Wechselwort
AUSGABE 01/2016 KOSTENLOS
Mehrsprachiges Kulturmagazin fĂźr junge Menschen
16. SEPTEMBER 2016 • KALLASCH& • 20 UHR
MIT ANNE MUNKA (MUSIK) UND BJÖRN KUHLIGK (LYRIK) 18. NOVEMBER 2016 • KALLASCH& • 20 UHR
MIT HENDRIK OTREMBA (SONGTEXTE, PROSA) UND AISHA FRANZ (GRAPHIC NOVEL) HAUSERUNDTIGER.DE • FACEBOOK.COM/HAUSERUNDTIGER gefördert aus mitteln der senatskanzlei – kulturelle angelegenheiten und des bezirkskulturfonds mitte
Editorial „Eine fremde Sprache ist wie ein freier Raum.“ (Katja Petrowskaja) In dem Raum herrscht absolute Schwerelosigkeit. In seinem Inneren gibt es kein Halten, kein Stoppschild, keinen Kontrolleur. Und doch ist in dem Raum schon etwas. Der Raum ist eingerichtet. Die Möbel schweben um die Köpfe derjenigen, die ihn betreten. Sie stehen für die jeweilige Erstsprache. Denn eine Erstsprache ist wie eine Einrichtung. Nur im Gehirn. Sie bleibt, auch wenn man sich in fremde Sprachwelten begibt, bestehen. Wechselwort. Diese Spannung zwischen Erst- und Fremdsprache und das Gefühl beim Betreten von Sprachräumen ist das Thema der ersten Ausgabe von PAROLI. Jugendliche haben mit uns gemeinsam mit Sprache experimentiert. Wir haben unsere Worte ausgewechselt gegen andere, Bekanntes ausgetauscht gegen Neues und anders herum. Leser*innen dieses Magazins können alle sein, die sich nicht an eine Sprache klammern, die sich etwas trauten. Alle, die das Spannende an Sprache entdecken wollen oder längst entdeckt haben. Geschrieben und gestaltet haben wir dieses Magazin im Tempelhofer Jugendzentrum TIK e.V. Hier war PAROLI Teil des Kultur-Macht-StarkTalentcampus‘. Die Redaktion, das waren Jugendliche aus verschiedenen Ländern der Welt. Neben ihren Texten, Briefen und Gedichten erscheinen in dieser Ausgabe auch Interviews, eine Rezension und eine Kolumne, in denen sich die Autor*innen mit dem Vertrauten und dem Fremden in Sprachen beschäftigen. Wortwechsel. Dieser Aspekt, die Bedeutung der Erstsprache für den Zweit- und Drittspracherwerb, beschäftigt uns schon länger. Die Erstsprache als fester Bestandteil der Persönlichkeit ist sowohl Ausgangspunkt als auch Zielsetzung. Denn PAROLI will durch die Förderung und Wertschätzung der Erstsprache den Zweitspracherwerb unterstützen. Was widersprüchlich klingt, ist in Wirklichkeit essentiell und Grundlage für mehr Toleranz in gesellschaftlichen Institutionen und auf den Straßen dieses Landes. PAROLI. [esperanto: to speak, to talk] „Eine fremde Sprache ist wie ein freier Raum“. In ihm positionieren wir unsere Möbel. Was dann entsteht, ist PAROLI. Julia, Eva und Friederike
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Inhalt:
[VIEШ] [VEÑTURE] [VISIØN] [VOICЁ]
Wir...............................................................06 Wortbaukasten...........................................08
Kolumne: Sprachgefühl.............................. 11 Liebes Berlin...............................................12 Litaffin: Von den Rändern der Sprache.....13
Was siehst du, wenn das Licht angeht?....15 Lyrik.............................................................16
Im Interview: Ulrike Draesner & Katja Petrowskaja.......................................19 In sieben Jahren.........................................23
Impressum PAROLI – Mehrsprachiges Kulturmagazin für junge Menschen Herausgeber: TIK e.V. Jugendzentrum Friedrich-Franz-Straße 11b 12103 Berlin
Druck: Pinguin Druck GmbH Marienburger Straße 16 10405 Berlin Auflage: 250 Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 15. August 2016
Redaktion: Eva Maria Schneider, Julia Krautstengel Kontakt: mail@paroli-berlin.de Autoren: Alex, Ali, Atequllah, Bachtyar, Friederike Oertel, Hamed, Jawed, Lena Ljucovic, Muhammad Farho, Parviz, Ramal, Ramez, Ramin, Sami, Shna, Shaniaz, Skofi, Soheil, Layout und Gestaltung: Friederike Mühlbach Illustration: Friederike Mühlbach
Vielen Dank an:
Die Artikel und Beiträge spiegeln nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wider. Nachdruck und Vervielfältigung nur nach vorheriger Genehmigung.
