Walter Hollstein: Das Gaeren im Volksbauch. Warum die Rechte immer stärker wird.

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DAS GÄREN IM VOLKS BAUCH WALTER HOLLSTEIN

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Die Welt ist in Aufruhr. Immer häufiger bricht der Ausnahmezustand in Form von Klimakatastrophen, Anschlägen, Amokläufen oder Wirtschaftskrisen in den Alltag ein. Diese Erfahrung droht inzwischen zur Normalität zu werden. Als Folge empfinden die Menschen zunehmend Unsicherheit und Angst, aber auch Wut und Frustration darüber, dass sich nichts ändert. Den gewachsenen Protest versucht man, unter dem Begriff des Populismus zusammenzufassen. Damit setzt sich das vorliegende Buch kritisch auseinander. Der Autor hat Gespräche und Interviews geführt, populäre Zeitungsartikel und SocialMedia-Posts analysiert, um zu verstehen, was im Empfinden der Menschen gärt und sich politisch ankündigt.

ISBN 978-3-03810-477-3

www.nzz-libro.ch

NZZ LIBRO

Walter Hollstein ist Professor für politische Soziologie i. R. in Berlin, Gutachter des Europarats für soziale Fragen, Träger des Deutschen Sachbuchpreises und Verfasser mehrerer Bestseller zu Protestbewegungen, Nahost, Geschlechterkampf u. a. Sein letztes Buch Was vom Manne übrig blieb. Das missachtete Geschlecht erschien 2012. Er lebt in der Region Basel.

WALTER HOLLSTEIN

DAS GÄREN

IM VOLKS

BAUCH WARUM DIE RECHTE IMMER STÄRKER WIRD

NZZ LIBRO

Katastrophenalarm? Mehr als das: Die Welt steht seit Jahren im Katastrophenmodus. Dauerhaft und ohne Unterbrechung. Auch die Natur beginnt sich den Menschen buchstäblich zu entziehen. Immer mehr schauen skeptisch in die Zukunft; zwei Drittel der Befragten glauben nicht einmal mehr an die Zukunft der Zukunft. Die einst erhoffte Bewegung zur grossen friedlichen Weltgesellschaft sieht niemand mehr. Stattdessen wenden sich viele Menschen in die Vergangenheit oder politisch nach rechts. Warum das so ist, erklärt dieses Buch – ebenso die gefährlichen Konsequenzen aus dieser Entwicklung.


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlag und Autor danken der Gemeinde Biel-Benken für die Unterstützung dieses Buches.

© 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG Lektorat: Ulrike Ebenritter, Giessen Umschlag: TGG Hafen Senn Stieger Gestaltung, Satz: Gaby Michel, Hamburg Druck, Einband: Finidr, Česky TěŠín Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. ISBN 978-3-03810-477-3 ISBN E-Book 978-3-03810-483-4 www.nzz-libro.ch NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

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Inhalt

Vorbemerkung: Der Gang der Dinge  7 Einleitung: Keine angenehmen Zeiten. Zur Diagnose der Gegenwart  14 I  Überall Durcheinander 23

Auf nichts ist Verlass. Der Verlust des Selbstverständlichen  26 Gärungsprozesse im Volksbauch. Ein Unbehagen outet sich  38 Zu Hause heimatlos? Wie Umgebung fremd wird  51 Explosion des Fremden. Wie Flüchtlinge die Gesellschaft verändern  61 Zwischen gestern und morgen. Der neue Geschwindigkeitstakt des sozialen Wandels  78 Viel zu viel und trotzdem mehr. Optimierungszwänge der Gegenwart  83 Abschied aus Einsicht? Über Selbsttötungen aus Epochenverzweiflung  89 II  Verwischte Grenzen 94

Politik ohne Volk. Die schleichende Entmachtung des Souveräns 96 Mutter Staat  110 Die soziale Frage in neuer Gestalt  113 Das Ende der Scham  119 Explosion der Gewalt. Wie sich unser Alltag verändert  125 Der entwertete Mann  132 Der etwas andere Aufschrei. «Male bashing» und die Folgen  143 Spaltpilze. Die Folgen der Identitätspolitik  149

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III  Neu-alte Orientierungen 155

Warum die Rechte immer stärker wird  157 Der Blick zurück. Eine andere Welt  171 Glück ist keine Glückssache  176 Licht in der Liebesverwirrung  181 Mut und Charakter in der verkehrten Welt. Was es für die Zukunft braucht  186 Bibliografie 199

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Vorbemerkung: Der Gang der Dinge

Die Welt ist in Aufruhr. Immer häufiger bricht der Ausnahmezustand in den Alltag ein, und diese Erfahrung droht zur Normalität zu werden. Man geht über den Weihnachtsmarkt und gerät in einen Amoklauf; man steht auf dem Bahnsteig und wird unter den Zug gestossen; man ist auf einem Spielplatz und tritt auf eine blutige ­Kanüle, die sich dann im Spital als HIV-positiv erweist. Die Welt scheint aus den Fugen oder ist es sogar. Wirklichkeit hat sich in kürzester Zeit radikal verändert. Nichts ist mehr, wie es war. Viele Menschen sehen sich in Unsicherheit, Angst, aber auch in Wut und Frustration, wie viele Untersuchungen mannigfach belegen. Besorgniserregend für den Gesamtzustand des Gemeinwesens ist dabei vor allem das Verschwinden des Vertrauens in Institutionen, Verbände, Politik und Gesellschaft. Viele haben das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Das führt sozial und politisch zu starken Verwerfungen, zu Unordnung in der Politik und zur sozialen Segmentierung. So sprechen denn Diagnostiker von einer Zeitenwende oder ­einem epochalen Umbruch. In einer Anthologie über die geistige Si­tuation der Zeit resümiert der Politologe Ivan Krastev, dass wir uns in einer «Kehrtwende» befänden. «Die nach 1989 entstandene Welt löst sich auf, und der dramatischste Aspekt dieser Transformation ist nicht der Aufstieg autoritärer Regime, sondern die Veränderung demokratischer Systeme in vielen westlichen Ländern.» Der kon­ tinuierliche Weg zum Fortschritt und zur friedlichen Weltgesellschaft – wie über Jahrzehnte als nachgerade selbstverständlich pro­ gnostiziert – ist nicht nur unterbrochen, sondern offensichtlich so­gar rückläufig: Involution statt Evolution. Zukunftsdiskussionen, grosse Pläne, Utopien gehören der Vergangenheit an. Der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel no7

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tiert, dass es in den meisten demokratischen Gesellschaften Politikern und politischen Parteien nicht mehr gelingt, grosse und allgemein bedeutsame Fragen aufzugreifen – insbesondere Fragen, die Ethik und Werte betreffen und unser aller Perspektiven. Dementsprechend – so Sandel – sei es ein auffälliges Merkmal des heutigen Lebens, dass die Bürger fast überall – und aus guten Gründen – von der Politik frustriert sind. Zukunft ist nun weithin negativ besetzt; an der Universität Cambridge gibt es sogar ein Institut, das sich mit dem Ende der Menschheit beschäftigt. Angesichts dessen sehen einflussreiche Intellektuelle wie zum Beispiel Noam Chomsky nur noch die krasse Alternative von Kampf oder Untergang – so der Titel seines neusten Buches. Der Wind hat sich gedreht – und er weht nicht mehr von links. In der Aktualität sind mittlerweile die rechten Parteien. Das war vorbereitet und wird begleitet vom Aufstieg konservativen Denkens. Ein Mentalitätswandel wird konstatiert, der von einer erstaunlichen Vergangenheitsorientierung geprägt ist. Diese Nostalgie lässt sich erklären über den Mangel an Zukunftsentwürfen und über die Hilflosigkeit vor Katastrophenszenarien unvorstellbaren Ausmasses. Letztere betreffen demografische Prognosen, die vor einer «Muslimisierung» von innen ebenso warnen wie vor einer «Völkerwanderung» von aussen. Hinzufügen muss man die zu erwartenden Turbulenzen aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung. Am bedrohlichsten erscheint der Klimawandel. Er bewirkt, dass gegenwärtig eine Million Arten vom Aussterben bedroht sind. Satellitenbilder zeigen im Juli 2019 ungeheure Brände in der Arktis. Wenn aber das Eis erst einmal geschmolzen ist, beginnt der Nordpol die Erde aufzuheizen, statt sie zu kühlen. David Wallace-Wells hat in seinem Buch The Uninhabitable Earth zu beschreiben versucht, was dieses Szenario bedeutet: Hitzetod in den Städten; Kollaps der Le8

