme ich mir seltsam vor, würde ich jedes trendwort

direkt in meine Alltagssprache übernehmen und dabei noch ernst klingen wollen. Ebenso wenig übernehme ich im Alltag das akademische Geschwurbel aus meinen Hausarbeiten. Wenn ich mit Freunden rede, benutze ich dann doch eher Standardausdrücke wie „Hey Alter“ zur Begrüßung. Auch um Anglizismen komme ich nicht herum: Ich bashe manchmal aus Versehen Leute, calle mal eine Freundin oder bekomme ein Pic, das ziemlich awesome ist. Denglisch is fun und bereits fest in meinen Sprachgebrauch integriert. So ganz ignorieren lassen sich die neuen Sprachtrends jedenfalls nicht und so 18

leben

erwachsen, wie wir Studenten gerne tun, sind wir (zum Glück) auch noch nicht. Die Kunst in der Umgangssprache sollte vielmehr darin bestehen, eine gesunde Mitte zwischen den sprachlichen Extremen zu finden. Wer sich gern in komplizierten Satzgefügen mit noch komplizierteren Fachwörtern ausdrückt, sollte dies doch bitte in seiner nächsten Hausarbeit tun. Wer allerdings allzu sehr nach RtL-Nachmittagsprogramm klingt, sollte seinen Slang ebenfalls überdenken. Je nach Situation ist es eine Kunst, den passenden Sprachstil zu wählen. Schließlich definieren wir uns über Sprache – und es zählt nicht nur, was wir sagen, sondern auch wie wir es sagen.


JOB OHNE FEIERABEND Ein letztes Mal weist Lisa Steinkamp ihre Besuchergruppe an: Der Rasen ist tabu! Dann führt sie ihr Publikum an den Spielfeldrand. Die Studentin arbeitet als Stadionführerin im Signal-Iduna-Park in Dortmund. TEXTCHRISTOPH PETERS FOTOSTINA BERGHAUS

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er Rasen muss natürlich geschont werden“, erklärt Lisa Steinkamp den rund 40 Teilnehmern der Führung. Die Besucher dürfen ihn nicht betreten, denn schädliche Pilze könnten sich von ihren Schuhen auf den kostspieligen Stadionrasen übertragen. Als Borussia Dortmund zuletzt 2012 Deutscher Meister wurde, stürmten Hunderte Fans das Spielfeld und rissen große Teile des Rasens heraus. „In meinen Führungen hat aber noch niemand den Rasen betreten oder gar ein Stück als Souvenir mitgenommen“, sagt Lisa. Die 24-Jährige arbeitet seit einem Jahr im ehemaligen Westfalenstadion. Die Dortmunderin studiert Sozialwissenschaften in Bochum. Vor ihrer Arbeit im Stadion hat sie Interessierte durch die Opel-Werke geführt. Über einen ehemaligen Kollegen kam sie an den Job im Signal-Iduna-Park.

„Die Erfahrungen aus Werksführungen haben mir sehr geholfen. Es fällt sicher nicht jedem leicht, vor großen Gruppen zu sprechen“, sagt Lisa. „Mir macht es Spaß, meine Fußball-Leidenschaft mit den Leuten zu teilen. Wer kein echter Fan ist, wäre für den Job nicht geeignet.“ Vom Eingangsbereich in den Presseraum bis hin zur Umkleidekabine: Bei der zweistündigen Führung bekommen die Besucher einen interessanten Blick hinter die Kulissen. Lisas Lieblingsmoment ist der Gang durch den Tunnel aufs Feld, durch den sonst die Spieler zum Rasen gehen. Mit OriginalEinlaufmusik treten die Besucher ins Freie. Lisa gibt der Gruppe Zeit, sich auf die Trainerbank zu setzen und Fotos zu machen. Sich einmal wie BVB-Trainer Jürgen Klopp fühlen, das wolle er, sagt einer der Teilnehmer. Einmal nachvollziehen, was wohl ein Bundesliga-Spieler spürt, wenn er das Stadion betritt. Danach geht es zur Südtribüne, zur „Gelben Wand“. Schon mit fünf Jahren stand Lisa das erste Mal hier, seitdem ist sie

vom BVB fasziniert. „Auf der Südtribüne fühlt man sich wie eine Einheit oder eine große Familie. Sie ist das Epizentrum des Stadions“, schwärmt die Studentin. Wenn der BVB spielt, fiebern allein auf der Südtribüne fast 25.000 Fans mit. Sie ist die größte Stehplatztribüne in Europa. Ungefähr 30 Stadiontouren leitet Lisa im Monat, für private Gruppen, Firmen und Touristen. Manche Fans kommen sogar aus Australien oder Mexiko. „Man erfährt interessante Geschichten. Selbst im Ausland gibt es BVB-Fans, die spät nachts aufstehen, um die Spiele der deutschen Bundesliga zu schauen“, sagt Lisa. Sie mag die Abwechslung und die lockere Atmosphäre im Stadion-Team. „Die Arbeitszeiten kann ich mir flexibel einteilen, so lässt sich der Job sehr gut mit meinem Studium verbinden.“ Wie viel Lisa für die Führungen bekommt, will sie nicht sagen. Nur so viel: „Ich verdiene ganz gut.“ Außerhalb der Arbeitszeit versucht die Studentin, bei jedem Spiel dabei zu sein. Denn „Feierabend“ hat ein echter Fan eben nie.


Unicampus_Denkfabrik Ein Denkanstoß des Aachener Architekturstudenten Florian Kreutzer. 20

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„Der Entwurf ,Denkfabrik‘ ist eine logische Konsequenz aus der industriellen Historie des Standorts des ehemaligen Opelwerks. In einer Zeit, in der sich die Ausbildung vom Allrounder hin zum spezialisierten Arbeiter entwickelt, wird die Verknüpfung der einzelnen Fachbereiche immer wichtiger.


Zechen, Autos

unD WAt nu‘?

Seit Ende 2014 produziert Opel in Bochum keine Autos mehr – eine riesige Werksfläche liegt brach. Doch die Pläne zur Neugestaltung des Geländes sind unkonkret. Fest steht nur: Die Revier-Unis sollen dabei eine entscheidende Rolle spielen. TEXTPHILIPP RENTSCH FOTOSPRESSE- UND INFORMATIONSAMT STADT BOCHUM ILLUSTRATIONFLORIAN KREUTZER

Als Motiv für den Universitätscampus dient das Getriebe, das nur durch die ineinandergreifenden Zahnräder bestehen und funktionieren kann. In den Türmen befinden sich die einzelnen Fakultäten, die Schnittstellen aufweisen. Dort können Studenten zum Beispiel in Bibliotheken gemeinsam arbeiten.“ 21

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itten in Bochum, wo einst bis zu 22.000 Menschen für Opel arbeiteten und zuletzt immerhin noch 3.300 beschäftigt waren, verschwinden in den kommenden Monaten riesige Hallen. Wo 52 Jahre Maschinen dröhnten, wird es nach den Abrissarbeiten totenstill. Denn konkrete Planungen zur Zukunft der Fläche gibt es noch nicht. Die Industriefläche des OpelWerks I liegt zwischen der Ruhr-Uni Bochum und der TU Dortmund und misst rund 70 Hektar – das ist in etwa so groß wie der Westfalenpark. „Die Fläche bietet viele verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten“, sagt Jörg Bogumil, Professor für Stadt- und Regionalpolitik an der RUB.