WIR BETRACHTEN DAS GLEICHE UND DOCH NICHT DAS GLEICHE. WIR SEHEN DIE BEDEUTUNG VON VERSCHIEDENHEIT. WIR HABEN DIFFERENT POINTS OF VIEW. WIR BLICKEN UNS AN. SEHEN UNS IM SPIEGEL, SEHEN FREMDE GESICHTER. WIR BEOBACHTEN BRUCHSTÜCKE UND ERKENNEN DETAILS. WIR NEHMEN UNS WAHR – ALLEINE UND ALS GEMEINSCHAFT. SEHEN VERBINDUNGEN AUF DEN ZWEITEN BLICK. WIR BEOBACHTEN NOCH MEHR! WIR SCHAUEN AUF DIE STADT UND SCHAUEN ÜBER DIE DÄCHER. WIR SEHEN DIE KLEINE WELT UND UNSERE GESCHICHTEN. WIR BLICKEN AUF ABENTEUERLICHE PLANETEN. BETRETEN SIE MIT LEISEN SCHRITTEN. SIEHST DU SIE AUCH?
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Mein Name ist Ramal und ich komme aus Afghanistan. Seit Oktober 2015 wohne ich in Deutschland in der Hauptstadt Berlin. Mein Name bedeutet Romantik. Ich liebe es, in die Schule zu gehen, aber ich weiĂ&#x; nicht, was das Problem ist. Wenige Leute gehen in der Woche zur Schule. Acht Monate oder ein Jahr gehen manche noch nicht zur Schule. Ich hoffe, dass ich so schnell wie mĂśglich in die Schule gehen kann. Denn ich
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habe viele Ziele in Deutschland. Manchmal denke ich, dass ich sie nicht erreichen kann. Ich will gerne Computerwissenschaft studieren. Das liebe ich sehr. Außerdem möchte ich in der Zukunft ein guter Journalist sein. Um allen in der Community zu dienen. Ich bin 16 Jahre alt. Ich spreche Dari, Pashto, Englisch und ein bisschen Deutsch. Und ich würde es lieben Französisch, Türkisch oder Arabisch zu lernen.
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Wortbaukasten Manche Bilder gibt es auch als Satz. Findest du die Paare?
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WIR PHILOSOPHIEREN ÜBER SPRACHE. ÜBER DAS GEFÜHL SPRACHEN ZU SPRECHEN. ÜBER DAS SPRACHEN FÜHLEN. SPRACHGEFÜHL. WIR WISSEN, WAS UNSERE SPRACHEN FÜR UNS SIND. WIR SIND IN IHNEN SELBSTBEWUSST UND ÄNGSTLICH, MUTIG UND VORSICHTIG. WIR KÖNNEN VIELES IN IHNEN SEIN. WIR VERSUCHEN, UNSERE GEFÜHLE IN DEN NEUEN SPRACHEN ZU BEOBACHTEN. SCHRITT FÜR SCHRITT. IMMER WIEDER. WIR WAGEN DEN VERSUCH.