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Vorbemerkung: Der Gang der Dinge

bensmittelversorgung; Massenflucht vor den Überschwemmungen der Küsten. Der Innenblick auf die Gesellschaft dokumentiert die Erosion von Zusammenhalt und Solidarität. David Goodhart hat in seinem aufsehenerregenden Buch The Road to Somewhere über die englische Gesellschaft einen tiefen Riss konstatiert. Er trennt die Menschen in Anywheres und Somewheres. Anywheres sind die «metropolitans», kosmopolitisch, häufig Expats, heute hier und morgen da; sie definieren sich nicht mehr über nationale Grenzen oder regionale Gemeinsamkeiten; ihre Identität erwächst einzig aus ihren internationalen Biografien, individuellen Fähigkeiten und den wechselnden Anforderungen des globalen Marktes. Somewheres sind die «Alteingesessenen», die noch auf Heimat und Vaterland pochen, traditionalistisch sind und «verwurzelt» – nicht nur in der «Scholle», sondern auch in den althergebrachten Sitten und Gemeinsamkeiten. Nicht nur Goodhart, sondern auch James David Vance oder Mark Lilla und Russell Hochschild schildern den Dünkel der Anywheres gegenüber den Some­wheres, das Fehlen von Empathie, Verantwortung und Anerkennung der Ersteren für die Letzteren. Hillary Clinton hat diese Menschen als «deplorables», als erbärmliche, bezeichnet. Emmanuel Macron hat sich schnöselig über sie lustig gemacht. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung belegt, dass die Angst vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft inzwischen weitaus grösser ist als die vor einer Zunahme von Kriminalität und Terror. Das gilt auch für andere Staaten: Weltweit sorgt sich eine grosse Mehrheit um den Verlust des einstigen Gefühls von Zusammengehörigkeit und gemeinsamer Verantwortung. Chantal Mouffe ortet eine «tiefe Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung». «Die Leute glauben nicht mehr, was die Medien und herrschenden Parteien ihnen vorlügen», heisst es in einem Internet-Beitrag. 9

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«Zwar kann die Regierung versuchen, die Demonstrationen zu verbieten und zur Not alles niederzuknüppeln, aber das wird ein Bumerang. Die meisten wollen ihr Land zurück und in ihrem Land nach ihren Vorstellungen leben.» Pankaj Mishra spricht vom «Zeitalter des Zorns», und David Goodhart bemerkt pointiert, dass der Populismus als Erfolgsmodell die alte Sozialdemokratie abgelöst habe. Grundsätzlich lässt sich ein Malaise an der gegenwärtigen Politik benennen, das nicht einfach in Schubladen von Rechtsextremismus, Faschismus gar, Rassismus oder Pöbelei versorgt werden darf. Alles Unerwünschte wird heutzutage schnell mit solchen Etiketten des Unanständigen versehen, damit man es gar nicht erst überprüfen und diskutieren muss. Die so Gescholtenen lassen sich dann leicht ausgrenzen. Tatsächlich ist in den vergangenen Jahren die Political Correctness immer enger gezogen worden. Grundsätzlich gilt es festzustellen, dass etwas, das als rechts etikettiert wird, nicht a priori schlecht sein muss, nur weil ihm diese Etikette aufgestülpt wurde. Genauso wenig, wie per se gut ist, was sich als links geriert. Erst sollten die Inhalte daraufhin geprüft werden, ob sie vorwärts- oder rückwärtsgewandt sind. Wobei sich dann heute wiederum die Frage stellt, ob angesichts der gegebenen Verhältnisse rückwärtsgewandt nicht sogar vorwärtsgewandt sein kann. In dieser für den Einzelnen so intransparent gewordenen Welt von heute stiftet Rückbesinnung offenbar Orientierung für viele. Umgekehrt – so monieren einige zeitkritische Autoren – befördern fatalerweise vor allem Bewegungen, die sich selber als fortschrittlich ausgeben, wie zum Beispiel der Feminismus oder die «Multi­kultis», jene gesellschaftlichen Trends, die ganz im Sinne der globalisierten «Kapitalkräfte» sind. Letztlich stehen sie damit im Einklang mit dem Neoliberalismus, den sie zu bekämpfen vorgeben. Das ist wohl bedenkenswert, auch wenn es sich wenig nett liest. 10

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Vorbemerkung: Der Gang der Dinge

Mit Sicherheit wird man genau hinschauen müssen, was legitime Kritik ist, wo sich das mit Rassismus vermischt oder dahin gänzlich abgleitet. Wer Konzentrationslager fordert, Hitler lobt oder rassistische Muster vertritt, muss Nazi oder Faschist genannt werden und ist rechtsextrem; wer für traditionelle Werte einsteht wie Fleiss und Anständigkeit, möchte, dass seine Heimat nicht verschandelt wird, und für nationale Grenzen votiert, mag für den liberalen Zeitgeist rechts sein, ist aber de facto einfach konservativ. Etikettierungen werden heute aus einem liberalisierten Milieu heraus vorgenommen, das einigermassen autoritär dekretiert, was nun angeblich richtig ist und was falsch. Richtig sind in diesem Verständnis Globalisierung, offene Märkte und noch offenere Grenzen, Kosmopolitismus, Diversität, Multikulturalismus, unfixierte Beziehungen bis zur Polyamorie, Lob des Seitensprungs, gleichgeschlechtliche Ehe, Gender Mainstreaming – um nur gerade einiges zu benennen. Zu den diffamatorischen Etiketten zählt seit Kurzem auch der Begriff des Populismus. Laut Duden ist Populismus eine «von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen […] zu gewinnen». Das allerdings dürfte auch für fast alle Parteien gelten, für Greta Thunberg, für Boris Johnson und Donald Trump allemal. Eine Prise Populismus – so monieren Kritiker – gehöre zu jeder erfolgreichen Politik. Zudem ist der Begriff analytisch wenig hilfreich. Selbst definitionseifrige Institutionen wie die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung kapitulieren vor einer genauen Begriffsbestimmung. Dass Populismus ein so vieldeutiger Begriff ist, findet indes Oliver Decker richtig prima: «Gerade das könnte ihn zu einem analytisch starken Begriff machen, denn der Gegenstand, den er beschreibt, ist selber schillernd.» Wie das nun gehen soll, verrät Decker allerdings nicht. 11

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Sinnvoller ist, sich weniger an diesem Begriff zu orientieren als an den Ursachen, die den Begriff so gängig gemacht haben. Cornelia Koppetsch meint in einer der wenigen sachlichen Studien zum The­ ­ma – trotz der vielen nachgewiesenen Plagiate –, dass der Aufstieg des Populismus eine aus «unterschiedlichen Quellen gespeiste Konterrevolution gegen die Folgen der Moderne» ist. Koppetsch im Übrigen verzichtet auf eine Definition des Begriffs, obwohl ihr Buch ihn im Titel trägt. Der vorliegende Text verwendet ihn erst gar nicht. Was in der Debatte bisher nicht so bedacht wurde, ist der Tat­ bestand, dass über die sozialen Medien neue Dimensionen der Autonomie entstanden sind – in Form einer Gegenöffentlichkeit und direkten Dauerkommunikation von unten. Niklaus Nuspliger notiert, dass je weiter sich Digitalisierung, Datenökonomie und künstliche Intelligenz entwickelten, desto grösser werde das demokratische Potenzial der Bürger. Diese neue Realität ist in diesem Buch zur Kenntnis genommen worden in Form von Leserbriefen, «hate speech» oder Tweets. Zudem wurde über diese «Kanäle» der Alltag systematisch beobachtet, aber auch über die Berichterstattung von Tageszeitungen und Periodika. Das ist eine Facette des Versuchs, das Phänomen vielfältigen Protests von unten zu verstehen statt über elaborierte Theorien und moralisierende Belehrungen. Dem Band liegen einige Hundert Gespräche zugrunde, geführt vor allem in Deutschland, der Schweiz und Österreich, spontan in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Kneipen, auf Parkbänken, im Café. Nach solchen Anfangskontakten wurde der informelle Austausch mit Personen, die interessiert waren, fortgesetzt und zum Teil mit «Tiefeninterviews» zur Bestätigung ergänzt. Erlebtes wurde einge­ arbeitet, auch biografisch Erfahrenes. Dieser subjektive Faktor bleibt 12

