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Wenn Tenöretiefaus derBrust zumhohen Cansetzen, gerätdas PublikuminEkstase.JuanDiego Flórez beherrscht heutedie höchsten Tonlagen wie kaum einZweiter.Am27. Oktober2025wirderin der ScaladiMilanoinseinerParaderolle als Tonio in «Lafille du régiment» gleich neunmal zum hohenCansetzen–exklusiv zum130.Geburtstagdes Schweizer TraditionsveranstaltersTwerenbold.
Enrico Caruso,Luciano Pavarottioder
Plácido Domingo: DiebestenTenöre sindweitüberdie Opernwelthinaus bekannt. Aufder Bühne verkörpern sie Helden, stellen PrinzenoderLiebhaber dar.Verglichenmit den ebenso verehrtenSopranistinnen sindwirklich gute Tenörewesentlich rarer– unddaher umso gefragter.
Ausnahmekönner
Juan Diego Flórez
Wasdie Spreuvom Weizen trennt, ist das hoheC.Die meisten Männer erreichen diese Tonlage nurmit der Kopfstimme. Damitesheroischklingt,muss das hoheC aber aus der Brust kommen. Dannentfaltet es eine kraftvolle Magieund beschertGänsehautMomente.Selbst fürden begnadeten
Bild) bedeutet jedes
C eine neue derung. «Gelingt es, atme ich verrät er Der Stern des Peruaners ging früh
StartenorJuanDiego Flórez (im ld) bedeutetjedes hohe Ceine neue Herausforderung.«Gelingtes, atme ich auf», verrät er DerStern desPeruaners Juan Diego Flórez ging üh auf: Mit 23 Jahren sprang er am renom-
miertenRossini OperaFestival1996in Pesaro spontanfür einen erkrankten Kollegen ein. Sein erster Auftrittals Tenor auf derOpernbühne begeistertedie Kritik. Die Mailänder Scala engagierteihn gleich für dieSaisoneröffnungund das Weihnachtskonzert Seitherfolgt auf denrenommiertesten Opernbühnender Welt einAuftritt auf dennächsten.
Opernspektakel der Extraklasse
Seineberühmteste Rolle ist Tonio in GaetanoDonizettisOper«La fille du régiment». In derArie«Ah! mesamis» folgen gleichneunhohe Ckurzaufeinander.Flórez meistertdiese Höchstschwierigkeit wiekaumein Zweiter, prickelndund mitreissend, ein Opernspektakelder Extraklasse.Am27. Oktober2025, 185 Jahrenach derWeltpremiere deritalienischen Fassungvon «Lafille du régiment»imTeatroalla Scala in Mailand, kommen dieGäste mit Twerenbold ebenda exklusiv in den Genuss der neun hohen Cdurch Juan DiegoFlórez in derRolle desTonio –einErlebnis, das unterdie Haut gehen wird!
Jubiläums-Highlight Scala di Milanomit Twerenbold
Die drei Jubiläums-Musikreisen zum130.Geburtstag desMusikreisespezialisten Twerenbold mündeninein unvergessliches Highlight: die exklusiveAufführung derOper«La fille du régiment»mit StartenorJuan Diego Flórez in der HauptrolleimTeatroalla Scalain Mailand. Davorlockt wahlweiseein hochstehender Musik- und Reisegenussin Turin, Florenzoder Mailand:
Turin undMailand:
22.bis 28.Oktober 2025 Buchungscode: imm29a
Florenzund Mailand: 22.bis 28.Oktober 2025 Buchungscode: imm29c
Mailand: 24.bis 28.Oktober 2025 Buchungscode: imm29b
Philipp Meier Der Kunstmarkt reagiert sensibel auf das Zeitgeschehen, zeigt dabei aber immer wieder seine Resilienz Die Frühjahrsauktionen in New York, ein wichtiger Seismograf, waren durchzogen. Die Kundschaft gab sich wählerisch und selektiv Der Global Art Market Report 2025 von Art Basel und UBS hat gezeigt, dass der weltweite Markt für Kunst um 12 Prozent eingebrochen ist – um 25 Prozent bei Auktionshäusern, um 6 Prozent bei Galerien und Kunsthandlungen. Die Käuferschaft ist preisbewusster geworden.
Das ist aber nur das halbe Bild. Denn gleichzeitig lässt sich ein Anstieg an Transaktionen feststellen Im vergangenen Jahr wurde mehr Kunst verkauft als im Vorjahr. Dies lediglich zu geringeren Preisen. Rückläufig ist dabei vor allem das Preissegment von über zehn Millionen Dollar An der Spitze der Preispyramide ging aber nicht nur die Nachfrage, sondern auch das Angebot zurück. Das ist allerdings keine besorgniserregende
Nachricht. Denn einerseits ist der obere Bereich des Kunstmarkts stets stärkeren Schwankungen ausgesetzt, Spitzenwerke vor allem im Feld der klassischen Moderne werden immer rarer auf dem Markt Und auch das Angebot der Nachkriegskunst im qualitativ höchsten Segment lässt sich nicht beliebig vermehren. Anderseits ist die Nachfrage nach Kunst, insbesondere nach aktueller Gegenwartskunst, nach wie vor robust «Wir sehen viele neue, auch jüngere Käufer», sagt Maike Cruse, Leiterin der Art Basel in Basel. «Vor allem auch hat sich die Kundschaft stark diversifiziert, wie wir an unseren verschiedenen Messen feststellen können Die Käufer und Käuferinnen stammen aus der ganzen Welt.» Grundsätzlich ist das eine positive Dynamik. Der Kunstmarkt generiert eine neue Generation von Sammlern und Kunstliebhaberinnen. «Diese kaufen zwar im niedrigeren Preissektor, das kann sich aber über die Jahre aufbauen zu einer stabilen Nachfrage auch in den
höheren Preissegmenten», sagt Cruse Neukunden kämen vor allem aus Südostasien, einer wirtschaftlich nach wie vor stark wachsenden Weltregion. «Wir lernen diese Käuferschicht an der Messe in Hongkong kennen. In der Folge tritt sie auch vermehrt in Basel an der Messe in Erscheinung», stellt Maike Cruse fest. Einen leichten Anstieg von neuen Kunstkäufern lasse sich auch aus dem Mittleren Osten beobachten. «Die Verbindung der Art Basel zum Persischen Golf besteht schon lange Wir arbeiten mit Galerien aus Ägypten, Tunesien oder Beirut sowie mit Kunstschaffenden aus der Region zusammen», sagt Cruse. Nun werde diese Beziehung durch die neue Messe in Doha im Februar nächsten Jahres zusätzlich gefestigt. Mit der Kunst aus dem arabischen Raum werde gerade eine neue Welt entdeckt, ist Maike Cruse überzeugt: «Das ist durchaus vergleichbar mit der Erschliessung der lateinamerikanischen Kunstszene an der Art Basel in Miami Beach vor über zwanzig Jahren.
Heute gehört Kunst aus Lateinamerika längst zum internationalen Kanon. Dasselbe fand in Hongkong statt, wo sich eine Tür nach Asien öffnete.» Davon profitiere auch die Messe in Basel mit ihren Galerien, Kunstschaffenden und Sammlern aus Lateinamerika und Asien. An die Art Basel am Rheinknie kämen mittlerweile Kunstbegeisterte aus über 90 Nationen. Dieses Jahr stellen in Basel 289 Galerien aus 42 Ländern aus Einmal mehr ist das grosse Highlight die kuratierte Ausstellung Unlimited in einer eigenen Halle Hier werden von den Galerien besonders raumgreifende Arbeiten präsentiert, die im Rahmen der regulären Messestände gar keinen Platz finden würden. Mit dem neuen Sektor Premiere wird aber auch der reguläre Messebereich neu durchmischt. Hier zeigen zehn Galerien Arbeiten von etablierteren Kunstschaffenden aus den letzten fünf Jahren. Ihre kuratierten Stände warten mit sorgfältig ausgewählten Positionen auf.
Art Basel ist ein Schwerpunkt des Unternehmens NZZ. Beilagen werden nicht von der Redaktion produziert, sondern bei NZZone von unserem Dienstleister für journalistisches Storytelling: NZZ Content Creation. Konzept: Philipp Meier Realisation: Christina Hubbeling Layout: Armin Apadana. Verkauf: Denise Morach. Kontakt: NZZone, c/o Neue Zürcher Zeitung AG, Falkenstrasse 11, CH-8021 Zürich, +41 44 258 16 98, sales@nzzone.ch, nzzone.ch. Hinweis: Nicht gekennzeichnete Inhalte sind publizistisch unabhängig entstanden; bei Gastbeitrag oder Sponsored Content handelt es sich um kommerziell erworbene Inhalte. IMPRESSUM
Die Hilti Art Foundation in Liechtenstein baut seit 1998 systematisch eine Kunstsammlung auf, die höchsten Ansprüchen genügt und vor allem auch junge Besucher anziehen will Die Palette der Werke reicht von den grossen Namen der Klassischen Moderne wie Kandinsky, Kirchner oder Picasso bis zu aktuellen Positionen der Gegenwartskunst.
ANNEGRET ERHARD
Es gab durchaus Kunst im Hause Hilti in Vaduz. Der bürgerliche Geschmack, die Tradition überwog Das Übliche, gut gewählt, doch nicht spektakulär, schon gar nicht der Avantgarde verpflichtet. Als der Vater starb, beschloss die Familie, das Erbe nicht aufzuteilen. Das galt im Übrigen auch – sehr segensreich –für das Unternehmen Die Sicherung des Fortbestands stand in jeder Hinsicht im Vordergrund. Aus dem 1941 von den Brüdern Hilti gegründeten Produktionsbetrieb wurde ein weltweit agierendes Maschinenbauunternehmen. Der HiltiSchlagbohrer wurde ab den sechziger Jahren und blieb bis heute – ähnlich wie «Tempo» für das Papiertaschentuch –zum generellen Gattungsnamen für den Schlagbohrer
Unter den geerbten Kunstwerken des 19 und frühen 20. Jahrhunderts befand sich – eher ungewöhnlich im Konzert der etablierten Artigkeiten – das Gemälde «Dunkles Meer» von Emil Nolde Eine aufgewühlte Seelandschaft, pastos und impressionistisch, nahezu monochrom mit wenigen Lichtakzenten dramatisch düster gestimmt. Wellen und Wolken verbinden sich am Horizont im Naturschauspiel. Diese souverän moderne Wahrnehmung Noldes, 1995 vom Vater erworben, betrachtet Michael Hilti, Präsident der Hilti Art Foundation, als Inkunabel der ab 1998 systematisch aufgebauten Sammlung
Die Sammlung soll höchsten Ansprüchen folgen Hilti betont jedoch, dass das Augenmerk insbesondere auf Arbeiten gerichtet sei, die Freude beim Schauen erzeugen,Werke, mit denen man sich umgeben und mit denen man leben möchte. Das klingt angenehm unverstellt Die Vermeidung der Klischees von Liebe und Leidenschaft ist sympathisch.
Seit vergangenem Jahr – der langjährige Direktor Uwe Wieczorek ist nun im Ruhestand – gibt es eine neue Direktorin. Karin Schick, promovierte Kunsthistorikerin, konnte für den Posten in Vaduz gewonnen werden. Bevor sie Leiterin der Abteilung für Klassische Moderne in der Hamburger Kunsthalle wurde war sie Direktorin des KirchnerMuseums in Davos Der neuerliche Schritt bedeutete den Wechsel von einer öffentlichen städtischen, staatlichen Institution mit all ihren positiven und negativen Begleiterscheinungen in ein sowohl unternehmerisch als auch an ganz privaten Interessen ausgerichtetes Umfeld. Die Entscheidung fiel schnell. Schick reizte das Potenzial. Die Berge waren ihr schon in Davos lieb und vertraut geworden. Das dörflich-kleinstädtische Klima schreckte sie nicht.
Zusammenstoss der Gegensätze Für «In Touch» ihre erste grosse Präsentation mit vierzig Hauptwerken aus der Sammlung Hilti, hat sie ein Konzept erdacht, das zugleich auch als Manifest Wirkung zeigt. Sie verfolgt mit Werken von Kandinsky, Kirchner, Feininger, Macke, Picasso und all den anderen Vordenkern unserer Zeitgenossen, einen Pfad, der die Gemeinsamkeiten, aber oft auch die Gegensätze augenfällig macht. So prallt die kühl konstruierte Situation eines Raddampfers vor bedrohlichen Wellentürmen von Lionel Feininger mit dem ungebändigten Furor Ernst Ludwig Kirchners zusammen. Dieser schildert nämlich den «Weg zur Staffelalp» 1919 als überbordendes Ergebnis seines «Fanatischen Naturstudiums» wie er selbst einmal seine Ideensuche jener Jahre bezeichnete
Die Kuratorin versucht, mit überraschendem Erfolg, den Dialog herzustellen zwischen Picassos geradezu schwerelos, bei aller Erotik distanziert komponierter «Frau im Sessel» von 1932 und den ebenso fein wie streng ausbalancierten geometrischen Strukturen
der Schweizer Konstruktivistin Verena Loewensberg Gerade im Bereich der Skulptur gibt es zuvor ungedachte Verknüpfungen. Da ist Medardo Rossos «Malato al Ospedale» von 1889, ein Todkranker im Lehnstuhl Die impressionistisch aufgefasste Bronze des immer noch vielfach unterschätzten Italieners verzichtet auf konkrete Formulierung
Ihn interessiert die durch das Zusammenwirken von Licht und Materialität hervorgerufene Wahrheit des erfassten Augenblicks Anders als die Künstlerkollegen vor und nach seiner Zeit spart er explizit die Ausgestaltung der Rückseiten seiner Skulpturen aus. Es gibt eine Schauseite. Mehr braucht es nicht, um eine Arbeit zu verstehen so sein Einwand.
Und da ist anderseits das kleine, fast winzige Stabile von Alexander Calder, ein equlibristisches Kunstwerk, das nicht nur durch seine ästhetische Qualität erstaunt Calder brach ebenso mit den Konventionen der Bildhauerei Der Kinetiker, ursprünglich ein Maschinenbauingenieur, erkundete den Moment der Bewegung – das war seine Wahrheit. Ein überzeugendes Ensemble bilden die expressiv bewegten Bronzen von Max Beckmann und Willem de Kooning, positioniert vor dem letzten, einem Vermächtnis gleichenden Gemälde von Beckmann «Clown mit Frauen und kleinem Clown» von 1950 ist ein starkes Resumée des in den dreissiger Jahren Gebeutelten, des fortan Heimatlosen. Es ist wohl eine der jüngsten Erwerbungen der Hilti Art Foundation, ersteigert im vergangenen Jahr bei Ketterer Kunst in München.
Ungewöhnlich und aufschlussreich ist übrigens der jeweilige Vermerk zum Ankaufsjahr auf den Objektschildchen der Ausstellung Zum einen kann man nachvollziehen, wann, wie und mit welchen Schwerpunkten die Sammlung gewachsen ist. Zum anderen lässt sich, falls es sich um einen Kauf in einer Auktion handelt, über die einschlägigen Datenbanken der Preis feststellen. Ein vorbildliches Bekenntnis zur Transparenz.
Talent des Sammelns
Nun sollte man sich jedoch auch stets im Klaren darüber sein, dass ein erfolgreicher Unternehmer den Dingen grundsätzlich auf den Grund gehen will. Und sich bei aller frisch oder weniger frisch erworbenen Kenntnis der Exper-
Der private Sammler muss beim Erwerb eines Werks keinerlei Einschränkungen folgen.
tise von Spezialisten versichert. Fehlinvestitionen sind ihm – eine Déformation professionnelle – naturgemäss ein Greuel. Die inzwischen bereits legendäre Sammlung mit Hauptwerken der europäischen Kunst des 20 und zunehmend 21 Jahrhunderts ist ein Ergebnis profunder Auseinandersetzung und Beratung Aber auch ein Beispiel grosser Freiheit und des Muts individuelle Präferenzen zu markieren – Präferenzen, die über das sinnliche Erleben hinausgehen. Anregend soll sie sein, ein gültiges Bild der Zeitläufte, ein Spiegel der Befindlichkeit einer Gesellschaft, dazu eine Offenbarung künstlerischer Entwicklung auch radikaler Avantgarde Auf jeden Fall ein möglichst grandioser Spiegel des Ringens um Ausdruck und Form Spekulative Entwicklungsfantasien hinsichtlich des Marktwerts haben, so der Firmenchef, keinerlei Einfluss auf die Kaufentscheidungen. Richtig ist jedoch, dass solide Spitzenwerte auch Stabilität verheissen Und gewissen Kriterien folgen sollten.Welche Rolle spielt der Künstler im Kanon seiner Zeit? Entstand das Werk in seiner besten Schaffensphase? Genügen Wirkung und Qualität höchsten Ansprüchen? Wer in diesen Kategorien denkt und seine Erwerbungen, seine Sammlung in einem grösseren Zeitrahmen einordnet, der steht schon auf der sicheren Seite Mit Spekulation hat das nicht viel zu tun. Der private Kunstsammler muss beim Erwerb eines Kunstwerks keinerlei Einschränkungen kunsthistorisch oder dokumentarisch gebotener Überlegungen folgen Sein Massstab ist der visuelle und emotionale Kontakt mit dem Kunstwerk, persönliche Berührung und Erkenntnis Das bedarf freilich einer tragfähigen Mischung aus kühlem Urteilsvermögen und einer gewissen Hartnäckigkeit Kairos, der Gott des richtigen, des günstigen Zeitpunkts, ist der Komplize des talentierten Sammlers Und er scheint Michael Hilti wohl gesonnen zu sein. Obwohl er sich August Mackes Bild «Badende Mädchen» entstanden 1913, bei einer ersten Gelegenheit zu grösstem Bedauern entgehen liess Er begegnete der kleinformatigen, arkadischen Szene zehn Jahre später wieder: ein dicht und farbstark mit sicher gesetztem, kurzem Pinselstrich komponiertes Idyll, das er schliesslich für seine Sammlung ersteigern konnte Die Hilti Art Foundation wächst in wohltempe-
rierter Geschwindigkeit. 1998 gegründet, umfasst sie einerseits die Sammlung des Martin Hilti Family Trust, der sich auf Werke der Klassischen Moderne bis etwa 1950 konzentriert Anderseits auch die Privatsammlung von Sohn Michael und dessen Frau Caroline, die sich den Werken der Nachkriegskunst und der Gegenwart widmet. Von Anbeginn gibt es eine stets optimistisch gestimmte Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Liechtenstein. Man unterstützt die Institution mit Leihgaben und fördert Projekte Das gegenseitige Vertrauen durch fachkundige Kooperation spiegelt sich schliesslich auch in der architektonischen Lösung für den Neubau der Hilti Art Foundation. Das Privatmuseum wurde 2015 in enger Nachbarschaft zum Kunstmuseum Liechtenstein errichtet.
