Theodor W. Adorno (1903–1969)
Form in der neuen Musik (1965) Für Pierre Boulez
Der Begriff der Form bezieht sich, als ästhetischer, auf alles Sinnliche, wodurch sich der Gehalt eines Kunstwerks, das Geistige des Gedichteten, Gemalten, Komponierten verwirklicht. Form unterscheidet sich von dem, was geformt wird, Inbegriff dessen, was es zu Kunst überhaupt macht; der Momente insgesamt, durch welche ein Kunstwerk als ein in sich Sinnvolles sich organisiert. Demgegenüber ist die Bedeutung des Wortes Form in der Musik herkömmlicherweise prägnanter, enger. Sie erstreckt sich auf die in der Zeit sich realisierenden musikalischen Verhältnisse. Vorab wird dabei an die Artikulation ausgedehnterer Zusammenhänge gedacht. Diese reichen jedoch, wie allbekannt, bis in die kleinsten Zellen des zeitlich sich Ereignenden, Thema und Motiv, hinein. Der schul mäßige Gebrauch des Wortes Formenlehre, der zunächst Typen wie Lied, Variation, Sonate, Rondo, allenfalls auch Fuge gilt, genügt, die engere Bedeutung von Form zu demonstrieren. Jener Sprach gebrauch hat seinen Grund in der Sache. Was man in der Musik, und nicht nur dem Unterricht zuliebe, unter Form verstand, mehr oder minder verbindliche Schemata, innerhalb derer die Komponisten sich ergingen, waren in weitem Maß solche der zeitlichen Ordnung. Andere Dimensionen, wie Melodiebildung und Harmonik, waren zwar ebenfalls durch allgemeine Kategorien geprägt. Aber daraus war ein konkreter Vorrat spielmarkenähnlicher Mittel geworden, die man handhabte; Form verfügte über sie gleichwie über ein M aterial.
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