KOLUMNE: SPRACHGEFÜHL
Fol Shqip Jede fünfte Person in Deutschland hat einen Migrationshintergrund – 16 Millionen Menschen also, die möglicherweise nicht nur in einer, sondern in zwei Sprachen „zu Hause“ sind. Zwei Sprachen, das sind zwei Identitäten, zwei Kulturen, zwei Lieben. Auch Lena kennt das Gefühl. Eine Liebeserklärung ohne Worte Von Lena Ljucovic
„Ajo nuk flet më shkollë”. Das ist albanisch und bedeutet umgangssprachlich „Sie spricht grammatikalisch falsch“ oder „Sie spricht nur Bauernalbanisch“. Dieser Satz, der wörtlich übersetzt so viel heißt wie „Sie spricht nicht mit Schule“ wird von den in den Alpen lebenden Albaner*innen verwendet, um Leute wie mich zu beschreiben. Ich beherrsche die albanische Sprache nicht in ihrer grammatikalisch richtigen Form. Ich habe nur „Bauernalbanisch“ gelernt und auch das kann ich nicht richtig. Ich spreche ohne Schule, so wie diejenigen, die nie eine Schule besucht haben. Ich war aber in der Schule und ich habe sogar studiert — auf Deutsch, der Sprache, die ich mit Schule spreche. Albanisch hingegen ist die Sprache, die wir nur zu Hause gesprochen haben. Und das auch nur, wenn uns die deutschen Nachbarn nicht hören konnten. Später wollte ich es nicht mehr sprechen, weil alle meine Freundinnen Deutsche sind. Noch später, mit 15, wollte ich dann wieder die Sprache meiner Eltern sprechen, aber mein Albanisch war dann nicht mehr nur ohne Schule, sondern auch ohne Worte. Mein Wortschatz war deutlich geschrumpft. Ich fand es nicht weiter schlimm, schließlich war es ja nur die Sprache, die wir im privaten Raum sprachen und nicht weiter nützlich. Heute finde ich es schlimm. Es ist nicht nur die Sprache, die wir zu Hause sprechen, es ist die Sprache mit Zuhause. Es ist die Sprache, die ich mit kleinen Kindern sprechen möchte, in der ich häufig träume und die ich fühle. Wenn ich in Berlin in der U-Bahn sitze und jemanden auf Albanisch sprechen höre, kribbelt es in meinem Bauch. Und: Ich habe das Bedürfnis, mich als Albanerin zu erkennen zu geben. „Fol Shqip“ (Sprich albanisch) ist der Titel eines bekannten albanischen Lieds. Mein Cousin hat es mir vorgespielt. Er sagte mir, es sei an Leute wie mich gerichtet.
Ich spräche zwar ganz gut, sagte er, aber es gehe hier um viel mehr als nur Sprache. Als würde ich das nicht wissen. Ich konnte ihm nicht erklären, was in mir vorgeht, wenn ich dieses Lied höre oder wie es sich anfühlt, Menschen in Berlin, an einem Ort, an dem ich deutsch rede und schreibe, Albanisch zu hören. Ich konnte es ihm nicht erklären, weil die Sprache, mit der ich es hätte erklären können, die falsche Sprache, die deutsche Sprache, war. Nicht nur, weil er kein Wort Deutsch versteht, sondern auch, weil es einfach keine deutschen Begriffe gibt, die meine albanischen Gefühle angemessen beschreiben könnten. Wie sollte das auch gehen, wenn die deutsche Sprache doch meine Schulsprache war. Wenn ich mir vorstelle, Kinder zu haben und mit diesen auf Deutsch zu sprechen, stelle ich mir eine Form des Unterrichts vor. Wie kann aber die Zuhause-Sprache Albanisch sein, wenn ich es selbst nicht richtig spreche? Ich möchte in der Öffentlichkeit Albanisch sprechen, aber mir ist es unangenehm, weil ich nicht mit Schule spreche. Ich möchte die Komplexität meiner Gefühle und Konflikte beschreiben können. Ich will mich an politischen Gesprächen beteiligen, albanischen Männern etwas vom Feminismus erzählen und diesen Text auf Albanisch verfassen können. Und ich möchte meine Gefühle mit Zuhause nicht mit einer anderen Sprache beschreiben müssen – denn das 11 entfremdet sie.
Lieber Herr Müller, in Berlin gibt es viele schöne Straßen, aber nicht so wie in Paris. In Berlin leben gute Leute. Ich freue mich, sie zu treffen. In Berlin kommen U-Bahn und Bus pünktlich, das ist schön und gefällt mir. Berlin gefällt mir, aber könnten Sie es nicht noch schöner machen?
Liebes Berlin: Briefe an den Bürgermeister
Liebe Grüße!
» If you need to feel better, do it now, now, now write away « (Paul McCartney)
Lieber Herr Müller, ich finde Berlin ist sehr schön. Herr Müller, ich kenn‘ Sie nicht, aber ich mag Berlin. Ich bin sehr glücklich, weil ich in Berlin bin. Ich freue mich, Herr Müller. Berlin ist sehr frei, weil die Menschen positiv denken. Ich finde Berlin sehr schön, aber ich mag keine Nazis/Rassismus. Ich mag die Leute in Berlin außer die Nazis. Wissen Sie, was man gegen Rassismus machen kann? Viele Grüße!
