David Signer (Hrsg.): Grenzen erzählen Geschichten.

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Umschlagbild: NZZ Infografik © 2015 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich Gestaltung, Satz, Umschlag: Katarina Lang, Zürich Lithografie: Fred Braune, Bern Druck, Einband: Kösel GmbH, Altusried-Krugzell Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­ins­besondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen ­unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-097-3 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung

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Grenzen erzählen Geschichten – Einführung | David Signer 7 Europa 19 Büsingen: Schaffhausens ewiges Ärgernis  |  Volker Pabst  20 Neum: Ragusas Rache  |  Martin Woker 22 Baarle: Über allem die Vordertürregel  |  Nina Belz 24 Märket: Sonderbarer Grenzstein im Meer  |  Volker Pabst 27 Gibraltar und Ceuta: Bei den Säulen des Herkules  |  Andres Wysling 29 Ostpreussen: Stalins Säbelhieb  |  Volker Pabst 31 Dieveniškės: Gottes Ort, von Stacheldraht umgeben  |  Rudolf Hermann 33 Istrien: Wo einst die österreichische Hochseeflotte vor Anker lag  |  Beat Bumbacher 35 Campione: Vom Klosterbesitz zum Kasinodorf  |  Werner J. Marti 38 Tirol: Diesseits und jenseits des Brenners  |  Stefan Reis Schweizer 41 Vatikan: Ohne Meerzugang  |  Stefan Reis Schweizer 43 Zypern: Geteilt und zerrissen  |  Cyrill Stieger 45 Amerika 49 Feuerland: Durch einen Meridian geteilt  |  Werner J. Marti 50 Patagonien: Undefiniertes Eisfeld  |  Werner J. Marti 52 Hispaniola: Eine Insel, zwei Kulturen  |  Werner J. Marti 54 Guantánamo Bay: Ein Pachtgebiet als Internierungslager  |  Nicole Anliker 56 Point Roberts: Die Enklave an der Pazifikküste  |  Beat Bumbacher 58 Diomedes-Inseln: Die Insel der Ewiggestrigen  |  Andreas Rüesch 60 Naher Osten und Nordafrika  65 Taba: Wüster Streit um ein Stück Wüste  |  Beat Bumbacher 66 Jerusalem: Ewiger Zankapfel  |  Daniel Steinvorth 69 Jordanien: Ein Land aus dem Nichts  |  Jürg Bischoff 71 Nördliches Afrika: Wie mit einem Lineal gezogen  |  David Signer 73 Afrika 77 Swasiland: Zwischen Südafrika und Moçambique gequetscht  |  David Signer 78 Sambesi: Der Caprivi-Zipfel  |  David Signer 80 Cabinda: Ölreiche, umkämpfte Exklave  |  David Signer 82 Äquatorialguinea: Cervantes’ afrikanischer Stützpunkt  |  Volker Pabst 84 Gambia: So weit die Schiffskanone reicht  |  David Signer 87 Djibouti: Das Tor der Tränen  |  Sabina Mohammed 89

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Mayotte: Der unfertige Halbmond  |  Volker Pabst 92 Seychellen: Ein Staat aus 115 Teilen  |  David Signer 95 Südsudan: 400 umstrittene Kilometer  |  Julia Joerin 97 Westsahara: Puffergebiet oder freie Zone?  |  David Signer 99 Asien und Pazifik  103 Wachankorridor: Erinnerung an das «Great Game»  |  Volker Pabst 104 Ferghanatal: Ein Grenzenknäuel  |  Andreas Rüesch 106 Aralregion: Eine ausgetrocknete Grenze  |  Andreas Rüesch 108 Brunei: Das Erbe der weissen Rajas  |  Nina Belz 111 Diego Garcia: Das geheimnisvolle Atoll  |  David Signer 113 Siliguri-Korridor: Der Hühnerhals  |  Andres Wysling 115 Kaschmir: An der Grenze des Atomkriegs  |  Christian Weisflog 117 Nord- und Südkorea: Ein Relikt des Kalten Krieges  |  Nina Belz 119 Neuguinea: Wasser und viel Willkür  |  Nina Belz 122 Carteret: Dem Untergang geweiht  |  Nina Belz 124 Nord- und Südpol  129 Arktis: Kampf um Ressourcen  |  Beat Bumbacher 130 Antarktis: Last Frontier in der Kälte  |  Werner J. Marti 133 Dank 135 Der Herausgeber  136

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Grenzen erzählen Geschichten – Einführung

David Signer

Grenzen – Körper, Familie, Haus, Dorf und Land Die elementarste Grenze für die Menschen ist vermutlich die des eigenen Körpers – die Haut. Sie trennt Ich und Nicht-Ich, Innen und Aussen. Aber auch diese fundamentale Trennlinie ist nicht einfach gegeben. Dem Säugling ist sie vermutlich noch nicht klar. Die Umrisse des Körpers – und damit von Mein und Dein – entdeckt das Kleinkind erst nach und nach. Und auch später noch bleibt oft diffus, wo eigentlich das Ich aufhört. Gehören Frisur, Kosmetik oder Kleider noch zu mir oder sind sie bereits Teil der Aussenwelt? Es scheint zum Wesen des Menschen zu gehören, das Innere nach aussen zu kehren, sich die Umwelt zu eigen zu machen, indem er sie personalisiert. So kommt es, dass sich die eigene Persönlichkeit in der Umgebung fortsetzt: Der Wohnraum, das Eigentum, die Familie, das Dorf, die Stadt oder sogar das eigene Land werden zu Erweiterungen des Ichs, zu jener vertrauten Sphäre eben, wo man sich heimisch fühlt. Alle diese «Einzonungen» sperren ­jedoch zugleich aus, definieren Gebiete, die nicht zum Eigenen ­gehören, wo man sich weniger oder nicht zu Hause fühlt. In diesem kleinen Buch werden 44 seltsame Grenzverläufe rund um den Globus unter die Lupe genommen, jeweils anhand von einer Karte und einem Text, der die Entstehung der ländertrennenden Linie erzählt und analysiert. Dabei geht es um Ex­ klaven und Enklaven, zweigeteilte Inseln und Städte, Zwergstaaten und Zipfel, Atolle, Archipele und untergehende Inseln, Stadtstaaten, Territorien mit umstrittenem Status, Korridore und Puffer­ zonen. Es geht um exotische Kuriosa, aber auch um weltpolitische Brandherde. Die Miniaturen regen zum Nachdenken über das ­Phänomen der Grenze im Allgemeinen an. So kann man sich fragen, warum es überhaupt Ländergrenzen gibt und woher das Bedürfnis nach Grenzziehung und Abgrenzung eigentlich rührt.

