Urs Altermatt: Vom Unruheherd zur stabilen Republik. Der schweizerische Bundesrat 1848–1875.

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Der Bundesrat steht im Zentrum des schweizerischen Regierungssystems. Seit der Gründung des Bundesstaats im Jahre 1848 ist diese Institution im Wesentlichen unverändert geblieben. Das vom Historiker Urs Altermatt herausgegebene und 1991 letztmals publizierte Bundes­ratslexikon etablierte sich innert kurzer Zeit als Standardwerk der Bundesratsgeschichte. Jetzt liegt es komplett überarbeitet und aktualisiert vor. 93 Autorinnen und Autoren zeichnen für jedes Mitglied des Bundesrats ein bewegtes Bild ihrer Wahlen und Rücktritte, Karrieren und Politik – von der Gründung der modernen Schweiz bis in die Gegenwart. Die Porträts sind auf dem neusten Forschungsstand und mit Bildern, Tabellen, Quellen und Literaturhinweisen versehen. Über das rein Biografische hinaus vermittelt dieses Handbuch einen prägnanten Überblick sowie überraschende ­Einblicke in 170 Jahre Bundesstaat. Ein politisch-historisches Lesebuch und faszinierendes helvetisches Kaleidoskop.

Urs Altermatt

Vom revolutionären Unruheherd zur stabilen Republik Die Bundesratswahlen von 1848–1875

Urs Altermatt Vom revolutionären Unruheherd zur stabilen Republik

Komplett überarbeitet und aktualisiert

Die Bundesratswahlen

ISBN 978-3-03810-218-2 ISBN 978-3-03810-218-2

9 783038 102182

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Inhaltsverzeichnis

9 Vorwort 15 Einführung

16 Die Bundesräte – schweizerische Royals ?

17 Ein Mischsystem

18 Bundespräsident : Primus inter Pares oder Schattenkönig ?

20 Kollegialitätsprinzip – « une honnête médiocrité »

21 Departementalprinzip – eine « Ministeranarchie »

23 Revision der Bundesratsstatistiken

25 Eine Flut von Büchern, aber keine systematische Bundesrats­

30 Bundesratswahlen als Meilensteine

geschichte

33 I  Schaffung der Bundesbehörden im Rekordtempo

34 Erfolgreiche liberal-demokratische Revolution 1848

36 Bundesverfassung im Rekordtempo

39 Manipulation, Willkür und Gewalt der Sieger

41 Feierliche Eröffnung der Bundesversammlung

43 Vorprogrammierte Wahlregie

47 Gerangel um die Reihenfolge der Bundesratssitze

53 Speditive Wahl des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers

55 Pragmatische Departementsverteilung mit herausgehobenem Bundespräsidium

59 Die Bundeskanzlei als Drehscheibe

63 Bundeshauptstadt : Zürich oder Bern ?

66 Kantonalistische Architektur

70 Pragmatiker und keine Visionäre

72 Bundesräte als Verkörperung der bürgerlichen Schweiz


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Vom Unruheherd zur stabilen Republik

75 II  Wilde 1850er-Jahre

76 Schwieriger Anfang des jungen Bundesstaats

77 Stürmische erste Gesamterneuerungswahlen

81 Eine Mitte-rechts-Allianz für Stabilität

83 23 Wahlgänge und eine Abwahl 1854

91 Die « Komplimentswahl »

92 Sturz des Gründervaters Ochsenbein

97 Munzingers Tod im Amt nach einer « Pietätswahl »

99 Ein weiterer Todesfall – Henri Druey

102 Aufstand der Jungradikalen gegen die 48er

105 Verzicht eines liberal-konservativen Baslers

108 Ein Hinterbänkler aus Luzern

110 Der Klub der Bundesbarone und ihre Trabanten

112 Princeps und Königsmacher Alfred Escher

116 Krawalle nach der Bundespräsidentenwahl 1858

119 Nochmals ein Tod im Amt

121 Der Mythos Franscini

122 Gesucht : ein Tessiner mit katholischem Taufschein

125 Der heimliche Bundesratskönig Furrer

128 Parteipolitische Zuordnung

135 III  1860er-Jahre : auf der Suche nach Stabilität

136 Aufbruch in die Moderne

138 Neue Führungsriege im Bundesrat

142 « Stämpflische Dictatur » gegen « Versicherungsgesellschaft »

144 Breite Malaise um zwei Sesselkleber

147 « Stabilismus » oder die « Einbalsamierung der sieben Könige »

149 Eine politische Bombe 1863

152 Jakob Stämpfli als Prototyp des Aufsteigers

154 Glanzvolle Wahl eines ehemaligen reformierten Pfarrers

156 Flucht von Bundesrat Pioda auf den Gesandtenposten in Italien

158 Erstmals ein Genfer

161 Jahrelange Diskriminierung des politischen Katholizismus

163 Erzwungener Rücktritt eines langjährigen Bundesrats


Inhaltsverzeichnis

167 Keine Experimente in unruhigen Zeiten

170 Ein alt Bundesrat im Gefängnis

174 Jäher Tod eines Neo-Bundesrats

177 Verstärkung der Mitte-rechts-Mehrheit im Bundesrat 1870

182 Mittlere Kantone nur in Ausnahmesituationen

184 Die Verlierer im Wettbewerb um einen Bundesratssitz

187 IV  1870 –1872 : unversöhnliche Konflikte im Bundesrat wegen der Bundesrevision

188 Zwei Anläufe für die Verfassungsrevision

191 Würfeleien im Bundesrat

193 Renversement des alliances

195 Gehässige Töne zwischen den Bundesräten

196 Gegen Plutokratie und « preussisch-gotthardistisch-­zentralistische » ­Klüngeleien

198 Der erste Rücktritt eines Bundesrats aus politischen Gründen

201 Jakob Dubs – trotz bitterer Niederlagen ein einflussreicher Bundesrat

204 Der erste Zürcher « Demokrat »

208 Rachegelüste in der Presse

211 Zweite Abwahl eines Bundesrats 1872

213 Neue Schlagkraft des Bundesrats unter der Führung von Welti

215 Vizepräsidentenwahlen als Spiegel der parteipolitischen Machtordnung

217 V  Die Wende von 1874/75

218 Die Zäsur von 1874

219 Rechtsrutsch bei den Nationalratswahlen 1875

220 Veränderungen bei den Katholisch-Konservativen nach

222 Erstmals vier Rücktritte

224 Der langjährige Bundesrat Näff – Prototyp des technokratischen

dem Kulturkampf

­Verwalters

227 « Durchschnittsholz » statt Supermänner

230 Flucht aus dem Bundesratsamt in die Privatwirtschaft

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Vom Unruheherd zur stabilen Republik

232 Das Direktorium in einer internationalen Organisation ist mehr wert als das Bundespräsidium

235 Reibungslose Wahl der drei Bisherigen

236 Ausgleichsdenken bei den nächsten drei Sitzen

238 Spannender Poker um den siebten Sitz

241 Neue Regierungsformel

242 Zähe Wahl des einzigen Bundesrats aus der lateinischen Schweiz

246 Ersatzbundesrat für die exkludierten Katholisch-Konservativen

249 VI  Der Bundesrat als nationales Scharnier – eine Bilanz

250 Ein politisches Wunder

251 Politische Stabilität durch personelle Kontinuität

254 Eine äusserst seltene Ausnahme

256 Der Bundesrat als Klammer der Nation

259 Zwei Klassen von Bundesräten

260 Duumvirat

266 Der Bundesrat – eine Zweiparteienkoalition

268 Erosion der Liberalen

270 Republikanische Kollektivmonarchie

275 Anmerkungen 333 Bibliografie


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Vorwort


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Vom Unruheherd zur stabilen Republik