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EIN GASTBEITRAG VON LITAFFIN
Von den Rändern der Sprache Senthuran Varatharajah schafft in seinem Debütroman „Vor der Zunahme der Zeichen” einen unabhängigen Raum innerhalb der Flüchtlingsdebatte, indem er das Gefühl von Sprach- und Heimatlosigkeit erzählerisch umsetzt Von Friederike Oertel
Die Themen Flucht, Zuwanderung und Integration haben die Verlagsprogramme erreicht. Das im März erschienene Debüt des in Berlin lebenden Schriftstellers Senthuran Varatharajah „Vor der Zunahme der Zeichen“ schlägt dabei einen leisen Ton in der sonst eher lauten Debatte an. Varatharajah, 1984 in Sri Lanka geboren, behauptet in seinem Buch einen Raum jenseits jeglicher Kategorisierung, der sich an den Rändern unserer Sprache bewegt und Heimatlosigkeit erfahrbar macht. Angesiedelt ist das Erzählen in der Ort- und Staatenlosigkeit des Internets: Durch Zufall beginnen Senthil Vasuthevan und Valmira Surroi einen Dialog über Facebook. Er ist Philosophiedoktorand in Berlin, sie Studentin der Kunstgeschichte in Marburg. Obwohl sie einander nie begegnet sind, erzählen sie sich sieben Tage und Nächte aus ihrem Leben. Grundbedingung des Schreibens sind die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung, die sie noch im Kindesalter erlebt haben. Sie ist Albanerin aus dem Kosovo, er Tamile aus Sri Lanka. Senthil und Valmira sind zwischen zwei Welten aufgewachsen: Die Realität, aus der sie gekommen sind, existiert nicht mehr und ist ihnen nie zur Heimat geworden. Die Eltern schweigen, schreiben aber traditionelle Werte und Denkweisen vor, die erneut zu Ausgrenzung führen. Es sind Kinder, die ihre Heimat vergessen sollen, von der Gesellschaft jedoch stets nach ihrer Herkunft beurteilt werden und Alltagsrassismus von klein auf zu spüren bekommen. Varatharajah entzieht sich jeder Erwartungshaltung, die an einen Roman herangetragen wird: Weder gibt es eine Handlung mit Spannungsbogen, noch ähnelt der Nachrichtenverlauf einem Facebook-Chat. Es handelt sich nicht einmal um einen klassischen Dialog: Senthil und Valmira erzählen bruchstückhaft und poetisch, wandern chronologisch in der Zeit, gehen selten direkt aufeinander ein und stellen kaum Fragen. Fast scheint es, als löse das Schreiben einen assoziativen Gedankenfluss beim Anderen aus. Das ewige Kreisen um einen festen Kern beschreibt das gemeinsame Suchen nach einer Ausdrucksform, um das Unsagbare in Worte zu fassen. Immer wieder müssen sie
Senthuran Varatharajah: Vor der Zunahme der Zeichen S. Fischer, 19,99 Euro.
feststellen, dass ihre Sprache unzulänglich ist – dass Sinn und Stoff, Bezeichnendes und Bezeichnetes nicht übereinstimmen, Signifikant und Signifikat nicht kongruent sind. Die Suche nach Sprache wird zu einem Reflektieren über ihre Grenzen und einem Anrennen gegen sie: » vielleicht sprechen wir, um an das ende dieser und jeder möglichen sprache zu gelangen, westwärts, achttausendvierhundertdreiundachtzig kilometer, über moskau und berlin und über die routen und kadenzen und abwege der sätze auch, denn es gibt keine geraden und keine gnade in der grammatik; bis zur äußersten bedeutung müssen wir gehen, und nichts werden wir dabei gesagt haben.« Unklar ist, ob Senthil und Valmira ihre Sprache finden, denn viele Bruchstücke müssen ohne Auflösung stehen bleiben. Doch Sprache wird zum Zufluchtsort, den sich beide selbst erschaffen. Was am Ende entsteht, ist eine Art Collage oder Stimmung, die kaum zu verorten ist. Unaufgeregt, leise und tastend – entstanden irgendwo zwischen den Zeichen, dort wo sie sich verrät und vom Leser auf seine Weise erraten werden will.