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Nationalstaatliche Grenzen sind gegenwärtig der deutlichste und gewichtigste Ausdruck solcher Aufteilungen zwischen Wir und Ihr. Aber menschheitsgeschichtlich sind sie ein sehr junges Phänomen. Die europäischen Nationalstaaten entstanden mehrheitlich im 19. Jahrhundert, einige erst nach dem Ersten Weltkrieg (durch den Zerfall von Österreich-Ungarn und des Osmanischen Reiches) und ab 1990 (nach dem Ende der Sowjetunion) – auch wenn man gerne dazu tendiert, sie beinahe als etwas Zeitlos-­ Naturwüchsiges aufzufassen. Die Idee des Nationalstaates, so wie sie im 19. Jahrhundert entstand, impliziert eine Einheit aus gemeinsamer Sprache, Geschichte, Kultur und Mentalität. Insbesondere die Romantik und später der Faschismus überhöhten diese Vorstellung zur Idee eines gemeinsamen Wesens, einer mythischen Essenz. Kommen noch geografische Einfassungen hinzu wie Flüsse oder Gebirgszüge, ergibt sich die Grenzziehung dann fast von alleine. Aus dieser Sicht erscheinen Gebilde wie die UdSSR oder Jugoslawien als unnatür­ liche Konglomerate, die auch deshalb auseinanderfallen mussten, weil sie in ein Prokrustesbett zwängten, was eigentlich nicht zusammengehörte. Die abstrakte Gleichsetzung von Staat, Volk und kollektiver Identität wird in der Realität allerdings kaum je verwirklicht – selbst «Musterstaaten» wie Frankreich, Italien, Spanien oder Deutschland beherbergen sprachliche Minderheiten, ganz zu schweigen von der kulturellen Heterogenität selbst unter Alteingesessenen, und erst recht zu schweigen von Gruppierungen wie J­ uden, Sinti-Roma oder Migranten im Allgemeinen. Umgekehrt umfassen diese Länder meist nicht alle Muttersprachigen. Die ­Romandie gehört bekanntlich nicht zu Frankreich. Überhaupt ist die Schweiz das Parade­ beispiel eines Staates, der sich eben gerade nicht durch sprachliche Einheit definiert. Aber trotz der modernen Auf lösung der alten Identitäten und Bindungen ist auch in Europa – parallel zur Entstehung der EU – eine Renaissance des romantischen Nationalis-

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mus zu beobachten. Die Katalanen und die Schotten sind die jüngsten Beispiele für Volksgruppen, die Gelüste zur Nationen­ bildung verspüren. Schaut man sich die Grenzverläufe von Ländern an und ­beschäftigt sich ein wenig mit ihrer Entstehung, wird rasch klar, wie sehr sie «gemacht», das heisst historisch sind. So etwas wie natür­ liche Grenzen gibt es kaum, und deshalb ist es auch sinnlos, von unnatürlichen Grenzen zu sprechen. Grenzen verändern sich unaufhörlich. Im Internet kursiert eine Animation, die im Zeitraffer zeigt, wie sich die Umrisse der europäischen Länder und Reiche seit dem 12. Jahrhundert verändert haben. Ein schwindelerregendes Springen, Rutschen, Fliessen, Entstehen und Verschwinden! Gelegentlich folgen Grenzen natürlichen Gegebenheiten der Landschaft. Aber viel häufiger sind sie etwas Abstraktes. Oft würde man gar nicht bemerken, dass man von einem Land in ein anderes reist, wäre da nicht der Zollübergang. Manche Grenzen werden mit einem Federstrich am Reissbrett gezogen, um manche wird jahrelang gekämpft. Obwohl sie im Prinzip nur künstliche Linien auf einer Karte sind, bestimmen sie das Schicksal von Millionen. Sie sind Folge, aber auch Ursache von Konflikten. Manchmal genügt ein Blick in den Atlas, und sofort stechen einem Kuriosa ins Auge: Enklaven, Exklaven, schnurgerade oder verwinkelte Grenzen, geteilte Städte, gestrichelte Linien, die alle auf territoriale Streitigkeiten verweisen. Grenzen – gerade die bizarren – erzählen immer auch Geschichte und Geschichten; sie sind zu Linien geronnene Historie. Der kartografische Blick Das Verhältnis von Karte und Land ist dabei nicht einfach eines von Abbild und Original. Eher handelt es sich um ein Verhältnis der gegenseitigen Beeinflussung. Denn Kartografie beschränkt sich nicht auf neutral-wissenschaftliche Wiedergabe. Oft fliessen politische, imperiale und militärische Interessen mit ein. Vielleicht ist