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Vorbemerkung: Der Gang der Dinge

nicht isoliert, sondern wird mit dem Zustand der bestehenden Gesellschaft in Verbindung gesetzt, wobei dann auch auf aktuelle Gesellschaftstheorien rekurriert wird. So entsteht eine einigermassen verlässliche Diagnose der Gegenwart. Wahrheit sitzt nicht unbedingt am Ort des Geschehens, sondern zumeist in viel weiteren Zusammenhängen. Das bemerkt Pierre Bourdieu in seinem dickleibigen Band über das Elend der Welt. Es ist wohl in diesen Tagen schwieriger geworden «Wahrheit» zu definieren und zwischen «Wahrheit» und «Unwahrheit» zu unterscheiden; auch was «fake» ist, gibt sich ja als «wahr» aus. Werner Seppmann prangert von marxistischer Seite das «manipulierte Bewusstsein» an und spricht im Rückgriff auf Georg Lukácz vom «Manipulationszeitalter». Insofern ist diese Studie bemüht, sich an die Empirie zu halten.

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Einleitung: Keine angenehmen Zeiten. Zur Diagnose der Gegenwart

Wo stehen wir? Das ist in unseren Tagen nicht einfach zu definieren. Schon 1985 hatte Jürgen Habermas von der «neuen Unübersichtlichkeit» geschrieben. 2017 konstatiert der Münchner Soziologe Ulrich Beck in seinem nachgelassenen Werk Metamorphose der Welt unser generelles Unverständnis gegenüber der radikal verwandelten Wirklichkeit. Die traditionellen Begriffe reichten nicht mehr aus, um die soziale Welt zu verstehen. Schaut man sich in der sozialwissenschaftlichen Literatur der Gegenwart um, gibt es dazu kaum Widerspruch. Auf nichts scheint mehr Verlass. Der Verlust alter Selbstverständlichkeiten ist ubiquitär. Uns fehlt die Orientierung, ein Kategoriensystem dazu, die Hermeneutik. Das ist auch die Diagnose von Zygmunt Bauman, der vor Kurzem – 92-jährig – in seiner Wahlheimat Leeds verstorben ist: «Wir haben heute das Gefühl, dass alle Hilfsmittel und Kunstgriffe zur Bekämpfung von Krisen und Gefahren, die wir bis vor kurzer Zeit noch für wirksam oder gar narrensicher hielten, ihr Verfallsdatum erreicht beziehungsweise überschritten haben. Und uns schwebt kaum noch etwas oder eigentlich gar nichts mehr vor, das an ihre Stelle treten könnte. Die Hoffnung, den Lauf der Geschichte unter die Vormundschaft des Menschen stellen zu können, ist mitsamt den sich aus ihr ergebenden Bestrebungen so gut wie verschwunden.» Also eine allgemeine geistige Müdigkeit, keine Fantasie mehr, sich Lösungen vorzustellen, eine Gesellschaft ohne Utopie, geistige Lethargie, stattdessen fleissige Ablenkung, um sich den entscheidenden Fragen nicht stellen zu müssen. Vergangenheit ist wieder in; Nostalgie statt Utopie. Fünfhundert Jahre nachdem «Thomas Morus dem jahrtausendealten Mensch14

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Einleitung: Keine angenehmen Zeiten. Zur Diagnose der Gegenwart

heitstraum von der Rückkehr ins Paradies […] den Namen ‹Utopia› gegeben hat», sei von visionärem Denken im positiven Sinn wenig übrig geblieben. Vielmehr dominiere das Rückwärtsgewandte, das Bauman im Begriff der «Retrotopia» fasst. Damit meint er «Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit.» Das hat Folgen: Wenn utopisches Denken fehlt, verlieren wir die Richtschnur, an der wir Wirklichkeit messen können, ihre Qualität oder ihre Nichtigkeit. «Offensichtlich – und daher zum erheblichen Schaden unseres Selbstvertrauens, Selbstbewusstseins und Stolzes – sind wir nicht diejenigen, die die Gegenwart bestimmen, aus der die Zukunft hervorgehen wird – und haben deshalb erst recht wenig bis gar keine Hoffnung, diese Zukunft in irgend­ einer Weise kontrollieren zu können. […] Welche Erleichterung ist es da, aus dieser undurchschaubaren, unergründlichen, unfreund­ lichen, entfremdeten und entfremdenden Welt voller Falltüren und Hinterhalte in die vertraute, gemütliche und heimatliche […] Welt von Gestern zurückzukehren.» Die gesellschaftlichen Gründe für den Verlust des Utopischen sind – schematisch benannt: Der Staat hat in der globalisierten Welt seine Prägungs- und Sanktionskraft verloren. So lässt auch die verpflichtende Kraft von Bindungen und Normen nach. Das fördert eine Zunahme der Gewalt und einen roheren Umgang im Zwischenmenschlichen. Einfluss basiert zunehmend auf Gruppenidentität; statt kollektiver Interessen herrschen individualisierte. Die Kleinlobbys agieren aber so, als repräsentierten sie die Gesamtgesellschaft. Obwohl sie die Meinungsfreiheit Andersdenkender einschränken, berufen sie sich perverserweise für ihre Egoismen auf die Menschenrechte. 15

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Das ist auch eine Kritik an der Identitätspolitik der vergangenen Jahre, wie sie heute zeitgenössische Philosophen formulieren – etwa der New Yorker Mark Lilla. Bauman erklärt: «Debatten in Glaubensfragen zielen nicht auf Konsens, sondern darauf, die Gegenseite als unheilbar taub und blind für die ‹Tatsachen› und von bösartigen Absichten getrieben hinzustellen. Die Zuschreibung übler Absichten macht den Beweis der eigenen Aufrichtigkeit überflüssig.» Diese autistische Haltung führt ins Verderben. Der Ausweg – durchaus pathetisch formuliert, und das mit viel Recht: «Entweder wir reichen einander die Hände oder wir schaufeln einander Gräber.» Der grosse deutsche Philosoph Ernst Bloch hat sein dreibändiges Hauptwerk einst mit dem Titel versehen: Das Prinzip Hoffnung. Was inzwischen zu einem geflügelten und etwas abgegriffenen Wort geworden ist, meint Fundamentales: Hoffnung strukturiert unser Leben und hält es aufrecht. Wer die Hoffnung verliert – so weiss die Suizidforschung –, bringt sich um. Hoffnung beantwortet die lebens­ wichtigen Fragen: Wer sind wir? Wo wollen wir hin? Das gilt in ­einem allgemeineren Sinn auch für die Gesellschaft als Ganzes. Ohne Programmatik und ohne Zukunftsentwurf sind Gesellschaften zur Stagnation verurteilt. Diese soziale Gesetzlichkeit hat der amerikanische Soziologe Lewis Coser einst so formuliert: «Eine Gruppe und ein System, die nicht mehr herausgefordert werden, sind nicht mehr zur schöpferischen Reaktion fähig. Sie können weiterexistieren, gekettet an das ewige Gestern der Präzedenzien und Traditionen, aber sie können sich nicht mehr erneuern.» Das dürfte heute wahrer sein denn je. Die Politik des Aussitzens und penetranten Abwartens ist keine deutsche Sonderheit, auch wenn sie in der Bundesrepublik besonders ausgeprägt erscheint. Weltweit hat Politik keine Antworten auf die brennenden Fragen der Epoche und keine Visionen, wie eine Zukunft besser und verlässlich 16

