Gerhard Schwarz, Stephan Wirz (Hg.): Reden und reden lassen.

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Lektorat: Sandro Malär, Wädenswil Umschlag, Gestaltung, Satz: Gaby Michel, Hamburg Druck, Einband: CPI Books GmbH, Leck Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-907291-13-9 ISBN E-Book 978-3-907291-14-6

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 9 Stephan Wirz/Gerhard Schwarz Zwischen hasserfüllter Enthemmung und übersteigerter Korrektheit. Eine Einführung

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I.  Die Gefährdung der Meinungsfreiheit 23 John Stuart Mill Von der Denk- und Redefreiheit

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Milosz Matuschek Im Zweifel für den Zweifel. John Stuart Mill und das «Truth Principle»

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Grace Schild Trappe Mehr Wahrheit durch Widerspruch. Die Unerlässlichkeit der Meinungsäusserungsfreiheit 80 Alejandro Navas Die Meinungsfreiheit – unverzichtbar und verletzlich. Der unerlässliche Mut, die Dinge beim Namen zu nennen 86 Susanne Gaschke Die gefährdete Glaubwürdigkeit des Journalismus. Ein Plädoyer für Bescheidenheit, Fehlerkultur und Selbstkritik 98

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II.  Politische Korrektheit und ihre Übertreibungen 105

Axel Honneth Grenzen der moralischen Freiheit

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Alexander Grau Die Selbstzerstörung abendländischer Kultur. Eine kurze Ideengeschichte der Political Correctness

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Claudia Wirz Eine Religion namens Gender. Betrachtungen über die neue Tugendprotzerei 132 Markus Somm Mann und Frau sind gleich, gleicher, am gleichsten. Die richtige Farbe des Schminktisches in Kinderkrippen – eine Realsatire

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Jochen Hörisch Political Correctness und diskursive Enthemmung. Zwei komplementäre Verstösse gegen die Zivilität

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Heinz Zimmermann Wie politische Korrektheit Demokratie und Markt aushöhlt. Diskurstheoretische Überlegungen am Beispiel von Kapitalanlagen

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III.  Wider die Verrohung der Debattenkultur

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Romano Guardini Höflichkeit 175 Philipp W. Hildmann «Deutschland spricht nicht, Deutschland brüllt.» Die Verrohung der Diskussionskultur und die Tugend der Höflichkeit

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Peter Hettich Reden und reden lassen. Aktuelle Methoden zur Verweigerung einer sachlichen Debatte

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Peter Ruch Debattenkultur und Hordendenken. Anregungen bei Jeremias Gotthelf

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Grace Schild Trappe Anstand als Schmiermittel einer liberalen Gesellschaft. Die Unhöflichkeit der Gesprächsverweigerung

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Die Autoren

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Vo r w o r t

Die ersten Sätze des «Mission Statement» der Progress Foundation besagen, dass es ohne Freiheit des Forschens und Suchens keine wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovation geben kann. Freiheit führt zu Offenheit, Wandel und Fortschritt. Diese Freiheit des Suchens ist durch die Forderung nach einer rigiden politischen Korrektheit der Sprache (und damit des Gedankens) sowie durch eine den Streit um das bessere Argument verunmöglichende, enthemmte verbale Aggressivität in den sozialen Medien gefährdet. Die Progress Foundation, die sich aus Tradition und Neigung stark auf ökonomische Fragen konzentriert, allerdings oft mit einem interdisziplinären Ansatz, hat deshalb ihren 25. Workshop dem Thema «Zerrüttete Diskussions­kultur – In den Fängen politischer Korrektheit» gewidmet. Er fand von 13. bis 16. Juni 2019 im Hotel Gasthof Hirschen in Schwar­zenberg (Vorarlberg) unter der Leitung der Herausgeber dieses Buches statt. Wie immer an den Seminaren der Stiftung bildeten klassische und einige aktuelle Texte – in diesem Fall von Romano Guardini, Jonathan Haidt, Axel Honneth, Eckhard Jesse, John Stuart Mill, Jordan P. Peterson, Peter Strasser und Max Weber – die Grundlage für völlig offene Diskussionen unter den Teilnehmern. Drei der Grundlagentexte haben wir in diesem Buch abgedruckt. Sie werden angereichert, ergänzt und zum Teil aktualisiert durch Beiträge, die einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem Workshop verfasst haben. Die Texte verbinden die gedanklichen Anstösse durch die Diskussionen in Schwarzenberg, die formellen eben­ ­so wie die informellen, mit dem beruflichen Hintergrund der Autorinnen und Autoren. Aufgrund der unterschiedlichen akademischen Herkunft, von der Ökonomie bis zur Geschichtswissenschaft, von der Philosophie bis zur Jurisprudenz, von der Philosophie bis zur Theo­ logie, von der Literaturwissenschaft bis zur Sinologie, ergibt sich ein 9

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reiches Panoptikum der diskutierten und weiterhin sehr viru­lenten Probleme. Ausserdem haben wir den Text eines Vortrags über die Lage des Journalismus, den Susanne Gaschke im Mai 2019 an der 48. Economic Conference der Progress Foundation in Zürich gehalten hat, in den Band aufgenommen. Mein Dank gilt allen, die zum Erfolg des Seminars und damit indirekt des vorliegenden Buches beigetragen haben, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, zumal jenen, die nun auch in diesem Buch vertreten sind, meinen Kollegen im Stiftungsrat der Progress Foundation, die das Projekt von Beginn weg wohlwollend unterstützt haben, vor allem aber dem akademischen Direktor des Workshops und Mitherausgeber dieses Buches, Stephan Wirz. Ohne seine Kompetenz, seine umsichtige Planung und seinen Einsatz trotz widriger gesundheitlicher Umstände wären Workshop und Buch sicher nicht in dieser Qualität und vielleicht sogar überhaupt nicht zustande gekommen. Ich hoffe, dass etwas von der produktiven Lebendigkeit und gedanklichen Breite, die am Workshop herrschte, auch in diesem Buch spürbar wird. Vor allem aber hoffe ich, dass dieses Buch dazu beiträgt, die Bedeutung eines anständigen und korrekten Umgangs miteinander zu erkennen. Dieser respektvolle Umgang ist ein Gegengift sowohl gegen das so harmlos tönende, aber letztlich die Meinungsund Gedankenfreiheit aushöhlende Konzept der «politischen Korrektheit» als auch gegen die unter dem Schutz der Anonymität er­ folgenden und jede sachliche Debatte verhindernden persönlichen Desavouierungen im Netz und in den sozialen Medien. Liberale, offene Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie Debatten nicht behindern und dass sie den Dissens aushalten. Dieses Buch wird, bei aller Unterschiedlichkeit der Beiträge, von der Überzeugung getragen, dass in der freiheitlichen Demokratie am Grundsatz «reden und reden lassen» nicht gerüttelt werden darf. Gerhard Schwarz Präsident des Stiftungsrates der Progress Foundation

