Text: Robert Bossart | Fotos: Walter Eggenberger
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ch dachte immer, das Schlimmste sei, dass man gezwungen ist, im Rollstuhl zu sitzen.» Roger Müller, angehender Bauleiter, besucht zusammen mit rund 20 Kollegen vom Campus Sursee (LU), Bildungszentrum Bau, im Schweizer Paraplegiker-Zentrum einen
Crashkurs. Kursleiter Harald Suter erklärt den Teilnehmern, wie man einen Rollstuhl auseinanderklappt.
sogenannten Sensibilisierungskurs. Die jungen Männer hören gebannt zu, als Kursleiter Harald Suter vom Sozialdienst der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) aus seinem Leben als Paraplegiker berichtet. Ein Sekundenschlaf beim Autofahren machte ihn vor 18 Jahren zum Rollstuhlfahrer. Die Bauleute haben viele Fragen: «Wie geht Sex, wenn man nichts spürt», will jemand wissen. Suter spricht von einem neuen Körpergefühl und erzählt unverblümt, dass je nachdem auch Hilfsmittel oder Medikamente zur Unterstützung verwendet werden. «Vieles ist einfach anders als vorher.» Er beschreibt, wie viele Rollstuhlfahrer ihre Blase und ihren Darm auf aufwendige Art entleeren müssen. Das quäle die Betroffenen oft mehr als die eigentliche Lähmung. «Das alles war mir nicht bekannt», sagt Roger Müller, und seine Kollegen neben ihm nicken. Habe mir das einfacher vorgestellt Als Harald Suter einige Beispiele von typischen Unfällen, die zu einer Querschnittlähmung führen können, erläutert, hören
anders. «Was ich hier höre, bleibt haften und geht unter die Haut.» Nächster Programmpunkt ist ein Selbstversuch im Rollstuhl. Die Bauleiter fahren über Wiesen und Kiesplätze und versuchen, kleine Hindernisse und Rampen zu überwinden. Manch einer scheitert und bleibt irgendwo stecken. «Ich habe mir das einfacher vorgestellt», heisst es da und dort. Schliesslich geht es darum, mit dem Rollstuhl Treppenstufen zu erklimmen: Ein Kursteilnehmer zu Fuss versucht, seinen Kollegen im Rollstuhl die Treppe hinaufzubringen – eine schweisstreibende Übung. Vieles ist plötzlich wertlos Silvan Bodmer, ein kräftiger, junger Mann, wirkt nach dem Rollstuhltraining einigermassen hilflos. «Bisher dachte ich, dass es nicht so wichtig ist, ob eine Rampe sechs oder sieben Prozent Steigung hat. Jetzt habe ich erlebt, dass es einen riesigen Unterschied ausmacht.» Er ist erstaunt, wie viele kleine Hindernisse ein Rollstuhlfahrer überwinden muss und wie schwierig das den Alltag macht. «Ich drücke 120 Kilogramm in die
«Die jungen Leute werden plötzlich ruhig, wenn sie vom Leben der Querschnittgelähmten erfahren» Markus Hauser, Dozent Campus Sursee
die jungen Berufsleute genau hin. «Es ist so rasch passiert, gerade auf Baustellen», meint der 44-Jährige. Mal ist es ein Geländer eines Gerüsts, das noch nicht montiert ist, mal eine rutschige Stelle auf einem Dach. «Wir kennen alle die Sicherheitsvorschriften, wir müssen unsere Mitarbeiter auf dem Bau entsprechend schulen», sagt ein angehender Bauleiter. So richtig verinnerlicht habe er das bisher nicht. Das sei nun ab sofort
Höhe, aber das nützt mir jetzt nichts. Vieles, was du dir im Leben erkämpft hast, ist im Rollstuhl plötzlich wertlos. Deshalb ist mein Verständnis für Querschnittgelähmte grösser geworden.» Tabuthemen ansprechen «Der Sensibilisierungskurs fährt allen Teilnehmern in die Knochen», sagt Markus Hauser, Betriebspsychologe und Dozent am
Paraplegie, September 2016
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