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Einleitung: Keine angenehmen Zeiten. Zur Diagnose der Gegenwart

ausschauen könnte. Sehnsüchte und Hoffnungen werden nicht mehr «bedient», wie es heute in der Politikersprache heisst. Das spüren die Menschen und verargen es auch deutlich den «Staatenlenkern». Beklagt wird das vollständige Fehlen von Zukunftsentwürfen, «die Leere der politischen Auseinandersetzung», der Fokus auf ökonomische Pragmatik zulasten von «Ethik und Werten», die Abgehobenheit des parlamentarischen Diskurses mit dem tristen Ergebnis, dass jene Fragen, «die den Menschen Sorge bereiten», gar nicht erst zur Sprache kommen. Selbst die Sozialwissenschaften, deren vornehme Aufgabe es einst war, neue Gesellschaftsentwürfe zu entwickeln, wirken steril angesichts der neuen Herausforderungen. Jede moderne Gesellschaft ist sozialem Wandel unterworfen; aber dieser Wandel hat sich bisher auf einem gesellschaftlichen Boden von Gewissheiten und Traditionen vollzogen. In unserer Gegenwart hingegen ändert sich das menschliche In-der-Welt-Sein grundsätzlich, denn nun wird stetig zur Wirklichkeit, was eben noch als undenkbar galt. Das macht für Beck «Metamorphose» aus. Sein Jenaer Kollege Hartmut Rosa will – nicht gerade bescheiden – eine ganz neue «Soziologie der Weltbeziehung» formulieren, um die Krise zu bewältigen. Dabei hat er den Anspruch «einer umfassenden Rekonstruktion der Moderne» als gesellschaftstheoretischen Grossentwurf. Der Schlüsselbegriff bei alledem ist: Resonanz. «Resonanzen sind Ergebnis und Ausdruck einer spezifischen Form der Beziehung zwischen zwei Entitäten, insbesondere z­ wischen einem erfahrenden Subjekt und begegnenden Weltausschnitten.» Dabei greift Rosa auf seine einstige Kritik der «Beschleunigung» zurück. Exakt diese Dynamik erschwere unsere aktuelle Welt­bezie­ hung. Die moderne Gesellschaft muss sich nach der Dia­gnose von Rosa «immerzu ausdehnen, […] wachsen und innovieren, Produk17

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tion und Konsumtion steigern […], um ihren formativen Status quo zu erhalten». Das führe für die Menschen nur konsequent «zu einer problematischen, ja gestörten oder pathologischen Weltbeziehung». Rosa macht das fest «an den grossen Krisentendenzen der Gegenwart», als da sind: ökologische Krise, Demokratiekrise und Psychokrise. Diese Triade untergrabe die menschlichen Möglichkeiten gelingender Resonanz und «führt zu einer kulturellen Selbstwahrnehmung, die durchaus Webers Konzeption eines ‹stahlharten Gehäuses› entspricht, das den Subjekten gleichgültig und oft genug feindlich gegenübersteht». Entfremdung werde dann zum Grundmodus der Weltbeziehung. Auch Andreas Reckwitz will eine Soziologie vorlegen, die den Anspruch hat, ganz neu zu sein: Die Gesellschaft der Singularitäten. Sein Buch erfreut sich des Lobes im gesamten deutschsprachigen Feuilleton, und dementsprechend hat sich der Titel auch jenseits der Fachwissenschaft zu einem Bestseller gemausert. Singularität ist für Reckwitz das «Besondere, das Einzigartige, also das, was als nicht austauschbar und nicht vergleichbar erscheint.» Jeder sei mittlerweile seine eigene Welt, seine «erfolgreiche Selbstverwirklichung». Oder – im einigermassen grässlichen Jargon von Reckwitz: Lebensverbindlich sei heute «die Norm der performativen Authentizität». Das nun will Reckwitz nicht nur als individuelles Verhaltensmuster sehen, sondern als soziale Gesetzmässigkeit. Seit vier Jahrzehnten transformiere sich die westliche Wirtschaft von «einer Ökonomie der standardisierten Massengüter zu einer Ökonomie der Singularitäten». Güter seien mit dem Label der Einzigartigkeit ausgerüstet. Ergo findet laut Reckwitz gegenwärtig «eine Neukonfiguration der Formen der Vergesellschaftung» statt: «Die soziale Logik der Singularitäten erlangt eine strukturbildende Kraft.» Da lässt sich fragen, wie weit Reckwitz noch zwischen Werbung 18

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und Realität zu unterscheiden vermag. Im Zeitalter der Globalisierung – so eigentlich der Tenor aktueller Gesellschaftskritik – sind Güter, Medieninhalte oder Verkehrsmittel immer uniformer geworden. Je globalisierter die Welt gerät, desto einheitlicher und monotoner wird sie. Beispiele sind der Massentourismus, die Verdichtung im Wohnen, Super- und Hypermärkte, Grossevents, die immer grös­ ­ser werden, die zunehmende Videoüberwachung und ein Verhalten, das von Algorithmen bewertet wird. In seinem Buch Die smarte Diktatur kommt denn Harald Welzer auch zu einer diametral entgegengesetzten Diagnose wie Reckwitz. Das Private verschwinde; proportional dazu wachse die Fremdsteuerung. Mittlerweile fielen Konsum und Überwachung zusammen. Der gepriesene Individualismus unserer Tage sei nichts anderes als eine Schimäre – sehr gefährlich im Übrigen. «Das Leben in der Ich-­ Bubble aber ist nicht individualisierend, sondern typisierend.» Mit den Daten nimmt es Welzer allerdings ebenfalls nicht so genau – auch wenn seine Einschätzung um einiges wirklichkeits­ näher ist als die von Reckwitz. Aber es ist halt nun einmal so, und das nicht erst seit heute: Es lässt sich alles behaupten, wenn die Empirie fehlt. Das mag in der Soziologie um einiges mehr stören, weil sie von al­­lem Anfang an als empirische Wissenschaft angetreten ist und nicht als Spekulationsarsenal. Auffällig ist bei Rosa, Welzer, Beck und vor allem Reckwitz, dass Besitzverhältnisse, Arbeitsprozesse, Machtbildung oder die Verteilung von Armut und Reichtum als klassische Kategorien der Soziologie gar nicht mehr auftauchen. Stattdessen werden neue Begriffe vorgestellt, die – wie «Resonanz» und «Me­ta­mor­phose» – mit Soziologie im eigentlichen Sinn nichts zu tun ­haben. Zudem stellt sich die Frage nach dem Gebrauchswert solcher «Theorien». Rosa zum Beispiel wirft der bisherigen Soziologie – in 19

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Sonderheit der kritischen – vor, die «Bezogenheit» des Menschen nicht zur Genüge zu berücksichtigen. Eher wirkt es aber so, dass die «Radikalisierung der Beziehungsidee», die Rosa vornimmt, zu einer Verarmung der Soziologie führt – vor allem im Vergleich zu den «alten» und spannenden Ansätzen von der Dialektik zwischen menschlichem Verhalten und gesellschaftlichen Verhältnissen – etwa bei Adorno – oder den «alltäglichen Lebenswelten», wie sie Schütz und Luckmann beschrieben haben. Wenn die Analyse schwammig bleibt, können die Lösungsmuster für den Krisenmodus auch nicht besonders verbindlich sein. Welzer zum Beispiel fordert «Widerstand». Am konkreten Beispiel liest sich das dann so: «Den religiösen Fundamentalismus muss man mit den Mitteln des Rechtsstaats bekämpfen.» Beck sieht Verände­ rungs­potenzial in dem, was er «emanzipatorischen Katastrophismus» nennt: «Das Momentum der Metamorphose besteht verblüffenderweise gerade darin, dass der feste Glaube an die Gefährdung der gesamten Natur und der Menschheit durch den Klimawandel eine kosmopolitische Wende unserer gegenwärtigen Lebensweise herbeiführen und die Welt zum Besseren ändern kann.» Das ist – mit Verlaub – naiv, überdies brandgefährlich, weil mit Katastrophen gespielt wird, und im Übrigen blosse Behauptung. Rosas Quint­ essenz reiht sich da nahtlos ein: «Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Massstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und Antworten.» Das ist Phrase und mutet selbst dann ärgerlich an, wenn sie der Pfarrer dergestalt in seiner Sonntagspredigt formuliert. Produktiver hingegen sind jene Werke, die sich am empirischen Arbeitsauftrag der Soziologie orientieren. Ein Beispiel ist Oliver Nachtweys Text Die Abstiegsgesellschaft. Seine Grundthese ist, dass aus unserer Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration 20