„So gesehen ein ideales Gelände.“ Viele Politiker und Experten sind sich einig, dass hier ein innovatives Vorzeigeprojekt für die Stadt und die Region entstehen soll. Visionen gibt es bereits: Die Ruhr-Universität Bochum hat ein Konzept für eine „Worldfactory“ entwickelt, eine Art Denkfabrik, die einen Teil der Fläche in Anspruch nehmen soll. Ziel sei es, 1000 kreative Talente zu „versammeln und zu beflügeln“, erklärt RUB-Direktor Elmar Weiler. Eine Machbarkeitsstudie liege zwar erst Mitte des Jahres vor, interessierte Investoren gebe es aber schon jetzt. Schwerpunkte seien mit Blick auf die Kompetenzen der umliegenden Universitäten vor allem die Bereiche

Medizin- und Produktionstechnik, sagt Weiler. Für die innenstadtnahe Fläche streben die Planer der Stadt einen Mix aus großen, mittleren und kleineren Grundstücken an. Konkret sollen sich Betriebe mit einer Größe von zwei bis 15 Hektar ansiedeln – einige kurz-, andere langfristig. „Die Hochschulen müssen bei der Neugestaltung der Fläche eine entscheidende Rolle spielen. Das ist eine neue Aufgabe für sie, weil sie sich eigentlich gar nicht für Stadtund Regionalpolitik zuständig fühlen“, meint Jörg Bogumil. Anderen Städten und Universitäten, wie etwa Dresden oder Bamberg, sei das bereits gelungen.


Jörg Bogumil sieht jedoch Schwierigkeiten bei der Umsetzung: „Wir können den Flächenbedarf noch nicht absehen. Man hätte sich früher Gedanken machen müssen. Bis zuletzt wurde darauf gehofft, dass Opel bleibt. Andere Szenarien wurden in den Hintergrund gedrängt.“ Durch neue Ansiedlungen würden nicht mehr so viele Arbeitsplätze geschaffen wie etwa früher in Zechen. „Unsere Stärke liegt jetzt in der Hochschullandschaft. Wir müssen umdenken und deshalb attraktive Arbeitsplätze im Dienstleistungs- und Wissenschaftsbereich entstehen lassen.“ In Bochum ist die Universität schon jetzt der größte Arbeitgeber. Bogumil glaubt, dass den Studierenden interessante

Anschlussmöglichkeiten geboten werden müssen, um sie in der Region zu halten – damit sie nicht wie bisher abwandern. Damit eine Neugestaltung umgesetzt werden kann, laufen im Opel-Werk die Rück- und Ausbauten der Maschinen. Bis 2016 sollen die alten Hallen abgerissen sein. Außerdem müssen der Baugrund von Altlasten des Bergbaus und der Autoproduktion befreit sowie Leitungen gelegt werden. Die Entwicklungsgesellschaft schätzt die Kosten auf 118 Millionen Euro. Bezahlt wird das über Fördermittel des Landes, Grundstücksverkäufe und teilweise auch von Opel. Dass sich mit dem Logistikunternehmen

DHL schon ein erstes Unternehmen 15 der 70 Hektar per Vorvertrag gesichert hat, steht allerdings im Widerspruch zum Bebauungsplan der Stadt. Der sieht eine derartige Flächennutzung vor allem deshalb nicht vor, weil mit DHL pro Hektar nur knapp 40 relativ gering bezahlte Arbeitsplätze entstehen sollen. Doch die Stadt hat DHL nicht abgesagt, weil sie interessierte Unternehmen nicht vergraulen will. Eigentlich aber will sie eine gezielte Entwicklung der Brachfläche mit nachhaltiger Wirkung forcieren – dafür aber fehlen konkrete Konzepte.

DAS GELÄNDE Neben dem Gelände von Werk I gehören Opel auch die nebeneinander liegenden Werke II und III. Diese umfassen zusammen rund 100 Hektar, wovon Opel in Zukunft aber Teile für ein neues Warenverteilzentrum nutzen wird.

KOMMENTAR

von Philipp Rentsch

Nächster Strukturwandel Und noch viel stärker muss das Potenzial des Standortes herausgestellt werden. Weit mehr als 200.000 Menschen studieren mittlerweile im Revier, der dichtesten Hochschullandschaft in ganz Europa mit hochqualifizierten Absolventen.

Zechen dicht, Nokia weg, Opel (fast) verschwunden – die Stadt Bochum ist Schicksalsschläge und Veränderungsprozesse gewohnt. Nach dem Rückzug des Automobilherstellers sind keine Rückblicke, sondern zeitnahe, aber wohlüberlegte Veränderungen nötig. Das Ruhrgebiet muss zukunftsfähiger werden – ein Wandel zur Hochschul- und Wissensregion muss her.

Die Zukunft des Ruhrgebiets hängt so stark von Bildung und Wissenschaft ab wie nie zuvor. Deshalb müssen die drei großen Universitäten und die vielen Fachhochschulen in die Planungen einbezogen werden.

Doch die Region steht sich selbst im Weg. Mit der Ansiedlung entgegen der ursprünglichen Pläne oder der Diskussion darüber, ob das Verwaltungsgebäude von Opel Werk I unter Denkmalschutz gestellt werden soll, stockt die Entwicklung. Politiker und Handlungsträger müssen beweisen, dass sie das Revier zukunftsfähig aufstellen können. Das Ziel muss sein, Anreize für Unternehmen zu schaffen, sich im Ruhrgebiet anzusiedeln und hier zu bleiben. Dazu gehört zum Beispiel, die Gewerbesteuer zu senken.

Richten sich die Städte tatsächlich stärker auf Studierende und Absolventen aus, kann die Region langfristig attraktiver und wettbewerbsfähiger werden. Die Opel-Fläche bietet dazu eine erste große Chance – und die muss genutzt werden. 23

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POSITION

POLE

Immer mehr Mädchen sind begeistert von der Sportart Poledance. So auch Informatik-Studentin Scarlett Gebski. Zwischen Spaß und Schmerz meistert sie das harte Training. TEXTJOHANNES HÜLSTRUNGFOTOSMIRIAM WENDLAND

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it Alkohol säubert Scarlett noch einmal die Stange, die durch den Schweiß schnell rutschig wird. Dann schwingt sie sich hoch. Eine Drehung links, ein Schwung nach oben: Es sieht so einfach aus, wie sie in den „Lotussitz“ geht oder den „Python“ zeigt. Dabei erfordert Poledance viel Kraft, Ausdauer und eine hohe Körperbeherrschung. Nach außen hin ist Scarlett ganz entspannt. Sie freut sich, dass sie die Figuren halten kann. Auf 24

leben

Momente wie diesen hat die 22-Jährige lange hingearbeitet. Scarlett entdeckte den Sport in einer TVCastingshow – und war sofort fasziniert. „Das sah so einfach und so schön aus“, schwärmt sie. Bei einer Probestunde versuchte sie sich am Tanz an der Stange. „Da habe ich schnell gemerkt, dass es gar nicht so einfach ist“, sagt die InformatikStudentin. Gerade das motivierte sie dazu, immer weiter zu trainieren. An-


fangs sechsmal in der Woche, sogar sonntags. Wie besessen sei sie von der Idee gewesen, bald so tanzen zu können wie die Frau im Fernsehen. „Erst sah es zwar überhaupt nicht schön aus“, sagt Scarlett, „aber ich wusste, dass es irgendwann so aussehen könnte.“ Trotzdem geht es ihr nicht darum, anderen zu gefallen: „Ich mache das nur für mich. Für diesen Moment, an der Stange zu hängen und zu wissen, dass ich es kann.“

Stangentanz auch zu Hause

muss sie sich bis zum Finale also noch steigern. Sie weiß, worauf es bei den Wettkämpfen ankommt: „Die Juroren achten auf den Schwierigkeitsgrad der Tricks, auf Kraft und Flexibilität. Auch der künstlerische Ausdruck und das Kostüm spielen eine Rolle. Minuspunkte gibt es für nicht gestreckte Beine und Füße, wenn man unabsichtlich rutscht und natürlich, wenn man von der Stange fällt.“ Scarlett weiß, wie schwierig es wird, sich im Feld von 17 Finalistinnen zu behaupten.

Nach nur einem halben Jahr konnte Scarlett gut genug tanzen, um selbst Unterricht zu geben. Das kostete sie aber so viel Zeit, dass ihre eigene sportliche Entwicklung auf der Strecke blieb. „Ich wollte wieder mehr für mich machen“, sagt Scarlett. Also hörte sie als PoledanceLehrerin auf. Um professioneller trainieren zu können, wechselte sie im vergangenen Sommer das Studio. Zur gleichen Zeit ließ sie sich zu Hause eine Stange anbringen. Der Studio-Wechsel und das Heimtraining brachten den Erfolg: Scarlett qualifizierte sich für das Finale der Deutschen Meisterschaften im Juni in Gießen.

