Leonhard Neidhart: Das frühe Bundesparlament. Leseprobe

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LEONHARD NEIDHART

Das fr端he Bundesparlament der erfolgreiche weg zur modernen schweiz

verlag neue z端rcher zeitung

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Kurze Inhaltsübersicht

Zur Einführung  7 ERSTER TEIL

Merkmale des Parlamentarismus schweizerischer Art  17 Vorklärungen zum analytischen Konzept  19 Die Zeiten um 1848  31 Die Räte als Bindeglieder zwischen Individuum und Gesellschaft  42 Das Parlament als Subsystem des politischen Systems  57 Der Bundesrat als Rat der Räte  64

ZWEITER TEIL

Berichte aus den eidgenössischen Räten  69 Vorbemerkungen  71 Die erste Legislaturperiode der Bundesversammlung  73 Die erste grosse Arbeitssession der Räte im Frühjahr 1849  90 Die 1850er-Jahre  107 Die 1860er-Jahre  118 Parlamentsrhetorik und Präsidialreden  124 Im Jahrzehnt der Verfassungserweiterung 1872–1874  145 Nach der Verfassungsrevision von 1874  155 Die 1880er-Jahre: Erste Schritte zur nationalen Rechtseinheit  178 Die zweite Hälfte der 1880er-Jahre  203 Auf und ab zu Beginn der 1890er-Jahre  224 Das neue Parlamentsgebäude  254

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Die Reorganisation von Bundesrat und Bundesverwaltung  259 An der Schwelle zum 20. Jahrhundert  277 Kämpfe um die Organisation der Macht im Bund  288 Die Eröffnung des neuen Parlamentsgebäudes  303 Die Bürokratie im Bund  324 Noch einmal Majorz oder Proporz   350 Die Vorkriegszeit  357 Die Reform des Bundesrates und der Bundesverwaltung  382 Das Jahr 1914  392 Der modernisierte und stabilisierte Schweizer Bundesstaat  398 Register ausgewählter Personen  401 Ausführliches Inhaltsverzeichnis  405 Der Autor  412

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Zur Einführung

I Als einziger Staat Europas errichtete die Schweiz in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein nationales Parlament, das keiner absolutistischen Obrigkeit die Reverenz erweisen musste, sondern ganz unabhängig war und rein demokratisch gewählt wurde. Diese Neuerung gedieh bald zu einem Glücksfall für das seit den französischen Revolutionskriegen geplagte und zerstrittene Alpenland. In sein kollektives Gedächtnis ging jene Revolution im Gegensatz zur direkten Demokratie aber eher nur schwach ein. Könnte es sein, dass das Volk der direkten Demokratie die Rolle seines Parlamentes unterschätzt ? Tatsächlich liegen kaum gründliche Studien über die Arbeitsweise und die politische Rolle unserer jungen Bundesversammlung vor. (Die informative Arbeit von Urs Marti, Zwei Kammern – ein Parlament, mit sämtlichen Namen der Nationalräte und der Ständeräte von 1848 bis 1990, Frauenfeld 1990, soll aber nicht unerwähnt bleiben.) Grund genug, um der frühen Entwicklung dieser zentralen politischen Institution unseres Landes nachzugehen. Dabei wird sich zeigen, dass es manchmal unschweizerisch, dann aber auch pragmatisch schweizerisch zu und her ging. Nach dem Ende der französischen Interventionen machte man in der noch miserabel organisierten Eidgenossenschaft nämlich lange politisch hin und her zwischen Renovation und Restauration, plante in den frühen 1830er-Jahren dann doch einen neuen Bundesvertrag bzw. eine Bundesverfassung. Einig wurden sich unsere Herren Vorfahren dabei aber nicht (die Damen blieben noch lange von den Urnen ausgesperrt). Vielmehr gingen sie, die Männer also, im Sonderbundskrieg 1847 noch aufeinander los. Was heute für viele Minarette und Muslime sind, waren damals für viele 7

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Klöster und Jesuiten. Angezettelt wurde jener aussenpolitisch nicht ungefährliche Bürgerkrieg, wie es immer ist, von politischen Scharfmachern und Dummköpfen, und zwar in beiden Lagern. Weil in unserem Kleinstaat alles kleiner ist, das Land und damit die Herrschaft, die Rathäuser und die Kirchen, die Gewalt, die Kriegsschäden und die Verletzungen (auch die politischen Dummheiten), der Wille jedoch stark war, eine unabhängige Eidgenossenschaft zu bleiben, wirkte sich jener Waffengang nicht staatsbedrohend, sondern klärend aus. Auch deshalb gelang es einem Tagsatzungsausschuss von mehrheitlich liberalen Staatsmännern schnell, eine neue Bundesverfassung zu entwerfen, die schon 1848 von den Mehrheiten des Volkes und der Stände akzeptiert wurde. Auch jene Volksabstimmung über die neue Bundesverfassung war ausserordentlich und friedenstiftend. Und der Kern der damals geschaffenen Grundstrukturen des Bundesstaates und des Bundesparlamentes samt der Regierungsform hielt stand bis heute. Einmalig schweizerisch war auch, dass jenes Bundesparlament, bestehend aus 114 National- und 44 Ständeräten, im November 1848 in Bern zu tagen begann, bevor diese Stadt überhaupt schon zur Bundesstadt erkoren worden war. Deshalb mussten die neuen Bundesbehörden dort mit minimalsten Mitteln ganz von vorne beginnen, also Tagungslokale suchen und sich eine Geschäftsordnung geben. Dabei konnten sie allerdings auf Erfahrungen in Kantonen bauen. Im kleinen, von manchen noch lange Zeit eher scheel angesehenen Ständerat ging das sofort ohne Reglement. Die Herren Kantonsvertreter setzten sich zusammen, wählten einen Präsidenten und begannen über Gesetzesvorlagen zu beraten. Im selbstbewussten, euphorisch gestimmten und dominierenden Nationalrat lief es, wie sich zeigen wird, nicht so einfach. Wie es dann manchmal schneller, manchmal nur mühsam wei­ terging, will diese Arbeit zeigen. «Wänn die taged, nachtets», soll ein Berner Witzbold viel später über die Räte einmal gesagt haben. So schlimm war es gewiss nicht. Aber es gehört zur politischen Kultur unseres ­direktdemokratischen Landes, dass man den Behörden wohl Achtung, aber keine übermässige Verehrung entgegenbringt, und 8

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zwar immer schon. Erwähnenswert ist auch, dass bei jenem Anfang jedes Mitglied des siebenköpfigen Bundesrates zwei Sekretäre und zwei Arbeitsräume, der Militärchef einige Beamte mehr und jener für die Finanzen einen sicheren Keller für die Kasse zugesprochen erhielt. Der Bundeskassier musste damals noch lange eine sehr hohe Amts­kaution leisten. Dem Bundespräsidenten stand ein Empfangsraum zur Verfügung und allen zusammen ein Zimmer, in dem sie Zeitungen lesen konnten. Das sollte man auch wissen, wenn man den damaligen Parlamentsbetrieb verstehen will.

II Ziel dieser Schrift ist es, ein möglichst zutreffendes und auch anschauliches Bild über die Entwicklung des damaligen eidgenössischen Par­ la­mentsbetriebes zu vermitteln. Formuliert man dieses Vorhaben etwas analytischer, dann handelt es sich dabei um Beobachtungen zweiter und dritter Ordnung. Das heisst, dass das Buch und der Schreibende Beobachtungen wiedergeben, die damals von Journalisten und Protokollanten über den Parlamentsbetrieb (in erster Ordnung) gemacht wurden. Und mit Ihrer Lektüre beobachten Sie, verehrte Leserschaft, die ausgewählten (zweiten) Beobachtungen des Schreibenden in dritter Ordnung. Diese Formulierung soll bewusst machen, was lesen heisst, und ausserdem, dass das damalige Parlamentsgeschehen nicht vollständig objektiv, sondern auf jeder Beobachtungsstufe selektiv wahrgenommen wurde und wird. Wir lesen und verstehen jene Berichte (oder beobachten jene Geschichte) heute mit Sicherheit völlig anders, als man sie vor hundert Jahren gelesen und verstanden hatte. Und eine Leserschaft mit Erfahrungen in einem Parlament wird die folgenden Ausführungen wieder anders lesen als eine Leserschaft ohne diese Erfahrung. So viel zur kurzen Beratung der geneigten Leserschaft. Dazu noch ein persönliches Wort: Die Wahl eines solchen Themas und die Art seiner Behandlung geschehen nicht aus dem luftleeren Raum heraus, sondern im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen 9