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Einleitung: Keine angenehmen Zeiten. Zur Diagnose der Gegenwart

eine des sozialen Abstiegs geworden sei. Unter der Oberfläche einer scheinbar stabilen Gesellschaft erodierten seit Langem die Pfeiler der sozialen Integration, mehrten sich Abstürze und Abstiege. Prekarität und Polarisierung seien heute die Kennzeichen des sozialen Systems. Nachtwey belegt das mit vielen Daten und seinen eigenen Erfahrungen in der industriellen Arbeitswelt. Noch überzeugender ist eine Arbeitsweise, die unmittelbar bei den Erfahrungen der Menschen ansetzt. Dazu gibt es vor allem ­einige aktuelle Beispiele aus den USA: Amy Goldstein, Janesville; James David Vance, Hillbilly Elegie oder Arlie Russell Hochschild, Fremd in ihrem Land. Alle drei haben jahrelang vor Ort recherchiert. Goldstein und Hochschild haben in Regionen Menschen befragt und begleitet, die von den heftigen Umwälzungen in den USA im wahrsten Sinn des Wortes erschüttert wurden. Hochschilds Vorgehen ist eine geschickte Mischung aus Fakten und Empathie; so entwirft sie eine «emotionale Landkarte» der Menschen, die auch de­ ren politisches Verhalten selbst dann sinnvoll zu erklären vermag, wenn es «rationalen» Politbeobachtern widersprüchlich, unsinnig oder sogar destruktiv erscheint. Vance hingegen erzählt einfach die Geschichte seiner weissen Unterschichtsfamilie aus dem «Rust Belt» und entwirft darüber ein sehr eindrückliches Bild von Trumps Amerika. Vance fordert Respekt für diese Menschen. Das ist ein soziolo­ gischer Ansatz, den Marie Jahoda schon 1932 in ihrer Studie Die Arbeits­losen von Marienthal pionierhaft formulierte und der sich offen­bar jetzt wieder erfolgreich anwenden lässt: Die Menschen in ihrem Lebenskreis aufsuchen, sie befragen, sie erzählen lassen und sie über ihre eigenen Erfahrungen schliesslich verstehen, statt sie von oben zu bevormunden.

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Mut und Charakter in der verkehrten Welt. Was es für die Zukunft braucht

Katastrophenalarm? Ja. Mehr als das: Die Welt steht seit Jahren im Katastrophenmodus. Dauerhaft und ohne Unterbrechung. Auch die Erde beginnt sich den Menschen buchstäblich zu entziehen. Der französische Soziologe Bruno Latour postuliert gar, dass die Erd­ erwärmung der tiefere Grund für die politischen Unruhen der letzten Jahre sei. Wir hätten unseren Halt verloren, weil wir keinen Glauben mehr an die Zukunft haben. Zukunftspläne seien wertlos geworden, weil wir nicht mehr sicher sein können, dass es überhaupt eine Zukunft gibt. Ein Beispiel wäre, dass im Amazonasgebiet, das ökologisch für die ganze Welt so wichtig ist, im Spätsommer 2019 Tausende Waldbrände lodern. Nach nur knapp sieben Monaten hat die Menschheit 2019 mehr konsumiert, als die Erde nachhaltig in einem Jahr produzieren kann. Auch ökonomisch stehen die Zeichen auf Schwarz: Die Süddeutsche Zeitung prophezeit für 2020 die nächste grosse Wirtschaftskrise. «Sollte es tatsächlich zum Einbruch kommen, wäre es die Krise mit der wohl längsten Vorwarnzeit, die es je gab, eine Rezession mit Ansage gewissermassen, ein langsamer, freiwilliger Abstieg in die Schlangengrube.» Dass daher immer mehr Menschen skeptisch in die Zukunft schauen, ist wenig erstaunlich. Eine Studie der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen belegt, dass zwei Drittel der Befragten nicht einmal mehr an die Zukunft der Zukunft glauben. Galt Letztere noch vor knapp zwei Jahrzehnten als gestaltbar, wird sie heute vor allem als Schicksal wahrgenommen. Die damals noch erhoffte zivilisatorische Bewegung zur grossen friedlichen Weltgesellschaft, wie sie etwa der Münchner Soziologe Ulrich Beck skizzierte, sieht niemand mehr so recht. Sinn- und lebensstiftende Entwürfe wie jene von Ernst Bloch, 186

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Herbert Marcuse oder André Gorz auf der linken und von Hans Freyer, Karl Popper oder Helmut Schelsky auf der konservativen Seite sind Vergangenheit. Zygmunt Bauman gesteht kurz vor seinem Tod, nicht mehr daran zu glauben, «dass es eine konsistente Theorie dessen gibt, was jetzt vor sich geht. Wir tasten im Dunkeln.» Tasten im Dunkeln muss man wagen. Es braucht viel Mut dazu. Die Hindernisse sind hoch. Die Globalisierung hat unsere Norma­ litäten in einem Masse aus der Ordnung gebracht, wie es vor 20 oder 25 Jahren noch unvorstellbar gewesen ist. Leben geraten aus der individuellen und aus der nationalen Kontrolle. Soziale Ungleichheiten und Verwerfungen werden in Europa wie in Nordamerika nahezu lawinenartig registriert. Ein Riss geht durch das Fundament unserer Gesellschaft. Die Rechte gibt vor, darauf Antworten zu haben. Tatsächlich hat sie überall Menschen mobilisiert, die sich noch vor wenigen Jahren als liberale Demokraten verstanden haben; sie hat im Übrigen auch die Wahlbeteiligung deutlich gesteigert. Die früheren «Kräfte des Fortschritts» wirken hingegen angepasst und ausgebrannt. Paul Collier wirft der einst prägenden Sozialdemokratie vor, sich «vom Gedanken verabschiedet» zu haben, «wechselseitige Verpflichtungen zwischen allen Bürgern zu knüpfen». Ein Beispiel ist, dass die SPD es in Berlin als innovative Politik anpreist, feministische Pornos zu fördern, oder in Basel der Chef der Jusos propagiert, die Kirchen der Stadt abreissen zu wollen. Das wirkt wie eine peinliche Karikatur einstiger politischer Grösse. Cornelia Koppetsch resümiert, «dass ein Grossteil der Linken entgegen dem eigenen Selbstverständnis als ‹kritisch› in Wirklichkeit doch wohl eher zu den Wegbereitern der herrschenden Verhältnisse in einer sich globalisierenden Gesellschaft gehört». Auf konservativer Seite dominiert die mehr oder minder geschickte Verwaltung des Status quo. Ein Musterbeispiel dafür ist 187