Die Leidenschaft, mit der sie beim Poledance begann, ist auch nach mehr als zwei Jahren geblieben. „Das Tolle daran ist, dass es nie langweilig wird“, sagt Scarlett. „Ich kann mich immer weiter verbessern. Wenn ich eine Sache drauf habe, steht direkt der nächste Trick an. Poledance ist eine noch so junge Sportart, dass oft ganz neue Figuren erfunden werden.“ Auch kreativ kann sie sich austoben, denkt sich zusammen mit ihrer Trainerin und einer anderen Schülerin eigene Choreografien aus. Ihre Trainerin Caroline Lange ist begeistert von der Informatik-Studentin: „Scarlett hat eine wahnsinnige Entwicklung hinter sich.“ Vor knapp einem Jahr eröffnete Lange die „Pole Garage“ in Hagen. Scarlett gehörte zu ihren ersten Schülerinnen.

Es ist Scarletts erste offizielle Meisterschaft, dennoch tritt sie mit hohen Erwartungen an. „Ich hoffe auf einen Platz auf dem Treppchen“, verrät sie. Bei der Qualifikation gehörte sie bereits zur Spitzengruppe. Die beste Teilnehmerin erreichte 76 Punkte, Scarlett kam auf 71,5 Punkte. „Platzierungen wurden uns bei der Quali zwar nicht genannt, aber das müsste ungefähr der vierte Platz gewesen sein“, sagt Scarlett. Für ihr großes Ziel

Das Studio versprüht eine Mischung aus Industrie-Charme und kühler Moderne. Auf dem Gelände einer ehemaligen Textilfabrik gelegen, wurde es vorher als Showroom einer Lichtbeton-Firma genutzt. Eine lange Spiegelwand trennt den Bereich zum Umziehen ab, auf der anderen Seite steht ein früheres Ausstellungsstück der Vormieter, ein DesignerTresen. Grelle LED-Wände beleuchten freiliegende Rohre, dazwischen ragen

elf Poledance-Stangen in die Höhe. Der Raum ist hell und offen, der dunkle Boden bietet einen farblichen Kontrast. Bis zur Decke sind es etwa acht Meter, zum Holzgiebel etwa zehn. „Die Halle ist sehr hoch, das hat den Vorteil, dass die Stangen die richtige Wettkampf-Höhe von 4,20 Meter haben“, sagt Scarlett. „Für die Vorbereitung auf die Deutschen Meisterschaften ist das natürlich gut. In vielen anderen Studios und bei mir zu Hause ist die Stange nämlich nur drei Meter hoch.“

Tanzstudio mit Industrie-Charme Bevor Scarlett die Stange hochklettern kann, muss sie sich viel und lange dehnen. „Das ist das Unangenehmste von allem“, beklagt sie, „weil es so verdammt weh tut.“ Sie schnappt sich eine Matte, legt sich auf den Bauch und macht die „Kobra“: Dabei muss sie den Oberkörper möglichst weit nach hinten biegen. Auch die Stange hilft ihr bei ihren Dehnübungen. Scarlett hält sich an ihr fest, drückt mal den Oberkörper nach vorne, streckt mal ein Bein zur Seite oder nach hinten. Nicht nur das Dehnen, auch einige Figu-


ren an der Stange sind schmerzhaft. Das macht Scarlett aber nichts aus: „Wenn ich keine Lust mehr auf Uni habe, geht es ab ins Studio. Dann trainiere ich solange, bis ich solche Schmerzen habe, dass ich nicht mehr an die Uni denken kann.“ Neben den harten Trainingseinheiten studiert die 22-Jährige Informatik an der TU Dortmund. Aktuell ist sie im sechsten Semester, bald steht ihre Bachelorarbeit an. Danach will sie den Master machen. Scarletts Hobby ist für sie ein willkommener Ausgleich zum Studium. Anderen fällt es nicht so leicht, eine Verbindung zwischen Poledance und Informatik her-

zustellen. Auf beiden Seiten hat Scarlett mit Vorurteilen zu kämpfen. Besonders bei den Informatikern, bei denen weibliche Studenten ohnehin eine Seltenheit sind. „Da kommen schon mal solche Macho-Sprüche wie: ‚Na, willst du dir was dazu verdienen?‘ Dabei hat Poledance überhaupt nichts Anstößiges. Aber das wissen die natürlich auch, die wollen mich nur ein bisschen piesacken.“ Scarlett nimmt es mit Humor: „Wenn ich sie dann einlade, es selbst mal zu probieren, traut sich niemand.“ Die Mädchen, mit denen Scarlett beim Poledance trainiert, sind wiederum skeptisch, was Informatik angeht.

Mit Rotlichtmilieu oder Oben-ohne-Bars haben seriöse Poledance-Studios nichts zu tun. Scarlett wehrt sich gegen ein solches Image: „Das ist eine ernsthafte Sportart“, sagt sie. Die Entwicklung hin zum Trendsport habe mit der Fitnesswelle um Zumba und Co. zu tun gehabt. Das Vorurteil, eine Pole-Tänzerin müsse extrem streng auf ihre Ernährung und ihren Körper achten, lässt Scarlett aber nicht gelten. Sie hat andere Erfahrungen gemacht.

Vom Punkrock zum Stangentanz „Das sind alles ganz normale, richtig nette Mädels“, sagt Scarlett. Auch sie erfüllt derartige Klischees nicht. Sie ist nicht das Püppchen, das viele bei einer Sportart wie Poledance vermuten würden. In ihrer Schulzeit war sie sogar eher das genaue Gegenteil, färbte ihre Haare pink, spielte Bass und E-Gitarre in einer Punkband. „Rückblickend war meine Rebellen-Phase eine schreckliche Zeit“, sagt Scarlett und lacht. Dass sie jemals beim Poledance landen würde, hätte sie damals nie geglaubt. „Ich war auch nicht übertrieben sportlich“, sagt sie. „Eine Zeit lang habe ich Volleyball gespielt und war alibimäßig im Fitnessstudio angemeldet. Richtig fleißig wurde ich erst beim Poledance.“ Noch vor dem Finale der Deutschen Meisterschaften könnte Scarlett im Poledance-Studio eine neue, zusätzliche Aufgabe bekommen. Im Moment leitet Caroline Lange das Studio allein. Da sie damit sehr viel zu tun hat, sieht sie sich nach Verstärkung um. Ihre WunschKandidatin ist Scarlett. „Sie ist genauso ehrgeizig und poleverrückt wie ich“, sagt Lange. „Wir ergänzen uns perfekt.“ Auch Scarlett freut sich, bald wieder als Poledance-Lehrerin arbeiten zu können. Ihr eigenes Training will sie aber nicht mehr vernachlässigen. Im Gegenteil, sie will weiter an sich arbeiten. Um irgendwann an der Stange so schön auszusehen wie die Frau in der Castingshow.