Junge Generationen ansprechen Ein gemeinsames Foyer bündelt den Besucherstrom. Die zeitgenössische Ausrichtung des Kunstmuseums und der klassische Ansatz der Hilti Art Foundation schaffen zusammen einen weiten Kontext – mal zur aktuellen Avantgarde, mal zu den visionären, oft radikalen Bildleistungen der Vergangenheit. Karin Schicks Bestrebungen, die Hilti Art Foundation über die Anerkennung des internationalen Kunstbetriebs hinaus zeitgemäss einzuordnen, münden in eine Position, die das Miteinander, die Kooperation, den Austausch in den Vordergrund rückt. Dazu gehören Projekte mit Kollegen und Werken anderer Museen, mit externen Kuratoren – und ein besonderes Augenmerk auf die durchweg medial bewanderten, vor allem auch jungen Besucher Mit ihnen möchte sie die Ausstellungen gemeinsam besuchen. Ein Schildchen neben dem Bild wäre da wohl das dürftigste Mittel der Wahl. In Vaduz bekommt man ausführliche multimediale Begleitung durch die Hallen. Ein Mediaguide mit Ton und Bild ergänzt die faktischen Mitteilungen zum kunsthistorischen Kontext mit Interviews Theatersequenzen, auch mit einer konzertant eingespielten Violinsonate
Das könnte einer der gangbaren Wege sein, den Zeitgeist zu erwischen und einer sich allerorten allzu leicht einstellenden Ausstellungs-Fatigue ein Bein zu stellen. Was wiederum und insbesondere für eine exquisite Sammlung eine interessante Herausforderung sein kann.
PHILIPP MEIER
Der Platz vor der Basler Messe ist eigentlich die grandioseste Plattform, die der Kunst im Rahmen der Art Basel geboten werden kann. Und wer könnte sie besser nutzen als jene international gefeierte Malerin, die sich immer wieder von den beengenden Bedingungen der klassischen Leinwand befreit hat, um ganze Räume als Malgrund für ihre Farbexzesse in Beschlag zu nehmen. Nun hat Katharina Grosse den Messeplatz in ein grosses Gemälde transformiert. Dabei bezog sie den ganzen Platz inklusive Brunnen und umliegende Architektur in ihr Werk mit ein.
Die deutsche Malerin gilt längst als Star Und ist geradezu prädestiniert für diesen Grossauftrag, der jedes Jahr für die Messetage der Art Basel an einen Künstler vergeben wird Katharina Grosse ist vor allem bekannt geworden für ihre ortsspezifischen Arbeiten. Ihre Malerei greift aus über möblierte Räume über ganze Gebäude über Parklandschaften und Strandabschnitte hinweg Alles wird übermalt, eingefärbt und mit leuchtenden Farben versehen.
«Ich will die Welt malen. Ich schwinge meine Pistole und alles, womit sie in Berührung kommt, verändert seine Farbe», sagt die Künstlerin zu ihrem Grossangriff auf den Basler Messeplatz. Bei ihr wird die Farbe anarchisch. Und sie erlaubt ihr, Kategorisierungen zu bekämpfen, wie sie selber sagt: «Die Farbe kann überall auftauchen und Grenzen überschreiten, um die Realität in etwas völlig Flüssiges zu verwandeln.»
Inklusion der Malerei
Die Aktion in Basel ist denn auch die grösste Arbeit im Aussenraum, die Grosse jemals realisiert hat. Im Vorfeld der Messe hat sich die Künstlerin eine ganze Woche Zeit genommen, zu malen. Für solche In-situ-Werke, denen unterschiedliche Planungsphasen vorausgehen, arbeitet Grosse mit grösseren Teams zusammen. Dabei werden Sprayguns benutzt, die bei diesen raumgreifenden Dimensionen permanent nachgefüllt werden müssen.
Diesmal konzentrierte sich die Künstlerin auf eine reduzierte Farbpalette, vor allem auf Magentatöne, auf Rot, Rosa und Weiss. Das klingt an ihre Aussenraum-Gemälde-Aktion in Rockway Beach bei New York im Jahr 2016 an. Dort hatte sie ein verlassenes Militärgebäude des Fort Tilden und den umliegenden Sand in den Dünen mit zarten Orange-Weiss-Tönen überzogen. Wie wohl niemand vor ihr hat Katharina Grosse den gängigen Vorstellungsrahmen von Malerei immer wieder gesprengt. Für sie kann Malerei nämlich auf jedem erdenklichen Bildträger stattfinden – vom Möbelstück bis zum Surfbrett. Malt sie überhaupt noch auf herkömmlichen Leinwänden, was sie tatsächlich tut, so nennt sie diesen Bereich ihres breit gefächerten Schaffens fast schon lapidar «Studio-Paintings» Katharina Grosses Malerei erschöpft sich aber nicht einfach im Anstreichen eines beliebigen Untergrunds. Was die Faszination ihrer Kunst ausmacht, ist der Umstand, dass jedes ihrer Werke im Grunde eine radikale Infragestellung von Malerei darstellt Grosse lässt dabei das Material, die Farben ebenso wie den Bildträger zu seinem Recht kommen. Alles wird in seiner je eigenen Beschaffenheit erfahrbar Es sind aber nicht nur die Farben und der Untergrund, die da sprechen und ihre Wirkung tun. Auch Schmutz, Staub, Verunreinigungen durch die Umgebung werden Teil des Werks Und im Aussenraum eben auch die ganze natürliche architektonisch gebaute Umgebung «Wir können es uns nicht mehr leisten, aus-
Die deutsche Starkünstlerin hat den Platz vor der Art Basel samt umliegender Architektur in ein grosses Gemälde transformiert. Die Aktion ist die grösste Arbeit im Aussenraum, die sie bisher realisiert hat.
zuschneiden, wegzulassen, auszugrenzen» hat die Künstlerin anlässlich einer grossen Retrospektive vor zwei Jahren in Bern gesagt Inklusion in der Malerei also? Katharina Grosse denkt viel über Malerei nach – wenn sie nicht gerade malt: Dann nämlich lässt sie sich von ihrer Intuition tragen. Sonst aber ist ihr Denken über Kunst wesentlich geprägt durch ihren historischen Hintergrund. Als deutsche Künstlerin nach dem Zweiten Weltkrieg ist ihr das demokratische Projekt ein wichtiges Anliegen. Die 1961 in Freiburg in Breisgau geborene Malerin hat den Nullpunkt der Kunst nach der Katastrophe von Krieg und Holocaust noch hautnah zu spüren bekommen: Wie malt man nach Auschwitz ein Bild?, lautete damals die grosse Frage Noch in ihrer Studienzeit hatte sie Leinwände zugemalt mit sumpfigem Braun – nicht anders, als es Gerhard Richter auch schon getan hat, indem er jegliche herkömmliche Vorstellung von einem Bild gleichsam ausradierte. Grosse entschloss sich Anfang der achtziger Jahre, Künstlerin zu werden. Sie studierte an der Kunstakademie Düsseldorf, wo auch Richter unterrichtete Ihre Vorväter neben Richter sind Maler wie Barnett Newman, der ein Bild auf einen Streifen Farbe reduzierte, oder Lucio Fontana, der seine Leinwände aufschlitzte und damit andeutete, dass Malerei weit mehr ist als Farbe auf einer flachen Unterlage.
Begehbare Malerei
1988 begann Grosse, sich industrieller Mittel zu bedienen. Sie arbeitete mit Spraygeräten, wie sie Verwendung finden, um Küchenkombinationen einzufärben Mit dem Einsatz solcher Apparate löste sich Grosse zusehends von den Regeln der Malerei: von der ehernen Trias Hand, Pinsel und Leinwand. Erstmals regelrecht begehbar wurde Grosses Malerei 2015 an der Biennale von Venedig Sie füllte im Arsenale einen ganzen Saal mit Trümmern und sprühte diese an so dass der Raum in knallbunten Farben flirrte Ihre erste räumliche Intervention sprayte sie bereits 1998, und zwar in der Kunsthalle Bern. Mit der sogenannten grünen Ecke vollzog die Künstlerin den entscheidenden Schritt weg vom Gemälde auf der Leinwand und direkt an die Wand. Katharina Grosse trägt Malerei aus dem Bildrahmen gleichsam hinaus in den Raum und in die Welt Die Besonderheit von Grosses künstlerischer Arbeit besteht aber nicht allein im Ausloten von Grenzüberschreitungen der klassischen bildlichen Darstellungsform. Vielmehr zeigt sich die Arbeit der Künstlerin auch in einem physisch-performativen Akt. Entscheidend für Grosses Malerei sind die gestischen Momente, die direkt aus ihrem eigenen Körper kommen. Das wird anschaulich in dem Film «Katharina Grosse – The Process», der für die gegenwärtige Ausstellung der Künstlerin in den Deichtorhallen in Hamburg (bis 14 September) produziert wurde Darin begleitet die deutsche Regisseurin Claudia Müller die Malerin während eines fünftägigen Arbeitsprozesses in ihrem Studio Es ist eine sinnlich-visuelle Annäherung an das Werk der Künstlerin Die Zuschauer werden direkt in den Malprozess miteinbezogen und Zeuge davon, wie ein Bild Schritt um Schritt entsteht.
Da kommt leicht auch die ewige Frage auf:Wann ist ein Bild fertig? Diese kann allerdings nur von der Künstlerin selbst beantwortet werden. Sie steht jedoch nicht im Vordergrund von Katharina Grosses Malerei. Denn in diesem Werk, so lässt sich auch auf dem Basler Messeplatz nachvollziehen, ist der Weg das Ziel.
Die Giesserei von Felix Lehner in St Gallen ist ein international renommierter Ort der Kunstproduktion. Hier entstehen riesige Werke, die dieses Jahr auch an der Art Basel zu sehen sind
SUSANNA KOEBERLE
Kein Museumsbesuch kommt an einen Gang in die Kunstgiesserei St.Gallen heran.Der Entstehung von Kunstwerken beizuwohnen, hat etwas Magisches Im Sittertal am Rand der Stadt St.Gallen geschehen Wunder: Hier wird niedere Materie zu Kunst transformiert. Wobei das,genau genommen,nicht ganz stimmt. Denn spätestens nach einem Rundgang durch die unzähligen Werkhallen weiss man, dass Materie wesentlich zur Aura eines Artefakts beiträgt. Doch diese materielle Transformation ist ein komplexer Prozess Daran beteiligt sind nicht nur die Kunstschaffenden selbst. Es braucht auch Menschen, die Zeit, Raum sowie ein riesiges Wissen besitzen – und nicht zuletzt Geduld, Gelassenheit und Getriebenheit. Ein solcher Mensch ist Felix Lehner 1960 geboren und ursprünglich zum Buchhändler ausgebildet, eröffnete er, kaum 23-jährig, eine eigene Kunstgiesserei in Beinwil am See. Das Giessereihandwerk eignete er sich weitgehend autodidaktisch an. Heute ist seine Giesserei ein international renommierter Ort der Kunstproduktion, an dem rund 80 Mitarbeitende aus verschiedenen Berufsgattungen tätig sind. 1994 zog er mit seinem Betrieb ins Sittertal auf das Gelände einer ehemaligen Textilfärberei aus dem 19 Jahrhundert. Die Infrastruktur umfasst neben der Kunstgiesserei auch eine Kunstbibliothek, ein Werkstoffarchiv, mehrere Ateliers für Gastkünstlerinnen und -künstler sowie nicht zuletzt das Kesselhaus, ein Ausstellungsraum, in dem Werke von Hans Josephsohn (1910 – 2012) gezeigt werden Die Begegnung mit dem Schweizer Bildhauer Ende der siebziger Jahre war wegweisend für Lehner Der erste Bronzeguss in seiner Giesserei war ein kleines Relief von Josephsohn. Seit dessen Tod wird der gesamte bildhauerische Nachlass im Sittertal gelagert und von Felix Lehner und Ueli Meinherz betreut.
Es ist Montagmorgen Die Kaffeemaschine im Empfangsraum der Werkstätten dampft und macht einen wunderbar duftenden Espresso, den man stehend einnimmt Leute kommen und gehen, man grüsst einander freundlich. Aus der nahen Werkstatt erklingt laute Musik. Auf einem grossen Bildschirm steht, wer diese Woche ein «Pausenämtli» hat, welcher Künstler gerade zu Besuch ist, woran aktuell gearbeitet wird, was für Arbeiten in Zukunft anstehen.
Das zehn Tonnen schwere Werk aus Stahl soll restauriert werden, bevor es an der Art Unlimited in Basel gezeigt wird.
Die Liste ist lang Hier liest man etwa: Aufbau Geodom als Sandstrahlund Spritzkabine für den «Transportablen U-Bahn-Eingang» (1997) von Martin Kippenberger Das zehn Tonnen schwere Werk aus Stahl soll restauriert werden, bevor es an der Art Unlimited in Basel gezeigt wird Das Ungetüm hat keinen Platz in den Hallen, denn dort ist gerade viel los Es wird an etlichen Kunstwerken gleichzeitig gearbeitet, gewisse Werke werden für Museumsausstellungen produziert, andere für Galerien oder Sammler Und einige kommen eben an die Art Basel
Virtuelles U-Bahn-Netz
Zeit für einen Rundgang durch das weitläufige Areal: Die Produktionsstätte ist mit den Jahren organisch gewachsen und wird kontinuierlich erweitert. Als erstes zeigt Lehner besagten «U-Bahn-Eingang» Er ist stolz, dass das Sitterwerk nun Teil dieses virtuellen weltumspannenden U-Bahn-Netzes ist,
das der deutsche Künstler in den neunziger Jahren ersonnen hat. Natürlich sind die Eingänge nur Attrappen. Doch viel wichtiger war, dass Kippenberger mit seinem Projekt ein imaginäres Netzwerk von Orten schuf und damit eine eigene Landkarte zeichnete welche die Welt nach künstlerischen Kriterien vermisst.