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Biografie des Schreibenden, was die aufmerksame Leserschaft auch wissen sollte. Ich habe längere Zeit an der Freien Universität im damaligen Westberlin studiert und gearbeitet und dort die politische Dramatik jener durch eine Mauer geteilten Stadt miterlebt. Anschliessend lehrte ich an der Universität Konstanz, lebe in Zürich und publiziere fast ausschliesslich zu Fragen der schweizerischen Politik. All das führte mich dazu, das politische Tun und Lassen oft vergleichend zu beobachten. Dieses Vergleichen färbte sich auch in dieser Darstellung ab und schönte sie möglicherweise etwas. Denn wer längere Zeit in der Nähe jener monströsen Mauer gelebt hat, gewinnt eine besonders enge Beziehung zum eigenen Land, ohne deshalb in eine, ausgerechnet auf zürcherischem Boden entstandene, politische Bewegung zu desertieren, die sich zwar vaterländisch gibt, aber, um an die Macht zu kommen, starke Ressentiments gegen Ausländer weckt und ausserdem dabei ist, beste Teile des fortschrittlichen und freiheitlichen Erbes dieses für das ganze Land hoch bedeutsamen Kantons Zürich zu verspielen, und dabei bedauerlicherweise noch von ehemals gutbürgerlich liberalen Elitemitgliedern unterstützt wird. Das muss auch gesagt sein, wenn man sich mit einem solchen Thema beschäftigt. Zen­ trales Interesse ist es aber zu ergründen, wie und warum viele politische Dinge in unserem Land anders und besser gelaufen sind und trotz ‹Blocherismus› noch besser laufen. Der Schreibende ist Politologe, nicht Historiker. Deshalb hat er die verfügbaren Dokumente auch anders gelesen. Es geht mir weniger darum, jene Entwicklung der Bundesversammlung so aus der Vergangenheit hervorzuholen, wie sie war, sondern sie als Weichenstellung für die späteren und die gegenwärtigen Verhältnisse zu verstehen. In Anbetracht einer ziemlich unbedachten Kritik, die, wie kaum in einer andern gestandenen Demokratie, bei uns immer wieder an den Eigenarten unseres Föderalismus, an der direkten Demokratie, am Milizprinzip und derzeit an der Institution Bundesrat und seinem Wahlverfahren geübt wird, ist eine solche Rekonstruktion nicht überflüssig. Deshalb konzentriere ich mich in erster Linie auf die Herausbildung der Prozeduren und institutionellen Regelungen, auf die Geschäftsordnungen und auf den Geschäftsverkehr zwischen den beiden eid­ge­ 10

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nössischen Räten samt ihren Beziehungen zum Bundesrat als der Regierung. Das heisst, ich will zeigen, wie die jungen Räte lernen mussten, ihre Verfahrensprobleme zu lösen, und wie wirksam sie es bewerkstelligt haben. Denn jene Praktiken waren es, welche die Grundstrukturen unserer heutigen parlamentarischen Verhältnisse geschaffen haben. Dass dabei Einblicke auch in die politischen Ideen und Denkweisen jener Zeit und in die damals wichtigen gesetzgeberischen Pro­ bleme des Bundes vermittelt werden, versteht sich von selbst. Es waren ja jene inhaltlichen Probleme, welche die parlamentarischen Verfahren und Institutionen notwendig gemacht und geprägt haben. Umgekehrt beeinflussten die damaligen Verfahren, z. B. das Zweikammersystem, die Geschäftsreglemente oder das Wahlrecht, natürlich auch die politischen Inhalte, die Gesetzgebung. Es handelt sich dabei also um Wechselwirkungen, die unser beengtes Milizparlament immer schon bedrängt haben und es gegenwärtig erneut stark herausfordern. Aus­serdem kann ein solcher Rückblick das Bewusstsein für den dramatischen Wandel schärfen, der seither stattgefunden hat. Um diese prozeduralen und institutionellen Komponenten unseres Parlamentes herauszuarbeiten und um die Darstellung jener Gründungsphase auch für die heutige Beobachtung unserer Räte nützlich zu machen, kommt diese Schrift mit zwei ‹Sendungen› daher, zunächst mit einer eher theoretisch-analytischen und dann mit einer reichhaltig dokumentarischen. In der ersten werden begriffliche Werk­zeuge und eine theoretische Optik zur Beobachtung unseres Parlamentes kurz vorgestellt. Das muss nun einmal sein, wenn man etwas genauer hinsehen und verstehen will, auch wenn es mühsam ist. So sollen diese gedanklichen Vorbereitungen helfen, die im zweiten, narrativen Teil ausführlich wiedergegebenen Dokumente hintergründiger lesen und sie in einen Zusammenhang mit den gegenwärtigen Verhältnissen bringen zu können. Der zweite Teil, mit dem die Lektüre auch begonnen werden kann, präsentiert eine umfangreiche Auswahl von parlamentarischen Originalmaterialien aus den Jahrzehnten ab der Gründung des Schweizerischen Bundesstaates im Jahre 1848 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914. Mit der Proporzwahl des Nationalrates nach 11

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jenem unglaublich sinnlosen, blutigen und das halbe Jahrhundert verheerenden Krieg änderte sich nach 1918 in der schweizerischen Parteien- und Parlamentslandschaft dann manches. Wie wenig man in jenem Sommer 1914 die kommende Katastrophe vorausgeahnt und/ oder eine Parteinahme gescheut hatte, dokumentiert wohl schon die Tatsache, dass jene ausserordentliche Sitzung der Bundesversammlung zur Wahl des Generals gar nicht in das Stenographische Bulletin aufgenommen wurde. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) druckte die kurzen Reden ab, und sie finden sich am Schluss dieser Arbeit. Indessen räumten viele Leute ihre Bankkonten, sofern sie solche hatten, sodass der Bund eilends kleines Papiergeld in Fünffrankennoten drucken lassen musste. Doch die in der vorausgegangenen Epoche ein­geübte, nationale politische Grundverfassung brach weder im Ersten Weltkrieg noch während der schwierigen dreissiger Jahre auseinander und trug ohne Zweifel auch dazu bei, die Schweiz friedlich und damit glücklich, gewiss manchmal politisch auch mühsam, durch den Zweiten Weltkrieg zu retten. Damit ist die Zeitspanne genannt, auf die sich diese Arbeit bezieht. Schweizerisch sparsam war übrigens, dass sich die Mehrheiten von Bundesversammlung und Bundesrat trotz zahlreicher Vorstösse immer wieder geweigert hatten, ein stenographisches Protokoll über die Verhandlungen der Räte erstellen und im Druck erscheinen zu lassen. Den einen war das zu teuer, andere sahen darin kein zwingendes Bedürfnis. Man hat eine solche Quelle also nicht. Der Presse war das nicht ganz unrecht, denn so konnte sie ihr damaliges Bericht­ erstattungsmonopol halten. Erst ab 1891 wurden die Gesetze und die wichtigen Motionen, aber keine Debatten über die Budgets und die Geschäftsberichte des Bundesrates, veröffentlicht. Der Informationsbedarf des seit 1874 zunächst höchst turbulent wirkenden fakultativen Referendums drängte schliesslich zu einer solchen Publikation. Damals war die Presse (neben Predigten) das einzige Medium der Massenkommunikation. Weil die Schaffung von Parlamenten als der grosse Schritt zur Demokratisierung galt, lieferten die Zeitungen – die vielfältige Schweiz hatte zahlreiche und freie – regelmässig Berichte über das neue Geschehen in Bern. Ohne Zeitungen hätten die 12

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Leute im Land ja nichts über die Tätigkeit ihrer Vertreter in der Bundesstadt erfahren können. Auch deshalb liess E. Bosshart vom Restaurant Kronenhalle in Zürich Zeitungsanzeigen erscheinen, in denen er mitteilte, dass in seinem Lokal 26 Schweizer Zeitungen, 14 deutschöster­reichische, fünf französische und fünf englisch-amerikanische gelesen werden können. So darf man es als politisch-kulturellen Glücksfall bezeichnen, dass sich die NZZ mit ihrer Parlamentsberichterstattung ganz besonders angestrengt hatte. (Heute gibt es sie so nicht mehr.) Ohne ihre da­ maligen sehr ausführlichen Berichte wäre vieles verloren. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass der eidgenössische Vorort (die Exekutive des alten Staatenbundes) nie mehr in Zürich, sondern fortan und dauerhaft als Bundesrat in Bern amtete. Und Bern war damals der politisch dominierende Kanton der Schweiz. Auch wollte das Blatt die liberalen Bundesgründer und Gesinnungsgenossen unterstützen. Jedenfalls schickte es sehr kompetente Korrespondenten nach Bern, die von dort aus, wie sich im zweiten Teil der Arbeit zeigen wird, umfangreiche, oft analytisch starke und überraschend verfahrenskritische sowie manchmal auch belehrende Berichte nach Zürich telegrafierten. Darin kann man vieles herauslesen, was offizielle Protokollanten nicht zu verbuchen gewagt hätten. Aber es gab damals noch keine über­ parteiliche Presse. Die NZZ war es auch nicht. Übrigens ging sie 1868 vom Orell Füssli Verlag an eine Aktionärsgruppe von Anhängern des liberalen Systems, des sogenannten Centrums, über. (Im Jahre 1880 hatte es in der Redaktion offenbar Differenzen gegeben. Dann wurde das Blatt, als erstes im Land, von einer Chefredaktion geleitet.) Ihre Berichte machen den Inhalt und die interessante und oft an­ regende Lektüre des zweiten Teils dieser Schrift aus. Ab dem Jahre 1891 werden sie durch Auszüge aus dem Stenographischen Bulletin der Bundesversammlung ergänzt, auch deshalb, weil schon damals die Wahl und die Zahl des Bundesrates grosse Themen waren. Die Debatte darüber begann mit seiner Gründung, dauerte mit Unter­ brüchen bis 1914 und ging später weiter bis auf den heutigen Tag. Der Verfasser hat aus den Korrespondenzen der NZZ also (auswählend) ‹beobachtet›, in der alten Schreibweise zitiert und ab und zu 13

