Books Magazin November

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Reportage Luis Sepúlveda

Der Schatten dessen, was wir waren Roman Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen 160 Seiten, gebunden, 2011 isbn 978-3-85869-455-3 Fr. 24.90

Der letzte Coup 35 Jahre nach Pinochets Putsch treffen sich die Exilanten Cacho, Lolo und Lucho in ihrer Heimat Chile wieder. Sie sind der verschollenen Beute eines legendären Banküberfalls auf der Spur…

Al Imfeld

Wie die Arche Noah auf den Napf kam Kindheitsgeschichten aus dem Luzerner Hinterland 160 Seiten, gebunden, 2011 ISBN 978-3-85869-457-7 Fr. 24.90

Humor und Wehmut Der Priester, Landwirtschaftsexperte, Journalist und Weltreisende beschreibt in seinen Kindheitserinnerungen, wie die Käserei vor Ort einging, die historischen Wirtshäuser der Roten und der Schwarzen verschwanden und aus seinem Dorf eine bloße Ortschaft wurde.

Vincenzo Todisco

Rocco und Marittimo Roman Aus dem Italienischen von Maja Pflug 280 Seiten, gebunden, 2011 ISBN 978-3-85869-456-0, Fr. 29.90

Zwischen Berg und Meer Eine Familiensaga, episch, schmerzlich, leidenschaftlich und komisch: Rocco und Marittimo kommen 1965 im fahrenden »Zug der Hoffnung« zur Welt, der die Emigranten aus Süditalien in die Schweiz bringt. Fatalerweise werden die Neugeborenen miteinander vertauscht. Es ist der Anfang einer aufregenden Geschichte.

Rotpunktverlag. 12 – www.books.ch – September 2011

www.rotpunktverlag.ch

Ich habe eine Unmenge Bücher aus der Zeit gelesen. Nicht gezielt, aber sehr bewusst – die Autobiografie von Max Schmeling zum Beispiel oder Bücher über die Kultur der 1920er-Jahre. Dort fand ich viele Details, die ich brauchen konnte. Wie lange haben Sie am Buch gearbeitet? Drei Jahre lang. Ich recherchiere und schreibe parallel. Beim Schreiben merke ich erst, welche Informationen mir noch fehlen. Gibt es nach der langen Beschäftigung mit Kurt Gerron noch Lücken in Ihren Recherchen, die Sie gern füllen würden? Ja, ich würde zum Beispiel wahnsinnig gern wissen, wie Gerron seine Frau Olga wirklich kennenlernte. Wie kommt ein Schauspieler aus Berlin zu einer Röntgenassistentin aus Hamburg? In einem Interview mit der SonntagsZeitung antworteten Sie 2006 auf die Frage, warum Ihr Roman «Melnitz» mit dem Zweiten Weltkrieg ende: «Weil der Holocaust eine absolute Zäsur war. Einerseits ist diese Geschichte oft erzählt worden, andererseits ist sie so gewaltig gross, dass sie auch vorhanden ist, wenn man sie nicht beschreibt.» Jetzt haben Sie sie doch beschrieben. Warum dieser Sinneswandel? Ich habe den Holocaust nicht beschrieben! «Gerron» endet im Zug nach Auschwitz. Ich könnte Auschwitz nicht beschreiben. Kurt und Olga Gerron waren in zwei Lagern interniert, in denen man in Privatkleidern herumlief. Das war schon etwas anderes. Trotzdem ist mir beim Lesen die Ungeheuerlichkeit des Holocaust nach Jahren wieder einmal richtig bewusst worden ... Die Geschichte von Kurt Gerron im Alltag des Grauens eignet sich gut, um den Wahnsinn des Holocaust zu transportieren. Sieht man eines dieser Bilder von Leichenhaufen in einem Ermordungslager, kann man das nicht mehr verarbeiten, weil es so unsagbar grauenhaft ist. Ich könnte das als Schriftsteller jedenfalls nicht adäquat behandeln. Doch die Schrecklichkeit lässt sich oft an Details oder an alltäglichen Dingen zeigen. Es gibt doch dieses Bild mit einem ganzen Berg von Brillen in einem Konzentrationslager – in gewisser Hinsicht ist es fast grässlicher als ein Berg von Toten.