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WIR ERZÄHLEN UNSERE GESCHICHTEN UND VON VERBORGENEN, NEUEN WELTEN. VON GEISTERSCHWADEN UND WASSERSTRASSEN. WIR REIMEN IN FREMDEN SPRACHEN ÜBER VERGANGENES. SPIELEN MIT BUCHSTABEN UND FORMEN FRISCHE GEDANKEN. WIR FANTASIEREN SÄTZE AUF WEISSES PAPIER – SEITEN GEFÜLLT MIT ILLUSIONEN. WIR VERTRAUEN AUF DIE EXISTENZ DES REALEN IN DER UTOPIE.
Was siehst du, wenn das Licht angeht? Von A. Was siehst du, wenn das Licht angeht? Wenn ich in den Keller gehe, ist es dunkel. Dann mache ich die Lampe an und sehe alles: Ich sehe einen Geist. Der Geist ist eine gefährliche Sache. Die Farbe des Geists ist Weiß. Er läuft zu mir. Er schlägt mich. Dann nehme ich ein Stück Holz und ich schlage ihn. Dann stirbt der Geist. Dann habe ich keine Angst mehr. Leute, Achtung, wenn der Keller dunkel ist, geht nicht hinein. Das ist eine wahre Geschichte.
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»Alles Lyrische muß im sehr vernünftig, im Einz bißchen unvernünftig sein.« (Johann Wolfgang von Goethe)
Parviz Portugal Pakistan Parviz Ramez Reise Regen Ramez
Mohammadi Morgen Machen Mohammadi
Namen von der Redaktion teilweise geändert.
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Abdullah Arm Ananas Abdullah
Walid Bizgad Wald Baum Wenn Berlin Walid Bizgard
Ganzen zelnen ein
Von Muhammad Farho Träume ich, oder bin ich wach? Sehe ich Sterne, oder ist das Kugelfeuer? Mein Freund, unsere Leben sind einfach zu Schnappschüssen in den Medien geworden Ich verlor meinen Vater, wo ist meine Schwester, wo mein Bruder? Sagt mir, wo ich Emigrant bin – hier und in meinem Heimatland? Sagt mir, was ich sehe – ist die Welt um mich herum total zusammengebrochen? Sagt mir, wo meine Träume sind. Liegen sie unter den Trümmern begraben? Hörst du nicht, wie meine Stimme vor lauter Weinen und Schreien versagt? Der Albtraum des Krieges folgt mir, egal wohin ich gehe – es gibt kein Entzweien! Meine Stadt liegt in bedrückendem Dunkel und ich verirre mich in ihrer Dunkelheit Leute verfolgen mich mit Augen, die verdrossen aus ihren Gesichtern starren Gewährt mir doch wenigstens den Rest meines Lebens, der übrig blieb, in Frieden zu leben Lasst es mich doch einfach fertig leben, bevor ich meine Kapitulation ankündige Ich weiß gar nicht, ob ich wirklich hier bin oder ob ich schlafe Weckt ihr mich auf, so ist die Welt hier schwarz und das Wetter wolkenverhangen Die Menschen in meiner Umgebung versammelten sich, die Zeit der Abreise war gekommen Ich fragte sie „wohin,“ sie erwiderten „dorthin, hinter die Meere!“ Und so brachen wir nach vorne auf, in die Zukunft, in die Sicherheit Wir brachen gen das Schwarze, das Rote und das Gelbe auf Wir brachen gen großartige, wohlwollende, Friedensfarben auf. Übersetzung von Philipp Holtmann
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WIR SAGEN IMMER, WAS WIR DENKEN. WIR FRAGEN ANDERE, WAS SIE DENKEN. WIR FINDEN UNSERE STIMME IN IHREN STIMMEN ODER NICHT. WIR SPRECHEN MITEINANDER. ÜBER MEINUNGEN UND HALTUNGEN. ÜBER GEFÜHLE UND ÄNGSTE. WIR ÜBEN, UNS IN VERSCHIEDENEN SPRACHEN AUSZUDRÜCKEN. WIR LERNEN, WAS DAS
BEDEUTET.
WIR
BERICHTEN
ÜBER UNSERE ERFAHRUNGEN MIT EINER ANDEREN SPRACHE UND MIT UNSERER SPRACHE. WIR HABEN EINE LAUTE STIMME.
