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Wie

sicher ist

Europas Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten?

Gesundheit und Geopolitik: In der Schweiz fehlen immer mehr lebenswichtige Arzneimittel.

An einer Veranstaltung von «NZZ Live» wurde über Ursachen und mögliche Lösungsansätze diskutiert –im Zentrum der Debatte standen Generika und Lieferketten.

Die Welt ist im Umbruch – und mit ihr geraten Bereiche in den Fokus, die bisher kaum mit geopolitischen Risiken in Verbindung gebracht wurden. Dazu gehört die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten.

Bis zu 90 Prozent der in Europa eingesetzten Antibiotika und anderer Wirkstoffe stammen aus Asien, vor allem aus China. Diese starke Abhängigkeit ist riskant: Schon kleine Störungen in den Lieferketten können grosse Folgen für die medizinische Versorgung haben. Besonders die Herstellung von Generika – also kostengünstigen Nachahmerprodukten, die einen beträchtlichen Teil der verschriebenen Medikamente ausmachen – ist in Europa kaum noch rentabel. Wird die Vulnerabilität der Medikamentenversorgung in Europa überbewertet? Wie relevant sind Generika strategisch für die Resilienz des Schweizer und europäischen Gesundheitssystems? Und sind politische, wirtschaftliche und regulatorische Massnahmen notwendig, um die Arzneimittelversorgung in Europa langfristig zu sichern? Über diese und andere Fragen zum Thema «Gesundheit und Geopolitik – wie sicher ist Europas Versorgung mit Medikamenten» haben an der «NZZ Live»-Veranstaltung vom 27. November 2025 in Zürich drei Fachleute diskutiert: Rebecca Guntern, Chief Commercial Officer von Sandoz, Christoph Amstutz, Leiter Fachbereich Heilmittel der Wirtschaftlichen Landesversorgung, und Hans Gersbach, Co-Direktor des KOF Institut an der ETH Zürich. Das Gespräch wurde geleitet von Anna Weber, Wissenschaftsredaktorin bei der «Neuen Zürcher Zeitung». Unterstützt wurde der Anlass von Sponsoring Partner Sandoz.

Mehr Transparenz gefragt

Antibiotika retten Leben. Doch ihre Verfügbarkeit ist alles andere als selbstverständlich. Wie besorgniserregend ist die Lage tatsächlich? Der Expertenrunde zufolge gilt es, das Problem ernst zu nehmen. Christoph Amstutz macht auf die reelle Mangellage bei lebensrettenden Arzneimitteln aufmerksam und sieht die Abhängigkeit von Asien als grösste Gefahr. Wenn China Medikamentenwirkstoffe als politisches Druckmittel benutze und die Zulieferung stoppe, wie das im Fall von seltenen Erden bereits vorgekommen sei, sässen wir plötzlich auf dem Trockenen. Rebecca Guntern betont, dass es Lösungsvorschläge gebe, mit denen man Versorgungsengpässen entgegenwirken könne. Bedenklich sei jedoch, dass es viel Zeit brauche, um diese umzusetzen. Und Hans Gersbach erklärt, aus wissenschaftlicher Perspektive kenne man den tatsächlichen Ernst der Lage noch nicht im vollen Ausmass. Lieferketten seien global und opak, und kein Akteur durchschaue diese wirklich vom Anfang bis zum Ende. Dies bedeute, dass man von der Wissenschaftsseite gefordert sei, um bessere digitale Abbilder von Lieferketten zu erhalten und zu sehen, wo die grossen Risiken tatsächlich lägen. Rebecca Guntern weist darauf hin, dass die europäischen Gesundheitsminister kürzlich die Abhängigkeit von China bei lebenswichtigen Medikamenten als Achillesferse unserer Verteidigungsstrategie bezeichnet hätten. Wie sich eine solche Dependenz in Krisensituationen auswirken könne, habe sich während der Corona-Pandemie gezeigt:

