THERES CASSINI Gurkenschwarm - Depotheft No 29

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THERES CASSINI Gurkenschwarm



THERES CASSINI G u r ke n s c h w a r m


Lady and Lord Amherst, 2014 Dachfasan Federn, Kunstpelz, FĂźllmaterial 90 x 60 x 40 cm

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FLIEGENDE BIO-ENTITIES Elisabeth von Samsonow

Unter Skulptur und Plastik versteht man alles Mögliche, weit ausgreifende Anlagen aus anonymen Materialien, gewichtige Fabrikate aus Metall und Stein, hölzerne und papierene Körper, repräsentativ, monolithisch oder installativ, d.h. im Raum verteilte Elemente. Die Moderne fing an, sich vorzustellen, dass der Boden nur das ihm allzu ähnliche Echo der Decke ist. Warum also nicht alles von der Aufhängung her, anstatt vom Hinstellen (lat. statuare, als vom Statuen-Machen) aus denken und entwerfen? Die Aufgaben der Skulptur wurden als parallel mit der Aeronautik gesetzt, was gut zu sehen ist in Alexander Calders und César Manriques Mobiles und kinetischen Plastiken. Ein sehr schönes jüngeres Beispiel für eine Interpretation von Skulptur als Levitation oder Suspension sind die Arbeiten der hierzulande nicht sehr bekannten Gloria Kisch, die ihre feinen, polierten Edelstahlgebilde über Kettenzüge von der Decke hängen lässt, wobei in ihrem Fall dann in gleicher Weise die nach oben strebenden wie die nach unten tendierenden Kräfte zu spüren sind. In den Arbeiten von Theres Cassini werden die Vektoren der Schwerkraft dem absoluten Willen zur Leichtigkeit untergeordnet, die über Architekturen aus Draht gezogenen textilen Gebilde charakterisiert. In Theres Cassinis Arbeiten wird die Skulptur wieder zum Kleid, was

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sie auch ganz ursprünglich war, nämlich diejenige Hülle (hyle, griech. Materie), auf deren (Ober)fläche sich die Welt erklärt. Sie schweben, Theres Cassinis biomorphe textile Skulpturen, die sie bevorzugt von der Decke hängen lässt, manchmal auch in mobileartige Konstellationen arrangiert, einander austarierend, ballettartig. Das Ideal ist die über den Köpfen, wie in einem Traum schwerelos schwimmende, auf jeden Hauch reagierende Skulptur, die zur Welt der Phantasie gehört. Die Formensprache Theres Cassinis erinnert an ein Archiv der prinzipiellen Körper, der kleinen biologischen Einheiten, also an Zellen, Viren und Bakterien. Indem sie diese über den Köpfen schwimmen lässt oder auch gelegentlich luftig aufs Podest setzt, legt sie das Niveau, auf welchem der Zusammenhang zwischen Körper und Skulptur definiert wird, auf die subkutane Ebene, auf die zelluläre, die erfinderische. Die mikroskopischen Wesen, die beizeiten auch an die unerhörten Bildungen der Tiefsee appellieren, könnten ja nun tatsächlich diejenigen sein, die die Ausformungen der Groß-Weltkörper mitbestimmen. Wie im ganz Kleinen, so im ganz Großen. Sie sind wie Urkörper. In Räumen, in denen Theres Cassinis Wesen schweben, schwimmt man mit ihnen, psychonautisch.

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Mr. Euler, 2013 Draht, Textilien 120 x 100 x 75 cm

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Rosa Kurve, 2012 Draht, Textilien 72 x 72 x 50 cm

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Autogamie, 2013 Draht, Emufedern, Textilien, Kunstpelz 100 x 45 x 40 cm

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Crown Prince, 2019 Draht, Textilien h 76 cm, d 125 cm

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Mammon / Venus / Scrotum, 2019 Draht, Textilien h 185 cm, d 105 cm

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Gurkenschwarm, 2019 Draht, Textilien 28 Objekte, je ca. 130 x 35 cm Installationsgröße variabel