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die Merkel’sche Politik des «Aussitzens» anstehender Probleme. «Es passiert nichts», kritisiert Merkels ehemaliger Minister Norbert Röttgen in der Welt. Merkel handhabt Politik rein situations­ elastisch, und das bedeutet, dass es weder übergreifende Prinzipien gibt noch Moral eine Leitlinie ist. Am 30. 10. 2018 vermerkt der Spiegel: «Angela Merkel empfängt zwölf Staats- und Regierungschefs zum Afrikagipfel. Für die Geschäfte deutscher Unternehmen hofiert die Kanzlerin auch Diktatoren.» Der britische Historiker Niall Ferguson konstatiert am 12. 6. 2018 in der Welt, «dass keine Einzelperson auf dem Kontinent so sehr für den bedenklichen Zustand der EU verantwortlich ist» wie Merkel. Tatsächlich fehlt von ihrer an­­ gekündigten «europäischen Lösung» des Flüchtlingsproblems noch immer jede Spur. Auch die vom französischen Präsidenten vorgeschlagene Neuordnung der EU hat sie immer wieder torpediert und Macron nur hingehalten. Ferguson wirft der deutschen Politikerin auch vor, «massgeblich» daran beteiligt gewesen zu sein, dass die europäischen Staaten keine Antwort auf den Arabischen Frühling gefunden hätten. Daraus sei letztlich die Asylkrise 2015 entstanden, die die Grenzöffnung nach sich gezogen habe. In seinem Buch Sozialer Kapitalismus kritisiert Paul Collier Merkels Mischung aus Passivität und aktivistischen Alleingängen – in der Flüchtlingsfrage oder nach Fukushima und dem Atomausstieg. In ihrer Antwort auf die Bankenkrise habe sie «einseitig eine Ga­ rantie für deutsche Bankeneinlagen abgegeben». Um zu verhindern, dass eine Flut von Einlagen von ihren Banken an deutsche Banken transferiert wurden, hätten andere Regierungen das Gleiche tun müssen. Noch schlimmer: «Auf diese Weise ging die Haftung von den Banken auf die Staaten über, wodurch aus einer beherrschbaren Bankenkrise eine Staatsschuldenkrise wurde.» Die Sanktionen gegen Russland wegen der Aggressions- und An188

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nexionspolitik gegenüber der Ukraine unterläuft Merkel mit der Förderung und dem Weiterbau von Nord Stream 2. Aufgrund ihres Widerstands, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen, verärgert sie nicht nur die USA, sondern spaltet auch die NATO. Grossräumige Fragen wie die Expansion von Russland und China und deren Auswirkungen auf Europa nimmt sie nicht einmal wahr. So wird eine adäquate Antwort auf die zunehmende Vergrösserung des militärischen, politischen, ökonomischen und demografischen Einflusses dieser Mächte verhindert und die Bedeutung Europas sukzessive geschrumpft. Immer deutlicher wird auch der Politikstil Merkels bemängelt – ihre ständigen Hinweise, dass ihre Entscheidungen «alternativlos» seien, werden immer weniger goutiert. Ihre Klimapolitik ist klein­ kariert und praktisch nutzlos; schon beschlossene kleine Schritte verkleinert sie dann noch einmal wie im Herbst 2019. Zudem fehlt ihr die Sensibilität für das eigene Handeln. Am 7. 10. 2019 vermeldete Spiegel Online: «Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) fliegen zwei Tage nach der Verabschiedung des Klimapakets der gros­sen Koalition am Sonntag fast zeitgleich in zwei Maschinen der Luftwaffe an die Ostküste der USA.» Selbst Parteifreunde wie etwa Saarlands Ministerpräsident monieren, dass «kontroverse Debatten keine Rolle» mehr spielten und die CDU «eine Sinnentleerung erlebt» habe. Ihre egozentrierte Machtpolitik hat auch den rechtzeitigen «Aufbau» ihrer Nachfolge verhindert. Aber man wird diese strukturelle Untätigkeit des Aussitzens noch verallgemeinern müssen: Seit Jahren nimmt die Weltgemeinschaft gravierende Rechtsbrüche hin – aktuell die Aggression Erdoğans gegen die Kurden, überhaupt die nachhaltige Aushöhlung der Demo189

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kratie in der Türkei, die Annexionspolitik Putins und auch Chinas, zum Beispiel gegenüber Tibet, die unablässigen Menschenrechtsverletzungen Israels gegenüber den Palästinensern, die Unrechtspolitik der Diktaturen am Persischen Golf. Zukunft kommt zwar vorerst auch noch von allein, aber wenn man sie nicht formt, entsteht Unordnung. Um sie zu gestalten, wird man den Horizont etwas über die schlichte Pragmatik einer deutschen Bundeskanzlerin ziehen müssen. 1968, im französischen Mai, war eine der wichtigsten Parolen: «L’imagination au pouvoir». Es wäre wichtig zu lernen, einfach wieder über den Tag hinauszudenken, sich anderes vorzustellen als das, was uns täglich umgibt und ein­bindet, bremst und behindert. Kürzlich haben 15 Professoren an Elite­universitäten wie Princeton und Harvard eine Erklärung ver­ öffentlicht: «Für sich selbst zu denken bedeutet, die herrschenden Vorstellungen selbst dann in Frage zu stellen, wenn andere darauf bestehen, dass sie als unbestreitbar behandelt werden sollten. Es bedeutet, sich nicht deshalb für eine Sichtweise zu entscheiden, weil man sich den aktuellen Modemeinungen anpasst, sondern indem man sich die Mühe macht, die stärksten Argumente beider oder ­aller Seiten eines Problems zu erfahren und ehrlich zu untersuchen – einschließlich der Argumente für Positionen, die andere ver­ un­glimpfen und stigmatisieren möchten, sowie gegen Positionen, die andere gegen eine kritische Überprüfung immunisieren möchten.» Das haben auch die diversen Denkfabriken zum Ziel, die Zukunftswerkstätten, wie sie einst Robert Jungk gegründet hatte, das «Berliner Festival der neuen Visionäre», die «Vollversammlung der wahren Schwarmintelligenz» oder das Diskursprojekt «Werkstatt Demokratie» der Süddeutschen Zeitung. Neue Realitäten entwickeln sich aus Utopien und nicht aus einer Political Correctness. By the way: Fortschritt ist immer aus dem entstanden, was poli190

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tically incorrect war. Und es gibt eine Gesetzmässigkeit: Je mehr offi­ziell verboten wird, desto mehr äussert sich inoffiziell und vor allem inadäquat. Was wünschen sich die Menschen eigentlich? Das fragt die Politik nicht. Dabei ist es klar, wenn man sich einmal die wichtigsten Ergebnisse der Meinungsforschungsinstitute anschaut. Auch wenn wir im Zeitalter des Dekonstruktivismus leben, gibt es anthropologische Grundlagen, die zeitlos und allgemein verbindlich sind. Der Mensch möchte in Übereinstimmung mit sich und seinen Wünschen leben. Um die Welt kreativ gestalten zu können und offen für Neues zu sein, braucht der Mensch eine sichere Basis: Heimat. Anthropologisch bezeichnet sie das Beziehungsgefüge des Einzelnen zu seiner Umwelt, das ihm Orientierung gibt und Ausgangspunkt seines Handelns ist. Menschen brauchen Sinn. Der Mensch muss sein Wesen deuten, um überhaupt leben zu können; er muss Vorstellungen über sich und seine Umwelt bilden. Ohne Reflexion und Erkenntnis wäre der Mensch in der Welt verloren und vermöchte nicht zu steuern, was allgemein Verhalten genannt wird. Die Interpretation seiner selbst und der Welt bestimmen, was der Mensch aus sich macht und dann faktisch wird. Menschen brauchen Hoffnung. Wer die Hoffnung verliert, so weiss die Suizidforschung, bringt sich um. Menschen brauchen eine tragende Weltbeziehung – die Verbindung zu Grösserem und Höherem, als sie es selbst sind. Menschen brauchen Identität; sie müssen wissen, wer sie sind, sonst werden sie schlicht verrückt. Das können sie aber nicht aus sich heraus wissen; sie benötigen dazu feste Bezugsgrössen wie Eltern, Liebespartner, Fami­lie, Peergroups, Gemeinschaften. Über den Dialog mit ihnen bildet sich Identität, und so kann sie sich auch festigen, damit Halt im Einzelnen selbst und im Leben entsteht. Die meisten Menschen wollen in Ordnungen leben, die ihrem Leben entsprechen und es 191