«Es ist nicht selbstverständlich, dass wir Zugang zu lebensnotwendigen Arzneimitteln haben. Noch vor 25 Jahren wurden 50 Prozent der Wirkstoffe in Europa hergestellt. Heute kommen bis zu 90 Prozent aus China und Indien», erklärt Guntern. Bei Penicillinen besitze Sandoz das letzte grosse voll integrierte Werk in Europa, in dem vom Wirkstoff bis zur Endverpackung alles produziert werde. Dank grossen Investitionen könnte man heute so viel produzieren, dass theoretisch die Abdeckung der oralen Form des Medikaments europaweit gewährleistet werden könnte, was strategisch sehr wichtig sei. Und als Schweizerin freue es sie besonders, dass 90 Prozent des in der Schweiz sehr häufig verkauften Amoxicillin aus diesem Werk stamme. Laut Guntern wäre es jedoch illusorisch, sämtliche versorgungsrelevanten Arzneimittel in Europa zu produzieren. Der anhaltende Druck zu immer niedrigeren Preisen bei gleichzeitig steigenden Herstellungskosten zerstöre die wirtschaftlichen Anreize. Daher seien transparente Lieferketten notwendig.

Wie Hans Gersbach erklärt, wurden am KOF Institut zwei Werkzeugkästen entwickelt, um Lieferketten zu analysieren. Einerseits seien dies moderne Handelsmodelle, mit denen globale Handelsströme untersucht werden könnten, andererseits datengetriebene Netzwerkansätze. Ziel sei es, die grössten Schwachpunkte der jeweiligen Lieferketten zu identifizieren und zu sehen, was für Auswirkungen allfällige Störungen hätten. «Als der Suez-Kanal blockiert wurde, gab es Medikamenten-Lieferverzögerungen in den europäischen Spitälern. Und als der Sturm

Helene über die USA fegte und ein Produktionswerk in North Carolina zerstörte, gab es Engpässe und es mussten sogar Operationen in den USA verschoben werden», sagt Gersbach. Wenn irgendwo ein Schock auftrete, könne sich das auf die medizinische Versorgung auswirken. Deshalb versuche man nun, digitale Zwillinge von Lieferketten zu erstellen, die Daten über die Charakteristika der involvierten Akteure sowie Informationen über Kosten und Margen enthielten. So könne man Aussagen darüber machen, wo diese Ketten besonders verletzlich seien und welche Schocks sie bewirken könnten. Bei den Generika habe man das Problem, dass es häufig nur ein oder zwei Produktionsstandorte für Zwischenprodukte gebe, weshalb diese Lieferketten besonders verletzlich seien. Würden dann auch noch geopolitische Erwägungen ins Spiel kommen, könnte dies verheerende Auswirkungen auf die europäische Versorgung mit lebenswichtigen Arzneimitteln haben. Die digitalen Lieferketten-Abbildungen des KOF Institut spielen der Wirtschaftlichen Landesversorgung in die Hände, die unter anderem definieren muss, welche Medikamente besonders vulnerabel sind, welche Produkte eventuell wegen zu kleiner Volumina vom Markt genommen werden könnten, und welche Arzneimittel von einem einzigen Hersteller kommen. «Wie wir gehört haben, produziert Sandoz 90 Prozent des in der Schweiz benötigten Amoxicillin. Wenn plötzlich das Werk in Tirol ausfallen würde, hätten wir ein Riesenproblem», sagt Christoph Amstutz. In der Schweiz gebe es rund 320 Wirkstoffe, die aktuell als lebenswichtig eingestuft würden –darunter Antibiotika, Insulin oder starke Schmerzmittel. Davon würden mehr als 70 Prozent in Form von kostengünstigen Generika abgegeben.

