150 Jahre Oberhessische Presse - Die Jubiläumsbeilage

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Oberhessische Presse

Samstag, 8. Oktober 2016

Geschickte Dilettantinnen, barbarische Sänger 150 Jahre Kunst und Kultur in der Region: Ein Streifzug durch die bürgerliche Musikkultur der Stadt und des Kreises

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er „reizende Gesang der geschicktesten Dilettantinnen, an denen Marburg so reich ist“ verschönerte die Konzerte des Akademischen Konzertvereins, schrieb die Oberhessische Zeitung 1886. Es ist eines der frühesten Zeugnisse über die Aktivitäten des Vereins, der 100 Jahre zuvor als „Gesellschaft des LiebhaberConcerts zu Marburg“ gegründet worden war. Der Vorläufer des heutigen Konzertvereins war die erste „bedeutende kulturelle Vereinigung“ in Marburg, wie Hartmut Wecker im „Streifzug durch die Geschichte des Konzertvereins“ schreibt. Die Konzerte fanden anfangs im Wechsel bei den Mitgliedern statt. Der Gastgeber „hatte für einen schicklichen Ort, für Feuerung, Lichter und Bier zu sorgen (. . .) welche Tabak rauchen oder sonst etwas genießen wollten, (mussten) sich dergleichen mitbringen oder für Geld holen lassen“. Marburg war Mitte des 19. Jahrhunderts ein kleines Städtchen, mit einem Schloss und der berühmten Elisabethkirche, das glücklicherweise eine Universität besaß. Der Großteil der Marburger war bitterarm, Oberhessen eine der rückständigsten Regionen in Deutschland. Kühe und Ziegen wurden durch die Stadt getrieben, in der knapp 8 000 Einwohner lebten, darunter rund 260 Studenten und 51 Professoren. Erst mit der Annexion Kurhessens durch Preußen im Jahr 1866 erwachte die im Mittelalter bedeutende Stadt aus einem langen Dörnröschenschlaf. Es wurde gebaut, das Bürgertum erstarkte. Wenn es damals in Marburg so etwas wie eine Kunst- und Kulturszene gegeben hat, dann war sie eng verknüpft mit der noch kleinen Universität. 1846 hatte die Philipps-Universität erstmals den Titel eines Universitäts-Musikdirektors verliehen. Ein Akademischer Gesangverein wurde gegründet, ebenso ein Akademischer Musikverein.

Die 1894 im Renaissance-Stil errichteten Stadtsäle an der Ecke Universitätsstraße / Gutenbergstraße waren bis zum Abriss 1972 die zentrale Veranstaltungsstätte in Marburg. Es gibt eine nette Anekdote aus der Spätzeit: Der Friseur Ferdinand Kilian jr. war einem Betrüger aufgesessen, der die Beatles nach Marburg bringen wollte. Der Marburger Filmemacher Michael Wulfes machte daraus 2006 einen Dokumentarfilm über das Lebensgefühl der damaligen Jugend. Die Pilzköpfe sollten angeblich in den Stadtsälen auftreten. Dem damaligen OB Georg Gaßmann war das recht: Sie könnten dort ruhig auftreten, die Stadtsäle würden ohnehin abgerissen. Foto: Bildarchiv Foto Marburg 1881 gingen sie im Akademischen Konzertverein auf, der 1908 in den Marburger Konzertverein umbenannt wurde. Mit Gustav Jenner, der am 1. März 1895 zum 9. Academischen Musikdirector der PhilippsUniversität berufen wurde, nahm der Konzertverein einen rasanten Aufschwung. Auch die Stadt wuchs: 1887 zählte die Universität erstmals mehr als 1000 Studenten, 1909 waren es 2000, die Stadt hatte rund 20 000 Einwohner. Die Konzerte fanden in den 1894 errichteten Stadtsälen

statt, die 556 Plätze reichten oft nicht aus. Es war die erste große Blütezeit des Konzertvereins. Der Konzertverein hatte den 1. Weltkrieg überstanden und die Wirtschaftskrise der 1920er-Jahre. Gegen die Nationalsozialisten aber hatte er keine Chance, die duldeten keinen bürgerlichen Verein neben ihrem „Kampfbund für deutsche Kultur“. Nach dem Zweiten Weltkrieg meldete sich der Konzertverein 1958 zurück. Er existiert bis heute, organisiert jährlich rund zehn Abonnementkon-

zerte. Aber die Zeiten, als große Konzerte in der Stadthalle regelmäßig ausverkauft waren, sind vorerst vorbei. Parallel zu den akademisch geprägten Musik-Vereinen in Marburg entstanden im 19. Jahrhundert überall im Kreis wie in ganz Deutschland Gesangvereine. Der älteste ist Eintracht Biedenkopf, gegründet 1837. Ein Jahr später folgten Orpheus Wetter und der MGV Kirchhain. Danach ging es Schlag auf Schlag. Die Gründungswelle im heutigen Kreis Marburg-Bieden-

