48 Auf dem Nachhauseweg
Fürst Gremin an der Haltestelle Kennen Sie schon Frau Mani? Sie ist die Protagonistin unserer neuen Kolumne «Auf dem Nachhauseweg», die an dieser Stelle von nun an erscheint. Die Zürcher Schrift stellerin Dana Grigor cea hat sie für uns erfunden. Frau Mani ist eine leidenschaftli che, man möchte fast sagen: manische Opernbesucherin. Begeisterungsfähig, klug, kritisch und ein bisschen extra vagant. Frau Mani lebt so sehr mit der Oper und für die Oper, dass sich Kunst und Leben bei ihr manch mal vermischen.
Wohin nur mit diesen Wallungen, fragt sich Frau Mani, als sie nach der Vorstellung in die Kühle des Abends hinaustritt. Mit schnellen Schritten, als wäre ihre Eile dem Tramfahrplan geschuldet, überquert sie den Sechseläutenplatz in Richtung Bellevue. In der Abendbeleuchtung stehen die schlanken Stämme der Tulpenbäume vor der Collana Bar hell wie russische Birken. Ein unsteter Wind streicht vom See her über den Platz. Er trägt für Frau Mani nochmals die letzte Streicherpartie aus Tschaikowskis Jewgeni Onegin heran. In Erwartung der dräuenden Bässe läuft ihr ein Schauer über den Rücken. Was war das im dritten Akt für ein Wiedersehen Onegins mit der doch zurück gewiesenen Tatjana! Aus dem Backfisch war eine wunderschöne Frau geworden, auch noch fürstlich verheiratet. Frau Mani gesteht sich ein: Diese Szene verfolgt sie stets mit einer gewissen Genugtuung, Onegin kann ihr nicht schlimm genug leiden. Auch auf Knien ist er forsch, sagt Tatjana. «Dein Lebensglück wirst du verscherzen. Wenn dich mein Flehen nicht bewegt.» Ha! Frau Manis Atem geht schneller. Die reife Tatjana hat sie wieder beeindruckt, ihre Grandezza! Und wenn auch sie, Frau Mani, nun einem Mann aus ihrer gar nicht so weit zurückliegenden Jugend begegnen würde? So wie sie jetzt aufgemacht ist, das hell erleuchtete Opernhaus im Hintergrund? Andreas, zum Beispiel, rein zufällig? Aber wer glaubt noch an den Zufall, nach diesem Abend mit den weiten, allesumspannenden Legatobögen! Da fehlt nur ein Fürst Gremin an ihrer Seite, zum Beispiel der Herr mit dem schon etwas schütteren Haar, der am Ende des ersten Akts «Brava!» gerufen und sich dann zu Frau Mani umgedreht hat. «Fantastisch», hatte er gesagt. «Ja, wirklich phäno menal», hatte Frau Mani geantwortet. «Was für eine schlank geführte, strahlende Stimme, diese Tatjana! Und die Violinen, Klarinetten, Flöten, die Hörner, jeder Ton genau da, wo er sein muss!» «Sind Sie Opernkritiker?», hatte Frau Mani gefragt. «Leider nein. Ganz anders … ich arbeite bei einer Versichrung.» Also doch ein Fürst Gremin! Bei der Garderobe hatten sie sich nochmals kurz unterhalten, beide ein Bonbon in der Backe. Den Lenski fanden sie grandios, hohe Musikalität, technische Bravour. Frau Mani schämte sich etwas dafür, dass sie bei der Sehnsuchtsarie weinen musste. Überhaupt müsse sie jedes Mal an Puschkin denken, der genauso tragisch, im Duell, starb. «Zur Tragik bedarf es einer gewissen Einfältigkeit», entgegnete der Mann heiter. Im Tram sitzt eine Gruppe Jugendlicher. Bierdosen in der Hand, sind sie ermat tet von dem allzu vielen «Vorglühen». Frau Mani setzt sich in ihren Rücken. Sie mag es, wenn sich die Besucher aus der Oper unter die weniger feierlich gekleideten Fahr gäste mischen. Sie faltet die Besetzungsliste und steckt sie in die Handtasche, zu Hause hat sie ein ganzes Regal davon. Nächste Woche geht sie in die Zauberflöte, sie wird im Inter net die neue Besetzung nachschauen. Sie blickt hinaus. Zumindest wollte sie das. Doch der See – oder ist es die Nacht? – spiegelt sich in den Glasscheiben des Trams, die Menschen auf dem Sechseläutenplatz, die erleuchtete Oper. Sie neigt den Kopf etwas zur Seite. Nun sieht sie klar. Die Szenerie beruhigt sie, wenn ihr auch noch heiss ist. Onegin, Tatjana … ihre Gedanken kreisen um das, was hätte sein können – um das, was auch in ihrem Leben hätte sein können, «ach, wie war das Glück so nahe!» Als sich die Türen schliessen, bleibt ein Mann nach dem vergeblichen Spurt allein bei der Haltestelle zurück. Es ist der Herr aus der Oper. Frau Mani winkt ihm nach. Dana Grigorcea