Vom europäischen Unruheherd zur stabilen Republik : Das war die Entwicklung, die die junge Schweiz von den revolutionären 1840er Jahren über die Gründung des Bundesstaats 1848 bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts durchmachte. Zu diesem Erfolg trug an entscheidender und wegweisender Stelle der 1848 geschaffene Bundesrat als erste wirkliche Regierung der modernen Schweiz bei. In diesem Corona-Pandemiejahr 2020 standen Verlautbarungen des Bundesrats während Monaten im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses – und dies wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Kriegs- und Krisenzeiten sind hohe Zeiten für politische Exekutiven in allen Ländern, denn die Bevölkerung erwartet von ihrer Regierung in Notstandszeiten sichere Führung, verlässliche Informationen und konkrete Anleitungen zum Handeln. Der Zufall wollte es, dass ich während des Lockdowns in der vom Bundesrat proklamierten « ausserordentlichen Lage » an der Schlussredaktion dieses Buchs arbeitete, was wegen der Schliessung von Bibliotheken und Archiven notgedrungen zu Verzögerungen führte. Dafür erwiesen sich die Erfahrungen mit der Covid-19-Pandemie auf ganz andere Weise als Vorteil. Viel deutlicher als sonst wurde mir die Funktion des Bundesrats in nationalen Notlagen bewusst. Auch nach dem revolutionären Jahrzehnt von 1840 und dem Bürgerkrieg von 1847 herrschten in der Eidgenossenschaft Angst und Unsicherheit, kurz eine nationale Notsituation, die vom Bundesrat als der ersten eigentlichen Regierung der Schweiz wegweisende Führung beim Aufbau der neuen Schweiz erforderte. Es zeigten sich für den Historiker Parallelerscheinungen zur Pandemiezeit von 2020, die mein Verständnis für die damalige Zeit erhellten. So bekam dieses historische Buch unvorhergesehene Aktualität ! Auch Bücher haben ihre Biografien. Wie viele Autorinnen und Auto­ren schreibe ich meine Bücher um und werde dann unerwartet von einem anderen Publikationsprojekt derart in Anspruch genommen, dass ein ­Manuskript liegen bleibt. So verlief es bei diesem Buch. Aus Anlass des 700-Jahr-Jubiläums der Eidgenossenschaft von 1991 konzipierte und leitete ich in Zusammenarbeit mit dem Artemis Verlag in Zürich das erste Bundes­ratslexikon, das sich als Standardwerk etablierte. 2019 folgte im Verlag NZZ Libro eine vollständig revidierte und bis in die Gegenwart nachgeführte Ausgabe. Das vorliegende Buch ist parallel zum Lexikon entstanden, hat jedoch ein völlig anderes Profil und eine andere Zielsetzung und versteht sich als


Vorwort

dessen Ergänzung. Während das Bundesratslexikon ein Sammelwerk mit Beiträgen von verschiedenen Autorinnen und Autoren ist und auf beschränktem Raum Einzelpersönlichkeiten vorstellt, stelle ich in diesem Buch ausgewählte Themen der Bundesratsgeschichte in der zeitlichen Längs­perspektive und mache die einzelnen Bundesräte ( damals nur Männer ! ) personen- und zeitübergreifend im Kollektiv zum Gegenstand von ­Reflexion und Forschung. Dabei kann ich von den Einzelporträts im Bundesratslexikon profitieren. Diese bilden die erste Quellengrundlage für die biografischen Daten und lieferten mir zusammen mit den Tabellen im Bundesratslexikon das Gerüst für die politische Tätigkeit und die Aemter im Bundesrat. Da sich dieser Band auf die Anfangszeit des Bundesstaats von 1848 bis 1874/75 beschränkt, handelt es sich um die ersten 23 Bundesratsporträts, namentlich um die Beiträge von Roswitha Feusi Widmer ( Porträt über Bundesrat Jonas Furrer ), Rolf Holenstein ( Ulrich Ochsenbein ), Olivier Meuwly/Michel Steiner ( Henri Druey ), Urs Altermatt/Eduard Studer ( Josef Munzinger ), Carlo Agliati/Raffaello Ceschi ( Stefano Franscini ), Jürg Stüssi-Lauterburg ( Friedrich Frey-Herosé ), Rolf App ( Wilhelm Matt­ hias Näff ), Beatrix Mesmer ( Jakob Stämpfli ), Urs Altermatt ( Constant Fornerod ), Alois Steiner ( Josef Martin Knüsel ), Andrea Ghiringhelli ( Giovanni Battista Pioda ), Marco Jorio ( Jakob Dubs ), Urs Altermatt/Hermann Böschenstein ( Carl Schenk ), Urs Altermatt ( Jean-Jacques Challet-Venel ), Urs Altermatt/Heinrich Staehelin ( Emil Welti ), Olivier Meuwly/Jean-Pierre Chuard ( Victor Ruffy ), Olivier Meuwly/Michel Steiner ( Paul Cérésole ), Bruno Wägli ( Johann Jakob Scherer ), Jean-Pierre Jelmini ( Eugène Borel ), Carlo Moos ( Joachim Heer ), Roger Blum ( Fridolin Anderwert ), Urs Altermatt ( Bernhard Hammer ), Marc Perrenoud/Jean-Marc Barrelet ( Numa Droz ). An dieser Stelle danke ich allen Autorinnen und Autoren für ihre vielfältigen Anregungen. In der ersten Ausgabe des Lexikons von 1991 verfasste ich als erstes grösseres Ergebnis meiner bereits langjährigen Forschungsarbeiten eine vor allem von der Bundesverwaltung und der Politik sowie von den Medien und der Wissenschaft benutzte 100-seitige Einführung unter dem Titel « Bundesrat und Bundesräte. Ein historischer Abriss ». Eigentlich wollte ich diesen Beitrag für die Neuausgabe von 2019 aktualisieren und erweitern, was sich wegen des begrenzten Seitenumfangs des Lexikons nicht realisieren liess. Auf der Suche nach einer Ersatzlösung kehrte ich zu meinem

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Vom Unruheherd zur stabilen Republik

