12 Lunea
Herr Holliger, wann haben Sie an gefangen, sich für den Dichter Nikolaus Lenau zu interessieren? Ich kannte ihn als Lyriker seit langer Zeit und konnte gut nachvollziehen, dass seine Gedichte viele Komponisten zum Schreiben angeregt haben. Er ist ja einer der meistvertonten Lyriker des 19. Jahrhunderts. Aber die ganz grosse Faszination ging für mich nicht von seinen Gedichten aus. Ich fand sie ver gleichsweise konventionell. Um das Jahr 2000 habe ich dann in einer Berliner Buchhandlung Lenaus «Notizbuch aus Winnenthal» gefunden und sofort ge kauft. Darin entdeckte ich so unglaubli che Sätze wie: «Bin ich eine Alpenlerche oder ein Kondor – ein singender Punkt am Himmel oder eine jauchzende Welt kugel?» Das hat mich sofort gepackt, auch weil es Parallelen zu Hölderlin gibt, den ich ja ausserordentlich schätze.
Die Illustration auf Seite 10/11 zeigt eine historische Klecksografie von Justinus Kerner, einem Dichterfreund von Nikolaus Lenau, der (vor Hermann Rorschach!) mit Hilfe von Tintenklecksen und Papierfaltungen symmetrische Figuren schuf, die er spielerisch und mit romantischer Fantasie gegenständ lich interpretierte.
Winnenthal ist eine Nervenheilanstalt bei Stuttgart, in die Lenau im Oktober 1844 eingeliefert wurde. Ja, das Büchlein gehört zu den letzten dichterischen Äusserungen von Lenau. Ein regelrechter Durchbruch meiner Begeisterung für Lenau kam dann mit der Lektüre seiner sogenannten Zettel. Der Ton, der darin angeschlagen wird, hat mich unglaublich fasziniert, weil er so fern ist von der Sprache der Gedichte. Es ist eine Sprache von einer für die damalige Zeit atembe raubenden Kühnheit und Neuheit. Das liest sich, als ob es fünfzig Jahre später entstanden wäre, als ob Franz Kafka, Georg Trakl oder Georg Heym es geschrieben hätten. Das ist natürlich genau meine Welt. Mit welcher Intention hat Lenau diese «Zettel» geschrieben? Für ihn waren es schnell aufs Papier ge worfene Tagebuchnotizen. Sie sind, anders als seine Gedichte, nicht gereimt und in freier Rhythmik verfasst. Seine Lyrik krankt ein wenig daran, dass er die Konventionen des biedermeierlichen Gedichteschreibens bedient. In den Zetteln aber bricht sich eine entfesselte Sprache Bahn, die man diesem Dichter gar nicht zugetraut hätte.
Wann sind die Zettel entstanden? Genau weiss man es nicht, aber wahr scheinlich in den letzten vier Jahren vor dem Nervenschlag, den Lenau 1844 erlitten hat, und von dem er sich nicht mehr erholte. Sein Schwager Anton Schurz, der auch Lenaus erster Biograf war, hat die Zettel gesammelt. Sie wurden 1906 veröffentlicht, damals ohne nennenswertes öffentliches Echo. Die Zettel sind also enstanden, bevor Lenau wahnsinnig wurde? Kurz vorher, ja. Haben sich da schon Bewusstseins veränderungen bei ihm bemerkbar gemacht? Seine Freunde haben in dieser Zeit selt same Veränderungen in seinem Ver halten festgestellt. Er habe zwanghaft immer die gleichen Sätze gesagt. Er reiste rastlos in Expresskutschen zwischen Wien und Stuttgart hin und her, war nirgendwo mehr zu Hause, suchte bei Frauen vergeblich nach Halt in seinem Leben. Es waren eben diese Lenauschen Gedankenblitze, die sie zu Musik in spiriert haben? 23 davon habe ich zunächst für Stimme und Klavier vertont und für Christian Gerhaher geschrieben, der sie vor fünf Jahren hier am Zürcher Opernhaus uraufgeführt hat. Aber ich habe immer gespürt, dass da noch mehr drinnen steckt. Die Worte sind wie Blitze, die in alle möglichen Richtungen aufzucken. Sie sind von grosser Strahlkraft. Hinter, über und unter ihnen tun sich schwindel erregende Räume auf. Da habe ich mich als Komponist herausgefordert ge fühlt, diese Räume mit Musik auszuloten und auszugestalten. Es war aber nicht nur Lenaus Sprache, die sie begeistert hat, sondern auch dessen Leben. Für mich wurde er immer mehr zu einer faszinierenden Figur, die es zu ent decken galt. Lenaus Begabungen müssen unglaublich vielfältig gewesen sein. Er wurde in Ungarn geboren, hat in Buda pest Medizin, Agrikultur, Philosophie