Passeirer Blatt

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Nr.4 MITTEILUNGEN UND NACHRICHTEN AUS MOOS, ST. LEONHARD UND ST. MARTIN

MllTEILUNGEN UND NACHRICHTEN AUS 15. Jahrgang – Nr. 35 MOOS, ST. LEONHARD UND ST. MARTIN

Erinnerungen ...

(Folge 1) Von den Taten großer Staatsmänner, Feldherren, Wissenschaftler und Künstler haben wir alle in den Schulbüchern gelesen. Vom abwechslungsreichen Leben der kleinen Leute wissen wir oft wenig, außer von den eigenen Erfahrungen und von denen unserer Verwandten, Bekannten und Freunde. Nur selten greifen wir zur Feder, um Freud und Leid des Alltags zu Papier zu bringen. Eine von diesen schreibfreudigen Frauen heißt Maria Brugger (Name und Vorname wurde von der Redaktion leicht geändert), die frisch von der Leber weg erzählt. Wir bringen die Lebensgeschichte dieser ausgewanderten Passeirerin in drei Folgen im Passeirerblatt unseren Lesern zur Kenntnis. Der Autorin danken wir für die freundliche Überlassung des Manuskriptes. In einem alten Bauernhaus in St. Martin im Passeirertal wohnte eine junge Familie. Es war noch tiefe Nacht, als an jenem Lichtmeßmorgen im Jahre 1934 um fünf Uhr früh der Wecker rasselte. Die junge hochschwangere Frau wollte zur Frühmesse in die eine Stunde entfernte Kirche. Doch als sie zum Kirchgang fertig war, überkamen sie die Wehen. Als wenig später ihr Mann mit der Hebamme eintraf, hatte sie ein Mädchen geboren: mich. Ich war die Zweitgeborene des Ehepaars Franz und Filomena Brugger. Am darauffolgenden Tag wurde ich auf den Namen Maria getauft. Schon mein zweiter Lebenstag war rauh. Nachdem mein Vater mich in ein Federpolster gepackt hatte, trat er bei eisiger Kälte mit der Taufpatin den weiten Weg zur Kirche an. Als ich wieder zu meiner Mutter zurückgebracht wurde, war ich blau gefroren. Meine Mutter hatte als Halbwaise eine

trostlose Jugend. Als ihre Mutter starb, war sie gerade elf Jahre alt. Sie und ihre zwei kleinen Brüder bekamen eine Stiefmutter und neun Stiefgeschwister. Sie mußte dann schwerste Arbeit verrichten und wurde nur ausgenützt. Gekümmert hat sich niemand um sie. Später ging sie von zu Hause fort und verdingte sich als Magd. Da lernte sie meinen Vater kennen, der sie bald darauf heiratete. - Und damit hatte sie das große Los gezogen. Vater hatte für uns alle einen verhäng-

Dezember 1992

September 2002 6. Jahrgang nisvollen Fehler anhaften. Er war nur Ich-Mensch. Obwohl er mit fast zwei Meter Größe ein Kraftprotz war, der Bäume hätte ausreißen können, strengte er sich nie allzu sehr an. Sein gutes Aussehen wird es wohl unserer armen Mutter angetan haben. So hat er sich nur wenig um seine Familie gekümmert. Er war sich selbst am wichtigsten, vorallem durfte seine Pfeife nie kalt werden. Meine Eltern waren arme Leute. Sie wohnten in Miete, und Vater war arbeitslos. Mit Taglöhnerschichten fristeten sie den Lebensunterhalt. So kam es denn auch, daß unser Vater 1939 deutsch optiert hat. Die schönen Versprechungen begeisterten auch ihn. Beruf hatte er keinen und glaubte, in der Fremde Glück zu haben. Unsere Mutter war nicht so überzeugt. Anfang Februar 1940 kam vom Umsiedlungsamt in Innsbruck die Nachricht, daß wir auswandern müssen. Es wurde uns aber vorerst kein bestimmtes Ziel angegeben. Nur die Versprechung, daß wir ein schönes Anwesen als Pacht zugewiesen bekommen. Am 4. Februar schon warteten wir am Dorfplatz in St. Martin auf den Autobus, der uns in eine ziellose Ferne entriß. (Fortsetzung

auf Seite 2)


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