«Sieht man eines dieser Bilder von Leichenhaufen in einem Ermordungslager, kann man das nicht mehr verarbeiten, weil es so unsagbar grauenhaft ist.» Zwischendurch musste ich das Buch weglegen, weil mich derart anwiderte, was Gerron widerfährt. Wie erging es Ihnen diesbezüglich beim Schreiben? Wollten Sie manchmal nicht einfach nichts mehr mit diesem Grauen zu tun haben? Das hat mich meine Frau auch gefragt. Schreiben gibt mir aber eine gewisse Distanz. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass mich Geschichten mehr treffen, wenn ich ihren Ausgang nicht kenne, als wenn ich weiss, wo sie hinführen. Bei «Gerron» war mir das Ende von Anfang an bekannt, und damit kann ich besser umgehen – warum das so ist, kann ich auch nicht erklären. Aber natürlich gab es Dinge ... nun, es war nicht so, dass ich in der Nacht nicht schlafen konnte, aber etwas zu beschreiben heisst ja zunächst, sich etwas exakt vorzustellen. Und manche Dinge hätte ich mir lieber nicht vorgestellt. Worin lag denn Ihr ganz persönlicher Lustgewinn beim Schreiben dieses Buchs? Vielleicht darin, ein handwerkliches Problem zu lösen. Normalerweise erzählt man eine Geschichte chronologisch. Wenn ich in «Melnitz» Ereignisse von 1871 beschreibe, muss ich nicht wissen, was 1938 passiert. Bei «Gerron» ist der Blick aber rückwärts gerichtet. Weil Gerron sich an sein Leben erinnert, musste ich jederzeit sein ganzes Leben kennen – denn man erinnert sich ja nicht einfach schön der Reihe nach, sondern springt in den Zeiten herum. Wie Sie diese Herausforderung bewältigen, ist faszinierend: Sie spulen vor und zurück, trotzdem kann man der Geschichte jederzeit problemlos folgen. Das Buch wirkt raffiniert konstruiert. Haben Sie es auf einer Flipchart entworfen?

Das kann ich nicht! Ich muss das ganze Material verinnerlichen, dann beginne ich einfach einmal zu schreiben, um den richtigen Ton zu finden. Sehen Sie, es gibt zwei Sorten von Autoren. Legt Ihnen jemand fünf Zeilen von Thomas Mann vor, wissen Sie sofort: Das ist Thomas Mann. Sie erkennen seine persönliche Sprache und Erzählweise. Ich gehöre zur anderen Sorte: Ich erfinde bei jedem Buch die Form und Sprache anhand der Geschichte neu. Ich muss herausfinden, welchen Satzbau eine Geschichte hat, wie sie klingen soll. Bei «Melnitz» ist der Satzbau durchkonstruiert, denn dort spricht ein allwissender Erzähler. «Gerron» ist aber ein innerer Monolog, da löst ein Gedanke den nächsten aus – und das gibt dann ganz andere Sätze. Es dauert manchmal Jahre, bis ich die richtige Form gefunden habe. Bei «Gerron» verfasste ich zuerst einmal 150 Seiten. Ich zeigte sie dann der besten Lektorin Westeuropas, meiner Tochter. Sie sagte: «Wenn du dieses Buch so schreibst, läufst du an die Wand. Diesen Ton hältst du nicht durch.» Ich sah, dass sie Recht hatte, und schrieb eine neue Version. Sie sagte: «Schon besser, aber das ist es immer noch nicht ganz.» Also begann ich noch einmal. Entscheidend war, von welcher Perspektive aus Kurt Gerron seine Geschichte erzählt. Was weiss er schon? Welche Gedanken hat er sich schon gemacht? «Melnitz» erzählt die Geschichte von Schweizer Juden, «Gerron» jene eines jüdischen Filmstars. Fürchten Sie nicht, dass Sie in eine Schublade gesteckt werden – und fortan als Schriftsteller gelten, der jüdische Schicksale beschreibt? Grundsätzlich glaube ich, dass ich schwierig in eine Ecke zu stellen bin – und ich will auch nicht in eine Ecke gestellt werden. Ich mache zu viele verschiedene Sachen zu gern. Gerade erst lief in Thun das Musical «Gotthelf», dessen Text ich schrieb, und das ist etwas völlig anderes als «Gerron». Das finde ich ja auch so traumhaft schön am Schriftsteller-Beruf: Man kann den Beruf wechseln und trotzdem im gleichen Beruf tätig sein. Ich will auch nicht zweimal das gleiche Buch schreiben. Die Vorstellung, den siebten Roman über Kommissar XY zu verfassen, finde ich grauenhaft. «Melnitz» war ein riesiger Publikumserfolg. «Gerron» ist viel härtere Kost – fürch-