­Ursprungsprojekt zurück und zeige nun in diesem Buch Kontinuitäten und Wandlungen des Bundesrats während der Anfangsperiode des Bundesstaats von 1848 bis 1874/75 im diachronen Zeitverlauf auf. Dabei konzentriere ich mich auf die personellen Veränderungen im Bundesrat und stelle die seit 1848 das breite Publikum sehr interessierenden Bundesratswahlen, die ich minutiös erforscht habe, in den Mittelpunkt. Schon damals waren die Bundesratswahlen herausragende Ereignisse von nationaler Bedeutung, die die noch amorphe Parteienlandschaft des eidgenössischen Parlaments mit deren vormodernen Klubs und Fraktionen mitgestalteten. Deswegen erweist sich diese Studie mit ihren Erkenntnissen auch als wichtiger Beitrag zur frühen Parteigeschichte des Bundesstaats. Wie man leicht vergisst, war die Periode von 1848 bis zur Total­revision von 1874 durch das System der repräsentativen Demokratie gekennzeichnet und kannte die Volksrechte wie das Referendum und die Volksinitiative noch nicht. Nicht zuletzt deswegen erweist sich diese Zeitperiode sowohl für die Bundesrats- wie für die Parteiengeschichte als besonders relevant und aufschlussreich. In diesen Jahrzehnten sind Prozesse und Regeln vorbereitet und in die Wege geleitet worden, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Selbstverständlichkeiten angesehen werden. Mit meinem diachron–komparativen Ansatz kann ich die Entstehung verschiedener ungeschriebener ­Gewohnheitsregeln bei der Wahl und beim Rücktritt der Bundesräte und Bundesrätinnen aufzeigen und stosse dabei im historischen Längsschnitt auf Befunde, die selbst mich überrascht haben, weil sie im kollektiven Gedächtnis vergessen gegangen sind. In den Porträts des Lexikons konnte diese Perspektive wegen der vorgegebenen Fokussierung auf den einzelnen Magistraten und die einzelne Magistratin nur am Rand dargelegt werden. Erst die vergleichende und zeitübergreifende Gesamtschau fördert wenig bekannte und kaum erforschte Fakten deutlich sichtbar zutage. Es gibt zwar Kommentare von Staatsrechtlern zur Bundesverfassung und historische Exkurse in den Publikationen der Politikwissenschaftler, indes fehlt in der Geschichtswissenschaft eine chronologisch und synthetisch angelegte Bundesratsgeschichte. Es liegen für fast alle Bundesrätinnen und Bundesräte Biografien neueren und älteren Datums vor, die mir wertvolle Dienste geleistet haben, eine synthetische Bundesratsgeschichte stellt aber ein Desideratum dar. Mit diesem Buch möchte ich die eine oder andere Lücken schliessen.


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Schaffung der Bundesbehรถrden im Rekordtempo


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Vom Unruheherd zur stabilen Republik

Erfolgreiche liberal-demokratische Revolution 1848 Eigentlich ist es erstaunlich, dass im kollektiven Gedächtnis der Schweizerinnen und Schweizer das Gründungsjahr der modernen Schweiz 1848 ­keinen speziellen Platz mit einer jährlichen Erinnerungsfeier einnimmt, obwohl dies Schriftsteller wie Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Adolf Muschg und andere wiederholt vorgeschlagen haben und den 12. September 1848 als neuen Nationalfeiertag forderten.1 Ganz anders in Frankreich, wo der Quatorze Juillet ein nationaler Erinnerungstag ist. 1848 stand Europa in Flammen, auf dem Kontinent fanden überall Aufstände und liberal-demokratische Revolutionen statt. Der Schweiz gelang als erstem Land in Europa die Gründung eines liberal-demokratischen Nationalstaats, der bis heute Bestand hat. Nach einem 50 Jahre dauernden Inkubationsprozess, der mit der Helvetik ( 1798 ) und Mediationszeit ( 1803 ) begann, entwickelte sich eine wirtschaftlich-soziale und politische « Doppelrevolution » ( Eric Hobsbawm ), die in der « Regeneration » ( 1830/31 ff. ) zunächst einen Teil der von den Liberalen regierten Kantone erfasste und schliesslich 1848 den föderalen Nationalstaat mit einem einheitlichen Wirtschaftsraum, ­einer nationalen Aussenpolitik und den ersten Ansätzen einer gemeinsamen A ­ rmee hervorbrachte. Die Bundesverfassung von 1848 setzte die Grundsteine für die politische Erneuerung mit dem allgemeinen demokratischen Männerstimmrecht ( in der Praxis mit vielen Hemmnissen ), mit liberalen Freiheitsrechten und mit einer neuen Behördenarchitektur ( Nationalrat und Ständerat sowie Bundesrat ). Die Religions- und Niederlassungsfreiheit galt – ein bemerkenswertes Detail in der von einer radikal-­ liberalen Mehrheit geschaffenen Bundesversammlung ! – nur für Christen und nicht für Juden. Der Gründung des Bundesstaats von 1848 ging eine lange Periode von Revolutionen und Restaurationen, von inneren Unruhen und Putschs, von Bürgerkrieg und Besatzung voraus. Seit der Pariser Julirevolution von 1830 befand sich die Schweiz in einem Transformationsprozess, der die Politik in der Eidgenossenschaft und in zahlreichen ­Kantonen in Atem hielt. 1832/33 wurden in der Tagsatzung Verfassungsentwürfe diskutiert, die nicht umgesetzt wurden. Ende der 1830er-Jahre setzte mit dem Zürich-­ Putsch von 1839 eine konservative Gegenreaktion ein, die 1841 zum katholisch-konservativen Umsturz in Luzern führte. In den 1840er-Jahren ver-


I  Schaffung der Bundesbehörden im Rekordtempo

konfessionalisierten sich die Kulturkämpfe. Der Erneuerungsprozess führte auf nationaler Ebene zu einer Radikalisierung. Staatspolitische, weltanschauliche und ideologische Streitpunkte vermengten sich mit religiös-kirchlichen zu einem konfliktgeladenen und hochexplosiven Gemisch. 1841 kam es im Aargau zu gewaltsamen Klosteraufhebungen. Konflikte zwischen den « regenerierten » und den konservativen Kantonen versetzten die Eidgenossenschaft in einen Zustand permanenter Spannung. Mitte der 1840er-Jahre strebte die Krise ihrem Höhepunkt zu. Jesuitenberufung 1844 nach Luzern, Antijesuitenvereine überall, 1844/45 erster und zweiter Putschistenzug von Radikalen zum Sturz des konservativen Luzerner ­Regimes. In die Geschichtsbücher gingen diese revolutionären Befreiungsbewegungen mit dem heute noch verwendeten, aber von der jüngeren ­Generation kaum mehr verstandenen Begriff « Freischarenzüge » ein. Zur Abwehr gegen solche Übergriffe bildete sich das illegale Schutzbündnis der sieben katholisch-konservativ regierten Kantone Luzern, Freiburg, Wallis, Uri, Schwyz, Zug sowie ­Ob- und Nidwalden, das auf die Hilfe von den konservativen Mächten Europas zur Verteidigung des Bundesvertrags von 1815 hoffte. Der Sonderbund war geboren. Parallel dazu begann die Industrialisierung Teile des Mittellands fundamental zu verändern. Liberale Freiheitsrechte und die Idee der nationalen Einheit wirkten geistig als treibende Kräfte. Vereine der Schützen, ­Sänger, Turner und Studenten veranstalteten nationale Versammlungen, um für die Einheit und Freiheit der Nation zu demonstrieren. Gleichzeitig bildeten sich religiös-kirchliche Vereinigungen in der Form von Betvereinen. 1845 fiel im Kanton Luzern der fromme Bauernführer Josef Leu von Ebersol2 einem Attentat zum Opfer. 1832 spalteten sich radikal gesinnte Studenten von den liberalen Zofingern ( gegründet 1819 ) ab und gründeten die Helvetia, und 1841 wurde in Schwyz der ( katholisch- )konservative Schweizerische Studentenverein ( StV ) gegründet. In diesen Erneuerungsbewegungen griff eine neue bürgerliche Elite von Journalisten und Politikern nach den Schalthebeln der Macht und verfasste Zeitungsartikel und Pamphlete. Die 1830er- und 1840er-Jahre waren in verschiedenen Kantonen von Gewalt und Putschs geprägt, die in den Geschichtsbüchern zwar erwähnt, aber als revolutionäre Jahre kaum ins kollektive Gedächtnis der Nation eingegangen sind. Ich erwähne hier nur als Beispiele den Bürgerkrieg 1831/32,

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der zur Trennung in zwei Basler Halbkantone führte, den Züriputsch 1839, die liberaldemokratische Revolution 1830/31 und die Unterdrückung der konservativen Opposition 1841 in Solothurn, die Freischarenzüge zum Sturz des konservativen Regimes in Luzern, die Konflikte in Genf 1846 und im Tessin. Die Eidgenossenschaft war politisch zerrissen und auf Bundesebene tief gespalten. Im Spätherbst 1847 beschloss in der eidgenössischen Tagsatzung die radikal-liberale Mehrheit mit knappem Mehr, den Sonderbund mit militärischer Gewalt aufzulösen und wählte den liberal-konservativen Genfer Guillaume-Henri Dufour zum General. Ein Glücksfall für die Schweiz, da der gemässigt gesinnte Militär vom 3. bis 29. November 1847 einen kurzen Feldzug durchführte und die Sonderbundskantone zur ­raschen Kapitulation zwang. Damit war der Weg zur Gründung der mo­ dernen Schweiz frei. Die Sieger aus dem radikalen und liberalen Lager übernahmen die Macht in der neuen Schweiz.