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auch kommentiert, was ihm zur Darstellung der Organisationsentwicklung der Räte und der wichtigen Themen bedeutsam erschien. Stoffe für Heiterkeit bzw. Hilarité, wie es in Parlamentsprotokollen ab und zu heisst, habe ich zur Belohnung der fleissigen Leserschaft auch berücksichtigt. Um auf einer einheitlichen Linie zu bleiben, wurden keine anderen Presseorgane herangezogen. Die Leserschaft wird bald erkennen, dass das auch nicht notwendig war. Auf Fussnoten und auf weitere Quellenangaben kann deshalb verzichtet werden. Sodann wird der gesamte reichhaltige Text, um ihn übersichtlicher und les­ barer zu machen, durch viele Zwischentitel strukturiert. Eine Liste der wichtigen Namen und ein ausführliches Inhaltsverzeichnis finden sich am Schluss der Arbeit. Der lange Zeitraum bringt es mit sich, dass der zweite Teil teilweise sehr detailliert geworden ist, weil ich einen zusammenhängenden Überblick versucht habe. Die interessierte Leserschaft muss nicht alles auf einmal lesen, sondern kann sich in einem ersten Umgang unbeschwert in dieser ‹Ausstellung von politischen Reminiszenzen› umsehen und beobachten, was ihr Interesse weckt. Weil die Eidgenossenschaft kein herrschaftlich-repräsentatives Oberhaupt duldete, fungierte nach 1848 in erster Linie der Nationalrat als nationaler Repräsentant und als dominierender politischer Akteur. Dann war es jahrzehntelang üblich, dass die an- und abtretenden Ratspräsidenten sich in nationalen und staatspolitischen Unterweisungen und Lobreden übten. Im jungen Schweizer Bundesstaat gab es durchaus nationale Integrationsbedürfnisse, aber ausser den Ratspräsidenten kaum prominente, nationale politische Stimmen, die diese hätten erfüllen können. Wohl auch deshalb druckte die NZZ jene Reden fast immer wörtlich ab, und zahlreiche von ihnen werden im zweiten Teil auszugsweise wiedergegeben. Es handelt sich dabei meist um prägnante und interessante Texte, die sich auch gut lesen. Dabei zeichneten sich unmittelbar nach 1848 der liberale Sidler und später der katholisch-konservative Obwaldner Wirz besonders aus. Sidler war vorerst Landammann im Kanton Zug, bevor er nach Zürich übersiedelte. Hier wurde er in den Nationalrat gewählt und setzte als mehrfacher Alterspräsident edle Massstäbe für solche Reden. Dem 14

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klugen und rhetorisch erstaunlich beschlagenen Obwaldner Wirz warf die NZZ einmal vor, er verwende zu viele Fremdwörter. Wer sich an jenem Frühpatriotismus kurz erwärmen möchte, der überschlage jetzt diesen ersten Teil und führe sich vorweg ein paar solcher Ansprachen zu Gemüte. Etwa ab 1880 wollten die Räte solche Elogen nur noch unwillig oder gar nicht mehr. Die Präsidenten hatten kurz und geschäftsmässig zu bleiben; dabei ist es bis heute geblieben und gehört auch zur schweizerischen Parlamentskultur. Da der Stoff des zweiten Teils geistiges Eigentum der NZZ ist, passt es gut, dass sich ihr Buchverlag zur Veröffentlichung dieser Schrift bereit erklärt hat. Die spontane Ermutigung durch den Verlagsleiter Hans-Peter Thür und die Unterstützung der Programmleiterin Ursula Merz halfen mir, das Werk zu Ende zu bringen. Danken möchte ich auch der Lektorin Ingrid Kunz Graf für die kluge und kompetente Bereinigung des Textes.

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Die erste grosse Arbeitssession der Räte im Frühjahr 1849 Diese Session wurde zu einem politischen Marathonlauf mit 44 Sitzungen, die vom 16. April bis Ende Juni 1849 dauerten. Während der Eröffnungssitzung am 16. 4. 1849 hatten die Beglaubigungen, Wahlbeschwerden, Bittschriften und Begnadigungsgesuche viel Zeit verbraucht, aber keine grossen Verfahrensprobleme mehr aufgeworfen. Mit den Gesetzesvorlagen sollte es anders werden. Weil die Zeit drängte, berief der Bundesrat die Räte schon auf den 16. 4. 1849 ein. Man hatte ihm in der Presse offenbar Verzögerungen vorgeworfen. Mit welchem Eifer er aber an seine Arbeit gegangen war, zeigte die vom ihm bereits Ende März 1849 veröffentlichte Traktandenliste für die Arbeit der Räte. Sie umfasste folgende Gesetzesvorlagen: eine über die Organisation des Bundesrates, über das Zollwesen, die Postregel, über die Postverwaltung, die Posttaxen, die Bundesrechtspflege, Bundesstrafen, die Beamtenbesoldung, die Militärorganisation, das Pulverregal. Ausserdem legte der Bundesrat bereits seinen Geschäftsbericht und die Rechnung vor. All das nach nur rund dreimonatiger Amtszeit ! Der Himmel habe mit ziemlich verdriesslichem Gesicht geschaut, als sich die Räte am 16. April 1849 zur ersten Sitzung dieser Session versammelten, schrieb die NZZ . «Nach zwei Tagen in der dritten Sitzung flüchtete der Nationalrath aus dem passabel, hübsch und bequem eingerichteten Kasinosaal in den wärmeren Berner Grossrathsaal. Eröffnet werden konnte die erste Sitzung mit nur 57 Mitgliedern, nur einem mehr als erforderlich.» Dann stand zuerst die Wahl eines Präsidenten an. Man liess diesen anfangs nur für eine einzige Session amten. So musste jeder Neue erst seine Erfahrungen machen, was der Effizienz des Ratsbetriebes nicht immer zuträglich war. «Nach vier Wahlgängen war endlich Alfred Escher mit 40 Stimmen erfolgreich. 90

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Auch die Bestellung des Vizepräsidenten machte vier Skrutinien [Wahlgänge] notwendig. Gewählt wurde der gar nicht anwesende General Dufour. Er erschien erst eine Woche später in Bern und nahm die Wahl wegen mangelnder deutscher Sprachkenntnisse nicht an. Dann verlas man eine Zuschrift des schweizerischen Vaterlandsvereins in Bern gegen die Einbürgerung von Deutschen, der offenbar den Schweizernamen beschimpft hatte. Sie wird mit Vollmacht an den Bundesrat verwiesen. Das Gleiche geschieht mit einer Bittschrift des Freiburger Staatsraths um Nachlass der Sonderbundskriegsschuld. Schluss der Sitzung um 11 Uhr 30, bewirkt war nicht viel.» (17. 4. 1849)

Verfahrensfragen Im Ständerat, der den Welschen Briatte zum Präsidenten wählte, ging es in dieser ersten Sitzung schneller zu und her. Dort referierte bereits Bundesrat Druey über eine Gesetzesvorlage. «Dringender als die Reglemente [für die Räte] seien die Gesetze über Zölle und Post, sagte er. Wünschbar sei es, dass nicht beide Räthe sich gleichzeitig mit dem gleichen Entwurfe beschäftigten, weil der zuständige Departementschef nicht an beiden Orten auf einmal anwesend sein könne. Viel zu reden gab dann in beiden Räten die Organisation der Post. Man sprach im Nationalrath zunächst allgemein darüber, wählte eine Kommission und schritt dann zur artikelweisen Beratung. Pittet wollte davon abstrahieren und die Entwürfe sofort der Kommission überweisen, blieb damit aber in der Minderheit. Da der Namensaufruf zur vierten Sitzung des Nationalrathes Schlag neun Uhr beginnt, sind noch eine ziemliche Menge von Mitgliedern abwesend. Nach Verlesung des Protokolls beantragt Hr. Schneider, dass alle Akten zum Zollgesetz auf dem Kanzleitisch deponiert werden. Hr. Näff macht jedoch darauf aufmerksam, dass der Ständerath oder dessen Kommission diese Akten schon reklamiert habe und dieselben also nicht an beiden Orten sein können; er wünscht, dass sich der Hr. Präsident in solchen Fällen mit dem Präsidium des Ständerathes ins Einverständnis setze. Stämpfli will vom Bundesrath zu jedem Gesetz auch gleich ein Budget haben. Der Präsident zeigt wieder den Eingang mehrerer Petitionen 91

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an. Die von den HH. Heim und Stämpfli erhobene Frage, ob nicht alle Petitionen, die an den Nationalrath gelangen, auch dem Ständerath mitgetheilt werden sollen, wird, entgegen der Ansicht des Präsidenten, bejahend entschieden.» (17. 4. 1849)

