Paraplegie März 2016 deutsch

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MEIN TAG IM ROLLSTUHL

«Ich bin ziemlich ehrgeizig – und sehr selbstkritisch» Mit 19 Jahren, während der Lehrabschlussreise auf Mallorca, stürzte Karin Rechsteiner kopfvoran in einen Pool – und ist seither Tetraplegikerin. Das war einer von verschiedenen Schicksalsschlägen, welche die heute 36-Jährige zu verarbeiten hatte. Trotzdem habe sie ein «rundum zufriedenes Leben», wie sie versichert. Ihr Rezept? Zombie-Filme schauen, Bilder malen und immer ein Ziel vor Augen haben. Text: Robert Bossart | Foto: Astrid Zimmermann-Boog

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Mein Tag beginnt um 8 Uhr. Vorher geht bei mir nichts, ich bin eher ein Nachtmensch. Die Pflegefachperson hilft mir beim Transfer vom Bett in den Rollstuhl, beim Anziehen und bei der Körperpflege. An drei Tagen pro Woche arbeite ich als kaufmännische Angestellte, dann muss es schnell gehen. Um Viertel nach neun sause ich mit dem Behindertentaxi los. Für eine hochgelähmte Tetraplegikerin lege ich ein ziemlich hohes Tempo hin am Morgen. Kochen aus Leidenschaft Mehr Zeit habe ich, wenn ich zu Hause bleibe. Aber nichts tun gibt es bei mir nicht. Im Sommerhalbjahr bin ich oft im Garten am Vormittag. In meinen Hochbeeten pflanze ich Fenchel, Rüebli oder Radieschen an. Ich gehe auch regelmässig mit meinem Elektrorollstuhl einkaufen. Diese Selbstständigkeit ist sehr wichtig für mich, da ich leidenschaftlich gerne koche. Weil ich meine Hände nur eingeschränkt benutzen kann, erfordert das viel Übung und Geschicklichkeit. Kochendes Wasser abschütten etwa ist sehr gefährlich, da darf ich keinen Fehler machen. Am Wochenende bekoche ich auch gerne Freunde und Kollegen. Ich brauche natürlich viel länger, um ein Gericht auf den Tisch zu bringen als ein Fussgänger. Aber es macht mir enorm Spass, und ich sage mir immer: Andere treiben Sport, ich koche.

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Versunken in der Malerei Den Nachmittag verbringe ich in meinem Bastelzimmer. Dort male ich. Das macht mir so viel Spass, dass ich oftmals fünf oder sechs Stunden ohne Unterbruch an einem Bild arbeite. Dabei bin ich ziemlich ehrgeizig – und leider auch sehr selbstkritisch. Kein Bild, das mir selber nicht hundertprozentig gefällt, verlässt meine Wohnung. Manche Bilder verkaufe ich, andere verschenke ich an Freunde und Bekannte. Ideen habe ich eigentlich immer. Seit Anfang Jahr arbeite ich an einem Bild, bei dem ich jeden Tag ein Wort hinzufüge, das ich hinmale oder aus einem Heft ausschneide und aufklebe. Bis Ende Jahr dauert dieses Projekt – und von jedem Tag gibt es ein Wort, das mich irgendwie beschäftigt hat. Die Malerei entspannt mich sehr, ich kann total abschalten und alles andere vergessen. Malen hat etwas Meditatives und erfordert gleichzeitig meine ganze Konzentration. Katzen und eine Maus im Bett Deshalb bin ich am Abend oft ziemlich müde. Ich liebe es, einen Zombie-Film anzuschauen oder ein Stephen-King-Buch zu lesen. Manche sagen, ich hätte eine etwas düstere Seite. Auch wegen eines meiner Bilder, welches einen Mann zeigt, der sich in den Kopf schiesst. Für mich hat das aber nichts Morbides – der knallgelbe Hintergrund strahlt

etwas Fröhliches aus. Und die Schmetterlinge, die ihm aus dem Kopf fliegen, symbolisieren die Freiheit der Gedanken. Ich mag zweideutige Bilder, das passt zu mir. Ich lebe ein rundum zufriedenes Leben, finde ich. Natürlich habe ich auch mal einen schlechten Tag, das ist doch völlig normal. Als ich mit neunzehn verunfallte, war das nur ein weiterer Schicksalsschlag in meinem familiären Umkreis: mein Bruder, der gestorben ist, meine Mutter, die einen Schlaganfall erlitt, meine Grossmutter, die Alzheimer hatte, und dann noch unser Elternhaus im Appenzell, das in Flammen aufging. All das hat mich nicht umgehauen, im Gegenteil: Ich versuche einfach, aus jedem Tag das Beste zu machen. Ich finde, das gelingt mir nicht schlecht. Um 22 Uhr kommt die Pflegefachfrau und hilft mir ins Bett. Meine zwei Katzen leisten mir Gesellschaft, wenn ich noch etwas fernsehe. Die beiden sind immer für eine Überraschung gut. Einmal brachten sie doch tatsächlich eine lebende Maus in die Wohnung. Als diese dann plötzlich über meine Decke kroch, währenddem ich im Bett lag, dachte ich: Jetzt wäre ich gern ein Fussgänger. Ich hadere nicht mit dem Schicksal. Es gibt noch so viele Ziele, die ich verwirklichen will, dass für Unzufriedenheit kein Platz da ist. Deshalb schlafe ich fast immer ruhig und zufrieden ein.

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