Bundesverfassung im Rekordtempo Nun arbeitete die Bundesrevisionskommission in Rekordzeit eine neue Verfassung aus – ein spannender Prozess, den der Historiker Rolf Holen­ stein in einem akribischen Werk beschreibt.3 Da der alte Bundesvertrag von 1815 keine Revisionsklausel enthielt, haftete dem neuen Verfassungswerk von 1848 in den Augen vieler in den militärisch geschlagenen Sonderbundskantonen ein illegaler und revolutionärer Anstrich an – eine Sicht der Gründungsgeschichte, die auf katholisch-konservativer Seite jahrzehntelang dominierte. In der Zeitenwende von 1848/49 befand sich ganz Zentral- und Westeuropa in Aufruhr, weshalb die restaurativ orientierten europäischen Mächte nicht in der Lage waren, aktiv in den Transformationsprozess der Eidgenossenschaft einzugreifen. In der Folge sahen die monarchisch-­ restaurativen Mächte Europas in der neuen schweizerischen Republik im Herzen Europas einen revolutionären Unruheherd.4 Zum Glück für den jungen Bundesstaat erlagen sie der trügerischen Selbsttäuschung, die junge Republik werde nicht überleben. Während die neue Schweiz für die ultrakonservativen und reaktionären Monarchen Europas ein « Schurkenstaat » war ( wie es Josef Inauen 2013 drastisch formulierte ), stellte sie für


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Wilde 1850er-Jahre


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Schwieriger Anfang des jungen Bundesstaats Mitten in einem von Revolutionen aufgewühlten Europa nahmen die Bundesbehörden der neuen Schweiz – Bundesrat, National- und Ständerat, Bundesgericht – ihre Tätigkeit auf.1 Niemand konnte voraussagen, wie der Bundesrat und das Parlament funktionieren und die Bundesverfassung umsetzen würden. Um die Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse verwirklichen zu können, musste rasch eine Zentralverwaltung mit Bundeskanzlei und Departementen aufgebaut werden. Mit der Niederlassungsfreiheit für Schweizerinnen und Schweizer wurde die Personenfreizügigkeit durchgesetzt, wenn auch mit Einschränkungen. Die Schweizer Männer erhielten das allgemeine Wahlrecht, was im europäischen Vergleich eine Pionierleistung darstellte, die durch den Ausschluss der Armengenössigen und Juden gemindert wurde. Die Aufhebung der Binnenzölle und die Einführung ­einer einheitlichen Frankenwährung schufen die Voraussetzungen für ­einen nationalen Wirtschaftsraum mit freiem Waren- und Geldverkehr. Im ganzen Land entstanden Postgebäude, die die Präsenz der neuen Schweiz sichtbar markierten. Von herausragender Bedeutung war sodann die Schaffung einer nationalen Armee. In der Praxis stellten sich nochmals die Grundfragen, die schon vor 1848 das Land entzweit hatten : Wie stark soll der neue Bundesstaat ins Leben der Bürger in den Kantonen eingreifen ? Wieviel Zentralismus ­verträgt die stark fragmentierte Schweiz kulturell und politisch ? Was erfordert ein gemeinsamer Wirtschaftsraum mit Personenfreizügigkeit ? Bei der praktischen Gesetzgebungspolitik spaltete sich die « Fortschrittspartei », die seit den 1830er-Jahren in den « regenerierten » Kantonen herangewachsen war und 1847/48 die neue Bundesverfassung durchgesetzt hatte, in unterschiedliche, indessen noch nicht fest organisierte vormoderne Parteien auf. Unterschiedliche ordnungspolitische Vorstellungen über Staat und Gesellschaft vermischten sich mit regionalen und wirtschaftlichen Interessen. Wie kein anderes Thema beherrschte um die Mitte des Jahrhunderts die Eisenbahnfrage Wirtschaft und Politik. Zwischen den etatistischen Radikalen um den Berner Nationalrat Jakob Stämpfli und den Wirtschaftsliberalen um den Zürcher Nationalrat Alfred Escher entbrannte ein heftiger Konfikt.2 In der Frage der eidgenössischen Universität probten die Konservativen in einer Allianz mit den Föderalisten aus der Romandie


II  Wilde 1850er-Jahre

den Aufstand und erzielten einen Teilerfolg. 1855 kam in Zürich nur eine Technische Hochschule zustande. Hinter den tiefen ordnungspolitischen Gräben standen Rivalitäten zwischen den Machtzentren Bern, Zürich und Waadt. 1848 hatte das geografisch besser gelegene Bern den Wettbewerb um den Sitz der Bundesversammlung und des Bundesrats gewonnen, in den 1850er-Jahren drängte das dynamische und wirtschaftlich aufstrebende Zürich mit der Ostschweiz im Rücken den grossen, agrarisch geprägten Landkanton Bern zurück und etablierte sich innerhalb von zwei Jahrzehnten als Wirtschaftszentrum. Wir sind uns heute kaum mehr bewusst, dass die Stadt St. Gallen dank der Textil- und Stickereiindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine eigentliche Blüte erlebte und die fünftgrösste Stadt der Schweiz war. 1848 war die Stadt Zürich kleiner als Genf und Basel. Ende der 1850er-Jahre wurden die aussenpolitischen Krisen um Neuen­ burg und Hochsavoyen zu Bewährungsproben des jungen Nationalstaats.3 Im Neuenburger Handel erfasste eine national-patriotische Begeisterungswelle die Bevölkerung, bei der auch die studentische Jugend der katholisch-konservativen Stammlande wie der « Studentenverein » mitfieberte.4 Die Savoyer Krise liess vorwärtsstürmende Radikale, vorsichtige Liberale und bremsende Konservative erneut aufeinanderprallen. Jahrzehnte lang beschäftigten die innen- und aussenpolitisch hochbrisanten Flüchtlingsfragen Bund und Kantone. Obwohl der Bundesrat grundsätzlich am liberal gehandhabten Asylrecht festhielt, wies er fallweise politische Flüchtlinge gegen den Willen von radikal-demokratischen Kantonsregierungen aus, um als neutraler Kleinstaat internationale Streitigkeiten zu vermeiden.