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schon dem distanzierten Blick «von oben herab» – Voraussetzung fürs Kartografieren – per se etwas Herrschaftliches eigen. Man verschafft sich eine Übersicht und macht sich zumindest symbolisch die Welt untertan. Auf jeden Fall bildet eine Karte nicht einfach präexistente Grenzen ab, sondern oft ist es umgekehrt: Auf der Karte wird eine Grenze gezogen, die später Wirklichkeit werden soll oder es auch tatsächlich wird. Bemerkenswert ist, dass Karten gemeinhin den Standort des Beobachters ins Zentrum stellen und nach aussen zunehmend ins Phantastische übergehen (so wie auch frühe Reiseberichte oft ­hemmungslos Fakten und Phantasien vermischen). Gelegentlich beschrifteten frühe Seefahrer und Entdecker die Randterritorien mit dem Begriff «Terra incognita». Häufiger aber bevölkerte man das Unbekannte mit Monstern, Sirenen oder Fabeltieren. «Hic sunt leones» (Hier gibt es Löwen), schrieben die Römer über die fragmentarische Karte Afrikas, «Hic sunt dracones» (Hier gibt es Drachen) hiess es noch im 16. Jahrhundert für die ostasiatischen Gebiete. Der Schriftsteller Graham Greene berichtete, dass er in den 1930er-Jahren für seine Liberia-Reise nur zwei Landkarten auftreiben konnte. Auf der einen, angefertigt vom britischen Generalstab, fand sich anstelle des westafrikanischen Landes ein leeres Feld. Auf der anderen, herausgegeben vom amerikanischen Kriegsministerium, war das Territorium mit dem Wort «Kannibalen» überschrieben. Offenbar fällt es schwer, weisse Flecken weiss zu lassen, so wie wir auch heute die geheimnisvollen Tiefen des Weltalls gerne mit Science-Fiction-Imaginationen füllen. Grenzobsession und Grenzenlosigkeit Exklaven zeigen, dass die Einheit von Volk und zusammenhängendem Territorium nicht immer so kompakt ist, wie sich dies Nationalisten vorstellen. Nach dem Muster von Chinatowns gibt es heute auf der ganzen Welt Diasporagemeinden, die im extremen Fall den Charakter von ethnisch homogenen Ghettos annehmen können:

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gewisse Quartiere in Paris beispielsweise, die eher arabischen oder afrikanischen als französischen Charakter haben. Im Zusammenhang von Migration und Globalisierung spricht man in diesem ­Sinne auch von Deterritorialisierung und «ethnoscapes». Damit ist gemeint, dass sich das Kulturelle oder Ethnische vom Grund und Boden löst und sich, etwa wie die Bäume in einer Landschaft, weiträumig v­erteilen kann, mit Bereichen grösserer oder geringerer Dichte. So könnte man sich beispielsweise eine Karte der Türken anstelle der Türkei vorstellen, die etwa auch zahlreiche Stadtquartiere in Deutschland einschliessen würde. Es gibt Staaten in Afrika, deren Angehörige im Ausland inzwischen mehr erwirtschaften als im Land selber. Volk und Ort trennen sich zunehmend voneinander, kulturelle Einheiten sind immer weniger lokalisierbar. Natürlich ist es absurd, wie Milosevic dazumal zu erklären, überall wo Serben lebten, sei Serbien. Eine Diaspora ist eben nicht dasselbe wie eine Exklave. Trotzdem weist das Phänomen der Deterritorialisierung darauf hin, dass Grenzen heute nicht mehr die gleiche Bedeutung haben wie zu Zeiten des Nationalismus im 19. Jahr­ hundert und das Konzept der nationalen Identität und Grenze kaum noch Schritt hält mit den jüngeren globalen Entwicklungen. Nationen werden immer mehr zu vorgestellten, imaginären Einheiten – was ihre Wirkmächtigkeit nicht relativiert. Massenmedien und Kommunikationsmittel wie Fernsehen, Internet, Facebook oder Skype spielen dabei übrigens eine doppelgesichtige Rolle. ­Einerseits transportieren sie permanent Inhalte aus fremden Welten in die traute Stube. Andererseits ermöglichen sie Migranten, in viel engerem Kontakt als früher mit ihrem Herkunftsland zu bleiben und im Extremfall trotz Ortswechsel innerlich gar nie richtig aus ihrer Heimat wegzugehen. Es gibt allerdings auch gegenläufige Tendenzen zur Deterritorialisierung, nämlich Reterritorialisierung. Gerade nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch der Sowjet­ union erlebte die Idee des Staates, der auf einem Volk mit einer

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gleichen Sprache und gleichen Kultur basiert, eine Renaissance. Und bekanntlich entstanden und entstehen innerhalb der EU parallel zu Vereinigungsprozessen auch neue Regionalismen, ­ ­Separatismen und Patriotismen. Es ist, als ob kollektive Identität, sei sie ethnisch, sozial, politisch, ideologisch oder religiös fundiert, an­gesichts zunehmender Individualisierung und angesichts zu­ nehmender überstaatlicher Organisation zugleich wichtiger und unwichtiger werde. Schaut man sich das Thema der Grenzen aus der Vogelperspektive an, könnte man festhalten: Das Abendland ist seit Jahrhunderten besessen sowohl von Grenzziehung wie auch von Grenzüberschreitung. Nirgendwo sonst haben Grenzkonflikte zu so blutigen Kriegen geführt wie im Europa des 20. Jahrhunderts. Zugleich jedoch ist die Geschichte des Westens charakterisiert durch das unermüdliche Streben, Begrenzungen zu überwinden und in Räume jenseits des Horizonts vorzudringen. Die Ent­ deckungsfahrten in alle vier Himmelsrichtungen, die Besiedlung neuer Länder, die Aufklärung, der Liberalismus, der alle Korsetts sprengende wissenschaftliche und künstlerische Innovationsgeist, die sozialen und politischen Revolutionen, schliesslich die Weltraumfahrt … Alle diese Pionierleistungen entflohen der Enge des Bekannten und stiessen in neue, grenzenlos scheinende Welten vor. Zugleich führten sie nolens volens zu neuen Grenzziehungen, denkt man nur an den Kolonialismus, Rassenschranken, die Indianerreservate, die Militarisierung des Alls. Mit demselben Strich wird oft eine Grenze ausradiert und eine neue gezeichnet. Der alte, komplizierte Kontinent – von Büsingen bis Gibraltar Im vorliegenden Buch nehmen Redaktoren und Korrespondenten der NZZ Karten unter die Lupe, bei denen ihnen besonders bizarre Grenzen ins Auge gestochen sind. Für einmal illustrieren hier nicht Karten die geschriebenen Artikel, sondern es ist umgekehrt: Kurze, prägnante Texte versuchen Licht in dunkle, rätselhafte