Do it yourself: Kicker bauen

OPAS HANDWERKSTIPPS

Eine Runde Kickern gehört für viele zum perfekten Feierabend. Die Mini-Fußballfelder sind jedoch für private WGs oft zu teuer. Hilfe kommt von unserem Redaktionsopa Werner: Er zeigt uns, wie man selbst einen

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günstigen und robusten Kicker bauen kann. TEXTLISA BENTS FOTOSMICHAEL SCHEPPE

Material „Die Platten und massiven Holzbeine lässt man sich am besten im Baumarkt zuschneiden. Dann kann man sicher sein, dass alles gerade ist und die Winkel stimmen. Ich setze dabei auf Schichtholz – das ist zwar etwas teurer, aber sehr stabil. Den Bauplan habe ich aus dem Internet runtergeladen. Da habe ich auch alle anderen Teile, wie die Tore, Bälle, Spieler und Zähler, bestellt.“

Millimeterarbeit

„Auf die Beine kommt zuerst eine Unterplatte, bevor man die Seitenwände verschraubt. In diese werden dann die Löcher für die Kicker-Spieler gebohrt. Hier ist Millimeterarbeit gefordert, denn sonst verkeilen sich die Stangen später und Spielen ist nicht möglich. Wichtig ist, dass das Spielfeld später an den Ecken und Seiten etwas schräg gebaut wird, sodass der Ball nicht liegen bleibt. Insgesamt ist es viel Schrauberei, die einzelnen Teile zusammenzusetzen – da ist ein Akkuschrauber schon von Vorteil.“

3 Bauanleitung und Materialien findet ihr auf: www.kicker-klaus.de Habt ihr Fragen zum Do-ItYourself-Projekt? E-Mail an: redaktionsopa@gmail.com

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Bauspaß „Wenn man sich ranhält, hat man den Tisch in ein paar Tagen fertig. Am besten arbeitet man zu zweit. Dann noch eine Kiste Bier dazu und das Bauen macht richtig Spaß. Insgesamt hat mich das Material etwa 250 Euro gekostet. Ein neuer ProfiKicker hätte um die 800 Euro gekostet.“

chon als Jugendlicher hat Werner nach der Schule gerne gekickert. Auf die Idee, selbst einen Kickertisch zu bauen, ist sein Sohn gekommen. In Werners Keller werden jetzt regelmäßig Turniere veranstaltet. Wir hatten im Duell gegen unseren Redaktionsopa keine Chance: Der Bauherr blieb ungeschlagen. Sein Tipp, wenn man doch mal zurückliegt: „Den Sieger in Sicherheit wiegen und dann zuschlagen.“



GÜnter und bodo Mitten in der Fußgängerzone und doch am Rand der Gesellschaft? Günter* verkauft das Dortmunder Straßenmagazin Bodo. Der Zeitschriften-Verkauf hat ihm nicht nur selbst von der Straße geholfen – sondern ermöglicht ihm auch, andere zu unterstützen. TEXT&FotosRicarda DieCkmann

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Max an der Reinoldikirche auf. Er hat vorgeschlagen, das Interview hier zu führen. Die Kellnerin begrüßt ihn mit einem freundlichen Lächeln. Sie kennt den Mann mit der markanten Stimme und dem von grauen Haaren durchzogenen Bart: Das Café Max gehört zu den etwa 60 Lokalen in Dortmund, in denen Günter seit Jahren „seine“ Bodos verkauft. Immer in Absprache mit den Betreibern. Durch etwa die Hälfte der Restaurants und Cafés läuft er jeden Tag. Dabei trifft er auf viele Stammkunden. Leute, die jeden Monat eine Bodo bei ihm kaufen. Leute, die sich dafür interessieren, wie es ihm geht, anstatt „Ja, lassen wir den mal machen“ zu denken und wegzuschauen. An einem Tisch am Fenster sitzen zwei Frauen. Eine der beiden löffelt den Milchschaum von ihrem Cappuccino. „Wollt ihr?“, fragt Günter und deutet mit der freien Hand auf seine Zeitschriften. Die Frau nickt, legt den Löffel beiseite und zieht fünf Euro aus ihrem Portemonnaie. Günter kramt in seiner Bauchtasche nach dem Wechselgeld. Im Einkauf kostet ihn ein Magazin 1,25 Euro, im Verkauf bekommt er das Doppelte dafür. Für die ersten zehn Exemplare im Monat muss er nichts zahlen. Nach diesem Prinzip funktioniert auch der Verkauf von Straßenmagazinen in anderen Großstädten. Sie haben ein gemeinsames Ziel: Menschen in sozial schwierigen

Ich hab‘ Platte gemacht und am Kanal geschlafen. 29

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er kann noch lesen? Falls nicht: hiermit üben!“ Günter hat seinen rechten Arm um die durchsichtige Plastiktüte mit etwa 20 Zeitschriften geschlungen. Es ist Montagvormittag auf dem Westenhellweg. Die Temperaturen sind so niedrig, dass der Atem zu weißen Wolken gefriert. Menschen eilen vorbei. Günter beobachtet über den Rand seiner Brille hinweg, wie bunte Tüten gegen ihre Beine schlagen. Eine Frau in einer blauen Steppjacke bleibt stehen – nur ein paar Schritte von Günter entfernt. Sie tippt mit angestrengter Miene auf ihrem Smartphone herum. Dabei fällt ihr eine dunkle Haarsträhne ins Gesicht. „N‘ paar Daten zum Mitnehmen, ganz ohne Technik?“, ruft Günter ihr zu. Seine Stimme ist tief und rau, aber dennoch unaufgeregt. Die Frau schreckt kurz zusammen. Sie blickt auf, peinlich berührt. Eilig läuft sie an Günter, dem Mann in der roten Weste, vorbei, den Blick weiter starr aufs Display gerichtet. Ihre Absätze klackern auf dem Pflaster. Günter schaut ihr nicht lange hinterher. Er kennt das, dass Leute ihn bewusst aus ihrer Wahrnehmung aussperren. Seit fast 20 Jahren verkauft der 49-Jährige das Straßenmagazin Bodo in der Dortmunder Innenstadt. „Die meisten Leute reagieren nach dem Schema ‚Ja, lassen wir den mal machen‘ und gehen an mir vorbei, mit ‘nem Grinsen oder auch nicht.“ Günter stößt die schwere Tür zum Café

Situationen ein kleines Einkommen, eine Beschäftigung und einen Lebensinhalt zu bieten. Die Verkäufer leben an der Armutsgrenze. Viele haben keinen festen Wohnsitz, schlafen bei Freunden oder in sozialen Einrichtungen, einige leben auf der Straße. Günter hat ein Dach über dem Kopf, eine Adresse, einen strukturierten Alltag. Als er 1994 zu Bodo kam, war das anders. Günter ist in Dortmund aufgewachsen. Schon früh plagten gesundheitliche Probleme den ausgebildeten Maler, Lageristen und Schlosser. Schulden und eine Scheidung samt Sorgerechtsstreit warfen ihn vor mehr als 20 Jahren aus der Bahn. Günter musste die gemeinsame Wohnung verlassen, ohne die Frage nach dem „Wohin?“ beantworten zu können. Die Konsequenz? „Ich hab‘ Platte gemacht und am Kanal geschlafen. In einem Zelt“, erzählt Günter und umschließt den Kaffeebecher fest. An fast jedem Finger trägt er einen Ring, an der einen Hand silberne, an der anderen goldene. Wenn er von seiner Zeit auf der Straße spricht, verwendet er kurze Sätze, Details vermeidet er. Damals hatte sein Alltag keine Struktur, fast zwei Jahre lang. Bis Günter von einem Bodo-Verkäufer angesprochen wurde. Zu diesem Zeitpunkt gab es den Verein noch nicht einmal ein halbes Jahr. Günter nahm die Chance auf Veränderung, Selbstbestimmung und ein Einkommen wahr – und die ersten Zeitschriften mit. „Gemeinsam mit meiner besseren Hälfte habe ich mich dann aus der Scheiße gezogen“, sagt er. *Nachname der Redaktion bekannt