Die Post ein grosses Thema In der dritten Sitzung des Nationalrates ging es um die Neuorganisation der Post. Das Thema war hochkontrovers, weil viele Kantone ihre Postkreise nicht aufgeben, der Berner Radikale Stämpfli aber zentra­ lisieren und einen Generalpostdirektor einsetzen wollten. Man hielt zunächst eine allgemeine Beratung ab. Dann war man sich nicht einig, ob die Vorlage vor einer Detailberatung an die Kommission gewiesen werden solle oder nicht, wie es der Welsche Pittet will. Der Präsident (Escher) ist dagegen, und Pittet bleibt in der Minderheit. «Beim Eintritt in die Tagesordnung der vierten Sitzung des Nationalrathes [Gesetz über die Organisation der Post] stellt Hr. Hungerbühler die Ordnungsmotion, das ganze Gesetz an die Kommission zurückzuweisen und begründet den Antrag damit, dass die Versammlung aller materiellen Grundlagen entbeere, um dieses Gesetz beraten zu können. Vorerst müsse auch ein Budget her. Der Finanzdirektor bestreitet den Antrag, weil es nicht leicht sei, ein Budget zu entwerfen, man wisse nur, dass gespart werden müsse. Das Budget sei gemacht und gar so übel sei es nicht, denn auf sieben Millionen zeige sich ein Überschuss von 10 000 Frkn. Herr Näff will die Behandlung der Post und jene über die Taxen trennen. Herr Kern will eintreten, weil das schon beschlossen sei. Da dieses Eintreten keine vorgreifende Konsequenz habe und sei es gut, wenn die Kommission vorerst die Meinungen der hohen Versammlung vernehme. Nachdem noch einmal gegen Eintreten gesprochen worden war, wird zur Abstimmung geschritten und man geht sofort zur artikelweisen Beratung über. Im Artikel 1 geht es um die Einteilung der Postgebiete. Die HH. Kern und Erpf möchten den Artikel an die Kommission zurückweisen, weil die vorgeschlagene Einteilung eine unverhältnismässig hohe Zahl von Beamten erfordere. Herr Stämpfli beantragt in längerer Rede 92

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nochmals die Zentralisation der Postverwaltung. Darauf kann Herr Trog nicht eingehen, will aber die elf geplanten Postkreise auf sechs verkleinern. Schliesslich wird der Artikel zurückgewiesen. Bei Art. 3 stellt Hr. Stämpfli den Antrag, die Kommission mit der Untersuchung zu beantragen, ob nicht der letzte Satz weggelassen werden könne. Bei Art. 10 beantragt Hr. Dr. Kern mit Erfolg eine Rückweisung aller Artikel von 10 bis 20.» (21. 4. 1849)

Wieder das Stenographische Bulletin «In der siebten Sitzung des Nationalraths kommt die Botschaft des Bundesrathes über die Herausgabe eines Bulletins zur Verhandlung. Der Bundesrath will keines. Die HH. Franscini und Hungerbühler unterstützen diese Haltung. Diesen Antrag greift Hr. Alméraz heftig an und er will nicht glauben, dass einzig materielle Rücksichten demselben zu Grunde liegen, sondern man wolle dem Volke aus Gründen einer falschen Politik sein Recht vorenthalten, zu wissen, was in der Versammlung vorgehe. Hr. Heim ist zwar auch für Öffentlichkeit, er findet aber, man habe für den Moment mehr als genug. Hr. Pittet will ein Bulletin, Hr. Meystre wenigstens für die wichtigsten Verhandlungen. Hr. Lohner glaubt, dass die Mitglieder dann nur zu lange Reden halten, wenn sie dieselben stets gedruckt sehen könnten. Der Ablehnungsantrag wird angenommen. Nun entsteht noch eine Diskussion darüber, ob man diesem Beschluss auch die vom Bundesrath vorgebrachten Erwägungen vorausgehen lassen solle. Da für heute die Tagesordnung erschöpft, die reglementarische Zeit aber nicht verflossen ist, will der Präsident die heute morgen von Hr. Lambelet eingebrachten Motionen auf Stempelung der Stimmzettel bei Wahlen und auf eine Deposition der Motionen auf dem Kanzleitisch noch behandeln lassen. Auf Antrag von Hr. Tanner wird jedoch nach kurzer Diskussion beschlossen, darauf nicht einzutreten, da eine Kommission mit der Ausarbeitung eines Reglements beauftragt sei. Sodann wird eine Petition eines in Bern wohnenden Herren Gugger verlesen, der will, dass die schweizerische Hochschule nach Bern verlegt werde, weil die Studenten dann den Verhandlungen des Bundes93

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rathes beiwohnen, Politica studieren und die französische Sprache lernen könnten. Wird mit mitleidigem Lächeln, das wahrscheinlich dem Scharfsinn des Hr. Gugger galt, aufgenommen. Tagesordnung von morgen: Wahl eines Vizepräsidenten an Stelle von Dufour und Vorlage des Zollgesetzes.» (25. 4. 1849) Auch im Ständerat war die Post ein grosses Thema: «Der Vorschlag des Bundesrathes für elf Postkreise wird nach einer fünfstündigen Debatte, an welcher die meisten Mitglieder der Versammlung teilgenommen hatten, ungeachtet aller Angriffe angenommen. [Die Räte wurden damals fast immer als Versammlung bezeichnet.] Indes sprach sich doch eine sehr starke Minderheit für nur vier bis sechs Kreise aus. Wenn der Nationalrath, der sich vorläufig für eine solche Reduktion ausgesprochen hatte, an seiner Ansicht festhält, so wird ihm der Ständerath schwerlich einen beharrlichen Widerstand entgegensetzen. Die Bemerkung eines Abgeordneten aus Schaffhausen, dass bei der Feststellung der Postkreise wie bei der Theilung der Erde diejenigen, welche auf die leisen Thöne gelauscht haben, leer ausgegangen seien, erregte einige Heiterkeit. Und die Furcht, welche der gleiche Abgeordnete vor den Alles verschlingenden Postlöwen der östlichen Schweiz an den Tag legte, so wie der Nachweis, wie sich diese Löwen, welche den Stand Schaffhausen in den Rachen eines fremden Posthaifisches hineingetrieben, bei der Verzehrung der Beute den Magen verdorben haben, setzte die Versammlung vollends in guten Humor.» (1. 5. 1849)

Das Zollgesetz ein zweites grosses Thema Die Zollpolitik zählte bis 1914 zu den ganz grossen Themen jener Zeit. Konkret ging es ums Geld, später aktivierte sie wirtschaftliche Inter­ essengruppen entsprechend stark. «In der achten Sitzung des Nationalrathes vom 24. 4. 1849 nimmt die Verlesung zahlreicher Petitionen für ein Schutzzollsystem eineinhalb Stunden Zeit in Anspruch. Über die Frage, ob auch die Botschaft des Bundesrathes zum Zollgesetz verlesen werden solle, entscheidet der Rath verneinend. Zur Frage, ob man eine allgemeine Berathung der speziellen vorausgehen lassen 94

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solle, ergreift zuerst Hr. Hungerbühler das Wort. Er beantragt die Niedersetzung einer möglichst zahlreichen Kommission mit elf Mitgliedern, weil das Zollgesetz doch eine Art von Transaktion der ver­ schiedenen Kantonsinteressen bilden müssen. Die HH. Blanchenay und Alméraz sprechen im gleichen Sinn und der erstere verlangt, dass die Kommission mit geheimem Stimmenmehr durch die Versammlung gewählt werde. Hr. Stockmar will diese Kommission verpflichten, jeden, der ihr Aufschlüsse geben will, in ihrer Mitte zu empfangen. Hr. Rauch möchte das nicht obligatorisch haben, wohl aber, dass sie sich solche Aufschlüsse auf jede mögliche Weise verschaffe. Hr. Stockmar modifiziert seinen Antrag in dem Sinne, dass nur die Mitglieder der Nationalversammlung darin Zutritt haben, aber die Kommission berechtigt sei, auch andere Personen beizuziehen. Herr Hoffmann beantragt offene Wahl und will der Kommission nichts vorschreiben. Hr. Pittet will jedem Mitglied der Nationalversammlung das Recht einräumen, den Sitzungen der Kommission beizuwohnen. Da sich niemand dagegen ausspricht, werden diese Anträge angenommen. Hierauf beginnt die allgemeine Diskussion [Eintretensdebatte] zum Zollgesetz. Hr. Benz möchte die Kommission untersuchen lassen, ob die vom Bundesrath voranschlagten Ausgaben nicht gesenkt werden könnten, um die Kantone [denen man die Zolleinnahmen weggenommen hatte] zu schonen. Auch kritisiert er die Eile des Entwurfs. Hr. Lambelet spricht sich gegen das Gesetz und für den Freihandel aus; er möchte stattdessen eine direkte Steuer zur Beschaffung der Geldmittel für die Staatsbedürfnisse. Da die Zeit schon sehr weit vorgerückt ist, vertagt der Präsident die Verhandlungen auf morgen.» Zur gleichen Zeit hatte der Ständerat erst fünfmal getagt. Er behandelte die Organisation des Bundesrats. «Heute wurde der zurückgewiesene Artikel 3 [Verwandte und Ämter] beraten. So schwer diese Verhältnisse durch Gesetz zu ordnen sind, so wenig Interesse bieten sie für die Leser der N. Z. Ztg., weshalb wir über die diesfällige Verhandlung, welche in ermüdender Breite den ganzen Morgen sich fortschleppte, stillschweigend hinweggehen. Das Gesetz wurde dann mit 34 gegen 5 Stimmen angenommen.» (26. 4. 1849) «Tags darauf geht im Nationalrath die allgemeine Aussprache über 95