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Zwischen hasserfüllter Enthemmung und übersteigerter Korrektheit Eine Einführung

Stephan Wirz und Gerhard Schwarz Die «offene Gesellschaft» wird derzeit aus zwei Richtungen angegriffen: Auf der einen Seite fördern die modernen Kommunikationsmöglichkeiten aufgrund ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Anonymität beleidigende und hasserfüllte Kommentare, die keinen Beitrag zu einer sachlichen, argumentativen Auseinandersetzung unterschiedlicher Positionen leisten. Auf der anderen Seite versuchen gesellschaftliche Gruppierungen, ihre Moral den anderen Gesellschaftsmitgliedern aufzuoktroyieren, indem sie bestimmte Sprach­ regelungen durchsetzen sowie Themen- und Handlungsfelder als «po­ li­ tisch korrekt» festlegen bzw. als «politisch unkorrekt» ausschliessen wollen. Der vorliegende Band richtet sich gegen beide Strömungen. Er zeigt anhand verschiedener konkreter Beispiele, wie die offene Gesellschaft durch Hass-E-Mails und Sprachpolizei gefährdet ist. Und er entwickelt, angeregt durch Überlegungen von John Stuart Mill, Romano Guardini und Axel Honneth, eine Gegenstrategie, die sowohl das Faszinosum der Meinungs- und Handlungsfreiheit als auch eine innere Haltung der Höflichkeit und des Respekts gegenüber anderen Personen und ihren Ansichten neu beleben und ent­falten möchte.

Mut als Voraussetzung der Meinungsfreiheit Der Band gliedert sich in drei Kapitel. Im ersten Kapitel geht es um die Stärkung der Meinungsfreiheit bzw., wo sie verschüttet ist, um ihre Wiederentdeckung. In unserer Gesellschaft sind die Freiheit und die Eigenverantwortung gegenüber der Konsenssuche und der Solidarität ins Hintertreffen geraten. Doch die Meinungsfreiheit ist eminent wichtig, nicht nur als Ausdruck der Menschenwürde, sondern auch wegen ihrer Leistungen für die Gesellschaft: Das Streben 11

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nach Wahrheitserkenntnis, das Infragestellen des Gewohnten, die Suche nach neuen Lösungen durch Zweifel, Widerspruch und Selbstkritik sind ohne Meinungsfreiheit nicht möglich. Ausgangspunkt des Nachdenkens über die Meinungsfreiheit ist das Kapitel «Von der Denk- und Redefreiheit» aus John Stuart Mills Klassiker On Liberty («Über die Freiheit»). Mills zentrale Aussage lautet, dass eine Regierung nicht dem Volk Meinungen vorschreiben darf und dass sie auch nicht bestimmen darf, welche Lehren und Argumente es hören darf. Er begründet seinen Standpunkt damit, dass man sonst die Chance auf Wahrheitserkenntnis vergibt und womöglich im Irrtum verbleibt. Bei Mill spielt nämlich die Begrenztheit menschlichen Wissens, ähnlich wie später bei Friedrich August von Hayek, eine geradezu zentrale Rolle. Sie kommt in zwei Richtungen zum Tragen: Einerseits, so schreibt er, bedürften wir der Zunahme des (wahren) Wissens durch einen offenen und freien Raum des Diskurses. Eine Beschränkung schwäche die menschliche Urteilskraft, die ja nie eine absolute Sicherheit für ihre Argumentation habe. Zu einer Überzeugtheit, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, gelange man erst, wenn man alle Gesichtspunkte und Meinungen redlich studiert und gegebenenfalls die eigene Auffassung verbessert habe. Andererseits manifestiere sich in der Eingrenzung des Diskussionsraumes immer der Anspruch der Person oder Gruppe, die eine solche Begrenzung durchsetze, über ein höheres Wissen zu verfügen. Würden Themen, Meinungen und Personen schon im Vorfeld positiv oder negativ selektioniert, stecke dahinter eine Unfehlbarkeitsanmassung. Eine solche verstösst nach Mill gegen den Grundsatz des begrenzten menschlichen Wissens. Mit Blick auf das Thema der «Hassrede» ist interessant, dass Mill zweifellos für eine anständige Diskussion eintritt, aber deswegen nicht fordert, masslose Polemik, Beleidigung und Hohn zu verbieten. Er durchschaut, dass solche Vorwürfe häufig nur ein rhetorisches Mittel sind, um die gegnerische Seite als unmoralisch zu disqualifizieren. Für ihn wiegt das Unterdrücken oder die falsche, verzerrte Darstellung von Tatsachen und Argumenten viel schwerer. Milosz Matuschek knüpft in seinem Essay an die Gedankengänge Mills an. Er beschreibt dessen «Truth Principle» (Wissensargument, 12