Bedenkt man, wie bedeutend die Kunstgiesserei St.Gallen für die nationale und internationale Kunstproduktion geworden ist, dann ist der temporäre Besuch von Kippenbergers UBahn-Eingang im Sittertal sicher im Sinn des Künstlers
Die mobile Struktur die draussen über die riesige Plastik gestülpt wurde, erinnert an die geodädischen Kuppeln des amerikanischen Architekten Richard Buckminster Fuller Lehner hatte die Konstruktion vor 45 Jahren selbst gebaut Nun kommt sie erstmals seit 15 Jahren wieder zum Einsatz. Rund um das Zelt tritt man auf grauen, feinen Sand. Es handelt sich um Korund, eines
der härtesten natürlichen Mineralien und deswegen ideal zum Sandstrahlen. Bald ist dieser Arbeitsschritt abgeschlossen, und es kann ans Lackieren gehen Danach wird das Kunstwerk wieder ganz weiss sein. Das dazugehörende schmiedeeiserne Tor mit dem Logo der Lord Jim Loge «Sonne Busen Hammer» wird derweil in einer der Hallen restauriert. Die Arbeit stand über zwanzig Jahre im Engadin. Durch die tiefen Temperaturen hat sich Eis gebildet, das die hohlen Rohre des Tors verformt hat. Auf dem Weg in die Werkstätten treffen wir den amerikanischen Künstler Jim Dime Der 89-jährige Mann hat seit mehreren Jahren ein eigenes Atelier auf dem Gelände, das in Zusammenarbeit mit Flury + Furrer Architekten entstand. Während der Pandemie blieb der umtriebige Künstler in St Gallen hängen, als er im Sitterwerk zu Gast war. Es gefiel ihm so gut, dass er diesen Ort nicht mehr verlassen wollte. So kam die Idee eines eigenen Atelierhauses auf das Dine nun rund eine Woche pro Monat
nutzt Durch die Fensterfront erkennt man riesige Köpfe aus Gips. Man kann sich kaum vorstellen, wie ein älterer Herr an diesen Kolossen arbeiten kann Ein Grossteil der Werke, die in der Kunstgiesserei hergestellt werden, sind riesig – oder aus anderen Gründen kompliziert in der Herstellung. In der Regel ist beides der Fall Das ist auch bei der Restaurierung von Kippenbergers U-Bahn-Eingang so Komplex ist auch das Anfertigen neuer Werke, bei denen Felix Lehner und sein Team eng mit den Künstlern zusammenarbeiten Namen, die man besonders oft hört und auf deren Arbeiten man wiederholt in den Werkstätten stösst, sind Urs Fischer Pierre Huyghe, Thomas Houseago, Precious Okoyomon, Ida Ekblad, Camille Henrot und Yayoi Kusama. Von diesen Künstlern und Künstlerinnen sind gerade auch mehrere Arbeiten für die Art Basel in Produktion. Lehner besitzt die Gabe, trotz der Vielzahl der Aufträge den Überblick zu bewahren. Ist man mit ihm in den
Produktionshallen unterwegs hält er in jeder Werkstatt mindestens einmal an und stellt Fragen Die eingespielten Arbeitsgruppen geben über den aktuellen Stand der Ausführung Auskunft und tauschen sich mit ihm über das weitere Vorgehen aus. Bei einer mehrteiligen Skulptur von Pierre Huyghe etwa geht es um das Ersetzen eines gelartigen Materials mit einem Kunstharz, das konservatorisch weniger Probleme bereitet. Für den französischen Künstler arbeitet Lehner schon seit 2012 Regelmässig finden Zoom-Sitzungen mit ihm und den Werkstattteams statt. Huyghe weiss genau, was er will, und verlässt sich bei der Umsetzung seiner Ideen auf die Expertise von Lehners Mitarbeitern
Skulpturen aus Zucker
Manchmal dauert der Prozess der Materialfindung länger und es kommen sehr ungewöhnliche und neuartige Materialien zum Einsatz. Bei der Ausstellung, die Huyghe letztes Jahr in der Punta della Dogana in Venedig ausrichtete, war es zum Beispiel ein speziell eingefärbter Zucker Auch an der Art Basel werden ein paar dieser Zuckerskulpturen zu sehen sein Wie immer bei der Herstellung werden Arbeitsschritte, Muster und Rezepturen genaustens dokumentiert. Auf diese Weise ist mit der Zeit ein riesiges
Archiv an Informationen entstanden die sich später – etwa für eine Restaurierung – nutzen lassen. Oder vielleicht auch nicht.Wie sich der Markt und damit der Wert eines Kunstwerks entwickelt, weiss man nie so genau. Unabhängig davon geht Lehner jedes Projekt mit der gleichen Sorgfalt und Leidenschaft an Tradition trifft auch Technik
In den letzten 15 bis 20 Jahren hat sich bezüglich Technologie einiges getan, zum Beispiel im 3D-Druck und im digitalen Modellieren. Das vereinfacht die Skalierbarkeit von Arbeiten. Die Kunstgiesserei St Gallen setzt auf eine Mischung aus traditionellem Handwerk und modernsten Techniken. Oftmals betreten Künstler und Produzent gemeinsam Neuland und werden überrascht von den Resultaten Materialien haben eine eigene Wirkmächtigkeit:Wie sie sich verhalten, kann nicht immer vorausgesagt werden. Genau das macht diese Tätigkeit so spannend. Material von einer Form in eine andere zu bringen – und ihm dabei Magie und Relevanz zu verleihen –, ist das, was Felix Lehner antreibt. Doch zu erkennen, was für eine Arbeit gut ist, braucht viel Erfahrung und künstlerisches Gespür. Dabei ist Lehner weit davon entfernt, sich als Co-Autor der von ihm produzierten Werke zu verstehen.
Viel eher beschreibt er die Zusammenarbeit mit den Kunstschaffenden als eine Form von Komplizenschaft. Das gemeinsame Verwirklichen von Vorstellungen schafft enge künstlerische Bindungen
Dieses Persönliche spürt man im Sitterwerk Was ebenfalls klar wird: Beziehungen müssen gepflegt werden Das geschieht durch alltägliche Rituale wie das gemeinsame Mittagessen, das vor Ort zubereitet wird Dass alle das Gleiche essen, gehört zum Konzept – auch Nahrung verbindet. Geistige und emotionale Nahrung kommen ebenfalls nicht zu kurz, etwa durch ungewohnte Formate wie «öpper öppis» Dabei handelt es sich um eine halbstündige Präsentation, die jeden Donnerstagmittag stattfindet. Daran beteiligen können sich Künstler, Mitarbeitende oder externe geladene Gäste
Als Thomas Houseago letztes Jahr zu Besuch war, teilte er während einer solchen Präsentation persönliche schmerzhafte Erfahrungen sowie seinen Umgang damit mit dem ganzen Team Nun erinnert eine vom Künstler gezeichnete Tafel im Empfangsraum an diesen berührenden Moment. Für seinen Mut, zusammen mit den Kunstschaffenden auch steinige und ungemütliche Wege zu gehen, wird Felix Lehner dieses Jahr mit dem Prix Meret Oppenheim geehrt
Versteckt in einem alten Kloster im Unterengadin, ist das Muzeum Susch mehr als ein Ausstellungsort –es ist ein spiritueller Rückzugsort für feministische Kunst und ein radikales Lebensprojekt der Gründerin Grazyna Kulczyk.
MARIA BECKER
Wer das Muzeum Susch besuchen will, muss sich für einen Pilgerort entscheiden. Nicht dass die 200 Einwohner zählende Gemeinde im Unterengadin schwer zu erreichen wäre. Die Rhätische Bahn hält auch hier, am winzigen Bahnhof oberhalb des Talgrunds Steil ragen die Bergflanken auf, eine Brücke führt über den Fluss zu einem Gebäudekomplex aus dem hohen Mittelalter Nichts von aussen verrät, dass sich darin Räume für Kunst befinden, die mit keinen anderen in der Schweiz vergleichbar sind. Es ist ein Museum, für das man sich Zeit nehmen muss Denn es verlangt mehr als einen Besuch, es verlangt die Teilnahme an einem Lebensprojekt.
Tatsächlich liegt Susch an der alten Pilgerroute nach Santiago de Compostela. Dies war vielleicht auch ein Grund für die Errichtung eines Klosters im zwölften Jahrhundert. Ebendiese Geschichtsträchtigkeit in einer erhabenen Lage von rund 1500 Metern Höhe war es die Grazyna Kulczyk faszinierte. «Susch hat mich gewählt, ebenso wie ich Susch gewählt habe.»
Die polnische Unternehmerin, Kunstsammlerin und Mäzenin kannte das Engadin bereits und hatte einen Wohnsitz in der Nähe des Orts Mit der Planung und Realisierung von grossen Kulturprojekten war sie aus ihrer Heimatstadt Poznán bestens vertraut. Doch die politische Einengung in Polen belastete ihre Projekte Sie trennte sich davon und war mehr oder weniger bewusst auf der Suche nach einem idealen Ort, an dem sie ihrer Mission Gestalt geben konnte
Gemacht für die Ewigkeit Kulczyk erwarb den gesamten Gebäudekomplex des Klosters, zu dem auch eine Brauerei gehört hatte, und beauftragte die beiden Schweizer Architekten Chasper Schmidlin und Lukas Voellmy mit dem Bau eines Museums für zeitgenössische Kunst. Da alle Teile des Klosters unter Denkmalschutz stehen blieb nichts anderes, als im Berg unterhalb der historischen Bauten neue Räume zu schaffen.
Rund 9000 Tonnen Gestein wurden weggesprengt und in Böden und Mauern teilweise verarbeitet. Die alten Klostergebäude wurden renoviert und umgenutzt. Es war ein herausforderndes Projekt, wie es die Unternehmerin liebt: ein Museum im Felsen, gemacht für die Ewigkeit «Muzeum Susch»: Das polnische Wort für Museum im Namen des Hauses ist Programm Grazyna Kulczyk widmet ihr Engagement in erster Linie der polnischen Kunst, und zwar vor allem der Kunst von Frauen. Es überrascht nicht dass viele ihrer Mitarbeiter im Museum polnischer Herkunft sind, und auch die Kuratoren der Wechselausstellungen, sie kommen oft aus Polen.
Einem Segment der Kunstgeschichte gilt ihr besonderes Interesse Es sind die Pionierinnen der 1960er, 1970er und 1980er Jahre, die in ihrem Heimatland nicht selten unterdrückt oder ignoriert wurden: experimentelle Künstlerinnen, die sich in ihrem Werk radikal mit dem Körper auseinandersetzten und neue Medien wie Performance nutzten. Viele dieser Künstlerinnen sind in der Schweiz kaum bekannt.
Kulczyk hat daher parallel zu den Wechselausstellungen ein über mehrere Jahre laufendes Forschungsprojekt initiiert, das sich der Kunst von Frauen in Zentral- und Osteuropa widmet. Sie will diese sichtbar machen und ihr Werk in die Kunstgeschichte einschreiben. Allein elf der zwölf Ausstellungen seit der Eröffnung des Museums 2019 präsentierten Künstlerinnen. Es ist die Mission, die der Gründerin am Herzen
liegt und die die inhaltliche Ausrichtung der Institution bestimmt.
Kulczyk setzt sich glaubhaft und in gewisser Weise radikal für die Kunst von Frauen ein. Sie weiss, dass es ein langer Prozess der Aufarbeitung sein wird, um die historischen Ungerechtigkeiten zu korrigieren. «Künstlerinnen zu fördern,
ist kein Trend sondern eine Notwendigkeit.»
Auch die Schau, die kurz vor der Art Basel am 15 Juni eröffnet wurde, ist zwei Künstlerinnen gewidmet: der Deutschen Gabriele Stötzer (geboren 1953) und der Polin Jadwiga Maziarska (1913–2003) Beide sind hier nahezu unbekannt und können entdeckt werden. Stötzer entwickelte ihr performatives und fotografisches Werk in der ehemaligen DDR und wurde wegen ihres politischen Engagements jahrelang überwacht und sogar inhaftiert.
Bis zur Wende 1989 war sie im kulturellen Untergrund aktiv und betrieb eine unabhängige Galerie. Ihr Werk ist klein, ein einziger Raum im ehemaligen Klostergebäude genügt für ihre fotografische Recherche des weiblichen Körpers. Mit «Hand & Fuss, Haut & Haar» lässt sie den Betrachter teilhaben an ihrer lapidaren Bildsprache
Jadwiga Maziarskas Werk – entstanden in über sechs Jahrzehnten – breitet sich über vier Etagen des Ausstellungsgebäudes aus Es ist die erste grosse
Retrospektive der Künstlerin, die ausserhalb Polens stattfindet. Wer die bereits installierten und gehängten Werke betrachtet, mag erstaunt sein, dass sie aus einer Hand stammen. Maziarska hat in gewisser Weise die Stile des 20 Jahrhunderts durchlaufen: Abstraktion, Collage Kubismus Art Brut, Materialbilder Sie ist dabei durchaus nicht epigonal, sondern in hohem Masse eigenständig und erkennbar Immer wieder lösen sich neue Phasen experimenteller Formsuche ab Ein Weg hin zur Transzendenz wird sichtbar.
Eine Kirche für die Kunst In einem der letzten Räume mit Maziarskas Bildern schaut man durch die Rundbogenfenster des ehemaligen Klosters auf die Landschaft. Die perfekte Inszenierung von Raum und Werk wirkt sakral – wie so vieles im Muzeum Susch. Unleugbar wurde hier ein Tempel für die Kunst geschaffen, um nicht zu sagen: eine Kirche Noch deutlicher wird dieser Eindruck in den Felsräumen des Untergeschosses Hier spricht die steinerne Ewigkeit. Bergwasser rinnt an rohen Wänden hinab und wird in Kanälen abgeführt. Die Temperatur in diesen Räumen ist im Winter wie im Sommer gleich. Die Kunstwerke wurden eigens für die Räume geschaffen. Es ist die permanente Präsentation des Museums. Architektur und Werke bilden eine inszenierte Symbiose Sie sprechen miteinander wie die demolierte schwarze Metalltreppe von Monika Sosnowska die sich im ehemaligen Turm der Brauerei hochwindet. Oder die kopflosen Puppen von Magdalena Abakanowicz, die uns aus einer Steingruft stumm und gleichsam anklagend entgegentreten. Langsam dreht sich ein Metallzylinder und spiegelt Felsen und Betrachter Der 2018 geschaffene«Narcissussusch» von Miroslav Batka ist ein subversives Werk. Er vervielfacht die grandiose Raumarchitektur und lässt sie im endlosen Leerlauf um sich selbst kreisen
Schauen und schaudern Nicht alle Werke der permanenten Ausstellung stammen von Frauen. Die Auswahl zeigt international bekannte Künstler und gehört zu den Attraktionen des Museums Jedes Werk ist solitär inszeniert. Es lädt bewusst zum Schauen und manchmal auch zum Schaudern ein. Zum Beispiel Pjotr Uklanskis «Real Nazis» von 2017 Die raumhohe Fotowand mit Porträts von Nazigrössen erinnert auf unheimliche Weise an die Fotowände ermordeter Juden in der Gedenkstätte Yad Vashem. Uklanski hat eine Art Gegenbild geschaffen, das einen entsetzlichen Raum der Geschichte aufspannt.
Alle Werke in der permanenten Ausstellung des Museums sind aufgeladen: mit Symbolik, mit Erinnerung mit Geschichte Sie verlangen die Teilnahme des Betrachters Ebendiese Kontemplation ist es, was Grazyna Kulczyk wollte Sie begreift ihr Museum auch als einen Gegenort zur marktorientierten Schnelllebigkeit zeitgenössischer Kunst.
Nach Susch sollte man nicht kommen, um Kunst-Highlights abzuhaken und weiterzufahren.Wie ein Kloster verlangt der Ort Einkehr und Bedachtsamkeit. So wird auch die Geschichtsträchtigkeit der Gebäude zum Programm.
Nach Susch sollte man nicht kommen, um Kunst-Highlights abzuklappern. Der Ort verlangt Einkehr und Bedachtsamkeit.
Das Muzeum Susch ist ein Lebensprojekt Zweifellos wurde hier ein Ort geschaffen, der mit seiner Gründerin eng verbunden ist und wohl auch für sie eine Art Rückzug aus der Welt der Betriebsamkeit bietet. Ihr Engagement ist glaubwürdig und trägt der Kunst in hohem Masse Rechnung Nachdenklich macht die Abgeschiedenheit des in den Fels gehauenen Museums aber schon. Hat auch das Ephemere und Fluide der Kunst in diesem Tempel einen Raum? Wie viele Kunstbesucher finden den Weg hierher? Doch: Immerhin lag Susch einmal an einer berühmten Pilgerstrasse
Muzeum Susch, Sur Punt 78 7542 Susch. Bis zum 2. November werden zwei Ausstellungen parallel gezeigt: Gabriele Stötzer: Mit Hand & Fuss Haut & Haar Jadwiga Maziarska: Assembly
Kooperation statt Konkurrenz lautet die Devise: Die Berliner Galerie Judin und die internationale Kunsthandlung Pace teilen sich einen Ausstellungsort in Berlin. Warum gerade in Berlin? Weil Kunst vor Geld kommt.
DAGHILD BARTELS
Die Blue-Chip-Galerie Pace, die neun Standorte auf der ganzen Welt betreibt, eröffnet in Berlin eine neue Dépendance Damit wird die Berliner Kunstlandschaft unverhofft hochkarätig bereichert. Warum ausgerechnet Berlin? Marc Glimcher, CEO von Pace, erklärt: «Wenn man einen neuen Standort eröffnen will, muss man sich fragen, wo ist die Kunst, wo die Klientel? Die Kunst ist zweifellos in Berlin, also haben wir uns für Berlin entschieden. Kunst ist wichtiger als Geld.» Ein Statement, das viele Kunstschaffende in Berlin erfreuen wird, denn bisher hatte Pace wie andere Top-Galeristen die umgekehrte Strategie verfolgt: Die Kunst folgte stets dem Geld Ursprünglich hatte Pace lediglich ein Büro geplant, um die von ihr vertretenen neun in Berlin lebenden Künstler wie beispielsweise Alicja Kwade Elmgreeen & Dragset oder Nina Katchadourian besser betreuen zu können, eventuell auch neue hinzuzugewinnen. Nun ist zusätzlich ein veritables Ausstellungsprogramm geplant.
Der Ausstellungsort ist spektakulär und deutet zugleich auf einen Paradigmenwechsel in der Branche: Kooperation statt Konkurrenz heisst die Devise
Die Berliner Galerie Judin und Pace teilen sich einen Ausstellungsort – die berühmte Tankstelle
Diese Zusammenarbeit verdankt sich der langjährigen Freundschaft der beiden Galeristen: zwischen dem Schweizer Juerg Judin und Marc Glimcher Beide vertreten auch den Künstler Adrian Ghenie Sie vereinbarten, die Tankstelle abwechselnd zu bespielen: Judin als zweites Standbein, neben seiner Galerie in den Mercator Höfen, und Pace als Berliner Filiale.
Preisgekrönter Umbau
Die Tankstelle, inzwischen eine Ikone der Industriekultur, hat ein wechselhaftes Schicksal hinter sich. Als typisches Beispiel für diesen Gebäudetyp aus den fünfziger Jahren, wurde sie unrentabel, als die Tankstellen die Erlaubnis erhielten, zusätzlich einen Shop zu betreiben. Die meisten verschwanden. Diese aber dämmerte jahrelang funktionslos vor sich hin, bis Judin sie, fasziniert vom Fifties-Design, kaufte Inspiriert hatten ihn die GasStation-Fotos von Ed Ruscha, die bekanntlich eine Liebeserklärung an diese baulichen Beispiele der Industriekultur sind Judin liess sein Objekt, das in der berüchtigten Schöneberger Bülowstrasse – bekannt für den Babystrich – liegt, in ein Wohn- und Galerie-
haus umbauen. Das Architekturbüro «bfs-d» machte daraus ein attraktives Refugium.