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nicht täglich infrage stellen. Wandel, der nur noch als Diktat erlebt wird, erzeugt Ohnmacht und Wut. Menschen brauchen Freiheit als Gestaltungsmöglichkeit des eigenen Lebens. Im Oktober 1842 hat Karl Marx in der Rheinischen Zeitung das neue Gesetz zum Holzdiebstahl kommentiert. Bis dahin durften die Menschen in den Wäldern das Holz sammeln; nun sanktionierte die preussische Gesetzgebung solches als Eigentumsdelikt. Marx wertete das als Enteignung der Selbsttätigkeit. Nimmt man den Menschen sukzessive ihre Mündigkeit, reagieren sie auf Dauer gereizt. Das ist eine alte Erfahrung. Henry Jacoby hat in seinem Standardwerk Die Bürokratisierung der Welt darauf hingewiesen. Be­ vormundung der Menschen, Depersonalisation des Handelns und drücken­de Routine schüfen ein virulentes Reservoir aggressiver Stimmungen; sie trügen zur Irrationalität in der Gesellschaft bei, die sich dann – eruptiv – in Gewaltakten, Fremdenhass, Rücksichtslosig­ keit im Alltagsleben, Ichsucht oder wachsender Unzufriedenheit entlüden. Manchmal wäre wohl den Politikern zu raten, dass sie nach der Volksmeinung im Internet schauen – zumindest hin und wieder: «Wir dachten, nach neun Monaten würden wir rauskommen, doch als wir rauskamen stellten wir fest, dass die ganze (westliche) Welt zu einer riesen [sic] Gebärmutter mutiert war, wo nicht mehr Freiheit oder gesunder Menschenverstand herrschen, sondern ein maximales Sicherheitsbedürfnis.» Oder: «Ich finde es wirklich beängstigend, wie staatliche Stellen, Interessenverbände etc. uns ihre Wertvorstellungen aufzwingen wollen. Volksbeglückungen enden früher oder später immer im Totalitarismus.» Einbezugnahme von unten ist die Antwort: «Es geht darum, dem Gemeinwohl wieder Geltung zu verschaffen», sagt Alice Cotte von der französischen Bewegung À nous la démocratie: In Frankreich sollten sich die Betroffenen wieder die demokratischen Prozesse an192

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eignen. «Wir glauben fest daran: Wenn man den Leuten die Möglichkeit gibt, selbst zu entscheiden, werden sie das auch tun und die entsprechenden Fähigkeiten entwickeln.» Paul Collier fordert in diesem Sinn, nicht den Konsum neu zu verteilen, sondern vielmehr die Kapazitäten der Menschen, produktiv zu werden. Jede Region sollte einen Cluster von Firmen haben, die sinnvolle Arbeit anbieten. Dazu müssten die Menschen mit den Fähigkeiten ausgestattet werden, solche Arbeiten dann auch auszuführen. Der Weg für die Betroffenen ist wohl eher nicht ein Grundeinkommen, sondern die Umgestaltung der Arbeitswelt. Denn grundsätzlich ist Arbeit menschbildend und fördernd. David Goodhart merkt nach seinen Recherchen in England an: «Doing a job that is respected by the ­wider society … makes people feel motivated, rewarded in esteem.» Klaus Ottomeyer beschreibt, wie Arbeitstätigkeit etwas ist, «bei dem man sich in der Auseinandersetzung mit dem widerborstigen Arbeitsmaterial selber spürt und erfährt und deren Fortgang und Gelingen trotz aller Arbeitsmühe ein positives Lebensgefühl, einen ­Genuss vermitteln kann». Dazu würde auch eine besser geordnete Arbeits- und Wohnwelt gehören, in der nicht alle Lebenswelten weit auseinandergerissen sind. Von der «grossen» Politik sind derzeit solche Innovationen nicht zu erwarten. Ein Musterbeispiel dafür sind die Vorschläge zur Reform des politischen Systems, die der deutsche Bundeswirtschaftsministerin Altmaier im Spätherbst 2019 vorstellt. Sie betreffen quantitative Retuschen, wie die Verkleinerung des Bundestags oder die Verringerung der Ministerzahl, aber nicht die entscheidenden qualitativen Fragen wie etwa «die Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern». So braucht es die Kraft des Einzelnen als Korrektiv – Ein­zelne, die andere Lebensentwürfe wagen, wie Pierre Rabhi, der agrarisch ein Modell der «glücklichen Genügsamkeit» umgesetzt 193

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hat, oder die gegengesellschaftlichen Projekte der Alternativbewegung: Wohngemeinschaften, Genossenschaftsmodelle, Werkstätten, freie Schulen, patientengerechte Arztpraxen, ökologische Landwirtschaft. Es gibt immer wieder Beispiele im Alltäglichen, und sie mehren sich gegenwärtig: Seit Jahren sind die Grünanlagen am Krähenteich in Lübeck zum sozialen Brennpunkt geworden: Drogen, Prostitution. Jetzt haben sich Anwohner für ein gemeinsames Frühstück getrof­fen, um gegen die Verrohung der Verhältnisse Stellung zu beziehen – und um sich den Park am einst idyllischen Krähenteich zurückzuerobern. Junge Leute freiheitlich-anarchistischer Prägung organisieren in Zürich einen Protestmarsch gegen die Stadtverschandelung: «Heute Abend sollte diese Stadt mal wieder richtig leben … Wüste Betonlandschaften à la Google-Quartier, Europaallee, ZüriWest und PJZ wuchern im Dienste des Kapitals in ganz Zureich [sic], während eigene Gestaltungsmöglichkeiten und alternative Projekte wie die Binz und das Labitzke-Areal zerstört werden. Mit der heutigen Aktion wollen wir euch motivieren selber aktiv zu werden.» Knapp sechs Wochen nach dem Schulmassaker von Parkland ­haben in den Vereinigten Staaten Hunderttausende überwiegend junge Leute für striktere Waffengesetze demonstriert. «Kommt alle! In einem anonymen Berliner Hochhaus lädt ein alter Herr die Einsamen zum Essen ein.» 2013 war Christian Vollmann auf eine amerikanische Internet-Plattform namens nextdoor.com gestossen. Die Idee hatte ihm sofort eingeleuchtet: Leute, die sich nicht kennen, knüpfen online Kontakte zu Menschen aus ihrer Umgebung. Das Magazin der Zeit schildert seine Initiative in Deutschland. Der Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland hat einen «Wünschewagen» eingerichtet, mit dem todkranken Menschen in ihrer letz194

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ten Lebensphase noch ein grosser Herzenswunsch erfüllt wird, zum Beispiel dem Pferdepfleger Ali, der so von seinem Lieblingspony Flo Abschied nehmen konnte; das Nachrichtenmagazin Focus unterstützt diese Aktion mit einer speziellen Berichterstattung. Bart Somers, Bürgermeister im belgischen Mechelen, hat seine Stadt positiv verändert: Parallelgesellschaften verhindere man, indem man dafür sorge, dass sich die Bewohner armer Viertel als gleichwertige Bürger fühlen. Wer Teil einer Gemeinschaft ist, greift sie nicht an. «Wir haben als Erstes in Problemvierteln aufgeräumt, die Strassen gereinigt, Spielplätze angelegt und Parks aufgehübscht.» Im sächsischen Augustusburg hat Bürgermeister Dirk Neubauer (SPD) die Losung ausgegeben: «Den Menschen die Heimat zurückgeben». Im Interview mit dem Nachrichtenmagazin Cicero sagt er: «Ich glaube, ein guter Politiker ist der, der den Bürgern Wege eröffnet, sich mit ihren Ideen einzubringen. […] Demokratie bleibt eine leere Hülle, wenn Leute nicht lernen, wie sie selbst etwas erreichen können.» Die realisierten Projekte der Stadtverwaltung und die damit verbundene Partizipation der Menschen hat bewirkt, dass Augustusburg 2019 zu den ganz wenigen Städten in Sachsen gehört, in denen die AfD nicht im Parlament ist. Auch Beispiele von nachgerade edlem Widerstand gibt es: Hannelore Kraus aus Frankfurt hat vor 30 Jahren eine Millionensumme abgelehnt, mit der sie ein Immobilieninvestor ködern wollte, dem Bau des höchsten Gebäudes Europas direkt vor ihrer Tür zuzustimmen. «Mir ging es um das Viertel», sagt Kraus – so erinnert die FAZ am 6. 9. 2019. «Schon immer gab es hier eine bodenständige und einfache Bevölkerung. Man unterstützt sich gegenseitig und kann sich aufeinander verlassen. Im Viertel lebten viele arme Menschen, auch Ausländer. Und alle diese einfachen Leute wären über die Klinge gesprungen, hätte man den Turm gebaut.» 195

