oead.news 104

Page 8

8

Jörg Dräger

Für jeden das Passende Wenn wir digitale Werkzeuge im Unterricht richtig nutzen, bleibt mehr Zeit für das Wesentliche: individuelle Förderung und Persönlichkeitsbildung.

Dr. Jörg Dräger ist seit 2008 Bildungsexperte im Vorstand der Bertelsmann Stiftung und verantwortet dort die Bereiche Bildung und Integration. Weiters ist er Geschäftsführer des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE). Zuvor war der promovierte Physiker Wissenschaftssenator in Hamburg. Im September 2015 ist Drägers Buch »Die digitale Bildungsrevolution« erschienen.

© pokemon | Pixabay

Vor allem Kinder aus bildungsferneren Familien brauchen Unterstützung von ihrer Schule, damit sie moderne Medien nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch zum Lernen nutzen.

In einem riesigen Raum der New Yorker David-A.Boody-Schule lernen etwa 90 Schüler/innen jahrgangsübergreifend Mathematik an wechselnden Stationen. Die einen schauen Videos, die anderen nutzen Lernsoftware, andere arbeiten in Gruppen oder sprechen mit dem/der Lehrer/in. Alle Schüler/innen können in ihrer Lerngeschwindigkeit und auf ihrem Leistungsniveau arbeiten. Basierend auf den Leistungen errechnet eine Software nachts ein individuelles Curriculum für jede/n Schüler/in. Ein Schüler kommt morgens in die Schule und sieht auf dem Bildschirm: »Aha, ich muss an Station Sieben noch Bruchrechnen wiederholen«, während andere Schüler/innen der Klasse schon an ganz anderen Lektionen arbeiten. Kommt eine/r der Schüler/innen mit dem Lernprogramm nicht weiter, erhält der/ die Lehrer/in automatisch einen Hinweis und kann gezielt helfen. Das geht nicht für alle Schüler/innen gleichzeitig, aber für diejenigen, die gerade Hilfe nötig haben. Lehrer/innen werden so zu Lernbegleiter/innen. Sie verwenden weniger Zeit darauf, Standardwissen zu vermitteln, und mehr, um auf den Einzelnen einzugehen. Die David-A.-BoodySchule ist Teil der Initiative »New Classrooms« in den USA. Unterschiedliche Talente, Kenntnisse und Erfahrungen – so verschieden wie der Mensch ist, so individuell lernt er auch. Die heutigen Bildungssysteme können darauf aber zu wenig Rücksicht nehmen. Egal ob Schule, Hochschule oder Weiterbildung: Alles ist weitgehend standardisiert und vereinheitlicht. Diese Standardisierung ist Konsequenz und Preis einer der größten Errungenschaften unserer Gesellschaft – des Bildungszugangs für alle. Bis Wilhelm von Humboldt die Bildung demokratisierte, ließen Adel und wohlhabende Bürger/innen ihre Kinder von Privatlehrer/innen erziehen, der Rest der Gesellschaft blieb unwissend. Die einen lernten somit äußerst personalisiert, die anderen gar nicht. Humboldt wollte mehr Gerechtigkeit: Das Modell Privat-

lehrer/in ließ sich aber nicht für alle verwirklichen, weder gab es dazu genug Pädagog/innen, noch war das auch nur ansatzweise finanzierbar. So entstand unser allgemeines Schulwesen. Die Schulpflicht führte jedoch zwangsläufig zu einer Vereinheitlichung der Inhalte, Lernwege und Vermittlung. Aus der einst persönlichen Förderung für wenige durch Privatlehrer/innen wurde notgedrungen eine Massenbildung für alle. Damit die damit einhergehende Heterogenität der Lerngruppen nicht zum Problem wird, will die moderne Pädagogik individueller fördern: Jede/r Schüler/in bekommt einen persönlichen Lernplan mit zugeschnittenen Aufgaben. Das allerdings ist sehr aufwendig und geht meist einher mit Forderungen nach mehr Personal und kleineren Klassen. Entsprechend langsam setzt sich die individuelle Förderung in der analogen Welt durch. Deswegen individualisieren Eltern das Lernen ihrer Kinder oft auf eigene Faust mit Nachhilfe, privaten Lernangeboten am Nachmittag, Sprachurlauben oder dem Internatsbesuch. Während sich die einen so ein besseres, persönlich zugeschnittenes Angebot verschaffen, bekommen andere weiterhin Bildung von der Stange. Doch jetzt können digitale Hilfsmittel allen Schüler/innen personalisiertes Lernen ermöglichen. Weniger Wissensvermittlung Das Konzept »New Classrooms« verbessert die Chancen von Schüler/innen, wie an der David-A.Boody-Schule, wo 80 Prozent aus sozial schwachen Familien kommen. Bevor dort das Konzept Einzug gehalten hatte, lag die Leistung der Sechstklässler/ innen knapp unter dem Durchschnitt vergleichbarer Schulen. Als dieselben Kinder die achte Jahrgangsstufe absolvierten, waren ihre Prüfungsergebnisse bereits elf Prozent besser als der Durchschnitt. Heute lernen die Schüler/innen von »New Classrooms« beinahe anderthalbmal so viel pro Jahr wie Schüler/-


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.