Kunstszene emanzipiert sich von Uni Von Otto Ubbelohde und Carl Bantzer bis zum Marburger Kunstverein

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ünstler hatten es schwer in Marburg. Es gab keine Akademie, nur wenige zahlungskräftige Kunden. Denkt man in Marburg an berühmte Künstler fallen Kunstfreunden jedoch sofort zwei Namen ein: Der Märchenillustrator Otto Ubbelohde, 1867 in Marburg geboren und 1922 in Goßfelden gestorben, sowie der Maler Carl Bantzer – 1857 in Ziegenhain geboren und 1941 in Marburg gestorben. Zu nennen ist auch Paul Baum (1859 bis 1932), einer den wenigen deutschen Pointillisten. Baum kaufte sich 1921 in Marburg ein Haus. Es wurde sein ständiger Wohnsitz. Bekannt ist vielleicht noch Heinrich Giebel, 1865 in Kassel geboren und 1951 in Marburg gestorben. Giebel wurde 1912 Zeichenlehrer an der Philipps-Universität. Alle waren eng verbunden mit der Willingshäuser Malerkolonie. In dem kleinen Dorf in der Schwalm, nahe Neustadt gelegen, entstand 1824 die älteste Künstlervereinigung in Europa, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Bestand hatte. Einen Maler gibt es noch, einen fast vergessenen: den Marburger Weltreisenden Friedrich Klingelhöfer (1832 bis 1903), dessen Afrika- und Amerikabilder zur Sammlung des Kunstmuseums der Universität gehören. Ein zentraler Baustein in der Entwicklung der Marburger

Kunstszene war 1927 der Bau des Ernst-von-Hülsen-Hauses und der Aufbau eines Kunstmuseums mit einer eigenen Sammlung für Gegenwartskunst und wechselnden Ausstellungen. Zurzeit wird das Museum in der Biegenstraße saniert. 2018 soll es wiedereröffnet werden. Eng verbunden damit ist der Name Richard Hamann. Der Kunsthistoriker gründete auch das international bedeutende Bildarchiv Foto Marburg und prägte in Marburg eine Ära. In den 1960er-Jahren übergab er dem Unimuseum seine private Kunstsammlung. Vor kurzem folgte eine zweite große Schenkung: Die herausragende Sammlung der Marburge-

rin Hilde Eitel erweitert den Bestand um Nachkriegskunst. Nach dem Zweiten Weltkrieg emanzipierte sich die Kunstszene von der Universität. Aus einem Künstlerkreis um den bekannten Maler Franz Frank entstand 1953 der Marburger Kunstverein, der heute rund 600 Mitglieder hat. Von 1958 bis 2000 präsentierte er seine Ausstellungen am Markt 16, im Jahr 2000 zog er um in das neue, große Ausstellungshaus am Gerhard-Jahn-Platz. Die Gründung des Kunstvereins war die zweite Initialzündung für die lokale Kunstszene. Inzwischen gibt es an der Philipps-Universität ein Institut für Bildende Kunst mit 130 Studie-

renden und einem Masterstudiengang mit Masterateliers für 30 Studierende – also ein Schritt hin in Richtung Kunstakademie, die Marburg nie hatte. Längst haben sich in Marburg und im Landkreis neue Kunstund Ateliergemeinschaften gebildet: Die Werkstatt Radenhausen etwa, das Atelier Cölber Mühle oder die Künstlervereinigung Marburg-Biedenkopf. Nach wie vor rar sind in Stadt und Landkreis Ausstellungsmöglichkeiten für die lokalen Künstler, obwohl es derzeit zwei professionell geführte Galerien gibt: die Lorraine Ogilvie Gallery von Dr. Michael Herrmann und die Galerie von Michael W. Schmalfuß.

Ein ungewöhnlicher Blick auf das Kunstmuseum der Universität im 1927 errichteten Ernst-vonHülsen-Haus. Der Bauzaun weist auf die Spendenaktion hin.

kopf endete mit dem MGV Marbach (1890), dem Gesangverein Kleinseelheim (1893) und dem MGV Niederweimar (1895). „Bald gab es in fast jedem Dorf einen Chor“, sagt Uwe Henkhaus. Henkhaus ist der Marburger Chorexperte. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hessischen Musikarchiv im 1925 gegründeten musikwissenschaftlichen Institut der Philipps-Universität, einem der ältesten in Deutschland. Zudem ist er Chorleiter und Dozent an der Chorleiterschule Marburg. „Im 19. Jahrhundert wurde vor allem in den Dörfern noch viel gesungen, eigentlich bei jeder Gelegenheit“, sagt Henkhaus. Instrumente gab es kaum, die waren zu teuer. Der bereits erwähnte Uni-Musikdirektor Gustav Jenner, der in Wien Schüler von Johannes Brahms war, blickte 1897 in einem Brief an einen Freund herab auf die Sangesfreude der Hessen: „Die Landleute singen viel und immer mehrstimmig, aber so scheußlich und geradezu barbarisch, dass die Hunde heulend davonlaufen würden, wenn sie nicht daran gewohnt wären.“ Die Gründung so vieler Gesang- und auch Turnvereine hing, so Henkhaus, mit der politischen Situation zusammen. In der sogenannten Franzosenzeit von 1792 bis 1815 war das in viele kleine Fürstentümer zersplitterte Deutschland von Napoleons Truppen besetzt. Der aufkeimende Nationalgedanke und der Rückzug auf deutsches Liedgut war eine Reaktion darauf. „Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde ersungen und erturnt“, sagt Henkhaus. Gegründet wurden die Gesangvereine von den Honoratioren der jeweiligen Kleinstädte und Dörfer. Die Mitglieder