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Unfehlbarkeitsargument, Vitalitätsargument) und hebt die Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Wahrheitsförderung und die Weiterentwicklung der Gesellschaft hervor. Sie ist der «Treibstoff des Fortschritts». Die Fortexistenz und Lebendigkeit der Demokratie hängen davon ab, dass die Bürger informierte Entscheidungen treffen können. Dazu müsse aber der Zugang zum Prozess der Wahrheitsfindung für alle offenstehen. Matuschek verweist auf die US-­ amerikanische Gesetzgebung, die sehr zurückhaltend bei Verboten von Inhalten («content regulation») sei; es gebe fürs Erste keine falschen Meinungen. Im Gegensatz dazu ziele die Political-Correctness-Bewegung gerade auf die Besetzung des öffentlichen Debattenraums ab. Sie erkläre Begriffe und Themen zu geistigen Sperrgebieten und versuche, Andersdenkende zu desavouieren und aus dem Diskurs auszuschliessen. Weniger Mutige würden so zur Heuchelei gezwungen. John Stuart Mills Aussage, auch entgegenstehende Meinungen könnten beide ein Stück Wahrheit enthalten, regt Grace Schild Trappe zu einer Art Gewissenserforschung an: Mit welcher Haltung gehen wir in eine Debatte? Suchen wir nach der Meinung anderer oder sollen sie unsere Auffassung übernehmen ? Sind wir mit einer Debatte zufrieden, wenn wir uns durchgesetzt haben oder wenn sie zu einer «neuen Stufe des geistigen Fortschritts» geführt hat? Diese Überlegungen lassen sich auch auf die neuen sozialen Medien übertragen, wo jeder nicht nur Konsument, sondern auch Publizist sein kann. Schild Trappe sieht trotz der gewonnenen technischen Möglichkeiten eine zunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit: durch Hass, Hetze und Mobbing, durch die als Reaktion darauf resultierende Zunahme staatlicher Regulierung und durch die staat­ licherseits angeordnete Kontrolle der Debattenräume durch die privaten Anbieter sozialer Mediennetzwerke. Bei den traditionellen Medien ortet sie einen Trend zur Gefälligkeit. Auch sie kommt zum Schluss, es brauche angesichts des Risikos der sozialen Ächtung heutzutage Mut, für eine offene Debatte einzutreten und als Tabubrecher zu wirken. Solche Helden seien aber für die Aufrechterhaltung der Meinungsfreiheit und Debattenkultur dringend nötig. Die Verletzlichkeit der Meinungsfreiheit ist auch Gegenstand der 13

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Erörterungen von Alejandro Navas. Wegen der Medienkonzentration der letzten Jahre und Jahrzehnte gebe es im Printbereich heute weniger Vielfalt als früher. Zudem suchten die grossen Multimediakonzerne die Nähe zu den Regierungen. Auf verschiedenen Ebenen – Investoren, Management, Journalisten – gebe es Verbandelungen zu und Abhängigkeiten von Staat, Parteien, Wirtschaftsverbänden und Unternehmen. Der Kampf um die Einschaltquoten führe zudem zu einer Verflachung der Inhalte. Dieser Konzentration steht im Urteil von Navas eine starke Fragmentierung der Werte gegenüber. Dadurch, dass sich der Konsens über zentrale Aspekte des Menschseins aufgelöst habe, gebe es in der Gesellschaft eine Vielzahl an Deutungen. Leider habe sich auch ein «Tribalismus» breitgemacht, der alle Menschen, die die eigene Ideologie nicht teilen, beleidige und anpöble. Dieses unsägliche Meinungsklima drängt sich gemäss Navas in alle Bereiche des öffentlichen Lebens, auch in die Universitäten. Er erklärt diese Entwicklung mit einer überbeschützten und unreifen Jugend, einer Sicherheit suchenden Kultur und der Scheu vor der Auseinandersetzung mit Ideen. Dazu komme der Mangel an Mut der Beteiligten. In der Zivilcourage, dem gelebten Ethos der Professoren, Journalisten und aller anderen Bürger sowie einer klaren Sprache sieht Navas einen Weg zu grösserer Meinungsfreiheit. Susanne Gaschke analysiert die Situation des Journalismus in Deutschland. Sie stützt sich dabei auf eine repräsentative Studie über das Medienvertrauen aus dem Jahr 2019, die eine erhebliche Entfremdung zwischen Medienschaffenden und Medienkonsumenten zutage fördert. Dafür gibt es in ihrer Einschätzung zahlreiche Grün­ ­de: So ermöglichten die sozialen Medien eine mediale Fragmentierung der Gesellschaft; jeder lege sich seine eigene Wahrheit zurecht. Dazu komme das gesunkene Bildungsniveau, das sich in ­einer ab­ nehmenden Neugierde auf klassische Bildungsinhalte sowie der zunehmenden Unfähigkeit und Unwilligkeit, längere Texte zu lesen, ausdrücke. Vor allem müssten sich aber die Journalisten mit Blick auf diesen Trend zur Entfremdung (selbst)kritische Fragen stellen. Gaschkes These lautet, dass sich mit dem Ende des Kalten Krieges nicht nur die Vorstellung einer «objektiv richtigen» Wirtschafts- und Sozialpolitik breitmachte, sondern auch die eines «objektiv richti14

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gen» Journalismus. Das habe zur Überheblichkeit und zum hyper­ moralischen Schiedsrichtertum dieses Berufsstands geführt, dem es an Fehlerkultur und Selbstkritik mangle.

Politische Korrektheit als linguistische Therapie Das zweite Kapitel setzt sich mit der sogenannten politischen Korrektheit auseinander. Der so harmlos wirkende Begriff führt in die Irre, denn er fordert ja nicht einfach das ein, was die meisten Menschen als korrektes Benehmen verstehen, sondern er drückt ein übersteigertes Verständnis von Korrektheit aus, das zur Einengung oder sogar zur Ausschaltung der Meinungsfreiheit führen kann. Den Begriff als Euphemismus zu enttarnen, ist daher ein wichtiges Ziel des zweiten Kapitels. Die Herausgeber haben als Referenztext für dieses Thema den Abschnitt «Grenzen der moralischen Freiheit» aus Axel Honneths Buch «Das Recht der Freiheit» ausgewählt. Honneth führt darin aus, dass der Mensch im Rahmen der jeweils geltenden und zu re­ spektierenden Rechtsordnung über eine frei zu gestaltende Handlungssphäre verfügt (u. a. soziale Lebensbereiche), wobei auch dieser Bereich von «Normen und Prinzipien» oder, etwas anschaulicher ausgedrückt, von Konventionen, Sitten und Gebräuchen geprägt ist. Dort müsse sich der Mensch seiner moralischen Freiheit bedienen, d. h. seine Handlungen müssen gegenüber anderen vertretbar bleiben. Richtig handelt der Mensch nach Honneth dann, wenn er bei seiner Willensbildung den Willen jedes anderen Beteiligten nicht verletzt und dessen Selbstzweckhaftigkeit respektiert, wobei «ihm zugleich das Recht eingeräumt (wird), nur solche Grundsätze in seinen Handlungen zu artikulieren, die er selbst aus sich heraus für richtig hält». Bei seinen Entscheidungen müsse er sich am Prinzip der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit orientieren, wobei er bei der öffentlichen Auslegung moralischer Normen Einfluss nehmen könne. Für die Herausgeber ist damit das Problem umrissen: Es gibt auch innerhalb der Rechtsordnung eines Staates keine «totale Freiheit», sondern geschichtlich gewachsene, kulturell geprägte Formen des Zusammenlebens, die sich im Lauf der Zeit auch wieder verändern. 15

