sam. Sachsen-Anhalt-Magazin, Ausgabe Juli 2010

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BERICHTE AUS WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT

Zukunft im Blick Wenn Firmenchefs einen Nachfolger f端r ihr Unternehmen suchen Seite 16

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Das Jahr 2010 ist das Jahr der Internationalen Bauausstellung (IBA) Stadtumbau Sachsen-Anhalt. 19 Städte unseres Bundeslandes zeigen, wie sie ausgewählte Quartiere entwickelt haben, damit sie lebenswert und gut gerüstet für die Zukunft sind. Das Magdeburger IBA-Thema „Leben an und mit der Elbe“ verdeutlicht, wie wichtig der Fluss für die Stadt und ihre weitere Entwicklung ist. Brachflächen entlang der Elbe werden reaktiviert, Räume zum Wohnen und Arbeiten entstehen.

Stadt und Fluss rücken wieder zusammen. Der Magdeburger IBA-Beitrag präsentiert sich mit den Ausstellungen „IBA 2010 Magdeburg“ und „Kulturlandschaft Elbe“ seit 20. April im IBAShop in der Regierungsstraße 37. Am 24. April wurde am Petriförder der IBA-Pfad mit zahlreichen Stationen im Umfeld der Elbe eröffnet. Der IBA-Pfad zeigt beeindruckend, wie positiv sich Magdeburg in den vergangenen Jahren an seinem Fluss entwickelt hat.


Aus meiner Sicht

seit fünf Jahren klingelt bei landesbewussten Sachsen-Anhaltern

Aber auch dieser Spruch wird wohl kaum das neue Sachsen-

hatte eine Studie herausgekramt, wonach die Landeskinder zwi-

und läuft und läuft. Mittlerweile hat sie nicht nur gekostet, son-

punkt 6.38 Uhr der Wecker. Eine ausgeschlafene Werbeagentur

schen Arendsee und Zeitz von allen Bundesbürgern am frühsten aus den Federn krabbeln.

„Sachsen-Anhalt – Land der Frühaufsteher“, so heißt es seitdem

in Broschüren, auf Autobahnschildern und Plakaten bundesweit. Der Slogan, von Anfang an nicht unumstritten und zuweilen mit

bitterer Ironie kommentiert: Früh aufstehen, weil der Arbeitsweg in den Westen so lang ist? Pünktlich zum „Geburtstag“ entbrann-

te die (Un-)Sinn-Diskussion jetzt erneut. Sogar die Forderung

wurde laut, das Motto abzuschaffen und ein neues zu erfinden. Was Besseres viel den Kritikern aber auch nicht ein.

Mal ehrlich: Wäre es besser, die Studie hätte seinerzeit ergeben,

Anhalt-Motto werden, denn die Frühaufsteherkampagne läuft

dern auch Wirkung gezeigt. In Sachsen-Anhalt kennt fast jeder den Frühaufsteher-Slogan und bundesweit ist es nach Baden-

Württembergs „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“ das wohl

bekannteste Landesmotto überhaupt. Warum also abschaffen, was doch eigentlich ganz gut funktioniert?

Denn selbst wer den Claim nicht mag, hat sich mit der doppeldeutigen Frühaufsteherei auseinandergesetzt. Ziel erreicht! Also

bleibt es vorerst dabei: Sachsen-Anhalt steht weiter früher auf. Wer sich darüber aufregt, kann sich ja auch wieder hinlegen oder ein Tässchen Pfefferminztee trinken. Das soll beruhigen.

dass die Sachsen-Anhalter bundesweit die meisten Leberwurst-

brötchen verputzen oder den meisten Pfefferminztee schlürfen? Sachsen-Anhalt – Land der Leberwurstbrötchenesser! – Wie hört sich das denn an? Und „Land der Pfefferminzteetrinker“ klingt

auch nicht gerade sexy. Allenfalls der Slogan „Sachsen-Anhalt – Alles Pfeffi, oder was!“ hätte einen gewissen Charme.