ten Sie nicht, dass Sie damit weniger gut ankommen? Ich schreibe nicht, um möglichst hohe Umsatzzahlen zu bolzen! Ich schreibe ein Buch, weil ich eine bestimmte Geschichte interessant genug finde, um mich mehrere Jahre lang damit zu beschäftigen. Nach «Melnitz» schrieb ich zum Beispiel erst einmal ein Buch zum Privatvergnügen. Ich wusste, «Zehnundeinenacht» kann kein Erfolg werden, aber ich hatte einfach Lust, dieses Buch zu schreiben. Ich habe mir einen wahnsinnigen Luxus erarbeitet: Ich kann heute jene Sachen schreiben, die ich gern schreibe. Und welches ist das nächste Buch, das Sie gern schreiben werden? Jetzt sind die Batterien total leer. Wenn ich an einem Buch arbeite, tue ich das während sieben Tagen in der Woche von früh bis spät. Ich kann mir momentan nicht vorstellen, je wieder ein Buch zu schreiben. Ich weiss aber, dass noch immer wieder etwas Neues kam. Liest man «Gerron», hat man stets das Gefühl, dem Schauspieler persönlich zuzuhören. Wie viel Gerron steckt in Ihnen? Diese Frage wird mir immer gestellt! Man steckt wohl in jedes Buch mehr Persönliches hinein, als einem bewusst ist. Ich hätte sicher nicht die Geschichte eines Theatermanns beschrieben, wenn ich nicht selber Theatermann wäre – denn ich weiss, wie Theaterleute denken. Ich bin ganz und gar in diese Figur hineingekrochen, am Schluss habe ich so gedacht, wie die Figur denkt. Aber mein Gerron bleibt immer eine Figur, die ich mir ausgedacht habe.

Weitere Bücher von Charles Lewinsky Melnitz (2006) 772 Seiten CHF 19.90 dtv

«Melnitz» brachte Charles Lewinsky den Durchbruch als Romancier. Das auf jeder Seite fesselnde Buch erzählt die Geschichte einer weit verzweigten jüdischen Familie in der Schweiz von 1871 bis 1930 – ein Meisterwerk. Johannistag (2009) 315 Seiten CHF 15.90 dtv

Ein Fremder kommt in ein verschlafenes Dorf in der französischen Provinz und wird bald Teil undurchsichtiger Intrigen. Der Roman erschien erstmals 2000 und wurde nach dem Grosserfolg von «Melnitz» neu aufgelegt. Zehnundeinenacht (2008) 189 Seiten CHF 29.90 Nagel & Kimche

Eine alternde Prostituierte als Scheherazade, die einem Ganoven jede Nacht eine Geschichte erzählt. Die raffinierten Erzählungen mit ihren oft überraschenden Wendungen kreisen alle um die Frage der Identität: Was macht ein Menschenleben aus? Doppelpass (2009) 319 Seiten CHF 29.90 Nagel & Kimche

Dieser Roman entstand als Fortsetzungsgeschichte für die «Weltwoche»: In 50 Folgen erzählt Lewinsky von zwei Männern aus dem Ausland, die in der Schweiz Fuss fassen wollen. Der eine ist ein Fussballstar, der andere ein illegaler Immigrant. Scharfsinnig und satirisch nimmt Lewinsky Vorurteile und das Schweizer Asylwesen ins Visier.

Gerron 544 Seiten CHF 39.90 Nagel & Kimche

www.books.ch – September 2011 – 13


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