Das ehemalige Kassenhäuschen wurde zum Esszimmer, die Autowerkstatt zur riesigen Profiküche – Judin ist begeisterter Hobbykoch –, das Tankstellendach mit dem typischen FiftiesSchwung (die Zapfsäulen waren längst abgebaut) wurde zum Baldachin über den Tischen und Stühlen im Garten Daneben entstand ein Neubau von zwei Etagen, die obere blieb Ausstellungen mit Papierarbeiten vorbehalten, die untere wurde zum Wohnzimmer Den Garten verwandelte der Schweizer Landschaftsarchitekt Guido
Hager zu einem idyllischen Kunstwerk samt Teich, dessen Springbrunnen gegen den Strassenlärm schützen Judin bewohnte dieses Ensemble, das in der Architekturszene Furore machte und mehrere Preise gewann ab 2008 bis er sich 2020 entschloss, ein Wasserschloss an der Loire zu erwerben
Seine Tankstelle vermietete er an den Verein der George-GroszSammler, die sie zum «kleinen Grosz Museum» umwidmeten. Nach fünf Ausstellungen samt wissenschaftlichen Publikationen war Schluss Judin wollte sein Bijou aber nicht mehr zum Wohnen nutzen – hatte er doch sein Wasserschloss.
Da sein Freund Marc Glimcher zur gleichen Zeit Räume für seine Berliner Niederlassung suchte, kamen beide überein, die Tankstelle gemeinsam mit Ausstellungen zu bespielen. Dann holten sie den «Zeit»-Verlag mit ins Boot, der ein Café und einen Bookshop auf dem Gelände betreibt.
Zur grossen Eröffnung während des letzten Gallery Weekends präsentierten sie zwei Ausstellungen: Pace stellte im Obergeschoss drei Künstler vor, die alle der Art Brut zuzurechnen sind: ihr Begründer Jean Dubuffet, Jean-Michel Basquiat und Robert Nava Für die Show im Erdgeschoss
wählte die Galerie Judin den Zeichner Tom of Finland. Dessen Bilder feiern in drastischer Weise die Homosexualität. Im Grunde passt das mit der Schau im Obergeschoss gut zusammen, denn die Art Brut wird auf Englisch als Outsider-Kunst bezeichnet. Zur Zeit, als Finlands Werke entstanden, war er mit seiner Kunst ebenfalls Outsider Zukünftig wechseln sich beide Galerien ab und bespielen jeweils beide Etagen Anschliessend präsentiert Judin ein Solo mit Ellen Akimoto, die Kalifornierin, die in Leipzig wohnt und auf raffinierte KI-unterstützte Weise Figürliches und Abstraktes auf ihren Bildern verfremdet.
Kulturengagement
Laura Attanasio, die Direktorin der Berliner Pace-Filiale verrät bereits jetzt, dass im Herbst Landschaftsmalereien von Friedrich Kunath vorgestellt werden sollen. Attanasio betreut die Galerie-Künstler bei der Produktion, stellt Kontakte mit Kuratoren her und treibt die Vermittlung der Künstler an Institutionen voran. In ihren Aufgabenbereich gehört neben der Betreuung von Sammlern vor Ort auch jene ausländischer Kunden, die wie kürzlich zum Gallery Weekend immer wieder
Zukünftig wechseln sich beide Galerien ab und bespielen jeweils beide Etagen.
zahlreich nach Berlin reisen. Ihnen, wie auch der Generation jüngerer Sammler aus dem Start-up-Sektor bietet Attanasio Atelierbesuche an. Denn alle geniessen die persönlichen Kontakte mit Künstlern, wollen den Kunstkauf samt Erlebnissen. Da Attanasio Zugang zur gesamten Datenbank von Pace hat, kann sie, sollten kapitale Werke wie von David Hockney oder Alexander Calder gewünscht werden, auch damit behilflich sein. Im Übrigen setzt sie auf forcierten Dialog zwischen allen Beteiligten der Berliner Kunstszene auch mit der Politik Bei letzterer geht es nicht um finanzielle Unterstützung, eher um Dialog und Kooperation. Deshalb plant sie nach der Schau mit Friedrich Kunath eine Gruppenausstellung, zu der sie auch lokale Künstler einlädt, die nicht zum Pace-Programm zählen Um den Dialog oder neue Kooperationen zu forcieren, sind ferner diverse Events und Talks geplant. Mit Unverständnis sieht sie die von der Politik angeordneten Kürzungen im Kulturbereich. Mit Kopfschütteln reagiert sie darauf, dass der freie Eintritt in die Museen einmal im Monat gestrichen wurde. Deshalb betont sie: «Wir sind sonntags geöffnet und verlangen kein Eintrittsgeld.»
Zahlreiche neue Museen sollen in den nächsten Jahren entstehen, darunter das Red Sea Museum in Jeddah und das in Kooperation mit dem Pariser Centre Pompidou geplante Contemporary Art Museum in der Wüstenregion Al-Ula Mit der Art Week Ryadh will Saudiarabien die Kunst auch unter die allgemeine Bevölkerung bringen.
SABINE B. VOGEL
«Es ist ein Anfang.» So vorsichtig beschreibt Adwaa bint Yazid Al-Saud die Situation in Riad Das ist eine klare Untertreibung Wir befinden uns inmitten des Al Mousa Center in Riad. Gebaut in den siebziger Jahren mit einer zeittypisch verspielten Fassade, standen die Geschäfte in den letzten Jahren zunehmend leer Jetzt ist der zentral gelegene Retro-Bau zur ersten Art Week Ryadh zu neuem Leben erwacht: Statt Schulbedarf und Abajas, diesen typischen Umhängen für Frauen, wurde hier im April eine Woche lang Kunst verkauft.
Yazid Al-Saud ist eine der vielen Prinzessinnen des saudischen Königshauses Schon 1999, als das Königreich noch weitgehend abgeriegelt war, gründete sie mit der L’Art Pur Foundation in Riad ein Haus für Kunstausstellungen. Jetzt ist sie die Vorsitzende der Art Week Ryadh – eines absoluten Novums in dem Wüstenstaat Mit dieser Veranstaltung soll Kunst nicht mehr nur für die royalen und finanzstarken Eliten sein, sondern niedrigschwellig die breite Bevölkerung ansprechen.
Dafür haben jetzt erst einmal temporär eine Woche lang zwanzig Galerien das Einkaufszentrum übernommen. Die Shops sind auf Staatskosten in perfekte White Cubes verwandelt worden. In manchen läuft arabische Musik, einige sind architektonisch ambitioniert gestaltet und mit Designmöbeln bestückt, wie die 2019 gegründete Ahlam Gallery Ihr Vater, der beim Militär arbeite, habe sie damals sehr unterstützt, erzählt die Galeristin Ahlam Alshedoukhy Ahlam heisst Traum Ihr Traum ist es, junge saudische Kunst zu fördern. Wenige Schritte weiter in einem temporären Forum neben den Rolltreppen finden während der Art Week Tonbastelgruppen und Diskussionen für alle statt, die Themen reichen von Type Design bis zu Art Logistics
Kultureller Aufbruch
Damit geht Saudiarabien einen weiteren Schritt auf dem Weg eines kulturellen Umbruchs Das Schlagwort dazu lautet «Vision 2030» Dieses Programm sieht vor, das Königreich in eine Post-Öl-Gesellschaft zu führen: Die Privatwirtschaft soll gestärkt, die Gesellschaft liberalisiert und der Tourismus ausgebaut werden Saudiarabien ist sechs Mal so gross wie Deutschland und hat 34 Millionen Einwohner. Rund 7 Millionen leben in Riad, in den nächsten Jahren soll die Zahl verdoppelt werden. Dafür gibt es Grossfamilienförderungen und grosszügige Jobangebote, um saudische Expats zurückzuholen.Auch architektonisch wird Riad umgebaut: Überall stehen Baukräne ein riesiges Areal wird zur neuen Downtown entwickelt, an anderer Stelle entsteht ein Park, wo 170000 Bäume gepflanzt werden sollen. Saudiarabien will zum regionalen Zentrum für Kunst und Kultur werden. Da ist die Konkurrenz allerdings gross, auch Abu Dhabi und Doha investieren enorme Summen in den Aufbau einer kulturellen Infrastruktur mit Museen und Kunst im öffentlichen Raum. Davon lässt sich Saudiarabien aber nicht beirren. Rund 350 Museen sollen in den nächsten Jahren entstehen, darunter das Red Sea Museum in Jeddah und das in Kooperation mit dem Pariser Centre Pompidou geplante Contemporary Art Museum in der Wüstenregion Al-Ula. Weitere 14 –eher kleine – Museen sollen ebenfalls in Al-Ula gebaut werden.Wobei der Begriff Museum in Form und Inhalt sehr flexibel verwendet wird Zwar ist das Budget in Al-Ula zuletzt massiv reduziert und Pläne sind verschoben worden.Vorrang haben offenbar die Projekte für die Weltausstellung Expo 2030 und die Stadien für die FussballWM 2034, deren Bau gerade wegen pro-
Saudiarabien will zum regionalen Zentrum für Kunst und Kultur werden.
weisender Unterstützer für eine jüngere Generation in Erscheinung tritt. Al-Saleem gehört zu den Pionieren, wie die Modernisten in Saudiarabien genannt werden Mit ihnen beginnt die nationale Kunstgeschichte in den sechziger Jahren. Fragt man nach, sprechen einige von 15, andere von bis zu 50 Pionieren, darunter auch Künstlerinnen. Sie studierten in Paris, in Moskau, viele in Italien. Ihr Stil, der farbintensive Abstraktion, Kalligrafie und sparsame Figuration verbindet bestimmt die Malerei bis heute, wie der Gang durch das Einkaufszentrum zeigt.
Die nächste Generation dagegen geht neue Wege, wie der 1973 geborene Abdulnasser Gharem Er verwandelte gerade einen 83 Meter hohen ausgedienten Strommast mit 691 bunten, nachts leuchtenden Platten in seinen «Arts Tower» Er ist Teil des gerade entstehenden Sport Boulevard.
Oder Abdullah Al-Othman, der bereits 2017 in der Hafenstadt Jeddah am Roten Meer die Fassade eines historischen Hauses mit Alufolie bedeckte –eine der frühesten politischen Werke von Kunst im öffentlichen Raum, erzählt eine lokale Kuratorin. Er wollte ein Zeichen setzen für den Erhalt dieser einzigartigen historischen Altstadt. Und war erfolgreich. Behutsam lässt die Regierung rund 300 der teils arg verfallenen Häuser restaurieren
blematischer Arbeitsbedingungen in der Kritik steht Weit abgeschieden davon ist Al-Ula, wo das Wadi Al-Fan entsteht, das «Tal der Kunst», mitten zwischen den bizarren Felswänden in der Wüste. Hier arbeiten Starkünstler wie James Turrell, Michael Heizer und Agnes Denes an ihren Monumentalwerken. In Riad sollen acht Museen allein für visuelle Kunst entstehen, darunter das Black Gold Museum und das Diriyah Art Futures Institute. Als Ort für digitale Kunst wird es Teil des 62-MilliardenDollar-Projekts namens Diriyah Gate: Am nordwestlichen Rand Riads wird
das jetzt noch abseits liegende gleichnamige Viertel rund um das historische Fort erschlossen Dieser auf 1446 datierte Lehmpalast gilt als frühester Stammsitz der Königsfamilie und wurde 2010 Weltkulturerbe.
Pioniere moderner Kunst
Im Amphitheater des Forts fand im Februar auch die erste Auktion in Saudiarabien statt. Die 250 Open-Air-Sitze waren sofort besetzt stehend begleiteten viele weitere die Premiere Sotheby’s erzielte an diesem Abend 17,3 Millionen
Dollar für 140 Lose von Luxusobjekten und bildender Kunst. Ein Werk von Mohammed Al-Saleem aus dem Jahr 1977 konnte die Schätzung verdreifachen und erzielte den Rekordpreis von 660000 Dollar Al-Saleem ist bekannt für seinen Horizontalismus und Desert Style, wie seine abstrahierten Landschaften mit verstreuten Figuren, meist Kamelen, genannt werden. 1979 gründete er das Saudi Art House in Riad, zunächst für Kunstbedarf, der damals in dem Königreich nicht zu kaufen war später auch in Form einer Galerie, mit der er als weg-
Wie konträr dazu nehmen sich die riesigen Lagerhallen in Riad aus, in denen seit 2021 die Diriyah Biennale und jetzt auch ein Teil der Art Week stattfinden Jax District wird das Gelände nah des historischen Palastes genannt Während in Sichtweite der Touristenattraktion bereits eine brandneue Altstadt mit Flaniermeile und Restaurants steht, ist dieses Viertel noch wenig erschlossen. Die Häuser hier sind einfach, manchmal ist kaum zwischen Abriss oder Neubau zu unterscheiden. Die Gentrifizierung steckt noch in den Anfängen Aber gleich hinter den BiennaleHallen siedeln sich bereits in Garagenähnlichen Bauten Galerien, Musikstudios Boutiquen und Künstlerateliers an. Hier steht auch das erste fertiggestellte Museum – das SMOCA (Saudi Museum of Contemporary Art) Während der Art Week Ryadh sind zwei Lagerhallen in ein Kunstzentrum verwandelt worden, im Aussenraum bieten Stände Essen und Trinken an, leise Musik vom Sponsor-Partner Spotify erschallt überall – auch das eine kleine Revolution, denn bis vor wenigen Jahren war Musik im öffentlichen Raum verboten.
In den Hallen erinnern die sparsamen Stellwände mit den aufgefächerten Wandverlängerungen dazwischen an eine Kunstmesse Die Kojen sind mit den Namen von Galerien versehen. Aber es sei definitiv keine Kunstmesse betont Vittoria Matarrese. Die ehemalige Leiterin der italienischen Bally Foundation ist Teil des vierköpfigen Kuratorenteams Sie nennt es eine «kuratierte Selektion» Da die Art Week staatlich finanziert ist, könne es keine kommerzielle Veranstaltung sein. Das Konzept sei eher ein «in between»: Sie wählte bei 45 internationalen Galerien 200 Kunstwerke von 50 Künstlern aus Perfekt ausgeleuchtet mit Punktstrahlern, liegt der Fokus auf Kunst der Region, von Wael Shawky (Lisson Gallery) über Monira Al-Qadiri (Perrotin) bis Maha Mallouh (Krinzinger). Im Eingang liegen Kader Attias zerbrochene Spiegel (Continua). Matarrese spricht von «einer neuen Schönheit, die aus einer fragmentierten Vergangenheit» entstehe Das kann als perfektes Sinnbild für den Balanceakt des Wüstenstaates zwischen kultureller Erneuerung und historischer Verwurzelung stehen: für einen historischen Moment in einem Land, das sich mit Kunst und Kultur gerade selbst neu erfindet.
Die internationale Kunstszene entdeckt die moderne und zeitgenössische Kunst aus dem Nahen Osten und Nordafrikas. Immer mehr Ausstellungshäuser widmen sich dieser Kunst, auch in der Schweiz
ROMAN HOLLENSTEIN
Das grösste Galerienviertel der arabischen Welt die Alserkal Avenue in Dubais Industriequartier Al-Quoz lockt gleichermassen schicke Expats und Einheimische mit neuster Kunst des MENA-Raums Die Abkürzung steht für «Middle East and North Africa» Zum MENA-Raum wird in Kunstkreisen neben den arabischen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas auch der Iran gezählt. Die Galerien bieten Gemälde, Skulpturen, Fotos, Videos und Installationen an, in denen sich westliche Positionen und arabische Erfahrungshorizonte überlagern, aber auch Neuinterpretationen persischer Miniaturen und islamischer Kalligrafie. Die Exponate thematisieren ästhetische Aspekte genauso wie Identität, Freiheit, Krieg, Kolonialismus und Entwurzelung Häufig kommen zudem patriarchale Gesellschaftsformen und traditionelle Geschlechterrollen zur Sprache Das veranschaulichte Shirin Neshat, die vor gut dreissig Jahren mit ihren Fotos schwarz verschleierter Frauen zum ersten Superstar der MENA-Region aufstieg, auf eindrückliche Weise im Film «Auf der Suche nach Oum Kulthum» Darin wagt eine im Exil lebende iranische Regisseurin eine Annäherung an die einzigartige ägyptische Sängerin
Zwischen den Welten Allen politischen Verstrickungen der Region zum Trotz erlebt die Kunst des MENA-Raums derzeit einen Höhenflug, der im Westen nur am Rande wahrgenommenen wird. Wegweisende Vermittlungsarbeit leistet das Pariser Institut du monde arabe, das neben thematischen Ausstellungen auch Grössen wie den 2004 verstorbenen libanesischen Meister der gestischen Abstraktion, Shafik Abboud, vorstellte Er wird von den Franzosen genauso als einer der ihren wahrgenommen wie der 1970 im Grossraum Paris geborene Kader Attia. Bei uns hingegen gilt Attia aufgrund seiner auf erlittene Demütigungen hinweisenden Skulpturen als Vertreter des postkolonialen Südens während ihn die arabische Welt als einen ihrer einfluss-
Inji Efflatoun gilt als sozialkritische und feministische Stimme der ägyptischen Moderne Als Kämpferin für politische Freiheit sass sie unter Nasser vier Jahre im Gefängnis – wie ihr Werk «Dreams of the Detainee» (1961) zeigt. BARJEEL ART FOUNDATION, SHARJAH/PD
reichsten Künstler sieht. Gleiches gilt für die aus Marokko stammende Pariserin Yto Barrada die derzeit in Zürich ihre von maghrebinischen Realitäten durchdrungenen Arbeiten in einen Dialog mit Werken der Sammlung des Kunsthauses stellt
Die MENA-Kunst verbindet westliche Einflüsse mit lokalen Realitäten – und bringt so eine eigene Bildsprache hervor
Auch Susan Hefuna, eine Berlinerin mit ägyptischem Vater, die ihren Durchbruch vor 25 Jahren in Kairos legendärer Townhouse Gallery erlebte bewegt sich mit ihren politisch aufgeladenen Maschrabiyya-Objekten «zwischen den Welten», wie im Sommer 2010 die gleichnamige Schau im Kunstmuseum Thun zeigte Abboud, Attia, Barrada, Hefuna und mit ihnen Hunderte zwischen Nordafrika und Europa, Nahost und Amerika hin- und hergerissene Kunstschaffende bestimmen heute die Erscheinungsformen der MENAKunst, die viele Parallelen zu jener des Westens aufweist und dennoch mit «frischen Sichtweisen und ungewohnten Inhalten» überrascht
Dies konstatierte die Kritik schon 2009 anlässlich der Ausstellung «New Art from the Middle East» in der Londoner Saatchi Gallery und der 2014 vom New Museum in New York organisierten Schau «Here and Elsewhere», an der gegen 50 zeitgenössische Kunstschaffende von Rheims Alkadhi über Ahmed Mater bis Muhannad Shono teilnahmen. Seither bemühen sich Ausstellungshäuser auch hierzulande um das neue arabisch-iranische Kunstschaffen. So stellte das Kunstmuseum St Gallen bereits Ende 2013 Werke der libanesischbritischen Künstlerin Mona Hatoum und 2015 das Musée Cantonal des Beaux-Arts in Lausanne Arbeiten von Kader Attia vor. Das Zürcher Haus Konstruktiv feierte 2015 die marokkanisch-französische, in Martigny tätige Künstlerin Latifa Echakhch, die 2022 den Schweizer Pavillon in Venedig bespielte
Das Genfer Mamco wiederum stellte 2018 ausgewählte Werke der Sharjah Art Foundation vor Zeitgleich würdigte das Zentrum Paul Klee in Bern die libanesisch-amerikanische Malerpoetin Etel Adnan, während sich die Kunsthalle Zürich mit dem Schaffen des libanesischen Konzeptkünstlers Walid Raad,
des sudanesischen Altmeisters Ibrahim El-Salahi oder des in Dubai tätigen iranischen Trios Ramin und Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian beschäftigte Im Sommer 2023 ging schliesslich die Kulturstiftung Basel H. Geiger der Mythenbildung in der aktuellen arabischen Kunst nach.