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das Zollgesetz weiter. Schon ist es zwei Uhr, und noch sind eine Menge von Rednern eingeschrieben. Die Sitzung wird aufgehoben. [Die allgemeine Aussprache sollte auch noch die nächsten drei Tage füllen.] Zur Bestellung der Zollgesetzkommission waren sechs Wahlgänge nötig. Entgegen einem Antrag von Hrn. Bruggisser, der die Bezeichnung der Kommissionsmitglieder einfach dem Bureau überlassen wollte, wird beschlossen, dass die Wahl durch die Versammlung stattfinden und die Kommission auf fünf Mitglieder reduziert werde. An der Tagesordnung ist sodann das Begehren des Bundesrathes um Ermäch­ tigung zum Abschluss eines neuen Freizügigkeitsvertrages mit dem Grossherzogthum Baden. Nach Verlesung des daherigen Berichtes des Bundesraths und der Anzeige, dass der Ständerath die verlangte Ermächtigung erteilt habe, wird nach Anhörung einer erläuternden Bemerkung des Hrn. Bundespräsidenten Furrer dem Begehren ohne Diskussion entsprochen. Der Präsident zeigt noch an, dass sich morgen [ein Sonntag] die Mitglieder der Zollkommission im Kasino versammeln, um sich über die Form ihrer Beratungen zu verständigen. Sechs Tage lang debattierte der Nationalrath allgemein über das Zollgesetz, rund dreissig Redner traten auf. In der 11. Sitzung hatte Bundesrath Frei-Herosé drei Stunden lang gesprochen und schloss seine Rede mit dem Wunsch, dass die Kommission bei ihren Arbeiten die Interessen der Eidgenossenschaft im Auge behalten und die kantonalen denselben unterordnen solle. Der Präsident befürchtet, dass die allgemeine Debatte kein Ende nehme.» (29. 4. 1849) Am Montag der folgenden Woche teilt der Präsident mit, dass in dieser Woche nur wenig Sitzungen des Nationalrates stattfinden können, da die Zollkommission tage. «Es werde am Eingang des Kasinos die Zeit der Plenarsitzungen mitgeteilt. Die Zollkommission habe gestern beschlossen, dass diejenigen HH. Nationalräthe, welche in der Kommission mündliche Vorträge zu halten wünschen, dieses dem Präsidenten schriftlich mit der Angabe des Gegenstandes mittheilen sollen. Danach wird eine Zuschrift des Bundesrathes, die Rechnung des eidg. Kriegsfonds betreffend, verlesen, eben so eine Motion der HH . Stockmar und anderen, die einen Gesetzesentwurf zum Schutz neuer Entdeckungen [Erfindungsschutz] im Gebiete der Kunst, des 96

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Ackerbaus etc. und einen solchen gegen die Contrefaçon von Gegenständen der Kunst und der Industrie verlangen.» (3. 5. 1849)

Die Organisation des Bundesrates im Nationalrat «An der Tagesordnung ist das Geschäftsreglement des Bundesrathes. Hr. Stockmar verlangt sofortige Beratung, während Hr. Alméraz die Überweisung an eine Kommission vorschlägt, was dann auch beschlossen wird. Ein Mitglied fordert, dass diese Kommission durch das Bureau gewählt werde. Präsident Escher möchte konsequenterweise auch diese Kommissionswahl durch die Versammlung vornehmen lassen. Hr. Vizepräsident Kern spricht sich jedoch für die Wahl durch das Bureau aus, was auch beschlossen wird.» «Sodann wird zur Behandlung des Berichts der Bittschriftenkommission geschritten. Die Kommission beantragt, dass die verschiedenen Petitionen theils an die verschiedenen Kommissionen, theils an den Bundesrath zur Berichterstattung und Antragstellung überwiesen werden. Die Tagesordnung ist zwar für heute erschöpft, indessen macht der Präsident die Versammlung darauf aufmerksam, dass noch verschiedene Gesetzesentwürfe, namentlich jener über die Gerichtsorganisation und über das Militärwesen zu beraten seien, also sollte man schon heute die Kommissionen bestellen. Herr Trog will auch für die vorläufige Prüfung des Geschäftsberichtes des Bunderathes eine vom Bureau gewählte Kommission bestellten. Hungerbühler und Ochsenbein wollen die Beratung der Militärorganisation auf die Herbstsitzung verschieben. Herr Kern beantragt die Wahl der Kommission durch die Versammlung, während Hr. Dr. Steiger alle Kommissionswahlen durch das Bureau haben will. Es wird beschlossen, dass die Versammlung in jedem Fall besonders entscheiden soll [worin auch damalige Machtkämpfe zum Ausdruck kamen]. Für die Bundesrechtspflege wird die Bestellung der Kommission dem Bureau überlassen. Zur Prüfung des Geschäftsberichtes des Bundesrathes beantragt Herr Kern eine geheime Wahl durch das Plenum, was akzeptiert wird.» Dann befasst sich der Nationalrat drei Tage lang mit der Organisation des Bundesrates. Ein Beispiel, wie es dabei zuging, liefert die Be97

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handlung des Art. 20 über die Organisation der Departemente. «Hr. Alméraz schlägt vor, im Satz: ‹die Departemente sind befugt, mit den schweizerischen Regierungen [gemeint sind die kantonalen] und Beamtungen in unmittelbaren Verkehr zu treten›, das Wort ‹Beamtungen› zu streichen. Dieser Antrag wird, nachdem er bereits verworfen und der Artikel unverändert angenommen worden war, von Hr. Pittet zum zweiten Mal aufgenommen und veranlasste eine sehr lebhafte Diskussion. Hr. Siegfried erklärt sich mit Entrüstung gegen solche Kantonaleifersüchteleien. Nachdem man sich fast eine Stunde mit grosser Heftigkeit um die Kantonalsouveränität und um die Rechte des Bundes herumgestritten hatte, erklärte Hr. Bundesrath Frei-Herosé, dass sich die Versammlung im Irrtum befinde, indem sie dem ganzen Paragraphen eine Bedeutung unterschiebe, die er gewiss nicht habe, da man mit demselben nur beabsichtige, dass die eidg. Departemente der Kürze wegen Berichte etc. direkt von den Kantonalbeamten fordern könnten. Hr. Siegfried nimmt zum zweiten Mal das Wort, um mit grosser Wär­me gegen den unvolkstümlichen Geist zu Felde zu ziehen, der sich heute in der Versammlung geltend machen wolle. Seine Rede erregt eine ungewohnte Sensation. Hr. General Dufour schlägt dann vor, dem Artikel den vom Ständerath für Art. 21 beigefügten Zusatz anzuhängen: ‹Alle Entscheide gehen jedoch vom Bundesrath als Behörde selbst aus.› Hr. Hoffmann präzisiert den Antrag des Hrn. Dufour dahin, dass gesagt werde, ‹alle grundsätzlichen Entscheide und wichtigen Beschlüsse gehen vom Bundesrathe› etc. aus. Im übrigen spricht sich der Redner in gleichem Sinne wie Hr. Siegfried aus. Hr. Alméraz protestiert mit Heftigkeit gegen das Recht, das gewisse Redner sich herausnehmen wollen, den Gegnern Lektionen über eidg. Gesinnungen zu geben. Hr. Stockmar beantragt Rückweisung an die Kommission und wird darin von Hrn. Blanchenay äusserst lebhaft unterstützt. Dieser Antrag fällt in der Abstimmung jedoch durch. Der Zusatzantrag des Hrn. Dufour wird mit grosser Mehrheit adoptiert.» (Weil das Kollegialprinzip damals eine Selbstverständlichkeit war und noch nicht durch die noch schwachen Departemente herausgefordert wurde, erkannte man die Bedeutung jener Regelung nicht.) 98