Ihm und seiner neuen Partnerin gelang es, eine kleine Wohnung im Kreuzviertel zu mieten. Dort wohnen sie auch heute noch. „Ein Bodo-Verkäufer, der im Kreuzviertel wohnt, das erwartet man auch nicht unbedingt, hm?“, sagt Günter und schmunzelt. Kontakte zu Menschen, die „Platte machen“, hat er immer noch. Günter will ihnen helfen. So erklärt er ihnen den Umgang mit Computern, damit sie ihre Dokumente abspeichern können. „Dann müssen die nicht mit einem Aktenschrank durch die Gegend rennen, sondern haben alles auf ‘nem Stick oder einer CD“, erklärt Günter, während er viel Zucker in seinen Kaffee rührt. Außerdem hat er im Mansardenzimmer seiner Wohnung ein Bett aufgestellt, in dem gelegentlich Obdachlose übernachten. Vor zwei Jahren entdeckten Günter und seine Partnerin außerdem einen kleinen Wohnwagen im Internet – und kauften ihn für wenig Geld. „Der war fast leer. Den haben wir dann umgerüstet, mit Solarzellen, sodass er ohne externe Energie funktioniert. Und jetzt lassen wir Leute drin pennen“, erzählt Günter und zeigt stolz Fotos, die er auf dem Handy gespeichert hat. Aus dem kahlen Vehikel ist ein Zufluchtsort geworden, den bereits vier Obdachlose phasenweise in Anspruch genommen haben. Geld verlangt Günter dafür nicht, seine sozialen Aktivitäten finanziert er durch den Verkauf der Bodos. Wie viele Zeitschriften er im Monat durchschnittlich aus der Plastiktüte zieht und mit einem milden Lächeln einem neuen Besitzer überreicht, verrät er nicht. Nur so viel: „Ich finanziere mir damit einen Großteil meines Lebensunterhaltes und lebe nicht auf Steuergelder.“ Günter gibt gerne, obwohl er nicht viel besitzt. Am Ende des Interviews besteht er darauf, beide Becher Kaffee zu bezahlen. Zurück auf dem Westenhellweg. Zielgerichtet mischt sich Günter unter die Passanten, die von Geschäft zu Geschäft, von der Bahnstation zum Büro laufen. „Wer will Stoff kaufen? Lesestoff zu verkaufen!“ Schüchtern ist Günter nicht. Für seine zum Teil provokanten Sprüche ist er mittlerweile bekannt. „Hält länger als ‘ne Zigarette“ frotzelt er, als er ein paar Raucher sichtet. Doch heute ist Montag

und montags läuft es nicht gut. Außerdem ist Januar, ein schwieriger Monat für Günter – und das liegt nicht nur an den Rechnungen im Briefkasten. Das graue Wetter drückt auf die Stimmung der Menschen und damit auch auf die Verkaufszahlen. Bleiben am Ende des Monats Zeitschriften übrig, kann Günter bis zu 20 von ihnen gegen die neue Ausgabe eintauschen. An diesem Vormittag wechseln nur wenige Zeitschriften den 30

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Besitzer. Eine ältere Frau mit Dauerwelle und leuchtendem Lippenstift verstaut ein Exemplar in ihrer Handtasche, ein junger Mann mit Mütze und markanter Brille klemmt sich eine unter den Arm, ehe er zur U-Bahnstation hastet. Dass sie ihm die Bodo nur aus Mitleid abkaufen, um sie dann ungelesen in den Papierkorb zu werfen, glaubt Günter nicht: „Bei mir nicht. Ich mag diese Schnorrer-Variante nicht. Ich stehe hinter der Sache und gebe den Leuten damit keinen Grund,


Ich mag diese Schnorrer-Variante nicht.

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Wer ist Bodo? aus Mitleid zu kaufen.“ Viel eher sieht er sich mit Unverständnis konfrontiert: Den Satz „Geh‘ doch mal arbeiten!“ hört Günter immer wieder. Verstehen kann er diese Bemerkung, mal offen geäußert, mal abfällig geraunt, nicht. „Das hier ist Arbeit.“

tenhellweg mit seinen Zeitschriften. „Mir bleibt ja nichts anderes übrig.“ Günter weiß, er wird nicht wieder ins „normale“ Berufsleben einsteigen können. Auch der Schuldenberg von mehreren zehntausend Euro wird immer einen langen Schatten werfen.

Zehn bis zwölf Stunden am Tag ist er mit seinen Bodos unterwegs. Auch bei Wind und Regen. Wo sich Günter in seiner Zukunft sieht, in 20 Jahren etwa? Am Wes-

Für Günter gibt es nur einen Ort, wo er mit dieser Gewissheit leben kann. In der Gegenwart – und zwar mit seinen Buchstaben zum Mitnehmen in der Hand. 31

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Bodo e.V. ist ein gemeinnütziger Verein, der sich durch Spenden finanziert und monatlich in Dortmund und Bochum das Straßenmagazin Bodo veröffentlicht. Das Magazin hat eine Auflage von 20.000 Exemplaren. Günter ist nicht nur Verkäufer, sondern auch Stadtführer: An jedem zweiten Samstag im Monat zeigt er im Rahmen einer sozialen Stadtführung, wie Obdachlose Dortmund wahrnehmen. Mehr Informationen: www.bodoev.de


Ich druck mir die Welt wie sie mir gefällt Eine Waffe ausdrucken, eine neue Niere oder gar einen Menschen? Eigentlich unvorstellbar. Ein neuer Technik-Trend macht das nun möglich – vielleicht auch schon bald für zu Hause. 3D-Drucker könnten den Alltag revolutionieren. TEXTalina fuhrmannFotosstina berghaus

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ühle, weiße Wände, helles Licht und leise Maschinengeräusche. Es riecht klinisch steril, Haarnetze rascheln leicht über den Ohren: ein Labor an der Dortmunder Universität. Zwischen vielen großen Apparaturen steht ein kleines eckiges Gerät, daneben ein Computer. Dieses kleine Gerät ist der 3D-Drucker der TU Dortmund. Der derzeit einzige Stereolithografie-Drucker der Uni befindet sich seit Anfang vorigen Jahres im Labor der Mikro- und Nanotechnik. Er soll vor allem Projektgruppen der Universität helfen, neue Geräte, wie zum Beispiel Sensoren, besser zu verstehen. So ein 3D-Drucker kann auf den ersten Blick nämlich viel mehr als das Wort „Drucker“ vermuten lässt. Einer der beiden Hauptbestandteile ist der Drucker – also die Maschine, die dreidimensionale Stücke aller Art in Schichten aufbaut. Dazu kommt ein Computer, an dem das Modell grafisch erstellt wird. Stereolithografie bedeutet in diesem Fall, dass ein Beamer flüssiges Kunstharz belichtet und Modelle aus diesem Kunstharz-Bad schichtweise herausgezogen werden. Auf diese Art kann alles gedruckt werden – sogar Lebensmittel. Diese stehen noch nicht im Supermarkt, da sie die Nährwertvorschriften nicht erfüllen, sie sind aber auch nicht giftig. Ebenso wurden Waffen und Organe schon versuchsweise „gedruckt“. Mit ersten Prototypen von

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Gewehren kann schon geschossen werden, ihre Produktion ist jedoch verboten. Gedruckte Organe müssen hingegen noch weiterentwickelt werden, um den erforderlichen Belastungen standzuhalten.

Düsseldorfer Firma druckt 3D-Doppelgänger Da mit dem Drucker an der Uni vor allem geforscht und nichts produziert wird, haben die Studenten sich für einen individuell an ihre Bedürfnisse angepassten Bausatz entschieden. „Um warm zu werden, haben wir erst einmal einfache Modelle wie einen Eiffelturm oder einen Dinosaurierkopf gedruckt“, erklärt Student Christian Asbeck. Gedruckt werden könne aktuell nur mit Kunststoffen, an Metalle wolle man sich bald heranwagen. Anfangs seien viele Versuche fehlgeschlagen, bei einem Flugzeug brachen beispielsweise Teile ab. „Die theoretische Planung lässt sich nicht so einfach auf die Praxis übertragen“, sagt Asbeck. Nicht nur die Anwendung, auch der Standort des Druckers ist speziell. Er steht in einem durch Schleusen abgeriegelten Labor mit ReinraumAtmosphäre, damit kaum Staub den Druckprozess behindert. In diesem Raum herrscht OP-Atmosphäre: Schutzanzug, Schuhüberzieher, Haarnetz und Handschuhe sind Pflicht, um möglichst keine Staub-Partikel hineinzutragen. „Der

Mensch ist immer noch der schlimmste Schmutzfink“, sagt Dr. Klaus Kallis, der Technologieleiter des Instituts. Auch die Firma DOOB arbeitet mit 3D-Druckern. In ihren aktuell fünf 3DScanning-Filialen druckt die Düsseldorfer Firma dreidimensionale Doppelgänger. Kunden können ihr Abbild – auf Wunsch auch Hunde oder Kinder – aus gipsbasiertem Material fertigen lassen. Im Hauptbetrieb in der Düsseldorfer Altstadt steht der erste Prototyp des eigens entwickelten Scanners. Er wird für das Tagesgeschäft genutzt, in dem die Kunden dreidimensional digitalisiert werden. Den weltweit ersten mobilen Fotogrammetrie-Scanner hat das Unternehmen im Oktober präsentiert, er ist effizienter und einfacher zu bedienen und soll für ein optimiertes Scanning eingesetzt werden.