Unbekannte Moderne
Weit weniger als das zeitgenössische Schaffen kennt man im Westen jenes der nahöstlichen Moderne Das versuchte Christie’s im Sommer 2023 mit einer grossen Ausstellung von Werken der 2010 von Sultan Sooud Al Qassemi in Sharjah etablierten Barjeel Art Foundation zu korrigieren Der heute 47-jährige Gelehrte und Publizist begann 2002 zeitgenössische arabische Kunst zu sammeln, um sich bald schon der arabischen Moderne zuzuwenden.
Dass diese unterschätzt und von keiner öffentlichen Institution in den Vereinigten Arabischen Emiraten gesammelt wurde, musste Scheich Hassan Bin Mohamed Al Thani schon während seines Kunststudiums in den achtziger Jahren feststellen. Nach und nach spürte er über 6000 moderne und zeitgenössische Kunstwerke auf, die er 2010 dem von ihm initiierten Mathaf in Doha, dem mittlerweile führenden Museum für MENA-Kunst, anvertraute Ihm ähnlich taten es der in Dubai lebende Unternehmer Farhad Farjam und der libanesische Geschäftsmann Ramzi Dalloul, die unabhängig voneinander Tausende von Werken zusammentrugen, um sie in Stiftungen zugänglich zu machen. Die meisten Kostbarkeiten in Privatbesitz entziehen sich jedoch weiterhin den Blicken des Publikums was den Emir von Dubai dazu veranlasste die virtuelle Dubai Collection einzurichten. Diese hat inzwischen Werke aus rund 100 Sammlungen der Golfregion für Forscher, Kuratoren und Interessierte ins Internet gestellt und kümmert sich um Leihgesuche von Museen. Dank der Sammelleidenschaft am Persischen Golf die seit 2009 durch das seiner Eröffnung entgegengehende
Guggenheim Museum Abu Dhabi noch angeheizt wird, hat die MENA-Kunst in jüngster Zeit eine erstaunliche Preisentwicklung erlebt. Viel Aufsehen erregte 2010 eine Auktion in Dubai. Dort bot Christie’s ausgewählte Werke der ägyptischen Moderne aus dem Besitz des ehemaligen Bürgermeisters von Dschidda, Mohammed Said Farsi, an, darunter das 1934 von Mahmoud Said gemalte kubistisch-altägyptische «Les Chadoufs» das mit 2,43 Millionen Dollar den oberen Schätzpreis um das Zwölffache übertraf Ähnliche Preissteigerungen erlebten Gemälde von Abdul Hadi El-Gazzar und Hamed Nada sowie Bronzen von Mahmoud Mokhtar
Rivalisierende Kunstszenen
Das Schaffen dieser Künstler war Teil der Nahda genannten kulturellen Renaissance, die die arabische Gesellschaft mit westlichen Idealen konfrontierte Musik, Literatur, Film und die bildenden Künste blühten auf im 1922 unabhängig gewordenen Ägypten. 1927 wurde in Kairo das Museum of Modern Art gegründet – knapp 20 Jahre nachdem die School of Fine Arts in Kairo eingeweiht worden war.
Einer ihrer ersten Absolventen, der neo-pharaonische Bildhauer Mahmoud Mokhtar, studierte ab 1911 in Paris, wo 1919 auch Mahmoud Said eintraf Die beiden Väter der ägyptischen Moderne prägten die nachfolgenden Generationen Künstler wie El-Gazzar, Nada, Ramsès Younan, Fouad Kamel, Adam Henein oder die feministische Malerin Inji Efflatoun schlossen sich in Bewegungen wie Art et liberté oder The Contemporary Art Group zusammen und fanden seit 1955 auf der Alexandria-Biennale eine internationale Bühne Inzwischen rangen Ägypten und der Irak um die künstlerische Vorherrschaft im arabischen Raum. Rund um die Baghdad Modern Art Group und die Impressionist Group formierte sich in Bagdad eine lebendige Szene mit Künstlern wie Jewad Selim und Hafez Al-Droubi oder der Expressionistin Fahrelnissa Zeid Aus Opposition gegen
die allzu westlich ausgerichtete arabische Kunstwelt gründeten 1971 Shakir Hassan Al-Said und Dia Al-Azzawi, der Doyen der heutigen arabischen Malerei, die One Dimension Group. Doch damals zog bereits Beirut, das gesellschaftsliberale Paris des Nahen Ostens, dank seinen Galerien und Ausstellungsmöglichkeiten die Aufmerksamkeit auf sich. Neben den libanesischen Verfechtern der Abstraktion wie Shafik Abboud, Aref El Rayess oder Paul Guiragossian fanden hier Kunstschaffende aus dem gesamten MENARaum eine internationale Plattform
Der Ausbruch des Bürgerkriegs bedeutete für die Beiruter Kunstwelt 1975 eine ähnliche Zäsur wie vier Jahre später der Sturz des Schahs für jene von Teheran. Das einst international beachtete Tehran Museum of Contemporary Art förderte iranische Malerinnen wie Monir Farmanfarmaian, Leyly MatineDaftary und Behjat Sadr oder Konzeptkünstler wie Marcos Grigorian, aber auch die 1963 von Massoud Arabshahi, Faramarz Pilaram und Parviz Tanavoli gegründete abstrakt-kalligrafische Saqqakhaneh-Bewegung
Ausgestellt wurden ausserdem die surrealistisch verstümmelten Männerakte von Bahman Mohassess, der es aus persönlichen Erwägungen vorzog, in Rom zu bleiben wo er wie viele seiner Landsleute studiert hatte Obwohl die Islamische Revolution von 1979 nicht die versprochene Freiheit brachte, arbeiteten viele engagierte Künstlerinnen und Künstler –von der Rebellin Shirin Aliabadi bis zum Pop-Kalligrafen Farhad Moshiri – weiterhin zumindest zeitweise im Iran. Inzwischen hat sich das Zentrum der MENA-Kunst in die Golfmonarchien verlagert, wo seit einigen Jahren die Sharjah-Biennale, die Kunstmesse Art Dubai, die Alserkal Avenue und bald auch das Guggenheim in Abu Dhabi und die Art Basel Qatar in Doha als Schaufenster des arabisch-iranischen Kunstschaffens fungieren. Dank neuen Ausbildungsstätten, Ausstellungshäusern, Stipendien und Kunstpreisen sind namentlich die Vereinigten Arabischen Emirate zu einer eigentlichen Talentschmiede geworden, aus der Shootingstars wie Afra Al Dhaheri, Lamya Gargash, Hashel Al Lamki oder Shaikha Al Mazrou hervorgegangen sind Sogar Saudiarabien pflegt neuerdings die zeitgenössische Kunst. Nach dem Ithra-Kulturzentrum in Dhahran hofieren nun auch die 2021 initiierte Diriyah Contemporary Art Biennale und das Ende 2024 eröffnete Saudi Arabia Museum of Contemporary Art in Diriyah einheimische Kunstschaffende wie Sarah Brahim oder Abdulnasser Gharem Gleichzeitig beginnen sich im MENA-Raum nationale Eigenheiten zu verwischen, auch wenn etwa Manal Al Dowayan beharrlich die gesellschaftliche Rolle der Frau in Saudiarabien beleuchtet oder der phänomenale HardEdge-Konstruktivismus von Mohamed Melehi in der marokkanischen Kunst bis jetzt nachwirkt. Was immer noch fehlt, ist eine vertiefte Gesamtschau der MENA-Kunst
So wird die Ausstellung «Présences arabes 1908–1988», die 2024 im Musée d’Art moderne de Paris eine schillernde Palette an Kunstwerken vereinte, im Katalog vor allem aus Sicht von Paris als «Capitale arabe» kommentiert Kunsthistorisch neutraler ist das Begleitbuch zur postkolonialen Casablanca Art School, die zeitgleich in der Schirn Kunsthalle Frankfurt vorgestellt wurde. Und schon jetzt darf man sich auf die vom Zürcher Museum Rietberg für 2027 vorgesehene Übersicht über die Moderne in Ägypten freuen Museum in Buchform Diese Ausstellungskataloge sind nur Mosaiksteine einer umfassenden Geschichte der MENA-Kunst. Diese Geschichte versuchte Saeb Eigner in seinem 2010 erschienenen und 2015 bis in die Gegenwart erweiterten Überblickswerk «Art of the Middle East» zu umreissen. Ergänzt wird es nun durch Eigners neue weitgehend auf Klassiker konzentrierte Publikation «Artists of the Middle East», die mit 580 Farbabbildungen, 250 Biografien und einer hervorragenden Einführung überzeugt – sowie durch den Ende 2024 erscheinenden Doppelband der Farjam Collection zur modernen und zeitgenössischen MENAKunst
Der seit 1989 in Dubai ansässige Iraner Farhad Farjam trug in den letzten 50 Jahren über 5000 arabische und iranische Kunstwerke von der frühislamischen Zeit bis heute zusammen. Diese brachte er 2008 in die Farjam Foundation ein, deren Bestände seither in wechselnden Ausstellungen in den stiftungseigenen Räumen an der Gate Avenue in Dubai gezeigt werden Als Museum in Buchform präsentiert der Farjam-Sammlungskatalog 400 Hauptwerke der letzten 100 Jahre von 250 Kunstschaffenden mittels grosser Farbabbildungen – von Mahmoud Saids 1920 gemaltem postimpressionistischem Frühwerk «Wäsche in Kobba» bis in die unmittelbare Gegenwart. Da die Werke alphabetisch nach den Namen der Kunstschaffenden geordnet sind, ergeben sich verblüffende Nachbarschaften, etwa wenn auf Ayman Baalbakis Installation eines vollgepackten Flüchtlingsautos der expressionistische Farbwirbel einer riesigen Marionette von Marwan Kassab Bachi folgt. Abgerundet wird diese «Schau» durch summarische Darstellungen der arabischen und der iranischen Kunstentwicklung von namhaften Forschenden wie Maya Allison, Hamid Keshmirshekan oder Nada Shabout sowie durch Interviews mit einigen wichtigen Kunstschaffenden
Es geht ihr um das Ungesagte – um die Worte, die gewaltsam unterdrückt werden
Kaum eine andere Künstlerin kommentiert die gesellschaftlichen und politischen Missstände unserer Zeit so pointiert und zugleich berührend poetisch wie die Inderin Shilpa Gupta.
MINH AN SZABÓ DE BUCS
Die Stadt ist wie ein brodelndes Herz aus Beton und Staub, gebaut auf Salzwasser, ein urbaner Körper, der nie zur Ruhe kommt. 22 Millionen Menschen atmen, träumen und (über)leben in Mumbai auf engstem Raum. Hier drängen sich die Blechdächer der grössten Slums Asiens an die glitzernden Fassaden der Wolkenkratzer Luxuslimousinen hupen mit Tuktuks und verbeulten Uber-Fahrzeugen um die Wette. Und an den Strassenrändern vegetieren ganze Familien mit kleinen Kindern, verdreckt, halb nackt, nach ein paar Rupien bettelnd.
Shilpa Guptas Atelier befindet sich im Westen Mumbais, direkt neben Eisenbahnschienen. Ihre Arbeiten wirken auf den ersten Blick eher zurückhaltend und fast schüchtern in all dem Lärm dieser Stadt. Oft spielen Worte in Guptas Kunst eine zentrale Rolle –manchmal geschrieben in Leuchtschrift, Klapptafeln oder Textilien, manchmal auch in Flaschen hineingesprochen, die dann verschlossen werden, oder gesungen über Mikrofone Doch eigentlich, sagt Gupta, gehe es ihr um das Ungesagte zwischen den Zeilen, um Worte die gewaltsam unterdrückt würden. So in der kleinen Arbeit «A Liquid, the Mouth Froze» An einem Nagel ist ein kaum faustgrosser Klumpen aus Metall an der Wand befestigt. Daneben steht auf einer Plakette «I was walking down the street A car stopped, a few men stepped out, and pushed into my mouth, a liquid. The mouth froze.» Der Klumpen ist der Abguss vom
Innenraum eines weit aufgerissenen Mundes, gegossen aus dem geschmolzenen Metall von Waffen. Hier wurde jemand im wahrsten Sinn des Wortes mundtot gemacht. Unweigerlich drängen sich Erinnerungen an Berichte über Gewaltexzesse wie Gruppenvergewaltigungen und Säureangriffe gegen Frauen in Indien auf Der Nirbhaya-Fall aus Delhi zum Beispiel hatte 2012 die internationale Gemeinschaft erschüttert Eine 23-jährige Frau war in einem Bus mehrfach vergewaltigt und gefoltert worden. Zwar wurden danach einige Gesetze verschärft, doch Gewalt gegen Frauen bleibt ein schwerwiegendes Problem in Indien Schwerste Verbrechen werden an ihnen verübt: Sie werden verkauft, getötet, vergewaltigt Patriarchale Strukturen sind tief in der indischen Gesellschaft verwurzelt, Männer sind durch Geburt mit Privilegien ausgestattet, die sich Frauen nur selten erkämpfen können.
Die Regierung hat zwar in Sachen Frauenrechte einige Programme verabschiedet, insbesondere in Bezug auf Bildung, Gesundheit und wirtschaftliche Teilhabe Das sind längst fällige Ansätze, die minimale Verbesserungen brachten. Doch die Ängste vor sexuellen Übergriffen und Gewalt auf der Strasse bleiben Teil des täglichen Lebens. Der Regierung mangelt es an Durchsetzungswillen
Die oben erwähnte Abgussarbeit gibt einen ersten Hinweis darauf, wie Gupta ihre Themen verarbeitet Leise und ohne Pathos ergreift sie Partei für all jene deren Stimmen und Schreie zum Schweigen gebracht wurden.
Leise und ohne Pathos ergreift sie Partei für all jene, deren Stimmen und Schreie zum Schweigen gebracht wurden.
Shilpa Gupta wurde als eines von sieben Kindern in eine wohlhabende und eher konservative Familie geboren, die wenig mit Kunst zu tun hatte. Wie konnte sie als Frau einen Weg als Künstlerin einschlagen? «Ich sollte eigentlich Medizin studieren» erzählt sie «aber ich musste meinem Herzen folgen. Ich wusste, ich musste Kunst studieren.» Als sie es ihrer Mutter eröffnete, brach diese in Tränen aus. Mutter und Tochter weinten, sprachen miteinander Am Ende haben ihre Mutter und die ganze Familie ihre Entscheidung akzeptiert und auch gegen Zweifel und Kritik von Nachbarn und Freunden verteidigt
Die Familie bleibt bis heute Guptas Stütze: Bevor eine künstlerische Arbeit öffentlich präsentiert wird, holt sie sich Feedback von einem Familienangehörigen. Ohne den Halt ihrer Familie könnte sie solch unkonventionelle Kunst nicht machen An der Universität durchlief Gupta ein klassisches Kunststudium der Bildhauerei. Der Unterricht war strikt und streng, sie durfte keine eigenen Ideen umsetzen, alles musste dem Lehrplan folgen. Daher hatte sie nur zu Hause Sachen ausprobiert. Sie arbeitete früh schon konzeptuell, nutzte Alltagsmaterialien wie Fussglöckchen oder SariGarn für ihre ersten künstlerischen Gehversuche Damals fand sie sich einzigartig und dachte, sie sei die Erste, die so etwas mache Bis sie dann irgendwann in der Universitätsbibliothek die Kataloge von amerikanischen Künstlern der sechziger Jahre entdeckte Joseph Kosuth, Sol LeWitt und viele andere Konzeptkünstler hatten all das bereits gedacht und umgesetzt, was sie
im Kopf hatte Diese Entdeckung enttäuschte sie einerseits – sie war nicht die Erste –, anderseits freute sie sich, Vorbilder gefunden zu haben. So führte sie ihren konzeptuellen Ansatz weiter, stellte die Idee über das materielle Kunstwerk. In ihren frühen Arbeiten bricht sie mit weiblichen Tabuthemen in Indien: Sie verarbeitet Menstruationsblut und Körperbehaarung in ihrer Kunst und stellt diese öffentlich aus Shilpa Gupta will Missstände benennen, damit Leute hinschauen und im Idealfall etwas verändern, auch wenn es nur im privaten Kreis ist. Daher sind ihre Arbeiten oft partizipativ Besucher können etwas mitnehmen oder Teil der Arbeit werden.Vordergründig wirkt das spielerisch, aber Gupta geht es darum, Kunst raus aus dem Museumskontext und hinein in den Alltag der Menschen zu bringen, den Besucher vom passiven Betrachter zum Akteur zu machen Erst dann könne ein Veränderungsprozess einsetzen, meint die Künstlerin.