– durchweg Männer – waren hochgeachtete Mitglieder der örtlichen Gesellschaft. Bis heute haben die Gesangvereine eine große soziale Funktion. Die Nazis hatten kaum Probleme mit den Gesangvereinen, sie ließen sich gut instrumentalisieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die Gesangvereine noch einmal einen enormen Aufschwung. „Viele Menschen haben im vom Krieg zerstörten Deutschland neue, feste Strukturen gesucht“, sagt Henkhaus. Der Einbruch kam in den späten 60er- und 70er-Jahren. Die Menschen wurden mobiler, die Auswirkungen von Radio und Fernsehen dürfe man ebenso wenig unterschlagen wie die 68er-Bewegung, für die die Gesangvereine Ausdruck des Ewiggestrigen waren. Viele klassische Gesangvereine haben heute Nachwuchsprobleme. „Es wird nicht mehr in jedem Dorf einen Gesangverein geben, aber die Menschen werden weiter singen“, sagt Henkhaus. „Sie suchen sich ihre Chöre.“ Davon gibt es in Marburg viele ambitionierte wie Hessen Vokal, Joy of Life, Canticum Antiquum, den Unichor oder die großen Oratorienchöre wie die 1992 gegründete Kurhessische Kantorei Marburg, die vor etwa 30 Jahren gegründete Kantorei der Elisabethkirche, den 1966 gegründeten Bachchor oder den um 1970 gegründeten Konzertchor, die heute das Marburger Musikleben nachhaltig prägen. Zudem gibt es in Marburg und im Landkreis heute viele Angebote, selbst musikalisch aktiv zu werden. Posaunenchöre, Kapellen, Laien-Orchester wie das Studenten-SinfonieOrchester, die Junge Marburger Philharmonie, das Kammerorchester Marburg oder das Collegium musicum Stadtallendorf. Die Eckelshausener Musiktage bieten jedes Jahr ein renommiertes Kammermusik-Festival. Rund 80 Rock-, Pop- oder Jazzbands runden das Angebot ab.

Romantiker und Nobelpreisträger Zwischenstation für viele Autoren

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n einer Universitätsstadt, in der Ideen geboren und diskutiert werden, in der gelehrt wird, spielt das geschriebene Wort natürlich eine zentrale Rolle. Neben berühmten Juristen, Medizinern, Forschern und Theologen haben in Marburg zumindest zeitweise auch berühmte Autorinnen und Autoren gelebt. Um 1800 herum war Marburg ein Zentrum der deutschen Frühromantik: Bettina und Clemens Brentano, Caroline Schlegel-Schelling, Friedrich Carl von Savigny, Jacob und Wilhelm Grimm, Ludwig Emil Grimm, Sophie Mereau und Karoline von Günderode lebten, schrieben und diskutierten in den Salons, die das Bürgertum als Ort des Austauschs entdeckt hatte. Die Literaturnobelpreisträger Boris Pasternak und Thomas Stearnes Eliot hielten sich kurz in Marburg auf: Der Russe Pasternak studierte von 1912 bis 1914 an der Philipps-Universität, der Amerikaner T. S. Eliot besuchte 1914 einen Universitätskurs. Berühmt wurde auch die deutsch-amerikanische Soziologin und Schriftstellerin Hannah Arendt, die von 1924 bis 1926 in Marburg studierte. Konrad Duden, der Gründer des gleichnamigen Wörterbuches, promovierte 1854 in Marburg.

Marie-Luise Kaschnitz schrieb in Marburg zwischen 1937 und 1941 ihren Roman „Elissa“. Christine Brückner, eine der populärsten deutschen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts, studierte in Marburg und leitete im Hungerjahr 1946/47 die Uni-Mensa. Berühmt ist ihre „Poenichen“Trilogie. Nur einen Roman schrieb die 1911 in Marburg gestorbene AuAgnes Die Brüder torin Grimm, Boris Günther: „Die P a s t e r n a k Heilige und ihr rührte und Elisabeth Narr“ aber Millionen Herrmann. zu Tränen. Nicht vergessen darf man die 1959 in Marburg geborene Krimiautorin Elisabeth Herrmann, die aktuell erfolgreichste heimische Schriftstellerin. Für fast alle gilt: Die Universität hat sie nach Marburg gelockt, die Stadt war eine Zwischenstation auf ihrem Weg.


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