Figuren wirken wie greifbare Fotos Der erste Schritt zum Mini-Ich führt in ein beduinenähnliches Zelt im Keller der Firma, dem Scanner. In 0,01 Sekunden nehmen 40 Sensoren Bilder auf, die aus einer Foto- und einer 3D-Komponente bestehen und direkt an die eigenentwickelte Software weitergeleitet werden. An dieser Stelle beginnt die Arbeit der 3D-Experten. Sie bearbeiten die Bilder und wandeln sie zu einem druckbaren 33

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Datensatz um. Alles soll möglichst echt aussehen. Der Datensatz wird dann an 3D-Farbdrucker weitergeleitet und mit einer Auflösung von 4096 x 2304 Pixeln gedruckt, was im Verhältnis der Auflösung eines HD-Fernsehers entspricht. Nach einigen Wochen hält man das Ergebnis in den Händen: eine zehn Zentimeter bis lebensgroße Figur. Die wirkt wie ein greifbares Foto durch ihre Details, wie beispielsweise Farbgenauigkeit, Falten in der Kleidung und die Haare. In Zukunft sollen weitere Projektgruppen der TU Dortmund den Drucker weiterentwickeln. Das Fernziel ist das Eindrucken von Computerchips im Gehäuse. Da man sich nicht mehr mit der klassischen Aufbau- und Verbindungstechnik auseinandersetzen muss, stellt das Druckverfahren eine große Zeitersparnis und eine präzisere Produktion sicher. Auch die Mitarbeiter der Firma DOOB haben Visionen: In fünf bis zehn Jahren, glauben sie, wird die 3D-Technologie aus Industrie und Alltag nicht mehr wegzudenken sein. Dr. Klaus Kallis, Technologieleiter der TU, gibt der Entwicklung ein bisschen mehr Zeit: „Sie kommt ganz sicher auf uns zu. Ich bin 41 und denke nicht, dass ich sie noch erlebe.“ Wann die Visionen Realität werden, sei eben nicht nur eine Frage der Zeit, sondern auch der finanziellen Förderung.


EINFACH MAL WEITERFASTEN Die Fastenzeit ist rum, die Schoko-Osterhasen sind vertilgt und schon sitzen Hemd und Hose wieder bedrohlich eng. Glaubt man der Werbeindustrie, hilft dagegen nur eine Diät. Ernährungsberaterin und Professorin für Ernährungsmedizin, Heike Englert*, gibt Tipps zu gesundem Essen. TEXTLAURA BETHKE ILLUSTRATIONANJA KNAST

AUSGEWOGEN

MITTEL

EINSEITIG

Abnehmpulver als Mahlzeitenersatz Meist bestehen die Pulver aus Soja, Joghurt und Honig. Angerührt mit Wasser, sollen in den ersten Tagen ausschließlich die Shakes getrunken werden. Das wird Schritt für Schritt reduziert, bis am Ende ein Shake-Tag pro Woche bleibt. Die Experten-Meinung: „Vor allem für stark Übergewichtige ein guter Start, um sich an reduzierte Kalorien zu gewöhnen und schnell Ergebnisse zu sehen. Dennoch ist die Gefahr des Jojo-Effekts nach Absetzen der Shakes groß.“

Rohkost Bei der Rohkost-Ernährung wird komplett auf erhitzte Lebensmittel verzichtet. Demnach werden nur Lebensmittel gegessen, die roh genießbar sind. Hauptsächlich sind das Obst, Gemüse, Beeren, Pilze und Nüsse. Ziel ist es, die Antioxidantien (Radikalfänger, die Zellen schützen) in den Lebensmitteln zu erhalten, die durch Erhitzen beschädigt werden. Die Experten-Meinung: „Eine rohe Ernährung verlangt viel Disziplin und ausschließlich hochwertige Produkte. In der Medizin zeigt die Umstellung auf Rohkost gute Erfolge, im Alltag eines Studenten ist dies allerdings aus Kosten- und Zeitgründen kaum umzusetzen.“

Brigitte-Diät Die Brigitte-Diät ist eine kalorienreduzierte Mischkost, bei der fünf kleinere Mahlzeiten und maximal 1500 Kalorien täglich aufgenommen werden sollen. In der Zeitschrift Brigitte finden sich zahlreiche Rezepte dazu zum Nachkochen. Die ExpertenMeinung: „Die Brigitte-Diät ist fettarm und ausgewogen. Die Rezeptvorschläge helfen und sind eine Alternative zum aufwendigen Kalorienzählen.“

Schlank-im-Schlaf Das Schlank-im-Schlaf-Konzept sieht drei klare Regeln vor: morgens ein kohlenhydratreiches Frühstück, abends keine Kohlenhydrate und sowohl zwischen Frühstück und Mittagessen als auch zwischen Mittag- und Abendessen müssen Pausen von vier bis fünf Stunden liegen. Die Experten-Meinung: „Die Schlank-im-SchlafDiät hat im Prinzip gute Ansätze und die Pausen von vier bis fünf Stunden erleichtern die Kalorienreduktion. Die Jojo-Gefahr ist jedoch groß, da ein dauerhafter Verzicht auf Kohlenhydrate am Abend schwer umsetzbar ist.“

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Paläo-Diät Sie wird auch Steinzeit-Diät genannt. Angelehnt an die Ernährung in der Steinzeit werden hauptsächlich Fleisch, Gemüse, Obst, Beeren, Nüsse und Kerne verzehrt. Die Experten-Meinung: „Von der Grundidee ist Paläo eine gute Ernährung, die auf hochwertige Produkte ohne chemische Zusätze Wert legt. Es sollte allerdings auf ausreichende Kohlenhydrate geachtet und nur qualitativ hochwertiges Fleisch verzehrt werden. Das passt meist nicht zum studentischen Geldbeutel.“

Low Carb Der Kerngedanke besteht darin, keine Kohlenhydrate zu essen und sich fett- und eiweißreich zu ernähren. Dabei sind Kohlenhydrate wie Kartoffeln, Nudeln und Brot tabu. Die Experten-Meinung: „Wenig ausgewogen, sehr extrem, daher kaum durchzuhalten.“

FDH Die Friss-die-Hälfte-Diät folgt einem simplen Prinzip. Man reduziert die Mahlzeiten mengenmäßig um die Hälfte, dadurch werden automatisch weniger Kalorien aufgenommen. Die Experten-Meinung: „Keine langfristige Lösung, aber für den Anfang kann es klappen. Wichtig ist auch hier, die Lebensmittel mit Bedacht zu wählen und auf ballaststoffreiche Kohlenhydrate und hochwertige Eiweiße zu achten, um nicht hungern zu müssen. Die Jojo-Gefahr ist hoch, kann aber durch langsame Steigerung der Kalorien gemindert werden.“

Fasten Beim Heilfasten wird bis zu zwei Wochen auf feste Lebensmittel verzichtet und es werden frisch gepresste Säfte, Brühen und Tees verzehrt. Dadurch soll vor allem der Körper gereinigt werden. Die Experten-Meinung: „Heilfasten kann psychisch und physisch eine sehr gute Wirkung haben und helfen, den eigenen Körper wahrzunehmen. Sich vorher gründlich zu informieren ist allerdings Pflicht!“