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Grenzverläufe zu bringen und eilen den Kartografen mit historischen Exkursen, politischen Minianalysen oder dem Nachzeichnen von Zwisten zu Hilfe. Und so zeigt sich: Jede Grenze ist eine Kluft, die den Blick in abstruse, tragikomische, blutige, unglaubliche, hinterhältige oder heroische Abgründe eröffnet. Das beginnt schon ganz in der Nähe mit zwei Exklaven auf schweizerischem Gebiet, nämlich dem deutschen Büsingen und dem italienischen Campione, dessen Geschichte immerhin bis ins Jahr 777 zurückreicht, als nämlich der Langobardenherrscher Toto das Gebiet dem Kloster Sant’  Ambrogio in Mailand vermachte. Auch das Tirol, aufgeteilt zwischen Italien und Österreich, beweist, dass man für Grenzziehungskuriosa nicht in die Ferne reisen muss. Das ehemalige Jugoslawien – beziehungsweise seine Nachfolgestaaten – ist, was Grenzen betrifft, sicher eines der kompliziertesten Gebilde in Europa. Eher ein Kuriosum innerhalb dieses konflikt­reichen Territoriums ist der Ort Neum, wo Bosnien-Herzegowina den Küstenstreifen Kroatiens durchbricht und so über einen Meerzugang verfügt. Harmloserer Natur ist Märket, in der Ostsee ­zwischen Schweden und Finnland gelegen. Märket ist so klein, dass man es nicht einmal als Insel bezeichnen kann. Der wasserumtoste Fels beherbergt keine Bewohner, dafür Landesgrenzen. Weitere Karten aus dem europäischen Raum behandeln die Zweiteilung des ehemaligen Ostpreussens, genannt «Stalins Säbelhieb», sowie der Insel Zypern, den in vielerlei Hinsicht speziellen Stadtstaat ­Vatikan, das wechselvolle Schicksal Triests und die litauische Ortschaft Dieveniškės, die der Legende nach ebenfalls mit Stalin zu tun hat, und zwar mit seiner Tabakpfeife. Kurios ist auch die niederländische Gemeinde Baarle-Nassau. Die komplizierten ­ Grenzen zu Belgien verlaufen hier teilweise ­mitten durch Häuser hindurch. Nicht vergessen darf man auch den eigenartigen Status von zwei kleinen Territorien, die sowohl ­zwischen Europa und ­Afrika wie auch zwischen Mittelmeer und Atlantik liegen: das ­britische Gibraltar und das spanische Ceuta.

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Unendliches Afrika – von Gambia bis zu den Seychellen Afrika wirft bei der Betrachtung seiner Karten viele Fragen auf, vor allem aufgrund der willkürlichen kolonialen Grenzen, die, insbesondere im Sahel, nicht nur so aussehen, als seien sie mit dem ­Lineal gezogen worden. In Afrika befinden sich aber zum Beispiel auch der Ministaat Swasiland und das schlauchförmige Gambia, das Senegal fast in zwei Teile trennt, oder das seltsame namibische Anhängsel Sambesi, früher Caprivi-Zipfel genannt. Mehr als ein angolanisches Anhängsel, nämlich eine richtige Exklave auf dem Gebiet von Kongo-Kinshasa, ist Cabinda, das lange – umsonst – um staatliche Unabhängigkeit kämpfte. Ebenfalls politisch brisant sind die Grenzen von Westsahara, ein grosses, von Marokko be­ anspruchtes Wüstengebiet, das von vielen Ländern aber als unabhängige Nation anerkannt wird. Weitere Beiträge behandeln die weiterhin umstrittenen Gebiete zwischen dem Sudan und dem Südsudan, der sich 2011 abspaltete, die geostrategische Lage von Djibouti am Roten Meer, die französische Komoreninsel Mayotte und den Fall Äquatorialguinea, dessen Territorium aufgeteilt ist auf das eigentliche Festland sowie zwei weit auseinanderliegende ­Inseln. Das ist allerdings immer noch nichts, verglichen mit den Seychellen, die aus 115 Inseln bestehen, von denen einige mehr als 1000 Kilometer voneinander entfernt sind. Ins Morgenland – von Jerusalem bis in den Pazifik Eine der konfliktreichsten und – was Grenzen angeht – kompliziertesten Regionen der Welt ist der Nahe Osten, und innerhalb des Nahen Ostens nimmt Jerusalem noch einmal einen Sonderstatus ein. Eine detaillierte Karte dieser Stadt zu erstellen und zu ­interpretieren, kommt einer Doktoratsarbeit gleich. Während die Heilige Stadt fast zerrissen wird von einem Zuviel an Geschichte, ist Jordanien demgegenüber eher ein «Land aus dem Nichts». Aber selbst diese Grenzen durchs Nichts haben historische und koloniale Gründe. Auch der Sinai besteht vor allem aus Wüste. Trotzdem

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ist er von grosser geostrategischer Bedeutung. Besonders exponiert liegen die Städte Eilat, Taba und Aqaba im Vierländereck zwischen Ägypten, Israel, Jordanien und Saudiarabien. Weiter östlich verweisen der Wachankorridor und die ­Durand-Linie zwischen Afghanistan und Pakistan auf eine lange und spannungsreiche Vergangenheit. Die verschlungenen Grenzen zwischen Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan im Ferghanatal kann man nicht anders denn als Knäuel bezeichnen. Wie die Geografie der Grenzziehung oft Pate steht, sie aber auch unterwandern kann, zeigt der Konflikt zwischen Usbekistan und Kasachstan. Durch das Verschwinden des südlichen Aralsees ist dort aus einer Wassergrenze plötzlich eine Landgrenze geworden, mitsamt natürlichen Unschärfen. Die eine der zwei Diomedes-Inseln in der Beringstrasse ist amerikanisch, die andere russisch. Zugleich verläuft hier auch die internationale Datumslinie. Mit anderen Worten: ­Jemand auf der östlichen Insel kann am 2. März seinem Nachbarn auf der in Sichtweite liegenden westlichen Insel, wo noch 1. März ist, zuwinken, gewissermassen von Heute ins Gestern, während der ­andere in die Zukunft winkt. Weitere kartografische Minianalysen innerhalb des asiatischen Kontinents behandeln Kaschmir, um das sich Indien und Pakistan streiten, den «Hühnerhals» genannten ­Siliguri-Korridor in Nordindien, eine bedeutsame «Beule» in der Grenze durch Neuguinea, die Teilung des Sultanats Brunei, die ­konfliktreiche Linie, die Nord- von Südkorea trennt, untergehende Pazifikinseln und das mysteriöse Atoll Diego Garcia im Indischen Ozean. Von der Arktis durch Amerika bis nach Patagonien Im lateinamerikanischen Feuerland liegt die südlichste Stadt der Welt. Ebenfalls im äussersten Süden, in Patagonien, haben Chile und Argentinien nach einem langen Konflikt 1998 eine ausser­ gewöhnliche Lösung für ihren Disput gefunden: Sie einigten sich darauf, auf ihren Landkarten auf einem 60 Kilometer langen