Stürmische erste Gesamterneuerungswahlen Ursprünglich war vorgesehen, dass der National- und der Ständerat nur ein einziges Mal im Frühling/Frühsommer tagen würden ;5 doch bereits 1849 musste die ordentliche Session, die vom 16. April bis am 30. Juni in Bern geplant war, zur Weiterbehandlung der laufenden Geschäfte auf den 12. November vertagt werden. Wegen der Unruhen im süddeutschen Baden traten die Räte sogar schon im August wieder zusammen. Dem Geist der Repräsentativdemokratie von 1847/48 entsprach es, dass der vom Volk direkt gewählte Nationalrat in den Anfangsjahrzehnten

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grössere Bedeutung besass als der Ständerat.6 Als Vertretung der Kantone fehlte dem Ständerat die Legitimation durch die direkte Volkswahl, denn die Ständeherren wurden fast überall von den Kantonsparlamenten bestimmt. Vom heutigen Prestige der « chambre de réflexion » war um 1850 wenig zu spüren. Für den Nationalrat schrieb die Bundesverfassung alle drei Jahre Neuwahlen vor. In der Folge fanden auch die Erneuerungswahlen des Bundesrats alle drei Jahre statt. Die Bundesräte durften weder in den Kantonen noch in der Eidgenossenschaft ein anderes politisches Amt bekleiden. ­Allerdings sagte die Bundesverfassung nichts darüber aus, ob und wie die amtierenden Bundesräte in diesen Erneuerungswahlen zu bestätigen waren. Sollten die bisherigen Bundesräte in ihrem Amt wiedergewählt oder ausgewechselt werden ? Sollten sie bestätigt oder durch andere Persönlichkeiten ersetzt werden ? Welches Wahlprozedere sollte zur Anwendung kommen ? Sollte die Bundesversammlung beim 1848 praktizierten System der Einzelwahl bleiben oder eine Listenwahl für die bisherigen Amtsinhaber vornehmen ? Die allgemeine Unsicherheit verstärkte sich, als die Grossratswahlen im Kanton Bern 1850 einen konservativen Umschwung brachten.7 Die Radikalen befürchteten eine reaktionäre Gegenbewegung in der ganzen Schweiz und sahen den Bundesstaat in Gefahr. Tatsächlich kam es in den Nationalratswahlen vom 26. Oktober 1851 zu einem leichten Rechtsrutsch. Von den 120 Sitzen erhielten die katholisch-konservative Rechten 13 und die Reformiert-Konservativen 6 ; die liberale « Mitte » ( so der zeitgenössische Name ) verzeichnete 15 Sitze. Mit 86 Mandaten besassen die Radikalen immer noch die überwältigende Mehrheit. Im Ständerat waren die ­Radikalen mit 27, die Liberalen mit 7, die Katholisch-Konservativen mit 8 und die Reformiert-Konservativen mit 2 Sitzen vertreten. Noch waren die Fraktionsgrenzen fliessend.8 Vor den ersten Erneuerungswahlen für den Bundesrat in der Dezembersession 1851 herrschte Hochspannung. Der Urner Regierungsrat Josef Lusser schrieb an seinen Freund Escher : « Wie wird es wohl mit den Bundesräthen gehen, werden sie alle – auch Ochsenbein, wieder gewählt ? Das ist so die Tagesfrage in hier. »9 Der Luzerner Nationalrat Philipp Anton von Segesser von der katholisch-konservativen Opposition war pessimistisch ; er hielt vom bundesrätlichen Regierungskollegium nicht viel, und mit


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1860er-Jahre : auf der Suche nach Stabilität


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Vom Unruheherd zur stabilen Republik

Aufbruch in die Moderne In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formte sich als Folge der nationalen Einigungs- und Freiheitsbewegungen in den Ländern rund um die Schweiz eine neue europäische Staatenkarte heraus.1 Im Süden bildete sich das Königreich Italien und im Norden entstand das Deutsche Kaiserreich nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 als Grossmacht. Mit der Ablösung des Kaiserreichs von Napoleon III. durch die Dritte Republik in Frankreich erhielt die Schweiz an der Westflanke einen republikanischen Nachbarn. Während die Mehrheit der Deutschschweizer das neue Deutschland bewunderte, beobachteten zahlreiche Romands die internationale Entwicklung misstrauisch. Im Osten grenzte weiterhin das Habsburger Reich mit Wien als Mittelpunkt an die Eidgenossenschaft. Dem Bundesrat gelang das aussenpolitische Kunststück, sich aus den europäischen Kriegen herauszuhalten und die Unabhängigkeit des Kleinstaats zu bewahren. Die am Wiener Kongress 1815 völkerrechtlich anerkannte Neutralität wurde zur Leitmaxime der Aussenpolitik. Sarkastisch schrieb ein ausländischer Gesandter 1857 : « Die Schweiz macht überhaupt keine Politik, sondern nur nutzbringende Verträge … »2 Wegen der politischen Stabilität und des wirtschaftlichen Aufschwungs betrachteten die europäischen Mächte die kleine Republik im westlichen Zentraleuropa mit zunehmendem Respekt. Der Gesandte des Königreichs Bayern stellte bereits Ende der 1850er-Jahre mit Befriedigung fest, dass sich die revolutionäre Schweiz beruhigt habe und sich – so seine Worte – zum « Normalstaat » entwickle. Man gewöhnte sich an den republikanischen Kleinstaat im Herzen Westeuropas und an die Besonderheiten des schweizerischen politischen Systems. Malzen lobte vor allem den Bundesrat, der die Autorität des Bundes verkörpere und dem Land Stabilität garantiere. Er äusserte sich mit Anerkennung über die Vorzüge der « Einfachheit, Ruhe und Pünktlichkeit in den schweizerischen Verwaltungen, über die Uneigennützigkeit und Genügsamkeit der Verwaltenden, über die bei allen Vorkommnissen vorzugsweise Berücksichtigung des Publikums mit Hintansetzung der fiskalischen Interessen, über die vielen grossartigen Unternehmungen mit verhältnissmässig geringen Mitteln, über die Vollendetheit der Verkehrsanstalten, überhaupt über die Übersichtlichkeit und Zugänglichkeiten in Allem und Jedem im öffentlichen Haushalte ».3


III  1860er-Jahre : auf der Suche nach Stabilität

Die Schweiz begann ihre Rolle als neutraler Kleinstaat aktiv auszubauen. Unter der privaten Ägide von Henri Dunant wurde das Rote Kreuz als Grundstein des späteren IKRK gegründet ; im August 1864 wurde an einer vom Bundesrat einberufenen diplomatischen Konferenz die erste Genfer Konvention verabschiedet. Die Schweiz gewährte einer wachsenden Zahl von internationalen Konferenzen und Organisationen Gastrecht und be­ teiligte sich aktiv an der langsamen Entstehung der transnationalen und intergouvernementalen Weltordnung.4 Die Neutralität entwickelte sich zu einem zentralen Element der schweizerischen Identität und gewann internationalen Respekt. Im Innern wuchs der Bundesstaat Schritt für Schritt zu einem erfolgreichen nationalen Wirtschaftsraum zusammen. Neben die Textil-, Uhrenund Maschinenfabrikation trat die Nahrungsmittelindustrie, deren Markennamen wie Nestlé und später Maggi die Welt eroberten. 1866 wurde in Cham die Anglo-Swiss Condensed Milk Co. als erste europäische Kondensmilchfabrik errichtet. Zusammen mit der Entwicklung des milchhaltigen Kindermehls durch Henri Nestlé, einem Deutschen aus Schwaben, begann die Erfolgsgeschichte des späteren Weltkonzerns.5 Symbol der neuen Zeitepoche waren die Eisenbahnen, die die rasante Modernisierung begleiteten und vorantrieben. 1882 wurde der Gotthardbahntunnel, ein technisches Meisterwerk von internationalem Rang, eröffnet, der die Alpenrepublik im Herzen des westeuropäischen Nord-SüdTransits positionierte. Ein engmaschiges Netz von Eisenbahnen, deren Linienführung über Aufstieg und Niedergang von ganzen Landesgegenden entschied, legte sich über das Land. Während Jahrzehnten war der Eisenbahnbau von bitteren politischen Konflikten, regionalen Rivalitäten und schweren Finanzkrisen begleitet, die sich erst Ende des 19. Jahrhunderts mit der nationalen Zusammenfassung und der Gründung der Schweizerischen Bundesbahnen beruhigten.6 Die Industrialisierung, die im gesamteuropäischen Kontext verhältnismässig früh eingesetzt hatte, schritt im Mittelland rasch voran und ermöglichte ein erstes Wirtschaftswunder.7 Städtische Industrieagglomerationen entstanden von St. Gallen bis Genf, in Winterthur, ­Baden, Olten, Biel und anderen Landstädtchen. Der wirtschaftliche Aufschwung spielte sich vor dem Hintergrund einer Bevölkerungsexplosion ab. 1800 zählte die Schweiz etwa 1,7 Millionen Einwohner, im Jahr 1850 2,4 und 1900 3,3 Millionen.