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Die Session war lang und ging bis Ende Juni. Man ging damals mit der Zeit flexibel um und wusste zu Beginn einer Session oft nicht immer genau, wie lange sie dauern würde und welche Traktanden behandelt werden konnten. «In der 22. Sitzung vom 16. Mai 1849 begründete Hr. Labhard im Nationalrath seine gestern gestellte Motion, dass die Sitzung des Morgens um 8 Uhr beginnen sollte. Hr. Stockmar wollte sogar schon um 7 Uhr anfangen. Hr. Bundesrath Näf machte jedoch darauf aufmerksam, dass der Bundesrath auch morgens Sitzungen abhalten müsse, und beantragt, beim bisherigen Verfahren zu bleiben. Hr. Alméraz möchte gar erst um 11 Uhr beginnen, damit die Kommissionen und Rathsmitglieder vorher arbeiten könnten. Bei der Abstimmung wird beschlossen, beim Alten zu bleiben.» «Ende Mai gab der Hr. Präsident der Versammlung einen Überblick über die noch zahlreichen Geschäfte, um die Frage einer Vertagung zu klären. Er erlaube sich keine Meinung, zählte aber die Vorlagen auf, die noch behandelt werden müssten. Das Zollwesen könne kaum mehr durchberaten werden, obwohl man schon eine Woche lang über das Eintreten geredet hatte. Auch die Zollkommission schlägt eine Vertagung auf den 15. September vor. Die Herren Hungerbühler und Stämpfli sprechen entschieden gegen eine Vertagung, weil ohne diese (Zoll-)Einnahmen nichts getan werden könnte. Hr. Almé­ raz macht darauf aufmerksam, dass man beschlussunfähig werde, wenn man sich nicht vertage, indem die meisten Mitglieder sich entfernen würden. [Sehr komfortabel dürfte das Parlamentarierleben im damaligen Bern nicht gewesen sein.] Auch Hr. Blanchenay will nicht den Krämern zu Gefallen länger hier bleiben. Gegen ihn, der immer allen Patriotismus für sich allein in Anspruche nehmen wolle, tritt Hr. Mathey äusserst heftig auf. Der Redner weist zornig nach, auf welche Weise die Kantone Genf und Neuenburg zu ihrem Wohlstande gelangt seien. Der Hr. Präsident sucht die ungestümen Herren zurechtzuweisen, kann aber nicht verhindern, dass Blanchenay wieder mit Persönlichem antwortet, was ihm eine Rüge einbringt. So ging es weiter. Der Bundesrath war gegen eine Vertagung des Zollgesetzes. Eine Abstimmung erbringt 43 Ja gegen 43 Nein, der Präsident entscheidet dagegen. Dann wird eine allgemeine Vertagung verneint und 99

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der Präsident ermahnt die Mitglieder, nun auch getreulich auszuharren.» (29. 5. 1849) Als dann am 16. Juni das Zollgesetz auf der Tagesordnung stand, gab es wieder Kontroversen über die Verfahrensweise. «Hr. Jäger be­ antragt im Interesse der Beförderung des Geschäftsganges eine Berathung der Tarife en bloc auf der Grundlage des Majoritätsantrages der Kommission. Hr. Hoffmann hingegen will eine artikelweise, Hr. Kreis eine klassenweise Berathung. Diese Frage erregt eine sehr lange Diskussion, bei welcher besonders Hr. Trog vor einer artikelweisen Berathung warnt, die die Debatten ins Unendliche ausdehnen und deren Resultat eine grenzenlose Verwirrung sein würde. Der Hr. Prä­sident hat alle Mühe, die widerspenstigen Geister in’s rechte Geleise zu bringen, und den Herren begreiflich zu machen, dass vorerst entschieden werden müsse, welcher Kommissionsantrag als Basis der Berathungen angenommen werden sollte, bevor man über die Form der Beratung eine Schlussnahme fasse. Er schlägt jenen der Kommissionsmehrheit vor, die Minoritäten der Kommission wollen dagegen ihre Anträge als Basis angenommn wissen; nach einer langen und verwirrten Debatte wird jedoch mit 55 Stimmen nach der Ansicht des Hrn. Präsidenten entschieden. Nun entspinnt sich eine hartnäckige Diskussion über die Proposition des Hrn. Jäger auf Annahme des Tarifs in globo. Die Deputierten der westlichen Schweiz so wie jene des Kantons Bern bekämpfen heftig den Jäger’schen Antrag, indem sie behaupten, dass durch eine der­ artige Schlussnahme denjenigen, welche mit dem Tarif nicht einverstanden sind, das Wort abgeschnitten, und sie verhindert werden, die ihnen geeignet scheinenden Abänderungsanträge zu stellen und zu verfechten. Dagegen verteidigen zahlreiche Herren den Antrag mit ebenso viel Beharrlichkeit, indem sie auf die ungeheure Zeitverschwendung und die verworrenen Resultate einer artikelweisen Beratung des voluminösen Tarifs hinweisen, eine Berathung, aus welcher bei der grossen Verschiedenheit der Ansichten kein systematisches Ganzes herauskommen würde. Schliesslich wird der Antrag Jäger mit 59 gegen 30 Stimmen angenommen.» (17. 6. 1849) 100

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Nationalratspräsident Alfred Escher schliesst die Session Am 30. Juni 1849 schloss Alfred Escher im Nationalrat diese lange Session. «Wir übergeben unseren Lesern hiermit die Rede, welche von Hrn. Bürgermeister Dr. Escher, als Präsident des Nationalrates gehalten und von der gleichen Behörde zum Druck anerkannt worden ist.» So die NZZ . «Tit. ! Wir sind lange, sehr lange versammelt geblieben. Die Dauer unserer Versammlung steht aber mit dem Umfang der Schwierigkeiten der Aufgaben, die wir zu lösen hatten, in keinem Missverhältnisse. Wir können mit dem beruhigenden Bewusstsein, unsere Kräfte mit unverdrossener Hingebung für die Wohlfahrt des Vaterlandes angestrengt zu haben, diesen Saal verlassen. Die Bundesversammlung hat die erforderlichen Gesetze zur Vollziehung der durch die Bundesverfassung vorgeschriebenen Zentra­ lisation sehr wichtiger Administrativzweige erlassen. Drei Gesetze, die das Postwesen nun wirklich zu einem schweizerischen machen sollen, sind aus den Berathungen der Bundesversammlung hervorgegangen. Der kleine Krieg, der bis anhin unter den Kantonen in Postsachen geführt wurde, eine Art Bürgerkrieg, wird nun ein Ende haben. Die oft sehr ängstlichen Unterhandlungen einzelner Kantone mit auswärtigen Staaten in Postangelegenheiten hinter dem Rücken und mit­ unter zum empfindlichen Nachtheile ihrer Mitkantone werden auf­ hören. Aus den vielen kleinen Postgebieten der Kantone ist nun ein schweizerisches Postgebiet geworden und schon wesentlich deswegen ist die Möglichkeit gegeben, das schweizerische Postwesen auf rationellere Grundlage zu stellen. […] Das Gesetz über das Zollwesen mit dem zu ihm gehörenden Tarife war wohl der Gegenstand der Verhandlungen der Bundesversammlung, auf dessen Erledigung das schweizerische Volk mit am meisten Spannung harrte. Die Freihandelsmänner werden in demselben ihr theoretisches System in seiner Reinheit nicht finden, und in demselben Falle werden auch ihre Gegenfüssler, die Protektionisten, sein. Es würde sich daraus ergeben, dass die Bundesversammlung einen Mittelweg eingeschlagen hat. Mittelwege sind als solche freilich durchaus nicht immer empfehlenswert. Aber dass die Bundesversammlung in 101

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der Zollfrage doch den rechten Pfad gefunden hat, glaube ich aus der grossen Mehrheit schliessen zu dürfen. Dem Gesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege ist zwar, gemäss der geringen Ausdehnung, welche die Kompetenz des Bundesgerichtes wenigstens zur Zeit noch hat, vorderhand ein grosser Wirkungskreis nicht beschieden. Hoffentlich wird sich dieser Wirkungskreis dermassen bewähren, dass der in der Bundesverfassung liegende Keim, der eine weitere Zentralisierung der Rechtspflege zulässt, ein fruchtbares Erdreich findet. Das Budget, wie das der Bundesversammlung vorgelegt wurde, hatte mannigfaches Erstaunen und ein nicht zu verkennendes Missbehagen bei der schweizerischen Bevölkerung hervorgerufen. Nachdem es nunmehr gesichtet und in eine klare richtige Form gebracht worden ist, dürfte die Anfechtung geringer sein. Immerhin darf als Gewinn angesehen werden, dass der Bund für die Deckung seiner ordentlichen Ausgaben nicht an die Kantone gewiesen worden ist, sondern selbständige, von den Kantonen unabhängige Einnahmequellen hat. Von den (aussen-)politischen Fragen hat eigentlich einzig die Angelegenheit der von einigen Kantonen mit Neapel abgeschlossenen Militärkapitulationen die Bundesversammlung beschäftigt. Es stellte sich heraus, dass es mit dem Begriffe und dem wahren Wesen der schweizerischen Neutralität unvereinbar sei, wenn einige Kantone einem Staate Truppen zur Verfolgung irgend welcher Zwecke zukommen lassen. Richten wir, bevor wir uns die Hand zum Abschiede drücken, noch unseren Blick über die Schweizergrenzen hinaus, so können wir uns nicht verhehlen, dass der politische Horizont sich immer mehr um­ düstert und die Reaktion, trotz des heldenhaften Widerstandes der Völker, fortwährend mehr Boden gewinnt. Ja, Tit., seit dem denkwürdigen Erwachen der Völker im verflossenen Jahre sind manche Hoff­ nungen getäuscht, manche Erwartungen nicht erfüllt worden. Ob aber auch alles wanke, die Schweiz wird, so Gott will, feststehen. Die Schweiz hat vor dem Ausland nicht gezittert als die Fürsten ihre Throne noch ganz sicher glaubten und als die Schweiz im Inneren zerrissen, sogar im Krieg begriffen war. Sie wird sich noch weniger vor 102