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­Abschnitt keine Grenze einzuzeichnen, weil die alte Definition von «Wasserscheide» sich auf dem riesigen Eisfeld als schwierig herausgestellt hat. Ein anderer Beitrag widmet sich der amerikanischen Exklave Point Roberts an der kanadischen Pazifikküste, der Teilung der Insel Hispaniola in die beiden Staaten Haiti und Dominikanische Republik und dem verpachteten Guantánamo. Auch die menschenleeren Gebiete ganz im Norden und ganz im Süden sind nicht vor Grenzstreitigkeiten gefeit: In der Arktis und in der Antarktis sind – vor allem wegen des vermuteten Ressourcenreichtums unter dem Eis – die nationalen Ansprüche sogar besonders heftig. Die kalten Extremregionen sind heiss begehrt. Es liegt in der Natur des Themas, dass es grenzenlos weitergeführt werden könnte. Da wäre zum Beispiel noch der Northwest Angle. Die Grenze zwischen den USA und Kanada gilt als weltweit längste gemeinsame Grenze zwischen zwei Ländern – sie misst 8891 Kilometer. Über weite Strecken verläuft sie schnurgerade entlang des 49. Breitengrads. Nur beim Lake of the Woods ragt ein amerikanischer «Finger» ins kanadische Territorium, eben der Northwest Angle. Die Aufteilung geht auf den britisch-amerikanischen Vertrag von 1783 zurück. Bei der Mitchell-Landkarte, die man damals als Grundlage benutzte, wurde die Quelle des Mississippi, den man nicht «durchschneiden» wollte, viel zu weit nördlich angesiedelt, was zu dieser seltsamen Grenzausbuchtung führte. Nun können die amerikanischen Bürger im Northwest Angle nur über kanadischen Boden oder über das Wasser in die übrige USA gelangen. Und dann wären da auch noch die beiden französischen ­Inseln Saint-Pierre und Miquelon vor der kanadischen Grenze. Oder das Hala’ib genannte Dreieck zwischen Ägypten und dem Sudan. Die detaillierte Nacherzählung des Zwists um dieses Stück Wüste würde ein ganzes Buch füllen … Aber irgendwo muss man einen – willkürlichen – Schlussstrich ziehen.

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Gibraltar mit seinem berühmten Felsen ist ein Ausläufer Spaniens, gehört aber zu Grossbritannien (Bild : Gunnar Knechtel / Laif ).

Europa

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Belgien / Niederlande

Baarle : Über allem die Vordertürregel

Nina Belz

Diese Grenze macht vor gar nichts halt: Sie trennt Häuser und Gärten, Strassen und Plätze, ja sogar Tische und vermutlich auch das eine oder andere Bett. Links Belgien, rechts die Niederlande oder umgekehrt. Zum Glück gibt es keine Grenzzäune in Baarle, diesem kleinen Dorf im Süden der Niederlande, knapp 5 Kilometer von der belgischen Grenze entfernt. Auf dem Gebiet der niederländischen Gemeinde Baarle-Nassau – mit etwas mehr als 6000 Einwohnern höchstens eine Kleinstadt – gibt es rund 22 belgische Enklaven. Manche sind nur ein paar wenige Quadrat­ meter gross. Zusammen ergeben sie die belgische Gemeinde ­Baarle-Hertog, die ihrerseits rund 2600 Einwohner zählt. Als wäre dies nicht schon verwirrend genug, gibt es in den belgischen Gebieten wiederum acht niederländische Enklaven. Die Karte der Gemeinde gleicht einem Flickenteppich – und das schon seit dem Mittelalter. Lange bevor es die Niederlande und Belgien in ihrer heutigen Form gab, buhlten der Herzog von Brabant und die Grafen von Nassau um Ländereien in dieser Gegend. Landstücke gingen zwischen den beiden Adelsgeschlechtern hin und her. Diese Grenzen überlebten nicht nur den Westfälischen Frieden und die Herrschaft von Napoleon. Auch als nach dem Aufstand der katholischen ­Belgier 1839 eine Grenze zwischen den Niederlanden und dem unabhängigen Belgien gezogen werden musste, liess man die Finger von dieser komplizierten Gemengelage. Seither gab es mehrere Versuche, das Problem zu lösen – doch vor allem die (belgischen) Bürger von Baarle-Hertog wehren sich heftig gegen Änderungen im Grenzverlauf. Ihnen ist es ge­

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NIEDERLANDE

Alphen

Baarle-Nassau Ulicoten Poppel BaarleHertog

Minderhout

Weelde Zondereigen

Wortel 3 Kilometer

BELGIEN

Weelde Statie NZZ-INFOGRAFIK / tcf.