IM INTERVIEW Auf mehreren Sprachen zu kommunizieren ist eine Herausforderung. Was passiert, wenn Kommunizieren Schreiben bedeutet? Die Schriftstellerinnen Katja Petrowskaja und Ulrike Draesner verfassen Texte auf einer Sprache, die sie erst als Jugendliche und Erwachsene gelernt haben. Über das Frei- und Gefangensein in Sprache(n)
»Manchmal war mir das Englische näher als das Deutsche « Ulrike Draesner ist eine der bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen des 21. Jahrhunderts. Sie veröffentlichte in verschiedenen Verlagen als Dichterin, Prosaautorin und Essayistin. Ihr aktueller Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ erschien 2014 bei Luchterhand. Seit Kurzem hat sie einen Lehrauftrag an der University of Oxford, wo sie lebt und nun auch begonnen hat, auf Englisch literarisch zu schreiben. PAROLI sprach mit Ulrike Draesner über die Verbindung von Wahrnehmung, Kultur und Sprache. Sie ist sich sicher: Sprachen erschaffen und verändern unser Weltbild.
PAROLI: Ulrike, was verstehst du unter Mehrsprachigkeit? Ulrike Draesner: Sprachen zu lernen und zu beherrschen bedeutet nicht unbedingt Mehrsprachigkeit. Abgesehen davon, dass mir dieses „Beherrschen“ ohnehin suspekt ist. Mehrsprachigkeit mag beginnen, wenn man sich im Alltag mindestens in zwei Sprachen bewegt. Sie können auch Teil einer Sprache sein, wie etwa eine Hochsprache und ein Dialekt. Und wenn man Literatur schreibt. Weil man verschiedene Sprachen benutzt, auch wenn sie als „eine“ klassifiziert werden. Fühlst du dich mehrsprachig? Ich habe erst mit zehn Jahren die erste Fremdsprache gelernt, das war Englisch. Später studierte ich für zwei Jahre in England, wo ich derzeit wieder lebe. Bin ich mehrsprachig? Ich bin in einem merkwürdigen Zwischenzustand, das jedenfalls. Schon als ich das erste Mal nach England kam, hat sich mein Kopf sprachlich umgestellt, die Träume stellten sich um, meine Identität veränderte sich, ich wurde eine andere. Was genau meinst du mit „Kopf umstellen“? Ich habe nicht übersetzt. Ich sprach Englisch und dachte Englisch und lebte Englisch. Manchmal war mir das Englische näher als das Deutsche. Aber in dem Moment, indem ich nach Deutschland zurückkehre, dreht sich das wieder um.
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Inwiefern sind Wahrnehmung und Sprache verknüpft? Das Gedicht „brach, my branch in the sky“ in meinem letzten Gedichtband „subsong“ beschäftigt sich mit genau dieser Frage: Was passiert, wenn ich mir vorstelle, ich erlebe dasselbe oder vielleicht doch nicht dasselbe, wenn ich als Kleinkind in einem Bett liege und ein window sehe. Es hat keine Scheibe, sondern eine pane, das ist homophon zu dem Wort Schmerz. Und das Ding draußen heißt nicht weich und lautlich umschließend Baum, sondern es steht sehr aufrecht da, aber kühl als tree. Mit branches und twigs. Es kratzt viel mehr. Du meinst, die Wahrnehmung ergibt sich aus der Sprache? Ja! Was sagt es über die Welt, in der man lebt und in der gesprochen wird, wenn ich im Deutschen sage: Da kommt jemand vom Regen in die Traufe? Die Vorstellung dabei scheint zu sein:
sen, wir nutzen tausende solcher Wendungen oder Metaphern bereits in der Standardsprache. Selbstverständlich formen sie unser Weltbild. Wenn die Kultur so mit Sprache verknüpft ist, wie wichtig ist deiner Meinung nach dann die Förderung der Erstsprache in Deutschland, also für Nicht„Muttersprachler*innen“? Die Sprache oder die Sprachen, mit denen man aufgewachsen ist, tragen wesentlich zu unserem Gefühl bei, irgendwie verwurzelt, verankert und zu Hause zu sein. Das Gefühl der tiefsten Verwurzelung und des Beheimatetseins und auch das Gefühl, mich einmischen zu dürfen, habe ich im Deutschen stärker, als im Englischen. Warum hast du dich dazu entschieden, auch auf Englisch literarisch zu schreiben? Als ich als Studentin nach Oxford kam, schrieb ich nicht. Das gehört in meine Kindheit. Nicht einmal in meine Pubertät. In Oxford erlitt ich erst einmal so etwas wie einen language shock. Alles war englisch, englisch, englisch – was für eine Immersion. Ich hatte nach dem Jahr zum ersten Mal eine Fremdsprache nicht gelernt, sondern mir zu eigen gemacht. Die Überraschung kommt jetzt. Als ich nach Deutschland zurückkam, erlitt ich noch einen language shock. Das Deutsche war ein Stück weggerückt von mir und fremd. Damals fing ich an, literarisch zu schreiben. Ich studierte Englische Literatur, lernte dort, las Englisch. Mit einem Blick der daraus kam, einem Mund, der hier seine Silben murmelte, fing ich in der-anderenSprache an. Dem Deutschen. Ein Übersetzungsprozess also, nur „falschherum“. Das heißt die Umgebung hat einen Einfluss darauf, auf welcher Sprache du schreibst? Ja! Ich war später noch einmal ein Jahr in England, kehrte dann aber des Schreibens wegen erneut nach Deutschland zurück. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Sprache, in der ich schreibe, auch um mich herum hören muss. Ich musste mit ihr in Berührung sein, um mein eigenes Schreiben zu entwickeln.