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Im letzten Fünftel des 19. Jahrhunderts wurde die Schweiz vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland, das um die Jahrhundertwende von 1900 bereits den enormen Ausländeranteil von 11,6 Prozent aufwies.8 Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Zürich als Wirtschaftszentrum etabliert. Zwischen 1850 und 1870 wuchs die Stadtbevölkerung Zürichs auf dem Gebiet der heutigen Gemeinde von 41 585 auf 65 668. 1888 hatte ( Gross- )Zürich 103 862, 1900 bereits 168 021 Einwohner. 1885 sah die Gegend um die Bahnhofstrasse mit ihren Kaufhäusern, Hotels und Banken mondän aus. Mit der Industrialisierung vergrösserte sich die Zahl der Arbeiter und Angestellten rasch. Neue soziale Probleme entstanden, erste Gewerkschaften wurden gegründet und ab 1868 kam es, ausgehend von Genf, zu einer grösseren Welle von Streiks.9 Glarus schuf das erste Arbeiterschutzgesetz, das zum Vorbild für das eidgenössische Fabrikgesetz von 1877 wurde. Die Industrialisierung drängte den Bauernstand zurück. In den städtischen ­Agglomerationen kam es zu Unruhen und zu Krisenerscheinungen, die Hansjörg Siegenthaler beschrieben hat.10 Da die Strukturen des politischen Systems mit den sozioökonomischen Transformationen nicht Schritt hielten, breitete sich in den 1860er-Jahren eine politische Malaise aus, die das « System » zum Kritikpunkt machte und zur demokratischen Weiterentwicklung der bestehenden Repräsentativdemokratie führte.11 Zentrale Postulate dieser « demokratischen Bewegung » waren der Ausbau der Volksrechte und die Volkswahl der Regierung. Von der Ostschweiz und Züricher breiteten sich die demokratischen Protestbewegungen auch in der Nordwestschweiz aus. Im Kanton Zürich, im Thurgau, im Bernbiet, im Aargau, im Kanton Solothurn, in Schaffhausen und im Kanton Luzern erzielten sie Erfolge und führten, teilweise schon in den 1850er-Jahren, Regierungswechsel herbei. 1868 stürzten im Kanton Zürich die « Demokraten », deren Zentrum in Winterthur um den Land­ boten war, das System Eschers. Mitte der 1860er-Jahre nahm diese Revisionsbewegung auch auf Bundesebene Fahrt auf, wo sie 1874 eine Totalrevision der Bundesverfassung zum Ergebnis hatte.

Neue Führungsriege im Bundesrat Vom 1848er-Gründungsbundesrat blieben nach dem Tod von Bundesrat Furrer im Jahr 1861 nur Näff und Frey-Herosé übrig, zwei Magistraten, die


III  1860er-Jahre : auf der Suche nach Stabilität

ihre Departemente zwar mit tüchtiger Routine verwalteten, aber im Kollegium keine Führungspersönlichkeiten waren.12 Wie die Ersatzwahlen nach den Todesfällen in der zweiten Hälfte der 1850er-Jahre zeigten, war die Auswahl der neuen Bundesräte fortan nicht mehr wie vor den ersten Wahlen von 1848 das Ergebnis einer umsichtig abgestimmten Elitenauslese. Da die Vakanzen in Einzelwahlen besetzt werden mussten, entwickelten sich ungeschriebene Regeln. So waren drei Sitze ( Zürich, Bern und Waadt ) von den sieben von vornherein aus kantonspolitischen Gründen vergeben – wie schon 1848. Wenn ein Berner, Waadtländer oder Zürcher ersetzt werden musste, war die Bundesversammlung somit in der Auswahl eingeschränkt. Hinzu kamen regionale, sprach- und konfessionspolitische Regeln, die den Kreis einengten. Dass die Auswahl damit oft dem Zufall überlassen blieb, war die Konsequenz. Oft wurde nicht der beste, sondern ein zum Zeitpunkt der Wahl vorteilhaft positionierter Mann zum Bundesrat gewählt. Dieser bis heute typische Mechanismus zeigte sich bereits 1855 bei den ersten beiden Ergänzungswahlen. Als Ersatzmann für Bundesrat Munzinger wurde der Hinterbänkler Knüsel und für Druey der Jungstar Fornerod auf den höchsten Bundesposten erhoben. Drueys Nachfolger hielt nicht, was die junge radikale Garde, die ihn auf den Sessel gehievt hatte, von ihm erwartete. Nach dem Urteil von Zeitzeugen fehlten ihm Charakter und Prinzipien, er erwarb sich den Ruf eines Opportunisten. Noch deutlicher war die Wahl des Luzerners Knüsel das Ergebnis eines in keiner Weise ­geplanten Wahlprozesses. Dass er in der Folge eine mehr verwaltende als gestaltende Randfigur im Bundesratskollegium blieb, verwundert nicht. Franscinis Nachfolger wurde Pioda, weil dies der Sprachen- und Konfessionsproporz erforderten. Als Radikaler, der sich nach 1848 zum Gemässigten wandelte, gehörte er der damals tonangebenden Partei, das heisst der liberalen Mitte, an. Wegen seiner diplomatischen Umgangsformen und wegen seines Sprachentalents wurde er allseits geschätzt, er war aber keine Führernatur. Die Wahl von wenig profilierten und eher mittelmässigen Regierungsmitgliedern ermöglichte es dem dynamischen Stämpfli, neben dem erkrankten Furrer im Kollegium zum starken Mann aufzusteigen. Da sich Bundesrat Stämpflis Beziehungen zu den Escherianern dramatisch verschlechterten, begannen sich die Fronten zu verhärten, was im Nationalrat den Fraktionsbildungsprozess beschleunigte.