Finanzielle Anreize schaffen

Wie kann man Abhängigkeiten reduzieren, Lieferketten stabiler machen und eine langfristige Versorgungssicherheit in der Schweiz und Europa gewährleisten? Für Rebecca Guntern braucht es Innovations- und Investitionsanreize, um Schlüsseltechnologien in Europa zu halten – wie dies in China seit Jahren gemacht werde. Zudem brauche es Reformen in der Preisgestaltung von kritischen Medikamenten, um deren Wirtschaftlichkeit zu gewährleisten. Christoph Amstutz sieht Preissenkungen bei lebensnotwendigen Medikamenten ebenfalls kritisch. In gewissen Fällen habe das Bundesamt für Gesundheit (BAG) diese sogar zurückgenommen, um das Arzneimittel im Markt zu halten. Man spreche von Produkten, die etwa so viel kosten würden wie eine Tasse Kaffee – dies seien nicht die grossen Preistreiber. Um die Verfügbarkeit von kritischen Medikamenten in der Schweiz und Europa sicherzustellen, befürwortet er eine länderübergreifende Zusammenarbeit bezüglich Produktion und Verteilung. Dafür müsse man finanzielle Anreize schaffen. Diese Ansicht teilt auch Hans Gersbach: Zuerst brauche es allerdings ein besseres globales Bild der Lieferketten-Infrastruktur, das aufzeige, in welchen Fällen eine lokale Produktion überhaupt Sinn mache. Bei Antibiotika sei die europäische Verletzbarkeit sehr hoch, im Falle von anderen Medikamenten sei dies noch nicht klar – hier brauche man eine bessere Analyse.

Christoph Amstutz weist darauf hin, dass in der Schweiz die Meldesysteme modernisiert würden, sodass alle Informationen zentral zusammenfliessen und man einen besseren Überblick über Lagerbestände und Verbrauch erhalte. Bei drohenden Engpässen sei die Industrie zukünftig in der Lage, rechtzeitig Ware in grösseren Mengen zu besorgen oder kurzfristig in die Schweiz umzuleiten. So könne man den Ausfall eines Herstellers oder einer ganzen Produktegruppe verhindern oder zumindest verlangsamen. Rebecca Guntern wendet ein, dass die Kosten, um diese Arzneimittel aus dem Ausland in die Schweiz zu bringen, enorm hoch wären. Sie unterstreicht noch einmal die Relevanz einer stärkeren europäischen Produktion, auch wenn diese mit Investitionen verbunden sei und von fairen Preisen unterstützt werden müsse. Hans Gersbach betont, im Hintergrund dieser Überlegungen sei es relevant, wie sich Europa als Wirtschaftsmacht positioniere. Eigentlich habe es die Grösse, um geopolitische Drohungen zu neutralisieren. Dies sei essenziell, denn die Lieferketten würden auch in Zukunft weitgehend global bleiben: Europa sei nicht in der Lage, in der Medikamentenproduktion völlig autark zu werden. Und Christoph Amstutz sieht eine Parallele zum Rüstungsaufbau. Auch dort habe man jahrelang nichts gemacht und müsse jetzt handeln. «Bei den Waffen tätigt man Investitionen – bei den Medikamenten könnte man dies mit einem Bruchteil dieser Gelder ebenfalls tun», sagt der Vertreter der Wirtschaftlichen Landesversorgung.

Das Fazit der Expertenrunde: Um die Versorgungsunabhängigkeit der wichtigsten Medikamente in den nächsten Jahrzehnten zu gewährleisten, ist rasche Transparenz bezüglich Lieferketten und Lagerbestände gefragt. Zudem braucht es eine gesamteuropäische Zusammenarbeit bei der Produktion sowie einheitliche, allgemeingültige Standards bei den Verpackungen und Patienteninformationen. Um dies zu erreichen, müssen länderspezifische Sonderregelungen abgebaut werden.

«Wenn plötzlich das Werk von Sandoz in Tirol ausfallen würde, hätten wir ein Riesenproblem.»

«Es ist nicht selbstverständlich, dass wir Zugang zu lebensnotwendigen Arzneimitteln haben.»

«Als der Suez-Kanal blockiert wurde, gab es Lieferverzögerungen in europäischen Spitälern.»

Den QR-Code scannen und die Aufzeichnung der Debatte auf nzz.ch streamen.

Die Moderatorin mit den Teilnehmenden an der Veranstaltung von «NZZ Live» (von links nach rechts): Anna Weber («Neue Zürcher Zeitung»), Christoph Amstutz (Wirtschaftliche Landesversorgung), Rebecca Guntern (Sandoz), Hans Gersbach (KOF Institut).
Fotos: NZZ Live
Christoph Amstutz Leiter Fachbereich Heilmittel der Wirtschaftlichen Landesversorgung
Rebecca Guntern Chief Commercial Officer von Sandoz
Hans Gersbach Co-Direktor des KOF Institut an der ETH Zürich

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