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Doch wie stark dürfen diese Normen in das Leben der Menschen eingreifen ? Und dürfen sie in eine Richtung verändert werden, die für den Menschen weniger Meinungsfreiheit bedeuten ? Alexander Grau bietet den Lesern eine kurze Ideologiegeschichte der Political Correctness. Von Tabus und Sprachverboten in früheren Kulturen unterscheide sich die heutige Form der Political Correctness dadurch, dass sie eine gesellschaftliche Strategie sei, die auf den Umbau unserer Gesellschaft abziele. Sie sei eine «sprachpolitische und massenpsychologische Methode im Weltanschauungskampf der politischen Linken» zur «Erlangung der Deutungshoheit in west­ lichen Gesellschaften». Er verweist unter anderem auf Herbert Marcuse, der von der Notwendigkeit einer «linguistischen Therapie» und eines «semantischen Krieges» zur Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft sprach. In einer späteren Phase sei die Political Correctness von der Emanzipationsbewegung vorangetrieben worden, die sich im Geiste des Individualismus gegen Zuschreibungen und Stereotype wandte. Heute fassten die Gender- und die Queer-Bewegung in einem übersteigerten Individualismus den Einzelnen ausschliesslich als Produkt seiner Wünsche auf. Das subjektive Gefühl bestimme nun allein, ob sich jemand diskriminiert fühlt oder nicht. Die daraus hervorgehende «New Political Correctness» überprüfe alle Begriffe, Personen, Kunstwerke usw. darauf, ob sie möglicherweise das Gefühl von irgendjemandem verletzen könnten. Die Verbindung von politischer Korrektheit und Gender-Theorie wird in zwei weiteren Beiträgen herausgearbeitet: Claudia Wirz belegt anhand zahlreicher Beispiele, wie durch gender- und queergerechte Sprachregelungen und soziale und ökonomische Pressionen die Gesellschaft umgebaut und die Bevölkerung moralisch erzogen werden soll. Durch die Mitwirkung von Unternehmen, NGOs, Kulturbetrieben und staatlichen Einrichtungen entstehe mit der Zeit eine kulturelle Hegemonie, leider ohne grössere Gegenwehr liberaler Kräfte, bemängelt Wirz. Markus Somm greift in seinem Essay das Bemühen genderorientierter Kreise vor allem in der Pädagogik auf, «stereotype Geschlechterrollen» zu durchbrechen. Es könne nach ihrer Ideologie nicht sein, dass Frauen und Männer unterschiedliche Berufe wählten. Sie versuchten, das liberale Postulat «Gleichheit der 16

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Chancen» durch die «Gleichheit im Ergebnis» zu ersetzen. Dieses ihr Bestreben, den Menschen neu zu formen, erachtet Somm als totalitär. Jochen Hörisch befasst sich sehr explizit mit den weiter oben bereits erwähnten zwei heutigen Gefahren für die Zivilität, nämlich der Political Correctness und der diskursiven Enthemmung. Dass die Vorgabe politisch korrekter Sprechweisen ein «untrügliches Zeichen totalitärer Systeme» sei, werde heute viel zu wenig wahrgenommen. Dahinter stehe auch ein technoider Machbarkeitsglaube, also die Vorstellung, dass sich alles Natürliche, Gewachsene formen und neu machen lasse. Gleichzeitig erleben wir gemäss Hörisch eine «kommunikative Brutalisierung» mit Beleidigungen und Hassreden bis hin zu Morddrohungen. Wer für die «guten alten Sitten» eintrete, laufe Gefahr, verlacht zu werden. Mit einem sehr spezifischen, aber höchst wirkungsmächtigen Aspekt der Political Correctness beschäftigt sich Heinz Zimmermann. Er unterscheidet zwei Spielarten der politischen Korrektheit: erstens einen «Kommunikationsstil mit erhöhter Rücksichtnahme auf die Merkmale spezifischer Personen oder Schichten», namentlich von Minderheiten, und zweitens eine Rücksichtnahme auf Haltungen, Einstellungen, Meinungen und Handlungen. Diese zweite Form ist für ihn eine «gewollte Absage an die Kultur des gesellschaftlichen Diskurses». Ausführlich beschäftigt er sich deshalb unter Einbezug von Foucault, Habermas und Hayek mit dem Thema «Diskurs und Macht». Am Beispiel von politisch korrekten Kapitalanlagen untersucht er, wie die entsprechenden Entscheidungsprozesse verlaufen. In seinen Augen ist es unter dem Aspekt der Meinungsfreiheit absolut legitim, wenn NGOs Fragen der ethischen Kapitalanlagen in den öffentlichen Diskurs einbringen. Es verwundere aber, dass die Ka­ pitalmarktakteure durch politisch korrektes Verhalten auf die Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs der von den NGOs lancierten Themen verzichteten und dass die Kapitaleigner vom Diskurs praktisch ganz ausgeschlossen seien. Zimmermann kommt zum Schluss: «Kapitalanlagen werden nicht mehr in eigener Verantwortung selektioniert, sondern durch gesellschaftlich geltende, aber durch keinen demokratischen Diskurs legitimierte Normen gesteuert.» 17