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Der Tod Furrers am 25. Juli 1861 nahm das Ende des Gründungsbundes­ rates vorweg. Unbestritten war, dass der vakante Sitz wiederum an einen Zürcher fallen sollte. Nachdem bereits Mitte der 1850er-Jahre die Berner und Waadtländer ihren Sitz behalten konnten, festigte sich das Privileg der drei grossen Kantone. « Allgemein gilt die Meinung, man müsse die erledigte Stelle wieder durch einen Zürcher besetzen und nach bisheriger Übung wird es sich auch nicht anders thun lassen »,13 zitierte die NZZ zufrieden eine Berner Zeitung. Da Alfred Escher bekanntlich kein Interesse am Bundesratsposten zeigte, aber hinter den Kulissen die Fäden zog, rückte Regierungsrat und Ständerat Jakob Dubs in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit. 1849 im jungen Alter von erst 27 Jahren in den Nationalrat gewählt, übernahm er 1854 das Präsidium der Grossen Kammer und wechselte in den Ständerat, den er 1856 ebenfalls präsidierte. Im Kanton Zürich amtete er inzwischen als Regierungsrat. Von 1854 bis 1861 war er zusätzlich nebenamtlicher Bundesrichter. Ein Berufspolitiker von nationalem Rang wuchs heran, dessen Blitzkarriere einen weiteren Beleg für die Prädominanz der Grosskantone Zürich und Bern darstellt. Im Savoyer Handel unterstützte Ständerat Dubs die gemässigte Linie von Bundesrat Furrer und geriet mit den nationalistischen Heissspornen um den radikalen Berner Bundesrat Stämpfli in einen bösen Streit. Da der junge Dubs als Mitglied der Studentenverbindung Helvetia seinem Farbenbruder Stämpfli ursprünglich nahestand, freute sich der Alt-Zofinger Escher über den Gesinnungswandel seines Zürcher Kollegen : « Die Stellung, die Dubs einnimmt, dass er seine Schiffe der Stämpflischen Partei gegenüber verbrannt hat, scheint mir sehr erfreulich. Er ist wieder auf seinen natürlichen Boden zurückgekehrt & hat auf demselben seine natür­ lichen Freunde wieder gefunden ! Es trägt dies zur Einheit des Auftretens des Cts. Zürich & der östlichen Schweiz überhaupt sehr viel bei. »14 Wenn man sich die ideologischen Differenzen und die tiefen Interessengegensätze zwischen den Radikalen um Stämpfli und den liberalen Escherianern vergegenwärtigt, verwundert es nicht, dass die Berner Zeitung gegen die Bundesratskandidatur von Dubs Stimmung machte und dessen Wahl als « Todsünde » bezeichnete.15 Um Dubs zu verhindern, war das radikale Stämpfli-Blatt sogar bereit, über seinen Schatten zu springen und den reformiert-konservativen Zürcher Nationalrat und Oberst Paul Karl


III  1860er-Jahre : auf der Suche nach Stabilität

Jakob Dubs (  1822 – 1879 ) 1861 – 1872  ZH, Mitte ( Lib. )  30. Juli 1861  28. Mai 1872 1861 – 1863, 1866 1864, 1868, 1870 1865, 1871 – 1872 1867, 1869 1864, 1868, 1870

Wahl in den Bundesrat Rücktritt Justiz- und Polizeidepartement Politisches Departement Departement des Innern Postdepartement Bundespräsident

Eduard Ziegler 16 zur Wahl zu empfehlen. Die liberale NZZ, die den nach rechts in die liberale Mitte konvertierten Dubs unterstützte, hielt sich zurück und meldete sich erst am Wahltag zu Wort, weil sie « die Ersetzung durch einen Zürcher wohl erwarten, aber von unsern gleichberechtigten Eidgenossen nicht fordern durften. Daher unser Schweigen ».17 Dubs erhielt auch die Unterstützung des katholisch-konservativen Oppositionsführers von Segesser, der das intellektuelle Format und das unabhängige Denken des Zürchers schätzte. Am 30. Juli 1861 wurde Ständerat Dubs im ersten Wahlgang mit dem glänzenden Resultat von 90 der 124 gültigen Stimmen gewählt. Der reformiert-konservative Ziegler machte bloss 13 Stimmen. Mit Jakob Dubs, der wenige Tage vor seiner Wahl 39 Jahre alt geworden war, kam ein Politiker in den Bundesrat, der in die Fussstapfen von Furrer treten konnte. Wie ­Furrer wurde auch Bundesrat Dubs der liberalen Zentrums-Fraktion zugerechnet.18 Von Furrer übernahm er das Justiz- und Polizeidepartement, das er von 1861 bis 1863 und nochmals 1866 leitete. 1867 und 1869 stand der Allrounder dem Departement des Post- und Telegrafenwesens und in den Jahren 1865 sowie 1871 und 1872 dem EDI vor. Dreimal – 1864, 1868 und 1870 – war er Bundespräsident mit dem EPD. Dubs gehörte von Beginn an zum inneren Führungskreis des Bundesrats. Stämpfli erhielt mit ihm einen ebenbürtigen Kollegen, der die gleiche

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politische Robustheit besass. Mit Selbstbewusstsein schrieb der neue Bundesrat schon Ende des Jahrs 1861 an seinen Protektor Escher : « Stämpfli hat in letzter Zeit einige höchst empfindliche Niederlagen erlitten … » In Fornerod sah er einen künftigen Bundesgenossen.19 Im Parlament konnte Dubs auf Eschers Klub zählen, obwohl er dessen Gotthardpläne kritisch betrachtete. Mit den zahlreichen Berner Sitzen war Stämpflis Stimmenbasis allerdings beachtlich. Stämpfli mangelte aber das filigrane nationale Beziehungsnetz, das das Duo Furrer-Escher in den 1850er-Jahren aufgebaut hatte. Da Stämpfli den Bundesrat am 31. Dezember 1863 überraschend verliess, war die Rivalität der beiden Alphatiere von kurzer Dauer. Dubs wuchs zum führenden Kopf im Bundesrat heran, was der Historiker Marco Jorio in seinem Porträt mit Recht hervorhebt. Ein untrügliches Zeichen dieses Erfolgs : Bereits 1863 wurde Jakob Dubs im ersten Wahlgang zum Vizepräsidenten gewählt und überholte damit seine amtsälteren Kollegen Pioda und Schenk.

« Stämpflische Dictatur » gegen « Versicherungsgesellschaft » Zu Beginn der 1860er-Jahre rüttelte die junge Garde der Nach-48er mit den radikal-freisinnigen Alt-Helvetern um Stämpfli heftig an den verbliebenen zwei Sitzen der Gründerväter und strebte einen Generationenwechsel im Bundesrat an.20 Die eidgenössische Politik wurde immer stärker durch die unterschiedlichen Interessen im Eisenbahnwesen vergiftet, in denen sich regionale und finanzielle Belange mit persönlichem Eigennutz vermischten. Die ökonomischen Differenzen verstärkten sich durch gegensätzliche Haltungen in der Aussenpolitik wie im Savoyer Handel. In einem privaten Brief bezeichnete Escher die Politik seines Gegenspielers Stämpfli als « Dictatur » : « Welches derartige Programm hat die Stämpflische Dictatur ? Die auswärtige Politik der Schweiz anlangend will St. mit derselben in die Europäische Politik eingreifen. Sardinien & die Schweiz, Cavour & – Stämpfli – es sind da keine sehr große Zwischenräume ! Der Meistergesell Schenk hat während der letzten Session der Bundesversammlung verkündet : Die Schweiz müsse ‹ an der Spitze › von Russland & Österreich, England & Preussen den Napoleoniden den Krieg machen ! ! Die innere Politik der Schweiz anlangend lautet das Stämpflische Programm folgender Massen : Centralisation zu Gunsten des Cts. Bern. Eisenbahnen, Entsumpfun-