lungen, den belgischen Landanteil über die Jahre sogar noch zu vergrös­sern; etwa 1959, als der Internationale Gerichtshof in Den Haag Belgien eine 12 Hektaren grosse Enklave zusprach. Der verwirrende Grenzverlauf hat den Bewohnern der Gemeinde – unabhängig von ihrer Nationalität – in der Vergangenheit eher Vorteile gebracht. Der Erste Weltkrieg, als Belgien von Deutschland besetzt war, die Niederlande indes neutral geblieben waren, führte in Baarle zu einer absurden Situation. Deutsche Soldaten konnten nicht in die belgischen Teile vordringen, ohne die Neutralität der Niederlande zu verletzen. Folglich konnte BaarleHertog nie besetzt werden und wurde zu einem Zufluchtsort für Flüchtlinge und Mitglieder der Résistance. Vor der Einführung des freien Warenverkehrs durch die EU liess sich in Baarle mit Schmuggel auch gutes Geld verdienen: niederländische Butter gegen belgische Zigaretten. Zwar hat die Gründung der EU – sowohl Belgien als auch die Niederlande sind Mitglieder der ersten Stunde – diesem Geschäftszweig ein Ende gesetzt, und heute teilen sich die Bewohner

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Der Zaun im Hochsicherheitsgefängnis Camp Delta in Guantánamo auf Kuba (Bild: Mark Wilson / Reuters).

Amerika

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Russland / USA

Diomedes-Inseln : Die Insel der Ewiggestrigen

Andreas Rüesch

Zu Fuss von Amerika nach Russland? Was wie eine verrückte Idee klingt, ist keineswegs ein Ding der Unmöglichkeit. Die beiden Länder sind sich geografisch näher, als es auf den ersten Blick erscheint. Nur 3,5 Kilometer liegen zwischen den beiden Diomedes-Inseln in der Beringstrasse, von denen die grössere Russland, die kleinere den USA gehört. Im Winter, wenn eine Brücke aus Eis die beiden Inseln verbindet, lässt sich die Staatsgrenze mit einem Snowmobil oder zu Fuss im Prinzip problemlos überqueren. Legal ist dies ­allerdings nur für Personen mit Sonderbewilligung und für Inselbewohner – diese dürfen das gegenüberliegende Eiland seit 1989 visumfrei besuchen. Einst lebten hier nur Iñupiat (Eskimos), die über die schmale Wasserstrasse hinweg einen regen Austausch pflegten. Nachdem eine russische Expedition unter der Leitung von Vitus Bering die Inseln 1728 – am Tag des heiligen Diomedes – entdeckt hatte, gerieten sie unter die Herrschaft Moskaus. Die künstliche Trennung bahnte sich erst 1867 an, als Russland seine alaskischen Besitzungen an die USA veräusserte. Im Verkaufsvertrag legten die beiden Grossmächte eine Grenzlinie in Nord-Süd-Richtung fest, die genau zwischen den Diomedes-Inseln verlief. Diese Linie wurde im Kalten Krieg, als sich die Sowjetunion und die USA als erbitterte Feinde gegenüberstanden, zum «eisigen Vorhang»: Der lokale Grenzverkehr wurde unterbunden, und die Sowjetbehörden siedelten die Bevölkerung der grossen Diomedes-Insel aufs Festland um. Stattdessen errichteten sie an diesem östlichsten Punkt der Sowjet­ union eine kleine Militärbasis. Völlig dicht war die Grenze gleichwohl nie: Es heisst, sowjetische Soldaten seien manchmal heimlich

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Tschuktschensee

Uelen

RUSSLAND

Diomedes-Inseln

USA Beringmeer

20 Kilometer

ALASKA

NZZ-INFOGRAFIK / ekl.

über das Eis gekommen, um mit den Einwohnern auf der amerikanischen Seite ausgiebig Wodka zu trinken. Diese Soldaten landeten dabei jeweils nicht nur in einem anderen Land, sondern auch in einer anderen Zeit. Denn die Staatsgrenze entspricht in dieser Gegend zugleich der internationalen Datumsgrenze. Wohl an keinem anderen Ort der Welt verläuft die Datumsgrenze so nah an besiedeltem Gebiet wie bei den DiomedesInseln. Dies bedeutet, dass die 150 Bewohner von Ignaluk, wie die kleinere der beiden Inseln in der Sprache der Urbevölkerung heisst, stets einen Tag hinter ihren Nachbarn auf Imaklik, der 30 Quadratkilometer grossen Schwesterinsel, hinterherhinken. Wenn sie nach Westen schauen, auf die russische Seite, blicken sie also gewisser­ massen immer in den morgigen Tag hinein – und selber müssen sie sich fühlen wie auf einer Insel der Ewiggestrigen.

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Ein Palästinenser klettert über die Mauer, um zur Aksa-Moschee in Jerusalem zu gelangen (Bild: Juan Vrijdag / Laif ).

Naher Osten und Nordafrika

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Ägypten / Israel

Taba : Wüster Streit um ein Stück Wüste

Beat Bumbacher

Das Uferstück am Golf von Akaba ist weniger als 2 Quadratkilometer gross. Dass um diesen Taba genannten Sandstreifen fast ein Jahrzehnt lang zwischen Ägypten und Israel gestritten wurde, ­obwohl es sich im Vergleich zu den übrigen Streitfragen zwischen Israeli und Arabern nur um einen winzigen Zankapfel handelte, gibt eine Vorstellung von der Schärfe der Auseinandersetzungen in dieser Weltgegend. Die Grenze zwischen Israel und dem ägyptischen Sinai wird an sich durch eine Linie definiert, auf die sich im Jahre 1906 Grossbritannien als damalige Protektoratsmacht Ägyptens und das ­Osmanische Reich geeinigt hatten. Für Kairo war immer klar, dass Taba damals auf ägyptischem Territorium lag. Die Ägypter konnten ausserdem darauf verweisen, dass diese Grenzziehung im Waffenstillstandsabkommen mit Israel nach dem Krieg von 1948/49 bestätigt worden war. Auch hatten sich die Israeli nach dem Suezkrieg 1956 wieder hinter diese Linie zurückgezogen. Mit dem Sechstagekrieg 1967 kam Taba aber zusammen mit dem gesamten Sinai unter die Kontrolle Israels. Als sich Israel 1979 im Friedensvertrag mit Ägypten verpflichtete, sich bis 1982 aus der ganzen Sinaihalbinsel zurückzuziehen, wurde Taba plötzlich zum Konfliktfall. Israel beanspruchte Taba als Vorort seiner nur 6 Kilometer entfernten Hafenstadt Eilat. Auf dem umstrittenen Stück Land errichtete ein israelischer Unternehmer ein Fünfsternehotel, während der ägyptische Präsident Mubarak den Wüstenstreifen zur «heiligen Erde» Ägyptens erklärte. Daraus entwickelte sich ein bizarrer Streit, der seine Ursache darin hatte, dass sich hier die Grenze von 1906 nicht mehr genau rekonstruieren liess. Die Israeli wiesen nach, dass die zwischen