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Mit Höflichkeit gegen die Verrohung der Debattenkultur Wenn in diesem Buch klare und zum Teil heftige Kritik an der Ideologie der Political Correctness geübt wird, dann gilt diese Kritik ausschliesslich der Einschränkung des öffentlichen Diskurses, nicht im Geringsten dagegen der Forderung nach Respekt für den Diskurs­ partner. Wie kann die Debattenkultur wieder gestärkt werden ? Mit dieser Frage beschäftigt sich das dritte Kapitel. Ausgangspunkt ist hier das Kapitel «Höflichkeit» in Romano Guardinis Buch «Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens». Guardini bezeichnet die Höflichkeit als «kleine Nächstenliebe», als «die Umgangsform, welche aus der Achtung vor dem anderen Menschen hervorgeht». Sie wurzelt in der Würde der menschlichen Person, möchte dem anderen das Leben erleichtern und sorgt für ein rich­ tiges Zusammenleben der vielen. Die Höflichkeit bemüht sich, das Gute im anderen zu erkennen, Unerfreuliches von ihm fernzuhalten, und sie sorgt für Abstand, damit der andere freien Raum hat. In Deutschland sieht Philipp Hildmann, basierend auf empirischen Studien, eine wachsende Feindseligkeit zwischen den politischen Lagern und eine Verrohung der Diskussionskultur. Die digi­ talen Kommunikationskanäle würden eine menschenverachtende Hetze gegen Andersdenkende und Minderheiten fördern. Kann einer solchen Verwahrlosung der Sprache durch die Einschränkung der Meinungsfreiheit entgegengewirkt werden ? Für Hildmann ist das ein unakzeptables Mittel. Schon zu viele gäben in Meinungsumfragen an, man könne sich nur noch im privaten Bereich frei äussern. Eine lebendige Demokratie müsse den Dissens aushalten können. Allerdings brauche es ein feines Gespür, um die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsäglichen zu erkennen. Guardinis Traktat über die Höflichkeit könne das Bewusstsein für den Zusammenhang von Sprache und Verantwortung schärfen. Peter Hettich untersucht in seinem Beitrag, wie heute strategisch vorgegangen wird, um eine sachliche Debatte mit unsachlichen Argumenten zu zerstören. Er zählt drei Vorgehensweisen auf. Erstens: Die sprachlichen Gepflogenheiten (z. B. was man unter inklusiver Sprache versteht) werden stetig verändert. Wer sich nicht daran hält, 18

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darf – ohne dass seine Argumente zur Kenntnis genommen werden – vom Diskurs ausgeschlossen werden. Zweitens: Bestimmte Argumente werden als anstössig, amoralisch, sexistisch oder rassistisch qualifiziert, und/oder der Diskurspartner wird herabgewürdigt, weil er einer «amoralischen» Institution angehört (z. B. im Finanzbereich tätig ist) oder angeblich für sein «rechtes Narrativ» bekannt ist. Drittens: Der zulässige Rahmen des Diskurses wird verengt, wodurch der Austausch über Sachthemen «inhaltlich kanalisiert» wird. Für Hettich werden durch diese Unterdrückung missliebiger Meinungen und Themen die Grundlagen und Institutionen unseres Zusammenlebens bedroht. Er schliesst deshalb mit einem Plädoyer an die Zivilgesellschaft, diesem unziemlichen Tun entgegenzuwirken. Für Peter Ruch geht die offene Debattenkultur, die auf die Sache, nicht auf die Person zielt, zunehmend verloren. An ihre Stelle trete das Seilziehen um die Deutungshoheit. Waren Universitäten früher die freiesten Orte der Welt, wachse nun bei den Studenten laut einer repräsentativen Umfrage der Unwille, sich mit gegensätzlichen Meinungen auseinanderzusetzen. Dazu gehöre auch der Einsatz von Totschlagparolen wie «Rassist» oder «Rechter» oder die Kodierung der Sprache («Studierende» statt «Studenten»). Für den Zusammenhalt der Gesellschaft sei dieses Kastensystem, diese Gesinnungsgemeinschaft, in der Andersdenkende Störfaktoren sind, fatal. Ruch ortet ein Hordendenken, weil die Menschen heute in Subkulturen Orientierung suchen. Stattdessen sollte eine gute Debattenkultur gepflegt werden, in der man den anderen Menschen losgelöst von seinen Auffassungen und Irrtümern als Menschen sieht. Milliarden Menschen verschiedenster Kultur mit unterschiedlichen Werten und Auffassungen über die Arten des Zusammenlebens buhlen in den sozialen Medien um Aufmerksamkeit – wie kann man da Abstand halten ? Grace Schild Trappe stellt sich diese Frage im Zusammenhang mit den Überlegungen Romano Guardinis zur Höflichkeit. Im Gegensatz zur Oberflächlichkeit der sozialen Medien regt Schild Trappe die Selbstreflexion an: Ich muss mir zunächst selbst klar werden, von welchen Grundwerten ich ausgehe, bevor ich dann mit anderen Menschen in Dialog trete. Weiter erachtet sie es als wichtig, Ängste und Fragen des Gegenübers ernst zu nehmen und 19

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das Gespräch darüber zuzulassen. Politische und religiös motivierte Aussagen sollen offen diskutiert werden. Dabei ist auch Polemik, innerhalb der zulässigen Grenzen, legitim. Dem Trend, Anstand und Respekt (straf)rechtlich durchzusetzen, misstraut sie. Der Anstand unter Privaten solle primär mit sozialen Regeln vermittelt und sanktioniert werden.

Hoffnung auf eine neue Ernsthaftigkeit Die Texte dieses Buches wurden alle vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 geschrieben. Wird diese auch Einfluss auf unsere Debattenkultur haben ? Es könnte sein, dass unter dem Eindruck des Lockdowns, der Begrenzungen unserer Bewegungs-, Versammlungsund Reisefreiheit, der Wohlstandsverluste, der Arbeitslosigkeit, von Konkursen und Überschuldung sowie des mittelalterlichen Chorals «Media vita in morte sumus» (Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen) eine neue Ernsthaftigkeit erwacht, die für sprachpoli­ zeiliche (Gender-)Übersteigerungen kein Gehör mehr hat. Wer als Unternehmen mit dem finanziellen Überleben kämpft, wird vielleicht so manche Diversity- und Gleichstellungs-Anliegen nicht mehr als besonders dringlich einstufen. Es dürfte den Unternehmen auch egal sein, ob ihre Mitarbeiter die Begriffe «Eltern», «Vater» und «Mutter» verwenden oder «Erziehungsverantwortliche» bevorzugen. Möglicherweise hat der Staat dann auch keine Gelder mehr für Forschungsprogramme, die die Farbpalette des Mobiliars der Kitas untersuchen. Und die Universitäten werden, wenn sie den Gürtel enger schnallen müssen, sich wohl die Frage stellen müssen, ob das Erstellen sprachlicher Leitfäden für den Umgang innerhalb der Univer­ sität wirklich zu den vordringlichen Aufgaben einer Institution der Lehre und Forschung gehört. Aber vielleicht sind das alles nur Hoffnungen. Nur eine Hoffnung ist möglicherweise auch, dass in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Hassrede zurückgeht. Jedenfalls findet man in den sozialen Medien erstaunlich viele abstruse Verschwörungstheorien und im Zusammenhang damit, sowie mit den harschen Gegenmassnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, erschre20