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Die neue Gruppe von fliegenden Objekten präsentiert sich als Schwarm. Im Unterschied zu den bionischen Wesen der ihnen vorhergehenden Werkphase, die allesamt als singuläre Ereignisse in einer alchemistischen Schneiderei ausgefallen waren, mit ihren bizarren Formen, Flächen und Hüllen, sind diese neuen als Gurken erkennbar, alle vom selben Stamm. Mit ihnen dringt Theres Cassini ein in die Strukturlogik lebendiger Körper. Denn die Gurke oder das Gurkenförmige, also die von ihren beiden Polen her als in die Länge gezogen gedachte Kugel, dürfte so ziemlich die überlegenste Form in diesem Reich sein. Sie kommt in allen Abteilungen der Wesen vor. Nicht nur, dass die Gurke die Dynamik des Wachstums unter dem Einfluss der Wirkung von Bipolarität demonstriert, also so sehr Erdkind ist wie kaum etwas anderes. Ihre Dehnung verrät auch Intention und Interesse des lebendigen Körpers, seinen Willen, hinüberzugehen von hier nach dort. Der gestreckte Körper ist Leib-in-der-Welt, auf die einfachste und interessierteste Weise. Dass er nicht zum Pfeil wird, verdankt er dem Umstand, dass er in seiner Leiblichkeit sich selbst will, trotz seines Ausgesetztseins und Hinüberwollens. So ist die Gurke maximales Volumen bei maximaler Dehnung, was in der Natur als Prinzip oft zu finden ist, selbst bei Lebewesen, die noch Extremitäten haben, wie beispielsweise das Schwein. Der Wurm strapaziert die Gurkennatur nach Bedarf, wobei ihm seine Elastizität zu Hilfe kommt. Der göttliche Regenwurm führt vor, wessen lebende Gurken fähig sind, welcher Dehnung sie schadlos fähig sind. Und was sie leisten in Bezug auf den Übergang von hier nach dort, nicht zuletzt im Umarbeiten der geo- und biologischen

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Schichtungen zum Wohle aller. Die Gurke ist reine Kommunikation unter dem Vorzeichen der Geltung absoluter Leiblichkeit. Dieses bionische Register ist für die Formfindung der Künstlerin leitend. Theres Cassinis Brüder und Schwestern der See- oder Tigergurke sind nicht nur der Idee der Gurke verpflichtet, sondern brillieren auch in der Vergrößerung der Oberfläche, die durch Raffung, Plissierung und Knautschen der Haut zustande kommt. Die Faltung der Oberflächen der schwebenden Objekte ist mannigfaltig, weist sie als Komplizen der wuchtigen Früchte Asiens aus, die mit tief zerklüfteten Schalen sich ekstatisch ins Milieu recken. In Theres Cassinis Installation konspirieren die menschlichen und die sie umschwebenden Gurkenkörper, was die menschlichen Körper in ihrer merkwürdigen Spezifizität bloßstellt und sie (noch) rätselhafter macht. Das Gurkentum reicht im Übrigen weit hinein ins Organische, die Grund- oder Stammleiber sind immer gurkenförmig, bevor sie mit Extremitäten verziert, garniert oder instrumentiert werden. Cassinis Gurken unterscheiden sich von Erwin Wurms Gurken, und dennoch ergänzen sie dessen Inventar von Gurken und Würsten um die primordiale biologische, also um die nicht-domestizierte Vorform einer bildhauerisch relevanten Physis. Alle Flugkörper (technisch, militärisch), alle substantiellen Pillen (Inhalt intus nehmen, idealer Stromlinie), alle Mikroben (Invasion), alle Großfahrzeuge (Zeppelin, Züge, Busse, U-Boote) konkurrieren bionisch mit der Ur-Gurke. Theres Cassini spielt raffinert mit der großen, überlegenen Intruder-Form, erteilt eine künstlerische Lektion oder spielerisch-therapeutische Habitus-Übung in Urkörper- Empathie.

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Theres Cassini lebt und arbeitet in Wien. Fotografie, Objekte, Textile Arbeiten, Rauminstallationen. Arbeiten in Ăśffentlichen Sammlungen: Ă–sterr. Galerie Belvedere, Wien; Museum Moderner Kunst, Klagenfurt; Leopold Museum, Wien; Ursula Blickle Videoarchiv, Wien; Sammlung BKS, Klagenfurt; Museum Villa Haiss, Stuttgart. www.cassini.at