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ISRAEL JOR

ÄGYPTEN

ISRAEL

SINAI

KSA

Sharm al-Sheikh

Eilat JORDANIEN

ÄGYPTEN

SINAI

Akaba

Taba

3 Kilometer

Rotes Meer

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London und Konstantinopel vereinbarte Grenzziehung oberflächlich gewesen sei, sodass sich die Grenzlinie nur auf einige Hundert Meter genau definieren lasse – was Taba in eine Art Unschärfezone versetzte. Und es kam sogar T. E. Lawrence – der «Lawrence of Arabia» des arabischen Aufstandes im Ersten Weltkrieg – mit ins Spiel. Er soll 1915 auf Anweisung Londons eine willkürliche «Berichtigung» der Grenzlinie zugunsten Ägyptens vollzogen haben. Lawrence, der nach der Eroberung der türkischen Garnison von Akaba in das gegenüberliegende Taba gekommen war, hatte offenbar Teile der Grenzmarkierung mehr oder weniger erfunden beziehungsweise nach der «Erinnerung» aufgezeichnet. Diese Angaben wurden anschliessend dem Kartenmaterial der britischen Regierung zugrunde gelegt und waren später auch die Quelle für sämt­ liche anderen internationalen Karten der Region. Der Streit zog sich mehrere Jahre hin, bis eine fünfköpfige internationale Schiedskommission mit je einem Vertreter aus Ägypten und Israel 1988 in Genf die Zugehörigkeit von Taba zu Ägypten feststellte. Am 27. Februar 1989 unterzeichneten Ägypten und Israel einen Vertrag: Taba wurde an Ägypten zurückge­ geben. Die Israeli zogen ab, und am 19.  März 1989 liess Präsident Mubarak in Taba die ägyptische Flagge hissen.

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Ein Fischer am Strand von La Digue, einer der 115 Seychellen-Inseln (Bild: Röder / KPA / Keystone).

Afrika

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Namibia

Sambesi : Der Caprivi-Zipfel

David Signer

Das grösste kartografische Kuriosum Afrikas liegt im nordöst­ lichen Namibia. Es handelt sich um einen 450 Kilometer langen, dünnen Ausläufer, der einem ausgestreckten Arm gleicht, der zwischen Angola, Sambia und Botswana bis nach Simbabwe reicht, wo seine Fingerspitze beinahe die Victoriafälle berührt. Bis 2013 hiess die Region Caprivi, dann wurde sie im Rahmen einer späten Dekolonisierung in Sambesi umbenannt, nach dem Grenzfluss zu Sambia. Die Bezeichnung Caprivi verwies auf Graf Georg Leo von Caprivi, deutscher Reichskanzler von 1890 bis 1894. Namibia war damals Deutsch-Südwestafrika. Im allgemeinen Wettlauf um Afrika willigten Deutschland und England in einen Tauschhandel ein: Die Briten bekamen Sansibar, Deutschland verzichtete auf alle ­Ansprüche in Kenya und westlich des Malawisees, dafür erhielt es Helgoland und ebenjenen Streifen, der im Gedenken an den Kanzler, der den Deal ausgehandelt hatte, Caprivi genannt wurde. Den Deutschen war der Zipfel so wichtig, weil er dem Land Zugang Sa

ANGOLA

mb

SAMBIA esi

SIMBABWE

Atlantischer Ozean

NAMIBIA

Windhoek

BOTSWANA

SÜDAFRIKA

AFRIKA

Sambesi (ehemals Caprivi) 500 Kilometer

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zum Sambesi verschaffte und es so indirekt mit den Gewässern beim damaligen Deutsch-Ostafrika und letztlich mit dem Indischen Ozean verband. Die seltsame Region ist dank dem subtropischen Klima und dem Tierreichtum eine beliebte Tourismusdestination. Die immer wieder aufflammenden separatistischen Kämpfe der Caprivi Liberation Army bereiteten der Regierung in Windhoek allerdings auch viel Ungemach. Aber all das ist nun – so hofft es wohl die Zentralregierung – dank der Umbenennung Geschichte.

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Ein Schiff im ausgetrockneten Aralsee zwischen Usbekistan und Kasachstan (Bild: Imke Lass / Laif ).

Asien und Pazifik

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Kiribati / Papua-Neuguinea

Carteret : Dem Untergang geweiht

Nina Belz

Zwei Meter erheben sich die Inseln, die sich zum Staat Kiribati formieren, im Durchschnitt über den Meeresspiegel. Einen halben Meter weniger sollen die Carteret-Inseln, die zu Papua-Neuguinea gehören, einmal aus dem Meer geragt haben. Die meisten sind ­inzwischen allerdings überflutet und unbewohnbar. Das Ansteigen des Meeresspiegels – im Pazifik durchschnittlich um ein Zentimeter pro Jahr – kann für Inseln und Atolle, die sich nur wenige Meter aus dem Meer erheben, schlimme Folgen haben. Die Regierung von Kiribati hat deshalb schon Land auf den 2500 Kilometern entfernten Fidschi-Inseln gekauft. Im Ernstfall soll dies die Versorgung mit Lebensmitteln garantieren. Und falls die Bürger dereinst vor dem Wasser flüchten müssten, hätten sie wenigstens einen Ort, wo sie hin könnten. Doch das Wasser frisst ihnen nicht nur langsam ihr Zuhause auf, sondern möglicherweise auch ihre wirtschaftliche Grundlage. Was mit dem Staatsgebiet passiert, wenn das Land plötzlich untergeht, ist juristisch nicht geklärt. Denn die ausschliessliche Wirtschaftszone wird von der sogenannten Basislinie an Land gemessen und reicht maximal 200 Seemeilen ins Meer ­hinaus. In dieser Wirtschaftszone hat der jeweilige Staat das ­ausschliessliche Recht, die Ressourcen auszubeuten. Im Fall von Archipelstaaten wie Kiribati ist das Staatsgebiet im Wasser um ein Vielfaches grösser als die Landmasse. Doch was passiert, wenn das massgebliche Stück Land plötzlich untergeht? Darüber sind sich Völkerrechtler nicht einig. Werden diese Staaten dereinst einfach kein Territorium mehr haben? Oder sollte man die Grenzen einmal festsetzen und dann bestehen lassen? Kritisch wird es nach Seerecht nämlich schon, wenn das Landstück, das noch aus dem Wasser ragt, nicht mehr bewohnbar

