Paraplegie September 2016 deutsch

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Text: Robert Bossart | Fotos: Walter Eggenberger

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ch dachte immer, das Schlimmste sei, dass man gezwungen ist, im Rollstuhl zu sitzen.» Roger MĂŒller, angehender Bauleiter, besucht zusammen mit rund 20 Kollegen vom Campus Sursee (LU), Bildungszentrum Bau, im Schweizer Paraplegiker-Zentrum einen

Crashkurs. Kursleiter Harald Suter erklÀrt den Teilnehmern, wie man einen Rollstuhl auseinanderklappt.

sogenannten Sensibilisierungskurs. Die jungen MĂ€nner hören gebannt zu, als Kursleiter Harald Suter vom Sozialdienst der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV) aus seinem Leben als Paraplegiker berichtet. Ein Sekundenschlaf beim Autofahren machte ihn vor 18 Jahren zum Rollstuhlfahrer. Die Bauleute haben viele Fragen: «Wie geht Sex, wenn man nichts spĂŒrt», will jemand wissen. Suter spricht von einem neuen KörpergefĂŒhl und erzĂ€hlt unverblĂŒmt, dass je nachdem auch Hilfsmittel oder Medikamente zur UnterstĂŒtzung verwendet werden. «Vieles ist einfach anders als vorher.» Er beschreibt, wie viele Rollstuhlfahrer ihre Blase und ihren Darm auf aufwendige Art entleeren mĂŒssen. Das quĂ€le die BetroïŹ€enen oft mehr als die eigentliche LĂ€hmung. «Das alles war mir nicht bekannt», sagt Roger MĂŒller, und seine Kollegen neben ihm nicken. Habe mir das einfacher vorgestellt Als Harald Suter einige Beispiele von typischen UnfĂ€llen, die zu einer QuerschnittlĂ€hmung fĂŒhren können, erlĂ€utert, hören

anders. «Was ich hier höre, bleibt haften und geht unter die Haut.» NĂ€chster Programmpunkt ist ein Selbstversuch im Rollstuhl. Die Bauleiter fahren ĂŒber Wiesen und KiesplĂ€tze und versuchen, kleine Hindernisse und Rampen zu ĂŒberwinden. Manch einer scheitert und bleibt irgendwo stecken. «Ich habe mir das einfacher vorgestellt», heisst es da und dort. Schliesslich geht es darum, mit dem Rollstuhl Treppenstufen zu erklimmen: Ein Kursteilnehmer zu Fuss versucht, seinen Kollegen im Rollstuhl die Treppe hinaufzubringen – eine schweisstreibende Übung. Vieles ist plötzlich wertlos Silvan Bodmer, ein krĂ€ftiger, junger Mann, wirkt nach dem Rollstuhltraining einigermassen hilïŹ‚os. «Bisher dachte ich, dass es nicht so wichtig ist, ob eine Rampe sechs oder sieben Prozent Steigung hat. Jetzt habe ich erlebt, dass es einen riesigen Unterschied ausmacht.» Er ist erstaunt, wie viele kleine Hindernisse ein Rollstuhlfahrer ĂŒberwinden muss und wie schwierig das den Alltag macht. «Ich drĂŒcke 120 Kilogramm in die

«Die jungen Leute werden plötzlich ruhig, wenn sie vom Leben der QuerschnittgelÀhmten erfahren» Markus Hauser, Dozent Campus Sursee

die jungen Berufsleute genau hin. «Es ist so rasch passiert, gerade auf Baustellen», meint der 44-JĂ€hrige. Mal ist es ein GelĂ€nder eines GerĂŒsts, das noch nicht montiert ist, mal eine rutschige Stelle auf einem Dach. «Wir kennen alle die Sicherheitsvorschriften, wir mĂŒssen unsere Mitarbeiter auf dem Bau entsprechend schulen», sagt ein angehender Bauleiter. So richtig verinnerlicht habe er das bisher nicht. Das sei nun ab sofort

Höhe, aber das nĂŒtzt mir jetzt nichts. Vieles, was du dir im Leben erkĂ€mpft hast, ist im Rollstuhl plötzlich wertlos. Deshalb ist mein VerstĂ€ndnis fĂŒr QuerschnittgelĂ€hmte grösser geworden.» Tabuthemen ansprechen «Der Sensibilisierungskurs fĂ€hrt allen Teilnehmern in die Knochen», sagt Markus Hauser, Betriebspsychologe und Dozent am

Paraplegie, September 2016

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