Foto: Ulrike Draesner
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Wenn es regnet, werde ich nur teilweise nass, in der Traufe aber total. Ein Engländer käme nie auf die Idee, eine Verschlechterung mit Wasser oder Nässe auszudrücken. Bei dem Wetter auf der Insel ist das einfach keine Option. Es regnet tatsächlich jeden Tag! In England springt man von der Bratpfanne ins Feuer. Das Schlimme ist also Feuer, nicht Wasser. Sprachen sind voll mit Ansichten und Wis-
Inwiefern verändern sich die Themen mit dem Sprachwechsel? Die Themen müssen andere sein. Weil die Sprache selbst ja das ist, wodurch ich die Welt wahrnehme. Ich habe als Erstes angefangen, Gedichte auf Englisch zu schreiben. Sie alle beziehen sich auf Oxford, also die Landschaft oder Straßen hier. Dinge, die mir aus diesem englischen Leben entgegenkommen. Ich kann nur alle ermuntern, das einmal auszuprobieren und die Freiheit zu genießen, die einem die fremde Sprache in diesen Momenten schenkt.
»Auf Russisch zu schreiben, ist jetzt viel mutiger « Katja Petrowskaja wurde in Kiew geboren. Mit 29 Jahren kam sie nach Berlin. Hier arbeitet sie als Journalistin und Autorin für verschiedene russische Medien sowie deutsche Zeitungen. 2013 wurde sie für ihren Text „Vielleicht Esther“ mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Es folgten die Veröffentlichung des gleichnamigen Romans bei Suhrkamp und weitere Auszeichnungen für ihr Werk. Im Erwachsenenalter in eine neue Sprachwelt einzutauchen, ist ihr sehr vertraut. Mit PAROLI hat sie darüber gesprochen, wie es sich für sie bis heute anfühlt. PAROLI: Was bedeutet der Begriff Mehrsprachigkeit für dich? Katja Petrowskaja: Mehrsprachig sein hat etwas mit einem Freiheitsgefühl zu tun und der Fähigkeit, ohne Probleme zwischen den Sprachen zu wechseln. Das kann ich über mich auf jeden Fall nicht sagen. Du empfindest kein Freiheitsgefühl im Deutschen, meinst du das? Ich spreche Deutsch. Aber selbst wenn ich einen Satz ohne Fehler sage, weiß ich davon nichts. Ich habe Deutsch ja erst so spät gelernt. Ich war nie an der Schule, dadurch habe ich nie diese Sprachsicherheit bekommen. Wie hast du Deutsch gelernt? Ich bin seit 17 Jahren in Berlin, da kann man schon einiges mitkriegen. Ganz am Anfang hatte
ich ein bisschen Unterricht, auch schon in Russland. Mein Deutsch ist eher selbstgebastelt. Deswegen fühle mich so wahnsinnig unsicher auf Deutsch. Ich finde das aber gleichzeitig auch sehr schön, dass man Fehler macht und als Schriftstellerin trotzdem gefeiert wird. Wie pflegst du in Deutschland das Russische? Es besteht keine Gefahr, dass ich meine Muttersprache vergesse. Die Leute, die mit 14 kommen, haben vielleicht dieses Problem, aber wenn man mit 29 in ein Land kommt, ist das etwas anderes. Alles, was man bis dahin erworben hat, ist ein Geschenk. Die Sprache, die schon da ist, geht nicht weg. Inwiefern unterscheidet sich dein Schreiben auf Russisch und Deutsch? Ich schreibe jetzt wieder mehr auf Russisch. Das heißt ich versuche es, aber ich habe auch kein richtiges Gefühl für die russische Sprache. Ich bin noch verrückter auf Russisch. Ohne Punkt und Komma und ganz ohne Syntax, total lange Sätze. Es ist wirklich interessant, ich dachte, man tobt sich auf Deutsch, der anderen Sprache, aus, aber eigentlich ist es eher Reduzierung gewesen. Warum hast du „Vielleicht Esther“ auf Deutsch geschrieben? Mit „Vielleicht Esther“ war es wirklich sehr kompliziert – ich habe zuerst angefangen die Geschichte auf Russisch aufzuschreiben, weil sie