Grenzkonflikte
Als Studentin erlebte Gupta die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen 1992 in Uttar Pradesh mit und ein Jahr danach die Unruhen in Mumbai. Religiöse und territoriale Konflikte sind in Indien Alltag und kulminieren in dem kleinen Fürstentum Kaschmir an der Grenze zwischen Pakistan und Indien. Hier fanden bisher drei blutige Kriege statt. Keine Seite will den offiziellen Grenzverlauf anerkennen Erst vor kurzem ist die Gewalt entlang der Grenze wieder aufgeflammt. «In Kaschmir ist die Wunde immer noch
Shilpa Gupta ist nur wenigen Kulturinteressierten im deutschsprachigen Raum als einflussreiche Künstlerin bekannt. Dabei hat die 49-Jährige aus Mumbai in den namhaftesten Kunstinstitutionen der Welt ausgestellt: im New Yorker MoMA und Guggenheim Museum, im Londoner Tate Museum, im Pariser Centre Pompidou und auf der Venedig Biennale Im September dieses Jahres erhält die indische Künstlerin nun den Lübecker Kunstpreis für internationale Kunst von der PossehlStiftung Mit der Preisverleihung wird ihr eine grosse Einzelausstellung in der Kunsthalle St Annen gewidmet.
weit offen» sagt Gupta. Ein Funken genügt, um das Pulverfass zum Explodieren zu bringen. Unmittelbar nach dem blutigen Kargil-Krieg 1999 startete Gupta eine Kunstaktion gemeinsam mit Huma Mulji, einer pakistanischen Künstlerin aus Lahore Das Projekt nannten sie «Aar Paar» was sowohl auf Hindi als auch auf Urdu «dieses oder jenes» bedeutet. Sie versuchten, Arbeiten von indischen Kunstschaffenden in Pakistan zu zeigen und umgekehrt Kunstwerke von pakistanischen Künstlern in Indien. Aufgrund der politischen Spannungen mussten sie viele der Werke über die Grenze schmuggeln Guptas Beitrag waren kleine Plastikflaschen gefüllt mit einer zähen, blutroten Flüssigkeit.Auf dem Label stand «Blame» Darunter war der Text zu lesen: «Blaming you makes me feel good / So I blame you for what I cannot control / Your reli-
Sie bleibt gern im Leben und auch in ihrer Kunst im Hintergrund, will nicht gefilmt oder fotografiert werden.
gion, your nationality / I want to blame you. It makes me feel good.» Das Ganze ist auch auf Urdu geschrieben Gemeinsam mit Verwandten und Freunden verteilte Gupta die «Blame»-Flaschen an Pendler in den Zügen zwischen Pakistan und Indien. Damit wollte sie erreichen, dass die Menschen miteinander ins Gespräch kommen über das, was sie trennt und was sie eint
Seit Mai 2014 führt Narendra Modi das Land als Premierminister Er ist ein starker Befürworter des Hindu-Nationalismus Die Förderung der hinduistischen Kultur und Werte betrachtet er als zentral für die Identität Indiens. Mit seiner Partei BJP beeinflusst er aktiv Bildungsinhalte staatliche Institutionen und gesellschaftliche Normen mit hindu-nationalistischer Ideologie Da das Safranorange im Hinduismus für spirituelle Reinheit steht, sprechen Journalisten und Intellektuelle von
einer zunehmenden «Safranisierung» Indiens. Zwar hat Modi wirtschaftlich viele Reformen und Modernisierungen vorangetrieben. Auch aussenpolitisch hat er Indiens Stellung in der internationalen Gemeinschaft gestärkt. Dennoch sehen viele die «Safranisierung» sehr kritisch. Die Meinungs- und Pressefreiheit soll unter Modi immer mehr zensiert werden Es gibt Berichte über Einschüchterung von Muslimen, Oppositionellen, Aktivisten und Journalisten. Dieser Problematik nimmt sich Shilpa Gupta in ihrer Installation «Listening Air» an. In einem spärlich beleuchteten Raum hängen acht schwarze Mikrofone jeweils an einem langen Kabel von der Decke. Man kann sich zwischen den Mikrofonen frei bewegen. Durch das Dämmerlicht entsteht eine entrückte und konzentrierte Atmosphäre. Plötzlich ertönt aus einem Mikrofon das Lied «Hum Dekhenge» (We Shall See) auf Urdu danach «singt» ein anderes Mikro das Lied «Bella Ciao» auf Italienisch, ein drittes die Hymne «Glory to Hongkong» auf Kantonesisch. Acht Lieder aus acht verschiedenen Ländern finden hier Gehör. Es sind Protestlieder aus aller Welt, die so kraftvoll sind, dass sie von den jeweiligen Machthabern gefürchtet und deshalb zensiert und verboten wurden «Bella Ciao» beispielsweise wurde ursprünglich von italienischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg gesungen und entwickelte sich zur Hymne der antifaschistischen Bewegung
Inzwischen gibt es eine arabische Version, entstanden während der Protestbewegung im Libanon eine ukrainische Version, die nach dem Angriffskrieg Russlands aufkam, und auch eine iranische Version, entstanden, nachdem Jina Mahsa Amini wegen eines angeblichen Verstosses gegen das staatliche Hid-
schab-Gesetz gewaltsam zu Tode kam. Die Stimmen derer, die aufbegehrten gegen Unrecht und Machtmissbrauch, können diese Mikrofone nicht mehr aufnehmen, aber ihre Protestlieder wie ein Verstärker in die Welt entsenden.
Universelle Themen
Gupta bezieht auch ihre Stadt Mumbai in ihren Schaffensprozess mit ein. Sie lässt Elemente ihrer Werke vom lokalen Kunsthandwerk wie Stempelmachern, Bronzegiessern oder Druckereien, die oft nur kleine Strassenstände haben, anfertigen. Niemand hier weiss dass sie ein international gefeierter Kunststar ist. Sie bleibt gern im Leben und auch in ihrer Kunst im Hintergrund, will nicht gefilmt oder fotografiert werden Ihre Themen sind zwar in Indien konzipiert und produziert, sind aber im Grunde universell. Grenzen, Sprache, Gewalt, Ungleichheit, Unfreiheit: Damit haben alle Menschen auf der ganzen Welt zu kämpfen. Ende September kommt ihre Kunst aus dem fernen Indien ins beschauliche Lübeck. Ermöglicht wird dies von der Possehl-Stiftung, die in erster Linie lokale Kunstschaffende und soziale Projekte in Lübeck fördert. Erst seit 2019 vergibt sie alle drei Jahre den internationalen Kunstpreis an herausragende Kunstschaffende Dieses Jahr hat die Jury Mut und Vision bewiesen. Über vier Etagen auf einer Fläche von 1000 Quadratmetern werden an die 25 Arbeiten von Shilpa Gupta zu sehen sein, kuratiert von der Direktorin Noura Dirani der Kunsthalle St Annen. Es wird Shilpa Guptas erste grosse institutionelle Solo-Show in Deutschland.
«Shilpa Gupta – we last met in the mirror», Possehl-Preis für internationale Kunst 2025 27 September 2025 bis 1. März 2026 Kunsthalle St Annen, Lübeck
Shirin Neshat, Irans bekannteste Künstlerin, thematisiert Frauen, ihre Körper, Repression und Widerstand – ohne sie auf Opferrollen zu reduzieren. Neuerdings richtet sie ihren Blick auch auf den bröckelnden amerikanischen Traum.
SUSANNA PETRIN
Was haben Sie letzte Nacht geträumt, Shirin Neshat? Das ist die erste Frage an eine 68-jährige Frau, die in Dutzenden von Interviews schon fast alles gefragt worden ist. Shirin Neshat dürfte die bekannteste Künstlerin aus ihrem Ursprungsland Iran sein. Darüber hinaus ist sie weltweit berühmt geworden für ihre so schönen wie verstörenden Fotos, Kunstvideos und Filme. Im Zentrum ihres Werks stehen Frauen: ihre Unterdrückung durch patriarchale Systeme ihre Körper als Projektionsfläche für Ideologien, ihre Widerstandskraft. Diese Frau ist während des Auslandstudiums mit 17 Jahren in den USA gestrandet, als ihre Familie ihr aufgrund der Iranischen Revolution von der Heimkehr abriet Sie hat anfängliche Ablehnung und Armut überwunden, gründete eine Familie fand allmählich ihre Themen, ihren Stil Sie hat unter anderem den Silbernen Löwen an den Filmfestspielen und den Goldenen Löwen an der Kunstbiennale in Venedig gewonnen. Und was träumt diese seit dreissig Jahren etablierte Künstlerin? «Dass ich an einem Auftritt komplett versage und die Erwartungen aller Anwesenden enttäusche.»
Wir sitzen im West Village in der Wohnung ihres Sohnes, vor uns zwei Take-away-Cappuccinos Es ist ein erstes, dazu berufliches Treffen, aber Shirin Neshat ist so zugänglich, als kenne man sich seit Jahren Sie hat sich für dieses Interview Zeit genommen obschon sie erst tags zuvor von ihrer Ausstellung aus Mailand zurückgekehrt ist, obschon sie in wenigen Stunden mit dem Drehen neuer Kunstvideos beginnen wird. Sie muss müde sein, aber sie lässt sich nichts anmerken Sie ist noch zierlicher und kleiner, als sie auf Fotos aussieht. Sie trägt schwarz, den Kajalstrich hat sie sich dick unter die Augen gemalt – seit Dekaden ihr Markenzeichen.
Den Träumen auf der Spur
Was haben Sie letzte Nacht geträumt? Mit dieser Frage ging Shirin Neshat 2019 im Bundesstaat New Mexico von Tür zu Tür. Sie betrat Wohnungen, Salons und Pizzerien sprach mit Menschen jeden Alters, aller Schichten und Ethnien. Und fotografierte sie Für viele geriet der amerikanische Traum zum Albtraum, nicht nur im Schlaf «Zahlreiche Menschen waren obdachlos, manche kamen direkt aus dem Gefängnis», erzählt Shirin Neshat. New Mexico ist einer der vielfältigsten, aber zugleich auch einer der ärmsten Staaten der USA.
Das Kunstprojekt, das in Porträts, in ein Video und schliesslich in den Film «Land of Dreams» mündete, markiert nach über dreissig Jahren eine 180-GradWende im Schaffen Shirin Neshats Zum ersten Mal geht es nicht in erster Linie um ihre ursprüngliche Heimat Iran, sondern um ihre zweite Heimat die USA Sie sei sich zunächst nicht sicher gewesen, ob sie diesen Übergang «konzeptionell, erzählerisch und visuell» schaffen könne, sagt sie: «Es war eine schwierige Entscheidung für mich, anstatt in andere arabische Teile der Welt zu gehen und so zu tun, als wäre es der Iran mich umzudrehen und festzustellen: Moment, ich lebe hier in den USA, und es gibt so viel
zu sagen darüber, wie es ist, hier eine Immigrantin zu sein.»
«Land of Dreams» ist nun eine von vier Stationen ihrer Entwicklung als Künstlerin, die bis ersten September im Parrish Museum auf Long Island gezeigt werden. «Born of Fire» ist die erste grosse Einzelausstellung Shirin Neshats im Raum New York seit zwanzig Jahren
Die Chefkuratorin des Museums die Schweizerin Corinne Erni sagt scherzhaft: «Diese Ausstellung ist 35 Jahre lang vorbereitet worden.»
Für viele wurde der amerikanische Traum zum Albtraum. Nicht nur im Schlaf.
Denn genau so lange verbindet sie eine Freundschaft mit Shirin Neshat. Ihre Beziehung begann in einem afrikanischen Tanzstudio in New York, als noch keine von beiden Karriere gemacht hatte «Ich habe sie zuerst als Mensch kennengelernt», sagt Corinne Erni Shirin sei stets aufgestellt, freundlich und grosszügig gewesen.
Eine Porträtwand wie im Salon
Wir gehen gemeinsam durch die von Corinne Erni kuratierten Ausstellungsräume. Die ausdrucksstarken SchwarzWeiss-Porträts der Menschen New Mexicos hängen in verschiedensten Grössen über- und nebeneinander auf einer grauen Wand, zusammengestellt wie in einem Salon. Dazu passt das einer Scheune nachempfundene Parrish Museum – erbaut von den Schweizer Architekten Herzog und de Meuron. Ein weiterer Raum zeigt jene Fotoserie, mit der Neshat zu Beginn der
neunziger Jahre der Durchbruch gelungen war: «Women of Allah» verschleierte Frauen mit ausdrucksstarken Blicken, Waffen zur Hand. Shirin Neshat stand sich selbst Modell. Eine weitere Dimension geben die auf deren Gesichter, Hände oder Fusssohlen gezeichneten persischen Kalligrafien. Es sind Verse etwa der Lyrikerin Forough Farrochsad die in den fünfziger Jahren mit ihren Gedichten über weibliches Begehren schon unter dem Schah die Gesellschaft schockierte «Ihre Kunst ist politisch, greift schwierige Themen auf», sagt Corinne Erni, «aber sie ist auch wunderschön, weckt Sehnsüchte nach tiefen Gefühlen und kreiert etwas tief Menschliches zu dem wir alle Zugang haben.» Politische Kunst neige dazu, didaktisch zu sein; die Leute würden sich schnell davon abwenden. «Bei Shirin Neshat geht es direkt in die Seele oder ins Herz.» Sie habe noch nie mit jemandem zusammengearbeitet, den sie so lange kenne, betont Corinne Erni: «Nun bildet diese Ausstellung den absoluten Höhepunkt meiner Karriere. Gerade weil es das Persönliche mit der Kunstwelt zusammenbringt.» Mit «Women of Allah» verarbeitete Shirin Neshat ihren Heimatbesuch nach elf Jahren in den USA.Sie erkannte Land und Familie kaum mehr wieder Ihre zuvor so weltoffenen Schwestern und die Mutter waren verschleiert – zwangsläufig, wie alle Frauen. Es sei gewesen, als ob man dem Land alle Farben entzogen hätte Zurück in New York, voller Fragen und widersprüchlicher Eindrücke, begann sie, an diesen schwarz-weissen Fotografien zu arbeiten. Es ist bemerkenswert, dass die erste Werkserie dieser Frau, die gerne als Feministin bezeichnet wird, kritisch gegenüber Frauen ist. Denn «Women of Allah» zeigt ausgerechnet jene Iranerinnen, die nicht unterdrückt werden, sondern mit der Waffe auf der Seite der religiösen Fanatiker kämpfen. Zugleich werden Klischees von Weiblichkeit sowie der unterdrückten Muslimin auf den Kopf gestellt. Angefeindet wurde die Künstlerin dafür von allen Seiten, von Regimetreuen wie von Oppositionellen. Seit 1996 kann sie den Iran nicht mehr betreten, die Gefahr, inhaftiert zu werden, ist zu hoch Seither lebt sie als Exilantin mit dem Gefühl, ihre Heimat nicht loslassen zu können, aber auch in den USA nie gänzlich dazuzugehören
Neshat zeigt Frauen nie nur als Opfer eines unterdrückenden Regimes. Komplex, zart und stark sind die Frauen im preisgekrönten Film «Women Without Men» Bedrückend ist ihre Situation angesichts von Repression, Gewalt und Trauma, etwa in dem im Parrish Museum gezeigten Zweikanalvideo «The Fury» – die Wut. Eine nur in Unterwäsche bekleidete Frau tanzt in einem Verliess vor Offizieren auf ihrem Körper zeigen sich zunehmend Spuren von Gewalt.
Der Iran lässt sie nicht los Die Männer starren kalt, rauchen, schauen zu. Es ist ein Wach-Albtraum einer Iranerin, die dort Folter erfahren musste, aber inzwischen in New York lebt. Sie rennt in Unterwäsche auf die Strasse, findet sich im New Yorker Quartier Bushwick wieder, wo sich fremde Menschen ihrer annehmen. Neshat entlässt uns nie ohne wenigstens einen Schimmer Hoffnung
Die Gladstone Gallery zeigt an der Art Basel eine neuere Arbeit Neshats: Das Haar einer Frau fliesst meterlang wie ein Wasserfall Die monatelangen Proteste der «Woman, Life, Freedeom»Bewegung in Iran sind mittlerweile wieder abgeklungen. Shirin Neshats Hoffnung auf eine weibliche Revolution ist versiegt. Doch wenigstens einen kleinen Sieg hätten die iranischen Frauen am Ende davongetragen: Sie könnten nun ihr Haar ungestraft offen tragen. Fühlt Shirin Neshat sich noch sicher in der neuen Heimat? Das schon, gerade im multikulturellen Bushwick, wo fast alle Immigranten seien.Aber als sie tags zuvor durch die Passkontrolle am Flughafen gegangen sei, habe ihr Herz schon etwas schneller geklopft Es sei erschreckend, mitanzusehen, wie dieses Land, das sie zu achten und lieben lernte, nun immer stärker jenem Land gleiche, vor dem sie weggerannt sei. «Das Ausmass an Rassismus, Diskriminierung, Missbrauch von Frauen – alles bewegt sich langsam in Richtung eines Faschismus wie er in immer mehr Ländern ausgeübt wird.»