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Christian Wohlt, Redakteur

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In diesem Heft

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Interview

Bewusstsein muss das Sein bestimmen Im Gespräch mit Prof. Ulrich Blum...…………………….. 6

Technik

Fußball auf dem Marktplatz Magdeburger Unternehmen Screen Rent ist „Erfinder“ des Public Viewing.......……………………...10

Portrait

„Da muss sich was drehen“ Prof. Dr. Omar Akbar gab den Anstoß zur Internationalen Bauausstellung 2010……………….. 13

Unternehmensnachfolge

Zukunft der Firma im Blick Inhaber und Nachfolger erhalten fundierte Unterstützung.……..........……………………..16

Forschung

Mut im Herzen und Sonne im Tank Sachsen-Anhalt ist bei Entwicklung von alternativen Antrieben ganz vorn…………………….20

Der Konsolidierung folgt die Aufholjagd

Seite 6

Die Krise haben Sachsen-Anhalts Unternehmen verhältnismäßig glimpflich überstanden. Dennoch werde ein schmerzlicher Konsolidierungsprozess folgen, erwartet Prof. Ulrich Blum, Chef des Institutes für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). In einigen Branchen, wie dem Maschinenbau oder der Solarbranche, müssten vollkommen neue Geschäftsmodelle entwickelt werden, um im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Insgesamt sieht der Wissenschaftler Sachsen-Anhalts Wirtschaft für die Zukunft gut aufgestellt. Sie werde in absehbarer Zeit nicht nur die Leistungskraft westlicher Bundesländer erreichen, sondern diese überflügeln. Womit er diese Zuversicht begründet, erläutert Blum im Interview mit dem Sachsen-Anhalt-Magazin.

Stadtentwicklung

Stadtumbau in Aschersleben und Magdeburg Beide Städte zeigen die Ergebnisse zur Internationalen Bauausstellung...……………………22

Demographischer Wandel

Schleier über der Wirklichkeit Bevölkerungsentwicklung stellt Wohnungsunternehmen vor Herausforderungen.......….....28

Logistik

Eine seetüchtige Dreiecksbeziehung Magdeburgs Hafen will Hinterlanddrehscheibe für Seehäfen werden………………………………..…………30

Ernährungswirtschaft

Lust und Liebe für Hopfen und Malz Colbitzer Heidebrauerei bringt neues Bier auf den Markt………..….........……………………………….....34

Fortbildung

Gute Verbindungen Schweißtechnische Lehranstalt Magdeburg ist gefragter Partner………………….…………………………37

Dreiklang: IBA, Landesgartenschau und Neo Rauch

Seite 22

Sachsen-Anhalts Städte wandeln sich. Einst grau und vom Zahn der Zeit angenagt, präsentieren sich derzeit Aschersleben und Magdeburg neben 17 anderen im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 mit überraschend neuem Gesicht, neuem Selbstbewusstsein und neuem Image. Dass dabei auch erstaunliche Dinge passieren können, beweist das Engagement des international derzeit interessantesten deutschen Gegenwartsmalers Neo Rauch, hier auf dem Bild mit Oberbürgermeister Andreas Michelmann (links) und Architekt Prof. Arno Lederer (Mitte). Rauch will jetzt in Aschersleben dauerhaft seine Werke ausstellen. Eine IBA-Spurensuche.


In diesem Heft

5

Projekte

Fifty-fifty-Taxi – Fahrschein ins Leben Verkehrsicherheitsaktion hat Zahl tödlicher Disko-Unfälle erheblich gesenkt……………….........40

Spezialitäten

Lebendiger Trüffel unter den Käsesorten Helmut Pöschel aus Würchwitz verhilft Milben zu Weltruhm………....……….…………......……….42

Briefe an die Redaktion

Leserzuschriften…………………………………………………….46

Eine seetüchtige Dreiecksbeziehung

Seite 30

Hafendirektor Karl-Heinz Ehrhardt will den größten mitteldeutschen Binnenhafen Magdeburg zum Mittelpunkt einer Hinterlanddrehscheibe für den Seeverkehr entwickeln. Wenn er von einem „Duisburg des Ostens“ spricht, klingt das vielleicht nach Größenwahn. Aber der Mann weiß, wovon er spricht.