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PALAU

MIKRONESISCHE FÖDERATION

IRIANJAYA PAPUANEUGUINEA

ÄQUATOR

KIRIBATI

NAURU SALOMONINSELN

TUVALU TOKELAU SAMOA

US-SAMOA

VANUATU

COOKINSELN

FIDSCHI

NEUKALEDONIEN

CARTERETINSELN

AUSTRALIEN

HAN-

NIUE INSEL

5 km

NEUSEELAND 2000 Kilometer

EEZ Australien

EEZ Papua-Neuguinea

NZZ-INFOGRAFIK / tcf./efl.

ist. Dieses gilt dann nicht mehr als Insel, sondern wird als Felsen definiert. Für Felsen kann die exklusive Wirtschaftszone nicht in Anspruch genommen werden. Das Schicksal, mit dem sich Kiribatis Präsident bereits auseinandersetzt – selbst der Bau von künstlichen Inseln wird geprüft –, droht in den kommenden Jahrzehnten wohl auch anderen Ländern. Sollten sich die Prognosen der Klimakonferenz bewahrheiten und der Meeresspiegel bis im Jahr 2100 zwischen 18 und 59 Zentimetern steigen, könnten etwa auch Tuvalu, die Marschall-Inseln und Teile der Malediven untergehen.

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Ein Paar Goldschopfpinguine am Rand der Antarktis, die zu keinem Staat gehört (Bild: Matthias Graben / Imagebroker / Mauritius).

Nord- und Südpol

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Nordpol

Arktis : Kampf um Ressourcen

Beat Bumbacher

Das Gebiet rund um den Nordpol besteht aus der Fläche des ­arktischen Meeres weitab vom nächsten Land und kann deshalb nicht von einem Staat als Territorium beansprucht werden. Der Meeresboden darunter ist ebenso staatsfreies Gebiet. Weil dort aber viele wertvolle Rohstoffe vermutet werden, ist zwischen den Anrainerstaaten des Nordpolarmeeres längst eine intensive Rivalität in Gange. Versuche einzelner Staaten, ihre Grenzen Richtung Nord­ polarregion auszudehnen, hatte es zwar früher schon gegeben, aber zu einer bindenden internationalen Vereinbarung für dieses Gebiet war es bis Ende des 20. Jahrhunderts nie gekommen. Ausgangspunkt der heutigen Ambitionen Norwegens, Däne­ marks, Russlands, Kanadas und der USA ist das Uno-Seerechtsübereinkommen. Dieses Abkommen aus dem Jahre 1982 gibt den Anrainerstaaten von Meeren ausserhalb ihrer eigentlichen Territorialgewässer das Recht auf die Kontrolle einer Wirtschaftszone von zunächst 200 Seemeilen (370 km) ausgehend von ihrer Küsten­linie. Ein Staat kann aber eine Ausdehnung dieser Fläche auf mehr als 200 Seemeilen beantragen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind: In erster Linie geht es dabei um geografische Besonderheiten wie den sogenannten Kontinentalschelf oder Kontinentalsockel, das heisst die Fortsetzung von geologischen Formationen der eigenen Zone in das offene Meer hinaus. Eine Ausweitung ihrer Ansprüche in der Arktis mit diesem Argument haben bisher Norwegen, Russland, Kanada und Dänemark beantragt. Russland zum Beispiel begründet seinen weitergehenden Besitzanspruch im Nordpolarmeer mit dem LomonossowRücken, einem Unterwassergebirge, das Moskau als Fortsetzung

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USA

Kanada

Russland

Nordpol

Grönland (Dänemark) Norwegen Island Russland Norwegen Island Grönland Kanada USA QUELLE: IBRU

Volle Farben: 200-Meilen-Zone der Anrainerstaaten Blasse Farben: über die 200-Meilen-Zone hinaus beanspruchte Fläche Schraffiert: potenzielle Kontinentalschelfzone jenseits der 200-Meilen-Grenze Hellblau: von keinem Anrainerstaat beanspruchte Fläche der Arktis

400 Seemeilen 600 Kilometer

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der eurasischen Landmasse ansieht und in dem riesige Öl- und Gasvorkommen vermutet werden. Anders argumentiert Dänemark: Sein grönländisches ­Territorium kommt dem Nordpol geografisch am nächsten, und für die Dänen stellt der Lomonossow-Rücken eine Fortsetzung Grönlands unter Wasser dar. 2008 wurde eine wissenschaftliche Expedition von Kopenhagen ins Polarmeer entsandt, um genau

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Der Herausgeber David Signer (* 1964), Dr. phil., studierte Ethnologie, Psychologie und Linguistik in Zürich und Jerusalem. Er war Forschungsassistent und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich, arbeitete im Flüchtlingswesen und unternahm Feldforschungen im Nahen ­Osten und in Westafrika. Er ist Autor mehrerer Bücher, schrieb regelmäs­sig für das Magazin des Tages-Anzeigers, war 2002–2008 Redaktor bei der Weltwoche und 2009–2013 bei der NZZ am Sonntag im Ressort Gesellschaft. Seit März 2013 betreut er im ­Ressort ­International der Neuen Zürcher Zeitung das Dossier Afrika.

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