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ckend viel Aggression. Wenn sich diese mit Denunziantentum paart, das zurzeit stark zuzunehmen scheint, ist die freie, offene Gesellschaft in höchster Gefahr. Noch kennen wir die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns nicht, aber wir wissen aus der Geschichte, dass sich Phasen mit hoher Arbeitslosigkeit und Existenznöten der Haushalte fast immer durch Verunsicherung, Konflikte und gesellschaftliche Instabilität auszeichnen. Das vorliegende Buch möchte gerade in dieser Situation die Debattenkultur stärken. Es soll ein waches Bewusstsein schaffen für die gegenwärtig vielerorts anzutreffenden Strategien der Debattenverhinderung und der persönlichen Desavouierungen. Die Texte von John Stuart Mill und den vielen anderen Autoren sollen wieder neu den hohen Wert der Meinungsfreiheit bewusst machen, die, sofern sie mit Höflichkeit und Respekt auch gegenüber dem Andersurteilen­ den gepaart ist, einen zentralen Pfeiler jeder liberalen und mensch­ lichen Ordnung darstellt.

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Anstand als Schmiermittel einer liberalen Gesellschaft Die Unhöflichkeit der Gesprächsverweigerung

Grace Schild Trappe «Die Menschen leben auf engem Raum miteinander, im Bereich des Hauses, des Büros, der Fabrik, in den Zimmern der Behörden, im Gedränge der Strassen und ihres Verkehrs, in der Enge des vielbe­ siedelten Landes. […] So entsteht auch immerfort die Gefahr der Reibung, der Entzündung, und jeder vernünftige Mensch wünscht, ihr zu begegnen. Er wird nach Formen suchen, in denen sich die Sorge für ein richtiges Zusammenleben der Vielen ausdrückt; die Heftigkeit gegenseitiger Gefühle und Absichten sich mildert; Jeder dem Anderen entgegenkommt und seinerseits Entgegenkommen ­erfährt. Das ist die Höflichkeit; eine alltägliche Sache, aber wie wichtig im Ganzen!»1 «Da ist vor allem der Wille, Abstand zu schaffen. Kultur beginnt nicht mit dem Zudringen und Anpacken, sondern mit Hände-Wegnehmen und Zurücktreten. Die Höflichkeit schafft freien Raum um den Anderen; bewahrt ihn vor der bedrängenden Nähe, gibt ihm seine eigene Luft.» 2 Wie finden wir in der heutigen komplexen Welt eine höfliche Art der Debattenkultur? Mittlerweile sind wir alle in «engen Strassen» unterwegs, besonders auf dem «Highway des Internets». Milliarden Menschen buhlen um Reichweite, um Aufmerksamkeit. Auf diesem Marktplatz der Meinungen sind Menschen verschiedenster Kulturen unterwegs, mit unterschiedlichen Werten, mit unterschiedlichen Auffassungen über unsere Arten des Zusammenlebens, sei es im Gros­sen in der Gesellschaft (Demokratie versus Diktatur) oder im Kleinen (Was bedeutet Ehe?, Was zählt Familie?, Wer ist für wen 1 Guardini, R.: Abschnitt «Höflichkeit» in: Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens, S. 176 in diesem Buch. 2 A. a. O., S. 121, S. 178 in diesem Buch.

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warum verantwortlich?). Wie kann man da Abstand halten und höflich miteinander umgehen ? Der Philosoph René Giraud (1923 – 2015), einer von vierzig «Unsterblichen» der Académie française, war der Ent­decker des «mimetischen Begehrens». Er analysierte lange Jahre die weltweiten sozialen Entwicklungen, die auf die sozialen Netzwerke zurückzuführen sind, und erkannte, dass diese weltweiten Foren dazu führen, dass sich alle mit allen vergleichen, alle wollen, was die anderen wollen. Damit entsteht leider eine Neidspirale, die im schlimmsten Fall in Aggressionen endet. Es bräuchte also unbedingt mehr Höflichkeit. Aber wie geht das?

Offenheit und Ehrlichkeit als Formen des Respekts Wie kann man in einem freien Diskurs höflich bleiben, also seine Meinung äussern, ohne dem anderen zu nahe zu treten, ohne ihn zu verletzen ? Es ist kein leichtes Unterfangen. Um das Ganze möglichst erfolgreich anzugehen, lohnt es sich bestimmt, bei der Äusserung seiner Gedanken und Meinungen offenzulegen, was die Grundlage derselben ist, also auf welchen Werten und Begriffen sie basieren. Dies erfordert freilich Selbstreflexion. Zuweilen wissen wir selber nicht mehr und fragen uns daher, auf welchen Grundwerten unsere Meinungen und Haltungen beruhen und welche Begriffe wir wofür verwenden. Und wenn wir sie kennen, verlangt es nochmals Anstrengung und vielleicht wiederum Mut, offen zu diesen Grundwerten zu stehen. Der Aufwand lohnt sich hingegen allemal, denn das Gegenüber realisiert, dass auch der Respekt vor ihm einen dazu bringt, zu reflektieren und offen sich selber gegenüber und auch ihm gegenüber zu sein. Social Media bieten leider kaum Raum für solche Tiefen. Alles bleibt im Zweifel oberflächlich. Bei Small Talks sollte man ja generell nicht über Politik und Religion reden. Das Internet bietet nun ein Medium, in dem sogenannte Gretchenfragen durchaus gestellt und oft sogar sehr schnell selber beantwortet werden. Es ist insofern verständlich, dass das nicht gut gehen kann. Was passiert aber in realen Diskursen ausserhalb des Small Talks? Nehmen wir das aktuelle Schlagwort «Ehe für alle», das für die Forderung steht, die Ehe auf gleichgeschlechtliche Paare auszuweiten. 213