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Ausstellungen (Auswahl): 2019 GALERIE 3, Klagenfurt, STRICHWELTEN UND LUFTKÖRPER KÜNSTLERHAUS KLAGENFURT, TABERNAKEL MMKK und STADTGALERIE KLAGENFURT, TOUCH WOOD ARCOTEL VELVET, Berlin, DUSCHBERICHTE - vergleichende Feldstudie / EA GALERIE 3, SIAF Salzburg, VERBOTENE FRÜCHTE DER HÄNGENDEN GÄRTEN KULTURVEREIN ROTENTURM, KUNSTRAUSCH - Kinetische Plastiken KÜNSTLERHAUS WIEN, DIE ROTE WAND, Theres Cassini - Werküberblick / EA 2018 KÜNSTLERHAUS Klagenfurt, DIE KUNST DER GESTALTUNG, EVIVO PALAIS NIEDERÖSTERREICH, Wien, WIKAM, den Blick öffnen - Kinetische Plastiken 2017 MUSEUM MODERNER KUNST KÄRNTEN, Klagenfurt, Fokus Sammlung 05 STILLLEBEN KRO ART CONTEMPORARY, Wien, PELZ UND FEDERN - Kinetische Plastiken KÜNSTLERHAUS Klagenfurt, BLUTROT MUSEUM MODERNER KUNST KÄRNTEN, Klagenfurt, unheimlich schön. STILLLEBEN HEUTE 2015 TRAKLHAUS auf der FESTUNG, Salzburg, GLÜHEND EIS 2014 BELVEDERE 21, Wien, SIGMUND FREUD und das Spiel mit der Bürde der Repräsentation ROBERT MUSIL LITERATURMUSEUM, Klagenfurt, R. Musil‘s MoE -Literaturmobiles / EA GALERIE 3, Klagenfurt, Theres Cassini - Kinetische Plastiken KOROšKA GALLERIJA, Slovenj Gradec, - Podobe telesa - Körperbilder BERCHTOLDVILLA, Salzburg, ROTUNDE SALZBURG AG, den Blick öffnen

2013 MZM, Museumszentrum Mistelbach, SÜSSE LUST 2012 GALERIE MARTINZ, Wien, different eyes #2, Europäischer Monat der Fotografie 2012 UNTERES BELVEDERE, Wien, GOLD GALERIE HUMMEL, Wien, Objekt und Skulptur 2 2011 LEOPOLD MUSEUM, Wien, The Excitement Continues GALERIE HUMMEL, Wien, Objekt und Skulptur 1 GALERIE 3, Klagenfurt, Kabinett, Glühend Eis / EA MUSEUM MODERNER KUNST KÄRNTEN, Klagenfurt, Fokus Sammlung 02 2010 GALERIE SCHLEIFMÜHLGASSE 18, Wien, one day one work GALERIE BÄCKERSTRASSE, Wien, Different Eyes STADTGALERIE KLAGENFURT, Schmeckt‘s? Vom Küchen- dunst zur Tafelkunst VIENNAFAIR, Wien, GALERIE 3 2009 MUSEUM MODERNER KUNST KÄRNTEN, Klagenfurt, Neue Positionen aus Österreich GALERIE IM TRAKLHAUS, Salzburg, Mahlzeit! Essen in der Kunst 2008 BANK AUSTRIA KUNSTFORUM, TRESOR, Wien, LICHTSPEISEN / EA VIENNAFAIR, GALERIE 3 2007 MUSEUM MODERNER KUNST KÄRNTEN, Klagenfurt, Blickwechsel N˚3 aus der Sammlung 2006 GALERIE HUMMEL, Wien, Das Öffnen und Schließen des Mundes GALERIE 3, Klagenfurt, MUNDSCHLITZE STADTGALERIE WOLFSBERG, Leibes-Hausung / EA 2005 GALERIE WALTER BISCHOFF, Berlin, wir sind noch nicht soweit / EA ARCOTEL VELVET, Berlin, interaktives Projekt Duschberichte MUSEUM VILLA HAISS, Stuttgart, Ansicht – Draufsicht – Übersicht

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THERES CASSINI Gurkenschwarm 12.02. – 07.04.2020 Text: Elisabeth von Samsonow Lektorat: Alois Ritter

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Leibnizstrasse 60 10629 Berlin Tel: +49 30 28 48 86-0 www.o-o-depot.com

Grafische Gestaltung: Marie Hareiter Fotos: Theres Cassini Druck: Triggermedien, Berlin Auflage: 300 © 2020 O&O Depot




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