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«Wir brauchen wieder mehr Zuversicht», schreibt Georg Diez in seiner Spiegel-Kolumne. Denn ohne Optimismus gebe es keinen Ausweg aus den Zwängen der Gegenwart. Da hat er recht, aber so einfach ist es eben nicht. Die Lernunfähigkeit steht dem ent­gegen. Zum Beispiel die SUV: Diese Riesenautos sind dafür ver­antwortlich, dass der CO2-Ausstoss im Verkehr steigt. Nun gab es – sinnigerweise inmitten der Klimadebatte – die Nachricht, dass 2019 die Anzahl der neu zugelassenen SUV eine Million überschreiten werde. «Beinahe jedes dritte Auto, das in Deutschland verkauft wird, ist ein SUV», so der Freitag im Sommer 2019. Oder die NZZ am 25. 8. 2019: «Mitten in einem Idyll auf dem Land hat ein Zürcher Immo­bilienunternehmer eine Fischfabrik gebaut – mit kräftiger Unterstützung der Behörden. Dass die Landschaft entstellt wurde, interessierte kaum. Ein Lehrstück über Lokalpolitik und gute Beziehungen.» Vor der Weltklimakonferenz in Madrid kritisierte der Siegener Umweltökonom Niko Paech am 1. 12. 2019 auf Spiegel Online, dass trotz aller Appelle die meisten Bürger nach wie vor «sich über die fatalen umweltschäd­ lichen Folgen ihres Lebensstils selbst täuschen». Er monierte dabei vor allem die wachsende Nachfrage nach «dekadenten Luxusgütern». «Das sind Kreuzfahrten, das sind SUVs, das ist der Luftverkehr, die Digitalelektronik und die Nachfrage nach noch mehr Wohnraum.» Hier offenbare sich die «Lebenslüge einer Gesellschaft, deren Mehrheit meint, sie sei klimakompetent, aber lebt wie ökologische Vandalen.» Gefordert wären wir alle in unseren grundsätzlichen Haltungen des Umgehens, des Aufeinandereingehens, des Aufeinanderzugehens. Wenn wir uns nicht selbst ändern, bleiben eines ferneren Tages nur die Zwangsmassnahmen von oben, um die Welt zu retten: die Ökodiktatur zum Beispiel. Arnold Gehlen verweist – entgegen dem Zeitgeist – auf die Be196

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deutung der Tradition als «etwas für unsere innere Gesundheit Unverzichtbares». Ein Beispiel wäre die Familie. Nach 1968 wurde sie von Kräften, die sich als progressiv verstanden, als «Patient», Gefängnis, Zurichtungsanstalt, Irrenhaus oder Ort der Neurosen etikettiert. Inzwischen gibt es einen Sinneswandel: Stellvertretend konstatieren die Sozialwissenschaftler Lange und Lüscher: «Die Familie ist der bevorzugte Ort der Entstehung von Humanvermögen. Die Fürsorge, die ein Kind in den ersten Lebensjahren empfängt, ist für seine spätere psychische Stabilität prägend.» Auch als Erwachsene profitieren wir von der Familie: Die empirische Forschung belegt seit Langem, dass Eheleute im Vergleich mit Alleinstehenden signifikant gesünder, länger und zufriedener leben. Familie ist aber für uns auch in einem abstrakteren Sinn ein eminent wichtiger Sicherheitsfaktor; sie garantiert die Stabilität der Gesellschaft von unten: Sie übt sie gewissermassen ein. So entstehen Verständnis, Empathie und sozialer Zusammenhalt. Der Wunsch dazu besteht ja. Jutta Allmendinger konstatiert in ihrem Deutschland-Report, dass über 80 Prozent der Menschen angeben, dass es «ihnen persönlich sehr wichtig ist, ein Wir-­Gefühl zu haben». Das bestätigen andere Untersuchungen wie jene von Paul Collier, Katherine J. Cramer, Harrison und Huntington, Arlie Hochschild oder Robert Putnam sowie sozialphilosophische Überlegungen von Zygmunt Bauman, Hartmut Rosa oder Alain Touraine.«Ich möchte kein Molekül mehr sein», sagt ein 37-jähriger Lehrer in Karlsruhe. «Ich möchte mit anderen zusammen etwas machen, das sinnvoll ist und mir etwas gibt, das mehr ist als ich selbst.» Probleme treten immer dann auf, wenn sich die Menschen gegen­ seitig aus den Augen verlieren. Karl Jaspers hat am Ende des Zweiten Weltkriegs darauf hingewiesen. Vielleicht ist geistig-moralisch die 197

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Situation von damals in gewisser Weise vergleichbar mit dem heutigen Zusammenbruch der Selbstverständlichkeiten: «Wir wollen lernen, miteinander zu reden. Das heisst, wir wollen nicht nur unsere Meinung wiederholen, sondern hören, was der andere denkt. Wir wollen nicht nur behaupten, sondern im Zusammenhang nachdenken, auf Gründe hören, bereit bleiben, zu neuer Einsicht kommen. Wir wollen uns innerlich versuchsweise auf den Standpunkt des anderen stellen. Ja, wir wollen das uns Widersprechende geradezu aufsuchen. Das Ergreifen des Gemeinsamen im Widersprechenden ist wichtiger als die voreilige Fixierung von sich ausschliessenden Standpunkten, mit denen man die Unterhaltung als aussichtslos beendet.»

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DAS GÄREN IM VOLKS BAUCH WALTER HOLLSTEIN

www.walter-hollstein.ch

Die Welt ist in Aufruhr. Immer häufiger bricht der Ausnahmezustand in Form von Klimakatastrophen, Anschlägen, Amokläufen oder Wirtschaftskrisen in den Alltag ein. Diese Erfahrung droht inzwischen zur Normalität zu werden. Als Folge empfinden die Menschen zunehmend Unsicherheit und Angst, aber auch Wut und Frustration darüber, dass sich nichts ändert. Den gewachsenen Protest versucht man, unter dem Begriff des Populismus zusammenzufassen. Damit setzt sich das vorliegende Buch kritisch auseinander. Der Autor hat Gespräche und Interviews geführt, populäre Zeitungsartikel und SocialMedia-Posts analysiert, um zu verstehen, was im Empfinden der Menschen gärt und sich politisch ankündigt.

ISBN 978-3-03810-477-3

www.nzz-libro.ch

NZZ LIBRO

Walter Hollstein ist Professor für politische Soziologie i. R. in Berlin, Gutachter des Europarats für soziale Fragen, Träger des Deutschen Sachbuchpreises und Verfasser mehrerer Bestseller zu Protestbewegungen, Nahost, Geschlechterkampf u. a. Sein letztes Buch Was vom Manne übrig blieb. Das missachtete Geschlecht erschien 2012. Er lebt in der Region Basel.

WALTER HOLLSTEIN

DAS GÄREN

IM VOLKS

BAUCH WARUM DIE RECHTE IMMER STÄRKER WIRD

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Katastrophenalarm? Mehr als das: Die Welt steht seit Jahren im Katastrophenmodus. Dauerhaft und ohne Unterbrechung. Auch die Natur beginnt sich den Menschen buchstäblich zu entziehen. Immer mehr schauen skeptisch in die Zukunft; zwei Drittel der Befragten glauben nicht einmal mehr an die Zukunft der Zukunft. Die einst erhoffte Bewegung zur grossen friedlichen Weltgesellschaft sieht niemand mehr. Stattdessen wenden sich viele Menschen in die Vergangenheit oder politisch nach rechts. Warum das so ist, erklärt dieses Buch – ebenso die gefährlichen Konsequenzen aus dieser Entwicklung.


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