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Die Ehe kommt aus einer Zeit, in der zuerst die Kirche und dann der Staat nicht zugelassen haben, dass Menschen – verschiedenen Geschlechts – in Liebe zusammenleben, ohne miteinander verhei­ ratet zu sein. Es erstaunt, dass man die Diskussion über die Ausweitung der Ehe führt, ohne sich darüber zu verständigen, welche (rechtliche oder rituelle) Bedeutung dieselbe heute in unserer Gesellschaft (noch) hat. Wer aber solche Fragen bis hin zur Frage nach einer möglichen Abschaffung des Instituts stellt, wird meist schnell unterbrochen, weil solches tatsächlich die Welt durcheinanderbringt. Vielleicht wirkt die Frage polemisch. Man ist trotz aller Medien und Meinungen etwas zu träge geworden, um auf neue Ideen oder einen Tabubruch angemessen zu reagieren. Um höflich zu bleiben, sollte man aber immer Respekt zeigen und davon ausgehen, dass der andere auch Recht haben könnte – möge die geäusserte Meinung oder Idee beim ersten Hinhören auch noch so revolutionär oder gar polemisch klingen. Man sollte übrigens generell auch Ängste und Fragen ernst nehmen und nicht einfach – unhöflich – als Ignoranz abtun. In diesem Kontext ist die Rassismusstrafnorm (Art. 261bis StGB) zu erwähnen. Sogar die Diskussion über diese Norm und ihre Erweiterung um neue Kriterien, wie zuletzt die sexuelle Orientierung, ist heutzutage heikel. Eine offene Diskussion, ob etwas neu unter Strafe gestellt werden sollte oder nicht, muss aber in einem demokratischen Staat zur guten Debattenkultur gehören. Verpasst man die höfliche Reaktion auf solche Ideen, ist der freie Diskurs rasch blockiert.

Wie viel Anfeindung muss man aushalten ? «Hate speech» darf nicht mit «hate crime» verwechselt werden. Letz­teres ist immer strafbar. Legitime Polemik ist rechtlich nie relevant, «hate speeches» können hingegen zivilrechtlich relevant sein, d. h. Persönlichkeitsrechte von anderen verletzen. Freilich gibt es da verschiedene Massstäbe, je nachdem, ob es sich um öffentliche Per­ sonen handelt oder um private. Man hat hingegen den Eindruck, das zivilrechtliche Instrumentarium zum Schutz vor «hate speeches» entfalte generell keine grosse Wirkung. Viele unterlassen auch wegen 214

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des Kostenrisikos eine Klage. Es ist aber wichtig zu erfahren, was sich z. B. Politikerinnen wie Renate Künast heutzutage alles öffentlich ­sagen lassen müssen. Wenn Frauen zunehmend Opfer widerlicher sexistischer Anfeindungen werden dürfen, kann dies dazu führen, dass ein langer Kampf für die rechtliche Gleichstellung von Frauen in allen Positionen durchkreuzt wird. Das Thema Anfeindungen öffentlicher Personen ist aber allgemein im Auge zu behalten. Wir wissen noch wenig darüber, wie viele Männer und Frauen sich aus öffentlichen Ämtern wegen Angst machen­der Anfeindungen zurückziehen. Polemik und Schärfe muss man in solchen Positionen grundsätzlich aushalten können. Dies gehört zur Meinungsfreiheit – nämlich zur Freiheit derjenigen ­ ­Menschen, die diese Personen in ein Amt gewählt oder eben nicht gewählt haben. Höflichkeit generell von allen politisch anders Denkenden zu verlangen, wäre unrealistisch und vielleicht für den politischen Diskurs auch gar nicht zielführend. Wenn nun aber in Deutschland darüber nachgedacht wird, Personen in öffentlichen Ämtern mehr zu schützen als Private, sind dies falsche Signale. Vielmehr ginge es um ein generelles neues Bewusstsein zum (öffentlichen) Umgang miteinander, auch um Anstand und Respekt.

Den Anstand mit dem Strafrecht erzwingen ? Aus den geschilderten Gründen herrscht in unserer Gesellschaft bzw. Rechtsordnung eine Tendenz, Anstand oder Respekt rechtlich rigoros durchzusetzen, d. h. nicht mit «sanften» Methoden, die ausserhalb des Rechts und der Justiziabilität liegen, sondern mit dem härtesten staatlichen Mittel, dem Strafrecht. Dabei sollte Anstand doch primär mit sozialen Regeln, also unter Privaten, vermittelt und auch so sanktioniert werden. Die Tendenz, Anstand oder sogar Respekt mit dem Strafrecht durchzusetzen, kann auch als Zeichen einer gesellschaftlichen Kapitulation verstanden werden. Letztlich weicht die Gesellschaft Konflikten aus, wenn sie politische oder religiös ­motivierte Aussagen einfach bestraft, statt sie offen zu diskutieren, allenfalls zu widerlegen, wenigstens innerhalb des Strafprozesses, was aber gerade bei der Rassismusstrafnorm – anders als bei der Ehr215

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verletzung â€“ so nicht vorgesehen ist. Diese Entwicklung sollte breit basiert, auch philosophisch und soziologisch, analysiert werden, bevor man weiter in diese Richtung geht. Es geht letztlich um unsere Zukunftskompetenz.

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Die Autoren

Susanne Gaschke Dr. Susanne Gaschke ist Autorin der Welt und der Welt am Sonntag. Zuvor war sie Politikredakteurin der ZEIT und Oberbürgermeisterin von Kiel. Alexander Grau Dr. phil. Alexander Grau ist freier Journalist, Buchautor und Publizist. Er schreibt eine Kolumne für das Magazin Cicero. Texte von ihm erschienen u. a. in der FAZ, in brand eins, der NZZ und im Schweizer Monat. Romano Guardini Romano Guardini (1885 – 1968) war Religionsphilosoph und Theo­loge und lehrte in Berlin (Aufhebung des Lehrstuhls in der NS-Zeit), Tübingen und München. Peter Hettich Prof. Dr. Peter Hettich lehrt öffentliches Recht an der Universität St. Gallen und ist dort Direktor am Institut für Finanzrecht, Finanzwirtschaft und Law and Economics. Zudem ist er Konsulent einer auf Wirtschaftsrecht spezialisierten Anwaltskörperschaft in Zürich. Philipp W. Hildmann Dr. phil. Philipp W. Hildmann leitet das Kompetenzzentrum Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Interkultureller Dialog ­ der Hanns-Seidel-Stiftung. Er ist u. a. Mitglied der Evangelischen Lan­dessynode.