Kaum hat sie das gesagt, piept ihr Mobiltelefon: Der Sohn einer ihrer in Iran lebenden Schwestern sei womöglich von Behörden aufgegriffen worden. Es folgen Sprachmitteilungen in Farsi an diverse Familienmitglieder Auch nach über fünfzig Jahren im Exil: Der Iran lässt Shirin Neshat nicht los – und umgekehrt.
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David Hockney feiert das Leben und seine Kunst: In der Pariser Fondation Louis Vuitton zeigt der Hedonist und ewig junge Brite 400 Werke – die grösste Ausstellung, die ihm je gewidmet wurde.
PETER KROPMANNS, PARIS
Ein wolkenlos stahlblauer Himmel, ein flacher Bungalow minimalistischer Bauweise, daneben zwei Palmen, und im Vordergrund das grünblaue Wasser eines Swimmingpools mit einem Sprungbrett. Die gemalte Szenerie ist menschenleer, doch macht hochspritzende und schäumende Gischt klar: Hier ist gerade jemand ins frische Nass einund darin abgetaucht.
Das 1967 in Kalifornien entstandene Bild «A Bigger Splash» und andere Situationen am Pool machten ihn bekannt, ja populär Nun erinnert der Maler David Hockney daran, dass er bei Weitem nicht auf derlei zu reduzieren ist: mit einer grossen Ausstellung in der Fondation Louis Vuitton in Paris.
Der 1937 in Bradford (West Yorkshire) bei Leeds geborene Brite bekam von der am Rand des Bois de Boulogne gelegenen kulturellen Einrichtung gleichsam eine «carte blanche», um auf nicht weniger als vier Ebenen ihres spektakulären Frank-Gehry-Baus eine Überraschung nach der anderen zu präsentieren. Vom Kellergeschoss bis unter das Dach zeigt der 88-jährige Hockney in elf teils riesigen Sälen Werke aus sieben Jahrzehnten vor allem aber die jüngere Produktion.
Die Schau übertrifft zumindest an Grösse alle vorangegangenen Ausstellungen des Künstlers Französische Zeitungen überschlagen sich mit Lob, und die BBC tut sich schwer mit britischer Gelassenheit. Die beste Werbung kommt allerdings von der Verwaltung der Pariser Metro, die üblicherweise gerne affichiert.
Nun macht stattdessen ihre Ablehnung des eingereichten Plakatentwurfs von sich reden – ein Foto des rauchenden Künstlers vor einem Selbstporträt mit qualmender Zigarette. Dem Vernehmen nach ist der passionierte Raucher Hockney eine Art Helmut Schmidt der Kunst, über diese Reaktion im
Heimatland von Gauloises und Gitanes «not amused»
Hedonismus und Homoerotik
Gegen Intoleranz wehrte sich Hockney schon, als es noch keinen Wokismus gab Der ewig jung wirkende, oft bunt gekleidete, das Leben liebende Künstler begrüsst draussen an der Fassade mit dem Neonlichtspruch «Do remember, they can’t cancel the spring». Die Parole «Denke daran, sie können den Frühling nicht abschaffen» ist die eines Hedonisten, der sich im London der «Swinging Sixties» einen Namen gemacht hat. Hockney hat dabei als malender Aktivist und noch bevor der Begriff «Coming-out» populär wurde, gezeigt, was ihm persönlich wichtig war. Dezent, aber deutlich thematisiert er Homoerotik und Schwulsein schon 1961 mit «We Two Boys Together Clinging» und 1963 mit «Two Men in a Shower».
Zwar ist die raumgreifende Ausstellung «David Hockney 25» nicht als Retrospektive angelegt, sondern setzt den Akzent auf Arbeiten der letzten 25 Jahre. Zusammengekommen sind 400 Werke, auch dank der Unterstützung von den erfahrenen Ausstellungsmachern Suzanne Pagé und Sir Norman Rosenthal: Gemälde und Zeichnungen, klassisch mit Pinsel, Palette und Stift angefertigt, ebenso wie solche, die am Computer oder Tablet entstanden sind, sowie Videoinstallationen. Hockney ist von Beginn an kein Anhänger der Abstraktion. Obwohl oder gerade weil diese in den Fünzigerjahren Konjunktur hat, malt er 1955 seinen Vater gegenständlich, moderat modernistisch und mit Schwarz, Braun und Beige. Eindeutig trister wirkt 1956 eine düstere Strassenszene Der Student der lokalen Kunstschule in Bradford wechselt 1959 an das Royal College of Art in London und beginnt, seinen Szenen mit Figuren mehr Licht und Farbe zu geben sowie Stoffmuster zu integrieren.
Gegen Intoleranz wehrte sich David Hockney schon, als es noch keinen Wokismus gab.
Damals verwendet er noch Ölfarbe, doch rasch ersetzt er sie durch Acryl. Ähnlich wechselt er seinen Lebensmittelpunkt, lebt jeweils mehrere Jahre in Los Angeles, dann in Paris, später im östlichen Teil seiner Heimat Yorkshire und schliesslich in der Normandie bevor er sich 2023 in London niederlässt Grossstädte mit ihren Museen haben ihm alte Kunst verschiedenster Epochen nähergebracht und ihn zu Dialogen mit berühmten Meistern inspiriert, Landschaften der USA, Englands und Frankreichs dagegen die Natur gezeigt und ihre bisweilen einfachen Reize Zwar sind jetzt auch viele Porträts und Stillleben zu sehen, doch ein Schwerpunkt der Schau liegt auf Landschaftsbildern.In einem Saal ist das Licht heruntergedimmt, um in gleissendem Mondschein einer Serie von Nachtszenen die Regie zu überlassen. Hockney begeistert sich sichtlich und spürbar aufrichtig vor allem für Felder mit Heuschobern, krummen Wegen und kurvigen Landstrassen; Bäume zeigt er knorrig im Winter, blühend im Frühling und Früchte tragend, etwa Birnen, im Herbst. Dabei besticht die Wahl des Ausschnitts und der Perspektive Von fern schwingen Monet und der Impressionismus mit, in den koloristisch intensivsten Bildern aber vor allem der späte Bonnard.
Kreativität und Kapriolen Aus seinen Farbexplosionen spricht pure Lebensfreude, aus vielem sogar Humor Seine Wandlungsfähigkeit ist bemerkenswert und seine Kreativität schlägt stets neue Kapriolen. Das Staunen lässt schon deshalb nicht nach, weil Hockney neue elektronische Medien interessiert haben und er auf die Frage, wie sie eingesetzt werden können, zahlreiche Antworten liefert. So wechseln sich klassische Gemälde unverhofft mit Bildschirmen ab die bewegte Bilder wiedergeben und gleichsam das Werden eines Werks dokumentieren.
«The Rain» ist ein Video in Endlosschleife: Vor einem gemalten Landschaftsausschnitt imitieren permanent schnell und dicht gesetzte Striche fallende Tropfen eines kräftigen Landregens als würden wir aus einem Fenster dabei zuschauen, wie es giesst. Hockney liebt Illusionismus und Spiele mit einem Bild im Bild, fachsprachlich «Mise-en-abyme» So blicken wir bei einem Werk in einen Saal mit verstreuten Stühlen und Menschen, in dem ein wandfüllender Spiegel alles reflektiert Dann wiederum bricht, multipliziert und wiederholt er Bilder durch raumgreifende Reihung – eng aneinander stossende Tafeln oder Bildschirme, beispielsweise in drei breiten Streifen zu je sechs Bildern.
Obwohl der Schau eine Dramaturgie zugrunde liegt, die auf Überraschungseffekte setzt, ist man am Schluss doch noch einmal frappiert nämlich wenn Hockney in einen dunklen Saal einlädt, der von Projektionen und Klängen lebt. Bewegte Bilder auf Musik etwa von Puccini, Wagner oder Richard Strauss ziehen hier die Summe aus seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Bühnenbildern, die 1975 mit der Arbeit für eine Inszenierung von Strawinskys «Rake’s Progress» einsetzte «Wir brauchen mehr Oper», lässt er wissen, «sie ist grösser als das Leben.»
Das jüngste Exponat stammt vom Beginn dieses Jahres, jenes Selbstporträt mit Bild im Bild, das auf dem inkriminierten Foto-Plakatentwurf zu sehen ist. Es zeigt den Maler sitzend in einer Gartenecke, auf der Nase eine gelbe Brille in der einen Hand einen Stift, in der anderen eine Zigarette Bekleidet mit weissem Hemd, roter Krawatte sowie gelb und rot-gemustertem Anzug, trägt Hockney am Revers den Button «End bossiness soon» – «Hört auf, Vorschriften zu machen»
Die Expertise bestimmt den Marktpreis eines Kunstwerks wesentlich mit. Experten stehen dadurch in einem Spannungsfeld von Markt, Moral und Recht.
ANDREAS RITTER
Der Kunsthistoriker Max J. Friedländer schrieb 1919: «Der Kenner schafft – und vernichtet – Werte und verfügt dadurch über eine beträchtliche Macht». Seine Feststellung hat bis heute nichts von ihrer Richtigkeit und Prägnanz eingebüsst. Sie steht zu Recht am Anfang der einzigen vertieften juristischen Auseinandersetzung mit diesem schwierigen
Thema: Friederike Gräfin von Brühl stellte sich vor fast zwanzig Jahren der Aufgabe, einen Lösungsansatz zur Thematik der Macht von Experten im Kunstmarkt zu erarbeiten.
Auch sie kommt zum selben Schluss: «Ob sie es wollen oder nicht: Kunstexperten sehen sich mit der Tatsache konfrontiert, dass ihr Urteil den Marktwert eines Kunstwerks kräftig mitbestimmt und dass ihre Einschätzung ein juristisches Nachspiel haben kann Sie bewegen sich im Kontext von Markt (man möge ergänzen: Moral) und Recht.» Wie aber geht der Kunstmarkt heute um mit dieser Macht, die nur allzu oft zur Ohnmacht wird?
Bereits der Begriff des Kunstexperten ist kaum geklärt. Man spricht von
einem «selbstreferenziellen Begriff» Experte ist, wer von den Marktteilnehmern als Experte wahrgenommen wird
Die Akteure sind dabei unterschiedlichster Art: Nachlassverwalter Kuratoren, Ersteller eines Werkverzeichnisses, häufig Kinder oder ein überlebender Ehegatte eines Künstlers, einer Künstlerin, Anwälte, oft auch Kunsthändler Und sie alle haben unterschiedliche Hintergründe, divergierende Interessen, die nicht immer offengelegt sind. Gesetzlich geregelt ist das Berufsbild des Experten oder Sachverständigen (in der Schweiz) jedenfalls nicht. Deren Tätigwerden findet statt auf den Ebenen der Zuschreibung und Zertifizierung von Kunstwerken, der Aufnahme eines solchen in ein Werkverzeichnis des Künstlers, auch auf der Ebene der Schätzung des ökonomischen Werts eines Kunstwerks und auf der Diskursebene also in der Kunstkritik.
Haftung des Kunstexperten
Zahlreiche Abhandlungen mit einem gesicherten Kenntnisstand gibt es heute immerhin zur Frage der Haftung des Kunstexperten bei falscher Auskunft. Grundsätzlich haften Experten für ihre Gutachten und Aussagen, wenn diese fahrlässig oder vorsätzlich falsch sind.
Bei Nachlässigkeit oder Fehlern können sie zivilrechtlich auf Schadenersatz verklagt werden.
In manchen Fällen kann auch eine strafrechtliche Haftung bestehen, wenn beispielsweise falsche Angaben absichtlich gemacht wurden. Hierzu gibt es in der Praxis Fälle zuhauf Doch nur wenig oder gar keine Gerichtsentscheide gibt es, wenn Expertise sich mit Marktmacht verbindet
Interessant ist nämlich nicht nur die Frage, ob ein Experte für die (falsche) Expertise haftet, sondern gleichsam die Frage ex negativo: Was kann ein Eigentümer eines Werks tun, das er einem bestimmten Künstler zurechnet, für das aber eine Expertise abzugeben sich der im schlechtesten Fall einzige Experte weigert?
Ein aktueller Fall zielt in genau diese Richtung: Eine Schweizer Sammlung erwarb das Bild «Katze in Blumenwiese» 1980 in einer renommierten Schweizer Galerie als Werk des Schweizer Künstlers Albert Müller Die Provenienz des Bildes ist erstklassig, es befand sich im Nachlass von Ernst Ludwig Kirchner, rückseitig versehen mit einem Nachlassstempel. In einem handschriftlichen Vermerk von Roman N. Ketterer dem Nachlassverwalter Kirchners steht geschrieben: «nicht von E.L. Kirchner»
Als solches verkaufte Ketterer das Bild an die Schweizer Galerie Auch in seinem Standardwerk, dem damals massgeblichen «Catalogue Raisonné» von Kirchner aus dem Jahr 1968, hatte Donald E Gordon das Bild Kirchner ab- und Müller zugeschrieben
Gleichwohl konnten seither Erkenntnisse namhafter Experten gewonnen werden, dass es sich mit Sicherheit nicht um ein Bild Albert Müllers handelt. Eine Abschreibung erfolgte in dessen Werkverzeichnis, das 1981 von Beat Stutzer erstellt wurde Vielmehr handelt es sich bei dem Bild wohl tatsächlich um ein authentisches Gemälde von Kirchner –womit sich dessen Wert vervielfachen würde
Der Fall ist dem führenden KirchnerExperten Wolfgang Henze, Schwiegersohn von Roman Ketterer, und seinem
Kirchner-Archiv seit Jahren geläufig Das Kirchner-Archiv ist ein privates Archiv, das sich seit 1979 zum Ziel setzt, sämtliche von und zu Ernst Ludwig Kirchner je erschienenen Texte und Abbildungen seiner Werke sowie Angaben zu Ausstellungsbeteiligungen zu sammeln, zu dokumentieren und fortlaufend zu ergänzen. Die Verwaltung der Urheberrechte erfolgte im Auftrag der Erben.
Zuschreibungsautorität
Sämtliche Werke Kirchners wurden 1920 von Berlin nach Davos überführt, wohin sich der Künstler bereits 1917 zurückgezogen hatte. So blieb das Frühwerk während des Zweiten Weltkriegs von der Zerstörung durch Bombenangriffe verschont und weitgehend auch von Beschlagnahmung und Vernichtung durch das Naziregime Aufgrund des ausserordentlich umfangreichen Œuvre des deutschen Malers und Plastikers – man spricht von rund 1500 Gemälden, zahlreichen Skulpturen und rund 10 000 Zeichnungen, Pastellen und Aquarellen – ist das Kirchner-Archiv mit einer gigantischen Aufgabe betraut. Gleichzeitig unterstützt das Archiv Ausstellungen und Publikationen zum Künstler und kümmert sich um Fragen zur Authentizität Es werden auch Echtheitsbestätigungen und Zertifikate ausgestellt aufgrund von Untersuchungen von Bildträgern und unter Anwendung von naturwissenschaftlich-kriminologischen Abklärungen, aber auch von stilkritischen Begutachtungen. Seit 2009 befindet sich ein neues Gesamtwerkverzeichnis in Arbeit, ein Herausgabedatum ist noch nicht bekannt, Einsendungen zur Beurteilung nimmt das E.L.-Kirchner-Komitee
gemäss eigenen Aussagen weiter entgegen. Damit handelt es sich beim Kirchner-Archiv um eine klassische sogenannte Zuschreibungsautorität an der im heutigen Kunstmarkt in Sachen Kirchner niemand vorbeikommt. Nur am Rande sei gefragt, wie es denn mit einem drohenden Interessenkonflikt steht? Denn der Experte Henze ist schliesslich auch Kunsthändler, das Kirchner-Archiv ist an derselben Adresse zu Hause wie die Galerie Henze Ketterer in Wichtrach bei Bern Wie Wolfgang Henze selbst ausführt, wird die Archivtätigkeit von der Galerietätigkeit, die auch händlerisch den Nachlass von Kirchner betreut, klar abgegrenzt Ihm gemäss sei ein Werk, dessen Echtheit zur Diskussion steht oder stand, für die Galerie tabu. Es ist im Kunstmarkt oft der Fall, dass der führende Experte gleichzeitig der langjährige Galerist des Künstlers ist. Gleichwohl muss der Experte unvoreingenommen handeln, damit seine Expertise Bestand haben kann, umso mehr er marktmächtig ist Auch das ist eine teils heikle Gratwanderung Im Jahr 2008 fand eigens zu Kirchners «Katze in Blumenwiese» ein Symposium im Schweizerischen Institut für Kunstgeschichte (SIK) statt, das ein Dutzend Kirchner-Experten zusammenbrachte Eine klare Mehrheit der anwesenden Koryphäen aus den Bereichen Kunst- und Naturwissenschaft sprach sich für eine Zuschreibung an Kirchner aus darunter einer der führenden Schweizer Kunstexperten und -händler, der vor zwei Jahren verstorbene Berner Auktionator Eberhard W. Kornfeld. Kornfeld hatte zeitlebens Kirchner gesammelt, gehandelt und über ihn publiziert. Der einzige wichtige Experte,
der sich nicht überzeugt zeigte, war Henze. Ist es Unsicherheit, ist es Angst vor einer Falschbeurteilung oder ist es das berühmte Bauchgefühl, in Abhandlungen zum Kunstexpertentum auch das «implizite Wissen» genannt, das ihn verstummen liess?