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Ein politisches Wunder Es grenzt an ein politisches Wunder, dass der junge Bundesstaat von 1848 das europäische Zeitalter des Nationalismus und des Imperialismus mit seinen Revolutionen und Kriegen in seiner staatlichen Integrität heil und in seiner inneren Ordnung funktionsfähig überstanden hat.1 Während rund um die Schweiz neue Grossmächte wie das Deutsche Reich und Italien entstanden und sich auf dem europäischen Kontinent zahlreiche kleinere Staaten formten, bewahrte die Schweizerische Eidgenossenschaft ihre am Wiener Kongress von 1815 festgelegten äusseren Grenzen und verschaffte sich als kleine Republik im Konzert der europäischen Staaten steigenden Respekt. Noch in den 1840er-Jahren galt die Schweiz als revolutionärer Brandherd Europas.2 Wie Josef Inauen beschreibt, befürchteten die Kanzleien der Monarchien, dass die schweizerische Republik, die auf Volkssouveränität und liberalen Grundrechten aufbaute, wie eine Krebskrankheit im übrigen Europa Metastasen streuen und als Vorbild für Aufruhr und Umstürze dienen würde. Fürst Metternich schrieb 1845, die Schweiz sei « seit langem bereits ein wahres Probestück aller soziellen, religiösen, legislativen und politischen Übel und Gefahren », ein « Refugium peccatorum », sie enthalte « Musterschulen für alles Schlechte und Gewagte », sie sei « mit einem Worte das, was ich in einer meiner Expedizionen [ sic ] in der letzten Zeit durch den Wortlaut einer bastioni[ e ]rten Kloake in nakter Wahrheit bezeichnete ». In den Worten eines Spitzels in Süddeutschland war die Schweiz « die cloaca magna von Europa ». In Deutschland, das sich 1870/71 zum Deutschen Reich vereinigt hatte, wurde die Kleinstaaterei von zahlreichen Publizisten und Politikern verspottet und verachtet. Fortschritt und Modernisierung konnten sich diese Intellektuellen nur im Rahmen einer Grossmacht vorstellen. Friedrich ­Engels, der Kompagnon von Karl Marx, sah 1853 in Belgien, Griechenland und der Schweiz bloss Pufferstaaten, die dereinst als Knechte einer Konterrevolution zum Verschwinden verurteilt seien. Kleine Völker wie die Tschechen, Basken und Schotten galten als rückständige und arme Völker, weshalb sie keine Zukunft als Nationalstaaten hätten. Als sich die innere Lage der Schweiz nach 1848 relativ rasch beruhigte und der Bundesstaat Bestand hatte, waren die Kritiker frappiert. Zu ihrer


VI  Der Bundesrat als nationales Scharnier – eine Bilanz

Verblüffung vermochten die als Revoluzzer verschrienen republikanischen Eliten das in den 1840er-Jahren völlig zerstrittene Land pragmatisch ­zusammenzuhalten, in schwierigen Zeiten dem in Wien proklamierten aussenpolitischen Neutralitätskurs nachzukommen und die explosiven Flüchtlingsfragen mit Klugheit an die Hand zu nehmen. Damit schufen sie die politisch-staatlichen Voraussetzungen für den Anschluss des bisher weitgehend agrarisch geprägten Landes an die moderne technisch-industrielle Entwicklung, die den wirtschaftlichen Aufschwung erst ermöglichte. Die Schweiz wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem « Laboratorium des Fortschritts » mit einer erfolgreichen Wirtschaft, mit Eisenbahnen, Exportunternehmen und Banken.3 Auf der internationalen Bühne ­etablierte sich die Schweizerische Eidgenossenschaft Schritt für Schritt als vertrauenswürdige Republik, die im europäischen Staatensystem an Bedeutung gewann und sich im bewegten letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem Neutralitätskurs in eine ruhige Abseitsstellung manövrierte, die den wirtschaftlichen Aufstieg förderte. Da der prosperierende Kleinstaat im Zeitalter des Imperialismus nicht ins vorherrschende Bild von Nationalstaaten mit Grösse und Macht passte, zog sie verwunderte und zugleich bewundernde Aufmerksamkeit auf sich. Die Schweiz errang sogar in der globalen Diplomatie als Mitglied und Sitz von internationalen Organisationen einen privilegierten Platz. Dass sich der Bundesstaat im Innern stabilisierte, rasante wirtschaftliche Fortschritte machte und internationales Ansehen gewann, verdankte er vielen Faktoren. Während Joseph Jung in seinen Publikationen die technisch-wirtschaftlichen Aspekte hervorhebt, lege ich in diesem Buch den Akzent auf die staatspolitische Seite des Modells Schweiz. Mit dem von den USA übernommenen Zweikammersystem ( Nationalrat als Volkskammer und Ständerat als Vertretung der Kantone ) und mit dem Bundesrat erhielt der neue Bundesstaat in der Legislative und in der Exekutive Institutionen, die die bis heute gültige Architektur der Eidgenossenschaft darstellen.4

Politische Stabilität durch personelle Kontinuität Wenn wir die Berichte der Diplomaten über die Schweiz nach der Mitte des 19. Jahrhunderts lesen, fällt auf, dass die diplomatischen Vertreter des Auslands wiederholt die Beständigkeit und Stabilität des Bundesrats her-

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Die Der Bundesrat steht im Zentrum des schweizerischen Regierungssystems. Seit der Gründung des Bundesstaats im Jahre 1848 ist diese Institution im Wesentlichen unverändert geblieben. Das vom Historiker Urs Altermatt herausgegebene und 1991 letztmals publizierte Bundes­ratslexikon etablierte sich innert kurzer Zeit als Standardwerk der Bundesratsgeschichte. Jetzt liegt es komplett überarbeitet und aktualisiert vor. 93 Autorinnen und Autoren zeichnen für jedes Mitglied des Bundesrats ein bewegtes Bild ihrer Wahlen und Rücktritte, Karrieren und Politik – von der Gründung der modernen Schweiz bis in die Gegenwart. Die Porträts sind auf dem neusten Forschungsstand und mit Bildern, Tabellen, Quellen und Literaturhinweisen versehen. Über das rein Biografische hinaus vermittelt dieses Handbuch einen prägnanten Überblick sowie überraschende ­Einblicke in 170 Jahre Bundesstaat. Ein politisch-historisches Lesebuch und faszinierendes helvetisches Kaleidoskop.

Urs Altermatt Vom revolutionären Unruheherd zur stabilen Republik

Komplett überarbeitet und aktualisiert

Bei der Gründung des Bundesstaats 1848 wurde der Bundesrat als erste wirkliche Regierung der Schweiz geschaffen – eine ebenso eigentümliche wie einzigartige Institution von sieben gleichgestellten Regierungsmitgliedern. Waren sie tatsächlich gleichgestellt? Der Historiker und Bundesratsexperte Urs Altermatt stellt dies in Frage und spricht für die ersten Jahrzehnte von zwei Klassen von Bundesräten, ja von versteckten Bundesratskönigen. Auch kann damals noch nicht von Konkordanz gesprochen werden. Der Autor beschreibt minutiös die ersten, äusserst spannenden und zugleich wegweisenden Bundesratswahlen, in denen die ungeschriebenen Gewohnheitsegeln langsam entstanden sind, die heute als fast sakrosankt gelten. Er zeigt die Bundesratsgeschichte der Zweiparteien-Koalition der Radikalen und der liberalen Mitte, die der jungen Republik nach dem Bürgerkrieg und den revolutionären Jahren zu Stabilität verhalf. Urs Altermatt ist Historiker und emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg i.Ü., deren Rektor er war.

ISBN 978-3-03810-218-2 ISBN 978-3-03810-218-2

9 783038 102182

www.nzz-libro.ch

ISBN 978-3-03810-478-0 www.nzz-libro.ch


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