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Axel Honneth Prof. Dr. Axel Honneth ist ein deutscher Sozialphilosoph. Er lehrt seit 2011 an der Columbia University in New York. Jochen Hörisch Prof. Dr. Jochen Hörisch ist Seniorprofessor für Neuere deutsche Literatur und Medienanalyse an der Universität Mannheim. Milosz Matuschek Dr. iur. Milosz Matuschek ist stv. Chefredaktor des Schweizer ­Monats und NZZ-Kolumnist. Er hat viele Jahre an der Sorbonne Rechtswissenschaften unterrichtet und ist Autor mehrerer Bücher, darunter zuletzt «Generation Chillstand». John Stuart Mill John Stuart Mill (1806–1873) war ein britischer Philosoph, Politiker und Ökonom. Er gilt als einer der einflussreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts. Alejandro Navas Prof. Dr. Alejandro Navas lehrt Soziologie an der Fakultät für Kommunikation der Universität von Navarra (Spanien). Peter Ruch Pfarrer Peter Ruch arbeitet heute als Publizist. Nach der Berufslehre als Radioelektriker studierte er reformierte Theologie und war danach Pfarrer in Pfyn-Weiningen (TG), Schwerzenbach (ZH) und bis zur Pensionierung 2016 in Küssnacht am Rigi (SZ). Grace Schild Trappe Dr. iur. Grace Schild Trappe ist Chefin des Fachbereichs Strafund Strafprozessrecht im Bundesamt für Justiz des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements. Davor war sie Oberassistentin am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Bern sowie u. a. Gerichtsschreiberin am Schweizerischen Bundesgericht. 218

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Gerhard Schwarz Dr. Gerhard Schwarz ist Präsident der Progress Foundation. Davor war er Leiter der Wirtschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung und Direktor der Denkwerkstatt Avenir Suisse. Markus Somm Dr. Markus Somm ist Journalist und Historiker. 2019 weilte er als Fellow an der Harvard University. Von 2010 bis 2018 war er Ver­ leger und Chefredaktor der Basler Zeitung. Claudia Wirz Lic. phil. Claudia Wirz ist Sinologin und freie Publizistin. Von 1994 bis 2016 war sie als Redaktorin für die Neue Zürcher Zeitung tätig. Stephan Wirz Prof. Dr. theol. habil., Dipl. sc. pol. Univ. Stephan Wirz ist Titularprofessor für Ethik an der Universität Luzern. Von 2007 bis April 2020 leitete er den Fachbereich Wirtschaft und Arbeit der Paulus Akademie. Heinz Zimmermann Prof. Dr. Heinz Zimmermann ist Ordinarius für Finanzmarkt­ theorie an der Universität Basel. Von 1990 bis 2001 leitete er das Schweizerische Institut für Banken und Finanzen an der Universität St. Gallen.

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Progress Foundation

Die Progress Foundation ist eine gemeinnützige Stiftung nach schweizerischem Recht. Sie untersteht der Stiftungsaufsicht des Eidgenössischen Departements des Innern in Bern. Sie ist politisch, wirtschaftlich und ideologisch unabhängig. Ihr Credo lautet, dass Fortschritt und Freiheit aufs Engste miteinander verknüpft sind. Ohne Freiheit des Forschens und Suchens ist wirtschaftliche und gesellschaftliche Innovation nicht möglich. Freiheit führt immer zu Offenheit, Bewegung, Wandel und Fortschritt. In diesem Sinn will die Progress Foundation zur Weiterentwicklung und Verbreitung freiheitlicher Ideen beitragen, die um die Prinzipien Wettbewerb, Privateigentum, Selbstverantwortung und soziale Verantwortung kreisen. Die Aktivitäten der Progress Foundation konzentrieren sich hauptsächlich auf vier Bereiche. Die Stiftung organisiert Vorträge und Diskussionsveranstaltungen, vor allem in Form von Economic Conferences in Zürich. Sodann veranstaltet sie Workshops, bei denen im kleinen Kreis klassische Texte diskutiert werden. Diese Symposien sollen jeweils rund 15 Meinungsführern aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Medien Impulse für ihre Tätigkeit vermitteln. Die Stiftung verbreitet ihr Gedankengut ferner durch Publikationen, in denen hauptsächlich Themen und Ergebnisse der Workshops und Konferenzen einem weiteren Publikum vermittelt werden. Die Texte der verschiedenen Economic Conferences werden auch auf Englisch im Rahmen der Schriftenreihe der Schwesterorganisation American Institute for Economic Research (Great Barrington, Massachusetts) veröffentlicht. Schliesslich vergibt die Progress Foundation Stipendien an schweizerische Studenten, die am Sommerprogramm des American Institute for Economic Research teilnehmen wollen. Progress Foundation Claridenstrasse 25 Postfach 2172 CH-8027 Zürich Tel.: 044 289 25 30, Fax: 044 289 25 50 progress@treuco.ch, http://www.progressfoundation.ch

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Die «offene Gesellschaft» wird derzeit aus zwei Richtungen angegriffen: Die modernen Kommunikationsmöglichkeiten fördern beleidigende oder hasserfüllte Kommentare, die keinen Beitrag zu einer argumentativen Auseinandersetzung unterschiedlicher Positionen leisten. Auf der anderen Seite versuchen gesellschaftliche Gruppierungen, anderen ihre Moralvorstellungen aufzuzwingen. Sie wollen bestimmte Sprachregelungen durchsetzen sowie Themen- und Handlungsfelder als «politisch korrekt» festlegen oder als «politisch unkorrekt» ausschliessen. Der vorliegende Band entwickelt eine Gegenstrategie, angeregt durch Überlegungen von John Stuart Mill, Romano Guardini und Axel Honneth. Die Autoren plädieren für eine innere Haltung der Höflichkeit und des Respekts gegenüber anderen Personen und deren Ansichten. Mit Beiträgen von: Susanne Gaschke, Alexander Grau, Peter Hettich, Philipp W. Hildmann, Jochen Hörisch, Milosz Matuschek, Alejandro Navas, Peter Ruch, Grace Schild Trappe, Gerhard Schwarz, Markus Somm, Claudia Wirz, Stephan Wirz, Heinz Zimmermann


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