Seit 2008 liegt die Anfrage der Eigentümerschaft nach einer Zu- oder Abschreibung bei der heute faktisch massgeblichen und einzigen Instanz, bei Henze. Dieser forscht weiter, prüft Pro-
venienzangaben, Briefschaften und Katalogeinträge, vergleicht das Werk mit solchen der Schüler von Kirchner, ringt sich aber bis heute zu keiner Neubeurteilung durch. Vielmehr führt er in einer der zahlreichen Korrespondenzen als eines der Hauptargumente gegen eine Zuschreibung an, dass für die Restauratorinnen des SIK die aus der Nähe besehene Pinselhandschrift bei deren Untersuchungen im Jahr 2008 eine Dis-
krepanz zu einwandfrei Kirchner zuzuschreibenden Gemälden ergeben habe Sonst warte er auf «neue grundsätzliche Erkenntnisse zu dem Gemälde», bevor er sich äussern werde.
Neue Erkenntnisse konnten von der Eigentümerschaft dank neuen technologischen Entwicklungen erbracht werden: Eine technische Analyse führte die Schweizer Firma Art Recognition durch. Mittels Einsatz von künstlicher Intelligenz werden Gemälde eines Künstlers digital eingelesen und miteinander verglichen.Art Recognition kam 2022 zum Ergebnis, dass das zur Prüfung vorgelegte Werk zu 97,3 Prozent Wahrscheinlichkeit ein authentischer Kirchner sei. Beim Erkennen von Fälschungen oder der Prüfung von zweifelhaften Werken ist der Beitrag der Kunsttechnologie schon lange unbestritten. Doch auch im Kontext von Fragestellungen bezüglich Zu- und Abschreibungen nimmt die Bedeutung von technologischen Untersuchungen, neu auch unter Einbezug von KI, rasant zu Erstrebenswert ist hier eine unvoreingenommene und konstruktive Zusammenarbeit zwischen Kunstwissenschaft und Kunsttechnologie Der konkrete Kirchner-Fall mit völlig blockierter Situation würde hierzu geradezu einladen.
Nicht handelbare Kunst
Doch noch immer steht die Neubeurteilung der «Katze in Blumenwiese» aus Der Besitzer beantragt seit bald zwanzig Jahren die Aufnahme seines Kunstwerks in das Werkverzeichnis, der Experte aber will eine solche Erklärung nicht abgeben. Werke, die im jeweiligen Werkverzeichnis gelistet sind, sind auf dem Markt handelbar, diejenigen, welchen ein Eintrag versagt wird, sind es nicht. Ein klassisches Dilemma also: Der Besitzer benötigt eine Echtheitsexpertise, um das einem Künstler zugeschrie-
bene Werk auf den Markt bringen zu können, der Experte weigert sich nicht nur, das Werk in ein Werkverzeichnis aufzunehmen, sondern verweigert die Abgabe einer Expertise und allenfalls auch die Begründung, weshalb er die Aufnahme ablehnt. Das Beispiel der «Katze in Blumenwiese» gibt kaum Anlass zur Hoffnung auf einen baldigen Entscheid des Experten. Deshalb die Frage: Gibt es eine Handhabe, den Experten wenigstens zu einer Begründung für seine Verweigerung zu veranlassen?
Lieber in Deckung gehen Damit sind wir zurück auf Feld eins –die bereits genannte einzige Autorin, Gräfin Brühl, hält die «Untersuchungsverweigerung», nicht aber die «Authentifizierungsverweigerung» für kartellrechtswidrig und glaubt, mit den Waffen des Kartellrechts den sich weigernden Experten zum Handeln zwingen zu können. Doch in der Rechtswirklichkeit hat sich diese Waffe bisher als stumpf erwiesen. Es ist kein einziger Fall bekannt, in welchem der Ansprecher sich gegenüber dem Experten gerichtlich hätte durchsetzen können.
Das hat seine Gründe in der Praxis: Zum einen ist die Gefahr, dass der Gutachter, der eine falsche Expertise abgegeben hat, in Regress genommen wird, viel grösser als die Gefahr, dass der sich Verweigernde eingeklagt werden kann Was dazu führt, dass der Experte im Zweifel bevorzugen mag, in Deckung zu verharren, anstatt sich zu exponieren Zum anderen beschränken sich Experten in ihrer Beurteilung in aller Regel auf einen einzigen Satz: «Ich bin bereit, dieses Werk in den «Catalogue Raisonné» aufzunehmen» Dieser genügt gemäss Marktusanzen bereits als Echtheitsbescheinigung Dass der Experte eine Begründung gibt oder gar geben muss, warum er ein Werk für echt oder
nicht echt hält, ist die absolute Ausnahme im Kunstmarkt Schon gar nicht wird er sich förmlich erklären, weshalb er keine Beurteilung abgibt Auch deswegen ist eine rechtliche Anfechtbarkeit meist ohne reelle Chance Objektiv betrachtet, bleibt es gleichwohl dabei, dass Fehlbeurteilungen aus systemimmanenten Gründen unvermeidlich sind. Denn Expertisen werden trotz aller Anstrengungen, die Methoden zu verwissenschaftlichen und durch kunsttechnologische Untersuchungen zu unterstützen, nicht zu unumstösslichen Wahrheiten, sondern bleiben anfechtbare Meinungsäusserungen. Die Expertise ist somit ein Papier auf Widerruf Somit kann nur ein Schluss für die entscheidende Expertise einer marktmächtigen Zuschreibungsautorität gezogen werden: Liegen tatsächlich aussagekräftige neue Erkenntnisse vor, so soll, ja muss der Experte sein Urteil in Wiedererwägung ziehen, Bauchgefühl hin oder her Er muss in zeitlich vertretbarem Rahmen neu entscheiden. Stellt er sich nämlich (freiwillig) der Verantwortung als (unvoreingenommener) Experte, dann kann er sich dieser nicht auf Dauer entziehen.
Eine Frage der Berufsethik Vielmehr muss er seine Ohnmacht überwinden, seine Macht pflichtgemäss ausüben.Das ist Kernbereich einer jeden Berufsethik.Vor allem aber hilft es niemandem, zuletzt der Reputation im Markt und dem Œuvre des Künstlers, wenn das Urteil einem Richter überlassen wird, der in letzter Konsequenz angerufen würde, wenn der Experte sich einer Meinungsäusserung anhaltend verweigert.
Andreas Ritter ist Anwalt für Kunstrecht in Zürich und Geschäftsführer des Verbands Kunstmarkt Schweiz, des Dachverbands für vier Kunsthandelsverbände
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LeikoIkemura, geboreninJapan,zähltzuden bedeutendsten Malerinnenund Bildhauerinnen derGegenwart.Sie lebt in Berlinund lehrteander Universitätder Künste in Berlin. Ihre Werkesind internationalinbedeutendeninstitutionellen Sammlungen vertretenund werden weltweit museal ausgestellt. Demnächst im Bündner KunstmuseuminChur (23. August bis23. November 2025), an der36. Biennale vonSão Paulo (6.September bis 11. Januar 2026)sowie in der Albertina in Wien (14. November 2025 bis8.Februar 2026).
DieimStudioder Künstlerin entstandenen Glaskörper eröffnenpoetische Bildwelten. Die Glasobjekte– gelb,rosa, violettoder blau,getönt– wechseln zwischen Figurund Abstraktion. Sienehmen Bezugauf Ikemuras zentralesMotiv derChimären, eines mythischen Hybrids aus Mensch undTier. Jede Skulptur trägtZügedes Unvollendeten und Uneindeutigen DieglänzendeOberfläche brichtdas Lichtauf subtile Weise, so dasssie wievon innenheraus zu leuchtenscheinen
Frau Ikemura, Sie haben für die NZZ vier Figuren in einem etwas ungewohnten Medium gestaltet. Glas ist in der Kunst schliesslich ein eher selten verwendetes Material.
Ich arbeite bereits lange fasziniert mit dem Medium Glas, allein schon mit der Glasur meiner Keramiken beschäftige ich mich seit 1990 Und damals begann ich auch, Glasobjekte und ihre Schatten zu fotografieren.
Wie entstehen Ihre Glasskulpturen?
Zuerst forme ich eine Skulptur mit Ton, diese wird dann gebrannt, und davon werden Negativformen aus Gips hergestellt. Mit dieser Negativform entstehen sodann zuerst Wachsfiguren, die wiederum beim Guss der Glasfiguren in der Hitze schmelzen und wegfliessen Da ich jede dieser Wachsfiguren noch einmal bearbeite bevor die Gussform geschaffen wird, stellt jede Glasskulptur ein serielles Unikat dar Keine Figur ist identisch mit einer anderen. Es entstehen in diesem Prozess immer minimale Differenzen
Sind die kleinen Unterschied gewollt?
Mich interessiert diese Differenz und ich finde auch die Idee der Repetition reizvoll. Früher war ich strikt gegen jede Wiederholung Aber das sehe ich heute anders Die Repetition führt zu einer Überprüfung und gar zu einer Vertiefung des Motivs Das ist ein bekanntes Phänomen in der Kunstgeschichte Wir kennen von zahlreichen Künstlern Serien, von Monet bis Andy Warhol Auch Alberto Giacometti hat immer und immer wieder dieselben Motive geformt. Das ist ein faszinierendes Vorgehen. Ich arbeite gerade in der Malerei wiederholend, mehrere Bilder mit dem gleichen Sujet. Und nicht etwa, weil mir die Ideen ausgehen, aber weil die Kunst erfinderisch ist in diesen kleinen Nuancen.Wenn man etwas zehnmal macht, dann entsteht durch die Wiederholung ein erfinderischer Änderungsimpuls Das geschieht ganz unwillkürlich. Das heisst, selbst wenn ich glaube, dass ich immer dasselbe mache, ist dennoch jeder Schritt potenziell ein anderer Mit der Zeit macht man plötzlich einen Sprung und es entsteht etwas noch nicht Dagewesenes
Sie haben vier verschiedene Figuren entworfen. Eine Katze, einen Hasen, das Flügelpaar eines Schmetterlings und einen liegenden Kopf Was hat es mit diesen Figuren auf sich? Es sind Naturwesen die alle mit uns Menschen unmittelbar zu tun haben Ich arbeite an diesem Thema der Naturverbundenheit schon seit bald 40 Jahren. Es geht mir bei diesen Arbeiten auch um eine Transformation aller Wesen Indem ich unterschiedliche Materialien ausprobiere und herausfinde, welche Möglichkeiten mir das Material für die jeweiligen Kreaturen eröffnet.
Sie haben die Figuren in Glas gegossen Was haben Sie dabei für sich entdeckt?
In meinen massiven Glasskulpturen wird das Licht zum Inhalt Sie entstehen gewissermassen mit der Transparenz des Lichts die Farben glühen Mit diesen Glasskulpturen betrete ich Neuland, das ist ein kleines Abenteuer Es ist eine eigene Entdeckung, da nur ich in dieser Weise mit der Luzidität des Farbenspiels arbeite. Es ist eine Art Transzendenz durch den Lichtkörper.
Sie sagen, das Licht werde zum Inhalt. Ist es auch so etwas wie ein Mitspieler? Denn die Figuren beginnen je nach
Die Künstlerin Leiko Ikemura hat für die NZZ vier Glasskulpturen geschaffen Im Gespräch mit Roman Bucheli schildert sie, wie die Figuren entstehen und im Licht gleichsam zu leben beginnen
Lichteinfall von innen heraus zu leuchten, als würden sie erst vom Licht zum Leben erweckt
Die Leuchtkraft der Figuren entsteht erst, wenn hereinfallendes Licht absorbiert und zurückgeworfen wird Das heisst, durch die Masse des Glases entsteht eine Lichtkonzentration, und das Objekt strahlt von selbst. Insofern stimmt es: Das Objekt beginnt mit dem Licht zu leben. Da ist eine Magie im Objekt verborgen. Denn je nach dem Einfallswinkel, je nachdem, woher das Licht kommt oder wie stark es ist, wirken die Figuren manchmal stumpf, manchmal ist das Objekt auch nur ein Klumpen. Dann kommt das Licht, und die Skulptur beginnt zu strahlen. Und das ist doch etwas Metaphysisches Das fasziniert mich sehr
Die vier verschiedenen Motive haben auch unterschiedliche Farben. War das eine bewusste Wahl?
Ich habe für die Wahl der Farbe mehrere Versuche gemacht, bis ich die je passende Farbe gefunden habe. Der Mädchenkopf brauchte eine andere Farbe als der Hase, und dieser wieder eine andere als die Flügel oder die Katze. Die Figuren bestimmten sozusagen die Farbe, die sie brauchten Rational kann ich es nicht begründen. Es ergab sich aber zwingend aus «trial and error»
Sie haben einmal geschrieben, dass Ihre Hände Archäologen seien Äussert sich das in dem Augenblick, wenn Sie Skulpturen herstellen, also wenn Sie mit den
«Mit diesen Glasskulpturen betrete ich Neuland. Das ist ein kleines Abenteuer.»
NZZ Art
Kunstaffinen Leserinnen und Lesern bietet NZZ Art einen besonderen Zugang zur globalen Kunstwelt: von exklusiv kuratierten Editionen über speziell gestaltete Kunstausgaben bis hin zu Veranstaltungen mit Experten sowie Reisen zu Privatsammlungen. art.nzz.ch
Händen nicht nur malen, sondern tatsächlich einen Gegenstand formen? Beim Skulptieren empfinde ich es so, meine Hände sind dann Teil von etwas Grösserem. Ich spüre körperlich in solchen Momenten ein riesiges Gedächtnis, meine Hände formen von selbst. Das muss irgendwie in mir verankert sein.
Heisst das auch, dass Sie in solchen Augenblicken nicht die volle Kontrolle über Ihre Hände haben?
Ich bin in keine Bildhauerschule gegangen. Darum arbeite ich etwas unorthodox und mit eigenen Methoden, die keine sind. Ich habe auch in Japan gearbeitet und bei Grossmeistern in der Keramikwerkstatt mitgewirkt. Die modellieren sehr viel soli-
der als ich. Sie bauen ihre Skulpturen mit Sorgfalt auf, während ich eher fliessend vorgehe Und wenn mir andere bei der Arbeit zuschauen, ist man immer höchst erstaunt.Aber bei all den Skulpturen, die ich gemacht habe, ist selten beim Brennen etwas kaputt gegangen Meine Hände machen das intuitiv.
Sie schreiben auch, dass alles, was Ihr Körper erinnert, älter sei als jede Art von Gedächtnis Kann man das so verstehen dass Ihre Hände auch eine Art Medium sind, durch die sich die Geschichte vermittelt?
Nur bestimmte Aspekte, nicht die Historie Ich rede hier von einer Art archaischem Gedächtnis, das vielleicht vergleichbar ist mit C.G. Jungs Archetypen. Es hat auch mit der Formensprache bei Jung zu tun, Kreis, Spirale das sind Elemente einer universellen Sprache, die aber ganz weit in die Vergangenheit zurückreichen und über alle Kulturen hinweg bekannt sind. Das ist mein Formenfundus In diesen elementaren Formen verbinden wir uns mit allen. Und wenn man diese Erkenntnis wirklich verinnerlichen könnte dann müssten die Kriege aufhören Auch dieser ganze tägliche Hickhack von Rassismus oder Genderismus. Aber klar, ich bin auch Teil davon. Ich nehme mich da nicht aus. Wir Menschen haben das Vermögen, Engel zu sein, aber wir sind es nicht immer.
Wie halten Sie es eigentlich mit dem Selbstporträt? Ich schliesse es nicht aus, aber es widerstrebt mir Vielleicht hängt es mit meiner gelegentlichen Selbstquälerei zusammen. Es ist nicht Selbsthass, aber mein innerer Konflikt zwischen Selbstüberzeugung und Zweifel scheut die direkte Konfrontation. Mangelnde Selbstbejahung kommt bestimmt von der Erziehung, aber auch von der nationalen Geschichte, der Kriegsschuld. Kurz, ich habe ein angespanntes Verhältnis zu mir selbst. Zugleich glaube ich, dass alles, was wir machen, auch ein Selbstbild darstellt. Gleichgültig, ob wir uns dessen bewusst sind.
Der Hase kommt in Ihrem Werk sehr häufig vor. Ist das eine versteckte Selbstdarstellung? Vielleicht.
Was sehen Sie, wenn Sie sich als Hase darstellen?
Der Hase ist nicht bewusst die Darstellung von mir. Faszinierend sind jedoch seine riesigen Ohren, sie sind so etwas wie Antennen, und sie bewegen sich sehr unlogisch, sehr ruckartig in alle Richtungen. Als würde der Hase bald von hier und bald von dort Signale aufnehmen. Das hat eine gewisse Rätselhaftigkeit, weil man nicht versteht, was diese Ohren wahrnehmen. Meine These lautet: Hasen sind über diese Antennen mit universellen Kräften verbunden und werden von ihnen so geführt, dass sie am Ende am richtigen Ort ankommen. Aber sie gehen nicht wie eine Kuh ruhig und geradeaus, sondern schlagen wilde Haken. Das mag ich.
Weil auch Ihr Weg nie gerade verläuft und Ihnen Umwege wichtig sind?
Ich hoffe, als Mensch zwar aufrecht zu sein, aber ich gehe nie den direkten zielorientierten Weg. Lieber lasse ich mich auf Seitenwege verführen Ich schlage keine Haken, eher ist es kurvig Wo der Hase übers Feld jagt gehe ich schlendernd.
ARTBASEL Halle2.0 Stand#F1