Vegetarismus

Veganismus

Vegetarier verzichten auf Lebensmittel, die Substanzen von toten Tieren enthalten. Dazu gehören Fleisch, Fisch und Gelatine. Die Beweggründe, sich vegetarisch zu ernähren, können ethischer oder gesundheitlicher Natur sein. Vegetarismus ist ähnlich wie die Rohkost-Ernährung und Veganismus ein gewählter Lebenswandel. Die Experten-Meinung: „Vegetarier zu sein heißt noch lange nicht, sich gesund zu ernähren. Achtet der Vegetarier allerdings auf ausreichend Obst und Gemüse und pflanzliche Eiweiße wie Hülsenfrüchte, kann Vegetarismus eine gesunde Lebensform sein und man kann unnötige Pfunde loswerden.“

Zusätzlich zum Verzicht auf Fleisch und Fisch verzichten Veganer auf sämtliche tierische Erzeugnisse wie Milch und Milchprodukte, Eier und Honig. Die Entscheidung beruht in der Regel auf ethischen Bedenken, aber auch auf gesundheitlichen, da viele tierische Produkte Antibiotikum enthalten sollen. Die ExpertenMeinung: „Da Veganismus häufig mit einem großen Interesse an Lebensmitteln einhergeht, ernähren sich Veganer oft ausgewogen und essen viel Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte, das macht sich auch auf der Waage bemerkbar. Bei langjährig veganer Ernährung kann es zu einem Vitamin-B12-Mangel kommen, der durch das Einnehmen von wasserlöslichen Vitaminpräparaten bedenkenlos vermieden werden kann.“ * Auf Seite 12 spricht Heike Englert über Kaffee und andere Wachmacher.

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Kompliment oder Kekse Diäten spielen für Clara* eine große Rolle. Sie kennt die meisten, hat einige ausprobiert und den Jojo-Effekt am eigenen Leib erfahren. Doch sie hat nicht aufgegeben und kämpft gegen ihre Kilos – mit Erfolg. TEXTLAURA BETHKE ILLUSTRATIONANJA KNAST

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ass die Pfunde nicht leicht purzeln und eine Diät nicht immer einfach ist, weiß die 24-jährige Studentin Clara, die seit der Grundschule stark übergewichtig ist. „Das Schlimmste war, immer auf das Übergewicht reduziert zu werden. Das war das erste, was den Leuten zu mir eingefallen ist: ‚Die dicke Clara’“, sagt sie. „Ich habe mich oft schlapp gefühlt und war nach dem Treppensteigen aus der Puste.“ Besonders die gesundheitliche Belastung durch die überflüssigen Pfunde muss ein Ende haben, findet sie. Heute ist das anders, denn Clara hat den Kampf gegen ihre Kilos vor vier Jahren eröffnet. 120 Kilogramm: Das war ihr Startgewicht. Dass sie sich überhaupt zu einem kostenpflichtigen Abnehmprogramm mit wöchentlichen Treffen traute, verdankt sie ihren Freunden. Als eine Freundin sich mit ihr zusammen bei dem Programm, das auf dem Zählen von Punkten basiert, anmeldete, packte Clara der Ehrgeiz. „Früher habe ich mich selbst ausgetrickst, habe mir den Schokoriegel schöngeredet. Dann hat es Klick gemacht und ich habe gemerkt, dass man sich nicht selbst austricksen kann. Ich habe erst durch das Punktezählen gelernt, was bewusste Ernährung heißt und wie die einzelnen Lebensmittel im Verhältnis zueinander stehen. Die Punkte für die

einzelnen Lebensmittel habe ich noch heute im Kopf“, erzählt sie mit einem Grinsen. Nach nur sechs Monaten waren zwölf Kilogramm weg und sie fühlte sich so wohl wie nie. Doch dann kamen die dunklen Monate des Winters, überall die Verführungen der Weihnachtszeit. Und anstatt weiter zu sinken, kletterte die Zahl auf der Waage langsam wieder. „Es war ein Teufelskreis, ich bin nicht mehr zu den Treffen gegangen, habe gedacht, ich schaffe es allein und habe mich auf den Komplimenten von anderen ausgeruht. Das war ein großer Fehler, wie ich heute weiß“, berichtet Clara. So war sie etwa ein Jahr später wieder da, die gefürchtete Zahl, 120 Kilogramm. Für Clara war klar: „So kann es nicht bleiben.“ Und auch der zweite Anlauf, den sie im Januar 2014 begann, wurde durch eine gute Freundin initiiert. Clara erklärt: „Mit jemandem, der auch etwas mehr auf den Hüften hat, kann ich da viel besser drüber reden. So auch meine Freundin hier in Dortmund, sie hat mich verstanden und wir haben uns gegenseitig motiviert.“

23 Kilogramm sind runter und weitere sollen folgen. „Ich habe meine eigene Methode gefunden, versuche abends auf Kohlenhydrate zu verzichten, aber esse gerne nach dem Mittagessen einen Schokoriegel“, sagt sie und schlürft an ihrem Latte Macchiato, den sie sich gerne mal gönnt. Ihre erste Erfahrung mit dem Abnehmen kommt Clara beim jetzigen Anlauf zugute, denn sie kennt ihren Körper und ihre Schwächen. „Heute höre ich auf meinen Körper und durch die Ernährungsumstellung und den Sport sehe ich schnelle Ergebnisse, das motiviert. Und mal ehrlich, ein Kompliment wiegt tausend Mal mehr als eine Tafel Schokolade“, sagt Clara mit einem Lächeln. Jetzt ist die Zahl 100 auf der Waage der neue Feind und es soll weiter nach unten gehen: Claras Wunschgewicht sind 80 Kilogramm. „Das ist bei einer Größe von 1,65 Metern kein Modelgewicht, aber das will ich auch gar nicht. Ich will einfach nicht mehr so viel über Essen nachdenken müssen und es genießen“, sagt Clara und verabschiedet sich damit zum Zumba. Damit die Kilos weiter schmelzen ... *Name von der Redaktion geändert

Dieses Mal klappte es mit Sport als Unterstützung. Nach den dunklen Monaten steigt Clara jetzt gerne auf die Waage. 36

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ABGEFAHREN ABGEFAHREN Ihr wollt Kultur, Action und Abenteuer? Wir gehen mit dem NRW-Ticket bis ans Limit und nehmen euch mit auf eine Reise durch das Ruhrgebiet und darüber hinaus. Diesmal: Kinowissen erweitern in Düsseldorf. TEXT&FOTOSRICARDA DIECKMANN

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m Kindergarten habe ich Daumenkinos gebastelt. Zur Cineastin bin ich dadurch nicht geworden: Während andere in jeder Situation das passende Filmzitat parat haben, kann ich den Satz „Mein Baby gehört zu mir“ gerade noch dem Film Dirty Dancing zuordnen. Selbst der absolute Film-Klassiker Titanic ist bisher komplett an mir vorbeigegangen. Mein Kinowissen ist also ausbaufähig – und genau deshalb gehe ich in das Filmmuseum in Düsseldorf. „Träume zu verkaufen“ steht in pinken Leuchtbuchstaben an der Wand. Das passt, denke ich. Denn geht man nicht ins Kino, um den eigenen Alltag gegen bunte Bilder aus einer anderen Welt einzutauschen? Ich spaziere an opulent bestickten Märchenfilm-Roben vorbei. Mein Blick bleibt an einer rot-weißen Trommel hängen, die zwischen all’ den Kostümen deplatziert wirkt. Ein Schild klärt auf: Es ist die Blechtrommel, der Titelstar der Grass-Verfilmung. Nur wenige Schritte weiter steht ein rekonstruiertes Wanderkino mit einer verzierten Holzfassade. Ich gehe hinein und bin beim Anblick der Metallstühle froh, dass heutzutage weiche Sessel der Standard sind. Aufwendige Produktionen in 3D sind heute ebenfalls normal. Die räumliche Darstellung faszinierte die Menschen aber schon im Jahre 1830, wie mir ein sogenannter Guckkasten zeigt. Das ist eine Konstruktion aus Holz, in die mehrere Linsen eingearbeitet sind. Ich schaue hin-