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mir auf Russisch erzählt wurde und ich russischsprachige Notizen gemacht hatte. Und es gab Dokumente und Memoiren, die als Grundlage auf Russisch existierten. Aber allmählich wollte der Text auf Deutsch sein. Das war eben nicht von Beginn an klar, es war ein Prozess. Und gerade? Jetzt ist es so, dass die deutsche Sprache eher von mir abblättert. Ich glaube, das hat mit dieser Über-Mühe, die ich beim Schreiben aufwenden muss, zu tun und damit, dass ich mich in der Sprache nicht ganz sicher fühle. Jetzt habe ich ein paar ganz kleine Geschichten geschrieben, aber diese sind wieder auf Russisch und es kam ein bisschen Englisch dazu. Ich habe einfach auf meinen Rhythmus gehört. Das ist so eine kleine Entscheidung, ob du auf Deutsch oder Russisch schreibst. Natürlich ist das Deutsche zum jetzigen Zeitpunkt die pragmatischere Entscheidung, weil das alle von mir erwarten. Auf Russisch zu schreiben, ist jetzt Foto: Heike Steinweg
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viel mutiger, aber viele verstehen das nicht. Auf Russisch zu schreiben würde für mich bedeuten, endlich wirklich zu schreiben. Was könnte es deiner Meinung nach bringen, in einer fremden Sprache zu schreiben? Ich glaube, auf der Muttersprache ist man mit der eigenen Biografie, also mit allem, was man erlebt hat, sehr verbunden. Eine fremde Sprache ist wie ein freier Raum, der mit den Büchern und Wörtern verbunden ist, die man auf dieser Sprache gelesen bzw. gelernt hat. Auf jeden Fall ist man viel freier. Es ist fiktiver und man kennt das Gefühlt, auf Englisch zum Beispiel viel leichtsinniger zu sein, ohne diese schwere russische oder deutsche Last. Die Interviews führten Eva Maria Schneider und Julia Krautstengel. Wir bedanken uns herzlich für die Gespräche.
Drei Jugendliche blicken in die Zukunft... Wo wohnst du in sieben Jahren?
In sieben Jahren möchte ich gerne in Flensburg leben, weil ich dann in Dänemark meine Familie besuchen kann. Ich wünsche mir, Lehrer zu werden. Ich möchte Fußballspieler in der deutschen Nationalmannschaft werden und mit Cristiano Ronaldo spielen. In sieben Jahren wohne ich in Berlin am Alexanderplatz. Was machst du dort?
In Flensburg studiere ich Elektrotechnik und arbeite in diesem Bereich. Ich bin Lehrer am Alexanderplatz. Wie sieht es aus an diesem Ort?
Ich sehe viele interessante und wunderschöne Menschen. Was hörst du an diesem Ort?
Ich höre Hip Hop beim Fußball. Ich höre langsame Musik, die S-Bahn und die Menschen auf dem Markt. Was riechst du an diesem Ort?
Ich rieche meinen Kuchen, den ich gebacken habe. Ich rieche das Essen auf dem Markt. Wie fühlst du dich?
Ich fühle mich gut, weil ich Deutsch spreche und eine Arbeitsstelle habe. Ich fühle mich fröhlich beim Fußball spielen. Ich bin dort mit meinen Freunden und zufrieden.
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E B R E N T R A P M E D N A T E D R E W D N E R F A H T W T STAR er en unt n o ti a nform de Mehr I -friend. a h it w rtwww.sta
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AUS FREMDEN KÖNNEN FREUNDE WERDEN