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dem Ausland erheben, nachdem die Fürsten ihre Throne wanken gesehen haben und da die Schweiz dem Ausland gegenüber nunmehr einig dasteht. Ja, Tit., ich glaube es sagen zu dürfen, dass die Schweiz dem Ausland gegenüber einig dasteht. Tit., der Wille des schweizerischen Volkes in Betreff der von der Schweiz gegenüber dem Ausland zu beobachtenden Politik kann Ihnen nicht zweifelhaft sein. Dieser Wille geht dahin, dass die Schweiz sich nicht ohne Noth in auswärtige Händel einmischen, dass sie aber, wenn ihr vom Ausland in irgend einer Weise zu nahe getreten werden wollte, dies mit aller Entschiedenheit und unter Anwendung aller der Schweiz zu Gebote stehenden Kräfte zurückweisen sollte. An dieser volksthümlichen Politik, sage ich, hat die oberste Bundesbehörde bis jetzt festgehalten. Ich hoffe, dass sie ihr auch ferner treu bleiben werde. Nehmen Sie mit meinem warmen Danke die Versicherung entgegen, dass die Erinnerung an Sie tief in mein Herz eingegraben sein wird und genehmigen Sie meine Bitte, mich hinwieder Ihrem freundlichen Andenken empfohlen sein zu lassen. Ich erkläre die ordent­ liche Sitzung des schweizerischen Nationalrathes vom Jahre 1849 bis zum 12. Wintermonat [November] dieses Jahres für vertagt.» Wegen eines Truppenzusammenzuges (Mobilmachung als Folge kriegerischer Ereignisse im süddeutschen Baden und Drohungen Preus­sens) kam es dann aber zum 1. August 1849 zu einer Einberufung der Bundesversammlung, «die nach Meinung eines Ständerathes aus der östlichen Schweiz hätte vermieden werden können, wenn man dem Bundesrath Ende Juni weitere und umfassendere Vollmachten als nur bis zu einem Aufgebot von 5000 Mann ertheilt hätte. Eine andere Frage ist es, ob gerade die Aufstellung einer Armee von 24 000 Mann, eine für die Schweiz ganz ausserordentliche Massnahme, durch die Zeitumstände gerechtfertigt war.» (14. 8. 1849) Offenbar wollte der Bundesrat mit dieser grossen Mobilmachung die neue Eidgenossenschaft demonstrieren. Zur Eröffnung der Wintersession am 12. November 1849 hielt Alfred Escher als Nationalratspräsident wieder eine grosse Rede, in der er sich ausführlich mit Stimmungen in der schweizerischen Öffentlichkeit 103

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auseinandersetzte. «Es ist gerade ungefähr ein Jahr verstrichen, seit die neue Bundesverfassung das Grundgesetz der Eidgenossenschaft geworden ist. Unwillkürlich muss sich da den Stellvertretern des schweiz. Volks die Frage aufdrängen, wie sich die neuen Bundeseinrichtungen bewährt haben. Es braucht aber die Frage nur aufgestellt zu werden, damit man sich sofort davon überzeugt, dass sie gegenwärtig noch nicht beantwortet werden kann. Von Erfahrungen mit den neuen Einrichtungen kann noch keine Rede sein. Es kann aber nach der Stimmung gefragt werden, welche sich in unserem Volk in Betreff der umgestalteten Bundesverhältnisse kund gebe. Und obschon solchen Eindrücken und solchen Stimmungen weniger Bedeutung beigemessen werden darf, so verdienen sie doch Beachtung. Wie begegnen hier vor Allem der Behauptung, die man oft aufstellen hört und die geht dahin, es lassen die neuen Bundeseinrichtungen unser Volk ganz kalt; es empfinde nicht die mindeste Theilnahme für dieselben; das einzige Gefühl, welches es etwa für sie habe, sei das der unbedingten Gleichgültigkeit. Das Wahre an dieser Behauptung dürfte darin liegen, dass sich gegenwärtig im Volk allerdings eine gewisse Abspannung in politischen Dingen bemerkbar macht, und zwar nicht nur bezüglich der Bundesangelegenheiten, sondern im gesamten öffentlichen Leben. Man gefällt sich oft in dem Vorwurfe, es gebreche der Gegenwart an jeglicher schöpferischer Kraft in dem Gebiete des öffentlichen Lebens. Aber wir behaupten, dass die Reform der Bundesverhältnisse weit grössere Kraftanstrengungen als die früheren Kantonalreformen erfordert haben. Die Abspannung, die sich mitunter zeigt, ist also nicht etwa ein Zeichen ohnmächtiger Erstarrung unserer Zeit, sondern gerade eine Folge der mächtigen schöpferischen Kräfte. Sie darf nicht als ein Beweis der Gleichgültigkeit unserer Volkes für die Umgestaltung der Bundesverhältnisse angesehen werden; sie ist im Gegenteil das natürliche Ergebnis der ausserordentlichen Theilnahme, welche das Schweizervolk für die Erstrebung einer besseren Bundesverfassung in so erhebender Weise bewährt hat. Aber, meine Herren, es zeigt sich doch nicht überall eine solche Theilnahmslosigkeit. Wir finden auch viele Mitbürger, die ihr Interesse für die weitere Entwicklung unserer Bundesverhältnisse nicht im 104

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mindesten erkalten liessen, sondern die vielmehr das an dem unerschütterlichen Glauben an eine bessere Gestaltung des Gesamtvaterlandes entzündete ruhige Feuer der Überzeugungsfreudigkeit den Jubel des Verkündigungstages überdauern liessen. […] Sodann haben unsere neuen Bundeseinrichtungen, warum sollte ich nicht die ganze Wahrheit sagen, auch ihre erklärten, offenen und unversöhnlichen Feinde. Es sind diejenigen, die von jeher jeglichem Fortschritt in kantonalen wie im Bundesleben gram waren, diejenigen, die den konfessionellen Hass heraufbeschworen und damit die gesunde Entwicklung des schweizerischen politischen Lebens im Keime stören. Wir kennen sie alle, diese eingefleischten Feinde unseres wiedergeborenen Gesamtvaterlandes: mögen wir nie vergessen, meine Herren, dass wir sie kennen ! […]» (NZZ als Beilage Nr. 321, 14. 11. 1849)

Der Ständerat Am 27. 11. 1849 erschien in der NZZ ein Artikel «Über die Stellung des Ständerathes». «Man werfe ihm vor, er sei unthätig und mittel­ mässig. Das treffe nicht zu, auch wenn es in der vergangenen Woche keine Plenarsitzungen gegeben habe, waren die Kommission in voller Thätigkeit. Aber er habe in kurzer Zeit zahlreiche prominente Mitglieder [an den Bundesrat und den Nationalrat] verloren. Dazu kommt, dass man von Anfang an dem Ständerath nicht die ihm gebührende Stellung hat anweisen wollen. In den Vereinigten Staaten von Amerika hat der Senat eine sechsjährige Amtszeit und er teilt sich mit dem ­Repräsentantenhaus die gesetzgebende Gewalt. Bei uns werden die Mitglieder des Ständerathes von den Kantonen auf beliebige Weise gewählt, auf ein Jahr, ein halbes Jahr, auf eine Sitzung usw. Der Ständerath steht in jeder Beziehung dem Nationalrath nach. Daher hält man es für eine grössere Ehre, im Nationalrath zu sitzen und lässt sich aus dem Ständerath in den Nationalrath befördern. Deshalb ziehe der Nationalrath die ausgezeichnetsten Staatsmänner der Kantone an. Wie die Sachen jetzt stehen, so ist es dem Nationalrath möglich, alle anderen Organe des Bundes zu dominieren. In der Bundesversamm105

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lung bildet er die grosse Mehrheit und so gibt es nur zu viele Leute, die im Bundesrath nichts anderes als eine Kommission des Nationalrathes sehen. Es ist gewiss nicht gut, dass eine einzige Behörde alle Gewalt im Bunde absorbieren könne. Das amerikanische System hat sich durch die Erfahrung so sehr bewährt, dass man dasselbe füglich zur Nachahmung empfehlen kann. Für den Ständerath wäre es besser, wenn die Kantone ihre Abgeordneten durch alle Akivbürger für die gleiche Amtsdauer wählen lassen würden, das nach der Bundesverfassung auch geschehen kann.»

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Register ausgewählter Personen

Ausführliche Angaben zu den Nationalräten, den Ständeräten und den Ratspräsidenten finden sich in der Arbeit von Urs Marti, «Zwei Kammern – ein Parlament», Frauenfeld 1990, und bei Erich Gruner, «Die Schweizerische Bundesversammlung 1848–1920», 2 Bde., Bern 1966. Angaben zu den Bundesräten liefert u. a. Urs Altermatt (Hrsg.), «Die Schweizer Bundesräte. Ein biographisches Lexikon», Zürich 1991. Die Schreibung der Namen folgt im Wesentlichen dem Historischen Lexikon der Schweiz (HLS).