durch und blicke in einen prunkvollen, dreidimensionalen Palast. Gut, mit einem Kinoerlebnis samt 3D-Brille auf der Nase und Popcorntüte in der Hand kann das nicht mithalten. Dass der Guckkasten früher auf Jahrmärkten die Attraktion war, kann ich aber dennoch verstehen. Denn vor mehr als 200 Jahren hatten die Menschen kaum Zugang zu Bildern, die fremde Orte, Situationen und Ereignisse zeigten. Auf vier Etagen präsentiert das Filmmuseum historische, gesellschaftliche und technische Aspekte zum Thema „Kino“. So erfahre ich, dass für einen anderthalbstündigen Animationsfilm fast 130.000 Einzelbilder zusammengeschnitten werden. Apropos Einzelbilder: Die Dauer-

ausstellung zeigt auch Daumenkinos. Sie sehen deutlich professioneller aus als die, die ich als Kind gebastelt habe. Mein Highlight wartet ganz oben: eine alte Passfoto-Kabine, die ein Künstler zu einem kleinen Kino umgestaltet hat. Im Programm? Diverse Klassiker der Filmgeschichte, die jeweils auf zeitsparende zwei Minuten zusammengeschnitten wurden – perfekt um meine Bildungslücken zu schließen. Titanic steht zwar nicht zur Auswahl, dafür schaue ich mir Casablanca im Schnelldurchlauf an. Und Blade Runner. Als ich das Filmmuseum verlasse, bin ich zwar keine lebende Filmzitate-Datenbank, habe aber einen Vorsatz gefasst: Ich will häufiger ins Kino gehen - dorthin, wo es Träume zu kaufen gibt.

Wo? Wann? Wie teuer? Ort: Filmmuseum Düsseldorf, Schulstraße 4 Anfahrt: RE1/RE6 bis Düsseldorf Hauptbahnhof, mit U-Bahn/Straßenbahn/Bus zur Station „Heinrich-HeineAllee“, von dort 10 Minuten Fußweg Öffnungszeiten: Dienstag sowie Donnerstag bis Sonntag von 11 bis 17 Uhr, Mittwoch 11 bis 21 Uhr Eintritt: Studenten zahlen 2,50 Euro Weitere Infos: www.duesseldorf.de/ filmmuseum 37

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HINGESCHAUT Hier kann jeder einmal Filmkritiker sein: Beim Kurzfilm-Slam in Herne wählt das Publikum die besten Beiträge aus – und die Regisseure sehen sofort, wie ihre Werke bei den Zuschauern ankommen. TEXTJOHANNES HÜLSTRUNG FOTOMIRIAM WENDLAND

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m Kinosaal des „kleinen theater herne“ stellen zehn Nachwuchs-Filmemacher dem Publikum ihre Kurzfilme unterschiedlicher Genres vor. Nachdem sich der Vorhang geschlossen hat, gehen die Zuschauer aber nicht wie sonst üblich nach Hause. Auf einem Bewertungszettel können sie für jeden Film einen bis zehn Punkte vergeben. Die drei beliebtesten Beiträge stehen am Ende als Gewinner fest. Das ist das Konzept des Kurzfilm-Slams. Die Idee dazu entstand, weil sich die Veranstalter über die mangelnde Vielfalt in den deutschen Kinos ärgerten. „Sozialkritische Stoffe stehen in Deutschland ganz oben und verstopfen alle für Filmemacher wichtigen Stellen. Es gibt kaum deutsches Genre-Kino, höchstens ein paar erfolgreiche Komödien“, beklagt Thorsten Schade, der den Kurzfilm-Slam gemeinsam mit Filmemacher-Kollege Markus Busch und Thorsten Zigann vom „kleinen theater herne“ organisiert.

„Der Kinozuschauer schaut zum Großteil amerikanisch. Dabei gibt es bei uns viele talentierte Filmemacher, die auch gutes Genre-Kino machen könnten, wenn man sie nur ließe“, ist Schade überzeugt. Eben diesen Filmemachern bietet der Slam die Gelegenheit, sich selbst und ihre Arbeiten auf der Kino-Leinwand vorzustellen. Dabei können sich die Regisseure in allen erdenklichen Bereichen ausprobieren: Beim ersten KurzfilmSlam reichte das Spektrum von Thriller und Horror über Film noir bis hin zur schwarzen Komödie. „Wir freuen uns auch über Action, Sci-Fi, Western und vieles mehr“, sagt Schade. Die Veranstalter wollen mit dem Slam dazu beitragen, der Tradition des deutschen Genre-Kinos zu einer Wiedergeburt zu verhelfen. Denn in Deutschland wurden gerade in den 1920er Jahren Meilensteine der Filmgeschichte produziert, sagen Schade und seine Mitstreiter. „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von Ro-

bert Wiene begründete das Horror-Kino, Fritz Langs „Metropolis“ den ScienceFiction-Film. In den 60ern setzten dann Verfilmungen von Karl May und Edgar Wallace neue Maßstäbe in den Sparten Western und Krimi. Neben der GenreVielfalt bietet auch die an das Konzept des Poetry-Slams angelehnte Punktebewertung einen besonderen Reiz. Die Zuschauer haben Spaß daran, einen Sieger küren zu dürfen; die NachwuchsRegisseure freuen sich über das direkte Feedback, sagt Thorsten Schade. „Hier entscheidet keine Jury über Erfolg oder Misserfolg eines Films, sondern allein der Geschmack der Zuschauer.“ Die drei Gewinner erhalten eine Trophäe. Und die Filmemacher, die es nicht unter die ersten Drei schaffen, können es beim nächsten Mal wieder versuchen: „Wenn der zweite Termin so erfolgreich ist wie der erste, wird der Slam auf jeden Fall fortgesetzt“, so Schade.

Was? Wo? Wann? Wie teuer? Was? Zehn maximal 20-minütige Kurzfilme verschiedener Genres, die Zuschauer wählen die drei Gewinner Wo? „kleines theater herne“, Neustraße 67, Herne Wann? Freitag, 8. Mai Wie teuer? 9,50 Euro Weitere Infos: theater-herne.de 38

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Impressum

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Herausgeber Institut für Journalistik, TU Dortmund

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Redaktionsleitung Sigrun Rottmann Redaktion Uni-Center, Vogelpothsweg 74, Campus Nord, 44227 Dortmund Tel.: 0231/755-7473, post@pflichtlektuere.com Redaktionsassistent Christian Kleber Chefin vom Dienst Julia Knübel Textchef Victor Fritzen

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Fotoredaktion Stina Berghaus, Christiane Reinert, Miriam Wendland Illustrationen & Zeichnungen Alina Fuhrmann, Anja Knast, Florian Kreutzer, Pierre Paumas

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Projektleitung Dr. phil. Marco Dohle (ViSdP)

Layout & Grafik Sarah Breidenstein, Mareike Fangmann, Ramesh Kiani, Tobias Kreutzer, Martin Schmitz, Philipp Ziser Redakteure und Reporter Lisa Bents, Laura Bethke, Ricarda Dieckmann, Jana Fischer, Annika Frank, Alina Fuhrmann, Kristina Gerstenmaier, Lucas Gunkel, Rebecca Hameister, Luisa Heß, Johannes Hülstrung, Julia Körner, Tobias Kreutzer, Anna-Christin Kunz, Stefanie Luthe, Moritz Makulla, Lara Malberger, Christoph Peters, Philipp Rentsch, Michael Scheppe, Helene Seidenstücker Das Grafikteam dankt ... ... Mareike für all die Harmonie, dem Techno-Krümelmonster, dem Mittelfinger von Yanis Varoufakis, dem deutschen StraßennamenBenennungsverordnungs-Erfinder-Gremium und Ricarda für das beste Foto aller Zeiten! Druck Hitzegrad Print Medien & Service GmbH Auf dem Brümmer 9 44149 Dortmund

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