Ador Gustave, GE, lib. StR 1878–1880, dem. NR 1902–1917, Präs. NR 1901-1902, BR 1917–1919  237, 249 f., 270, 295 Alméras [Alméraz] Alexandre-Félix, GE, rad. NR 1848–1854, StR 1860–1862  86, 93, 95, 97 ff., 114 Anderwert [Anderwerth] J. Fridolin, TG, dem. NR 1847–1863, Präs. NR 1870, BR 1875–1880  172, 180 Bavier Simeon, GR, rad. NR 1863–1878, BR 1879–1883  174 Blanchenay Louis, VD, rad. NR 1848–1860  86, 95, 98 f. Blumer Johann J., GL, lib. StR 1848–1874, Präs. StR 1853–1854; 1860–1861 u. 1867–1868  129, 140

Blumer Eduard, GL, dem. StR 1877–1888, NR 1889–1925  317, 336, 383 Blumer Othmar, ZH, rad. StR 1890–1900, Präs. StR 1896–1897 275, 285 Briatte François, VD, rad. StR 1848–1853, 1856–1862 und 1864–1867, Präs. StR 1848–1849, 1852–1853 u. 1856–1857  80 f., 83, 91 Brüstlein Alfred, BS, soz. NR 1902–1911  310, 330 f., 354 f. Comtesse Robert, NE, lib. NR 1883–1899, Präs. NR 1893–1894, BR 1899–1912  238, 292, 310, 325, 327, 334, 342 Curti Theodor, SG, NR 1881–1890, dann ZH, dem. NR 1890–1896, 401

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dann SG, soz. NR 1896–1902 190, 209, 261 ff., 267, 293, 301 Decurtins Caspar, GR, kk. NR 1881–1905  240, 255, 293, 304, 315 Deucher Adolf, TG, dem. NR 1869–1883, Präs. NR 1882–1883, BR 1883–1912  191 f., 203, 214, 249, 271, 292, 306, 310, 334 Droz Numa, NE, rad. StR 1872–1875, Präs. StR 1875, BR 1876–1892 172, 194, 236, 241 Dubs Jakob, ZH, lib. NR 1848–1854, rad. StR 1854–1861, Präs. StR 1856, BR 1861–1871  109, 133, 153, 232, 290 Dufour Guillaume-Henri, BE, rad. NR 1848–1854, dann GE, dem. NR 1854–187, ref.-kons. StR 1862–1866  35, 84, 91, 94, 98, 250 Dürrenmatt Ulrich, BE, NR 1902–1908  310, 313 f., 318 Escher Alfred, ZH, lib. NR 1848–1882, Präs. NR 1849, 1856, 1862  40, 51, 85 f., 90, 92, 97, 101, 103, 107, 111, 122, 141, 195, 201 (Escherdenkmal), 221 Fazy James, GE, rad. StR 1848–1857, NR 1857–1866  83, 117, 337, 368, 399 Forrer Ludwig, ZH, dem. NR 1875–1903, Präs. NR 1895, BR 1903–1917  243, 247, 263, 270 f., 320, 328, 334, 365, 378

Frey Emil, BL, rad. NR 1872–1891, Präs. NR 1876, BR 1891–1897 158, 227, 235, 276, 375 Frey-Herosé [Frei-Herosé] Friedrich, AG, rad. NR 1848, BR 1848–1866 96, 98 Fuog Johann, SH, lib. NR 1850–1860 114 Furrer Jonas, ZH, lib. StR 1848, NR 1851, 1854, 1857, 1860, Präs. StR 1848, BR 1848–1861  78, 80, 96, 108, 153, 217, 239 Gallati Rudolf, GL, rad. NR 1887–1904  288 ff. Göttisheim Christian Friedrich, BS, rad. StR 1881–1896, Präs. StR 1891  209, 211, 268 Greulich Herrmann, ZH, soz. NR 1902–1905 u. 1908–1925 310, 316, 320, 323, 330, 366, 374, 381, 397 Grimm Robert, ZH, soz. NR 1911–1919, dann BE, soz. NR 1920–1955  366, 368, 384 Häberlin Heinrich, TG, rad. NR 1904–1920, Präs. NR 1918, BR 1920–1934  249, 331, 353, 383 Hautle Johann Nepomuk, AI, kk. NR 1848–1857  250 Hertenstein Wilhelm Friedrich, ZH, lib. NR 1872–1878, BR 1879–1888 210, 213 Hilty Carl, SG, rad. NR 1890–1909 261, 267, 318, 351

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Hoffmann Arthur, SG, rad. StR 1896–1911, BR, 1911–1917 332, 363 ff., 375, 380 Hoffmann Joseph Marzell, rad. NR 1848–1866  86, 95, 98 Hoffmann Karl, rad. StR 1873–1890, Präs. StR 1877–1878  157, 168 Huber Eugen, BE, rad. NR 1902–1911  318, 341, 368 Hungerbühler Matthias., SG, rad. NR 1848–1875  79, 85, 92 f., 95, 97, 99 Joos Wilhelm, SH, dem./soz. NR 1863–1900  51, 197, 248, 284, 286, 344 Kaiser Simon, SO, rad. NR 1857–1887  166, 180, 210 Kappeler Johann Karl, TG, lib. StR 1848–1881, Präs. StR 1851–1852, 1854–1855, 1872 u. 1881. 83, 109, 148, 158 Keller Augustin, AG, lib./rad. StR 1848 u. 1867–1881, Präs. StR 1871, NR 1854–1866  118, 145, 166, 169, 305 Lachenal Adrien, GE, rad. StR 1881–1884, NR 1884–1892, BR 1893–1899  237, 286, 312, 330, 384 Motta Giuseppe, TI, kk. 1899–1911, BR 1912–1940  384 Muheim Gustav, UR, kk. NR 1905–1911, StR 1877–1901, Präs. StR 1891  255, 336 f.

Munzinger Josef, SO, rad. StR 1848, BR 1848–1855  108, 268 Munzinger Oskar, SO, rad NR 1879–1884, StR 1884–1917 355, 385 Naeff [Näff] Wilhelm M., SG, rad. NR 1848, BR 1848–1875  80, 91 f. Ochsenbein Ulrich, BE, rad. NR 1848 u. 1851, Präs. NR 1848, BR 1848–1854  79, 81, 85, 97, 129 Page Jean-Joseph, FR, rad. StR 1848–1851  80 f. Pfyffer Kasimir, LU. lib. NR 1848–1863, Präs. NR 1854–1855 86, 134 Pioda Giovan Battista, TI, rad. NR 1848–1857, BR 1857–1864 131 ff. Römer Melchior, ZH, lib. NR 1872–1887, Präs. NR 1878 171, 173 Ruchonnet Louis, VD, rad. NR 1866–1881, BR 1881–1893 196, 236, 241, 290 Schenk Carl [Karl], BE, rad. StR 1857–1863, BR 1863–1895 147, 160, 170, 172, 191, 201, 243, 255, 257, 261 ff., 267 Schobinger Josef A., LU, kk. NR 1888–1908, Präs. NR 1904–1905, BR 1908–1911  290, 312, 332 403

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Schulthess Edmund, rad. StR 1905–1912, BR 1912–1934  341, 365, 380, 387, 392 Segesser Philipp A., von, LU, kk. NR 1848–1888  149, 191 f. Sidler Georg J., ZH, lib. NR 1848–1861  14, 75, 84, 129, 135, 138 Spahn Carl, SH, rad. NR 1900–1919 397 Stämpfli Jakob, BE, rad. NR 1848–1854 u. 1875–1879, Präs. NR 1851, 1875, BR 1855–1863 85, 91 ff., 99, 111, 162, 201 f. Stockmar Xavier, BE, lib. NR 1848, 1854  95 ff., 98 f. Trog Johann Jakob, SO, lib. NR 1848–1857  85, 86, 93, 97 Vigier Wilhelm, SO, rad. StR 1856–1886, Präs. StR 1862–1863 u. 1882–1883  142, 158, 193 Welti, August, Redaktor NZZ  242 Welti Fr. Emil, AG, rad. StR 1857–1866, Präs. StR 1860 u. 1866,

BR 1867–1891  153, 167, 210, 230, 241 Wirz Theodor, OW, kk. NR 1871–1872, StR 1872–1901, Präs. StR 1884–1885  14 f., 44, 196, 203, 205, 207, 209, 211, 249, 255, 269, 277, 279 f., 285 Zemp Josef, LU, kk., StR 1871–1872, NR 1872–1876 u. 1881–1891, NR Präs. 1887, BR 1891–1908 41, 63, 207, 212, 214, 230, 252, 255, 283, 287, 292, 305, 310, 325, 327, 334, 337

Abkürzungen BR Bundesrat dem. demokratisch kk. katholisch-konservativ lib. liberal NR Nationalrat Präs. Präsident rad. radikal ref.-kons. reformiert-konservativ soz. sozialdemokratisch StR Ständerat

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