Biertradition mit Charakter Seite 34 Colbitzer Bier hat einen guten Namen in der Region. Seit fast 140 Jahren wird es am selben Standort gebraut. Sein Markenzeichen: würzig und charaktervoll.   50  000 Hektoliter verlassen jährlich die Colbitzer Heidebrauerei. In diesem Jahr soll es noch ein bisschen mehr werden. Denn die Brauerei ist mit einem neuen Bier am Markt. Das „Colbitzer Hell“ ist eine Traditionsmarke des Hauses, die jetzt neu belebt wurde. Christian August steht seit 2001 an der Spitze der Firma und will dafür sorgen, dass der Name „Colbitzer“ auch in 140 Jahren noch einen guten Klang hat.

Impressum: HERAUSGEBER SAM. Sachsen-Anhalt-Magazin Verlag GbR Geschäftsführer: Michael Scholz, Wolfgang Preuß KONTAKT SAM. Sachsen-Anhalt-Magazin Verlag GbR Schilfbreite 3, 39120 Magdeburg Tel. 0391 63136-45, Fax 0391 63136-47 info@st-magazin.de www.sachsen-anhalt-magazin-verlag.de REDAKTIONSLEITUNG Ute Semkat, Christian Wohlt redaktion@st-magazin.de ANZEIGEN Ralf Harms Tel. 03943 5424-27 anzeigen@st-magazin.de FOTOGRAFIE Michael Uhlmann DRUCK Harzdruckerei GmbH, Wernigerode Schutzgebühr: 4,00 EUR Das Magazin und alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Der Nachdruck – auch auszugsweise – ist nur mit schriftlicher Genehmigung und Quellenangabe gestattet. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Bilder wird keinerlei Gewähr übernommen. Die namentlich gekennzeichneten Beiträge stehen in der Verantwortung des jeweiligen Autors. 2. Jahrgang 2010 ISSN 1868-9639

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Interview


Interview

„Das Bewusstsein muss das Sein bestimmen“ Prof. Ulrich Blum, Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, sieht Sachsen-Anhalt auf der Überholspur

Die meisten Sachsen-Anhalter spüren die Auswirkungen der Kri-

Wenn sich die Nachteile der hiesigen Wirtschaft günstig ausge-

es sich nur um eine virtuelle Krise?

chen nicht eher als Stärken sehen und sich darauf besinnen?

se nicht direkt. Der Arbeitsmarkt erscheint relativ stabil. Handelt

wirkt haben, sollte man sich dann diese vermeintlichen Schwä-

Ulrich Blum: In einigen Teilen Deutschlands, besonders in den

Ulrich Blum: Natürlich bringen diese Faktoren eine hohe Flexi-

Krise hautnah spürbar. Die Nachteile der Wirtschaftsstruktur

empfindlich. Andererseits wirken sie nicht gerade wohlstands-

stark auf Export orientierten Regionen im Südosten, ist die

in Mitteldeutschland, also die geringere Exportorientierung,

die Ausrichtung auf Vorleistungen für andere Produktionen, haben dazu geführt, dass die Region von der Krise später erwischt worden ist. Eine große Rolle spielt zudem, insbesondere in Sachsen-Anhalt, dass das Ernährungsgewerbe von der

Krise verschont blieb und sogar Vorteile nutzen konnte. So

sind zum Beispiel die Energie- und Rohstoffpreise gesunken.

Es ist also anfangs kaum etwas von der Krise angekommen, weil der Übertragungsmechanismus nicht gegriffen hat. Es

war nichts zu übertragen da. Zum anderen hat eine unerwartete Psychologie gewirkt: Obwohl die Mittel aus dem Konjunkturprogramm der Bundesregierung nur sehr schleppend

bilität mit sich. Damit ist die hiesige Wirtschaft nicht so schocksteigernd. Wenn wir das Wohlstandsniveau vergleichbarer westlicher Länder erreichen wollen, muss die Wirtschaft Sachsen-Anhalts verstärkt auf den Endverbraucher und den Export

ausgerichtet werden. Die erfolgreichen Unternehmen SachsenAnhalts, die sich von vergleichbaren westlichen Firmen nicht

mehr unterscheiden, sind sehr stark export- und endkunden-

orientiert. Dazu zählen beispielsweise Kathi Halle, Rotkäppchen Freyburg oder Teile der Solarindustrie.

Steht das „dicke Ende“ also erst noch bevor? Anders gefragt: Welche Konsequenzen wird die Krise haben?

fließen, hat es bei den Unternehmen das Vertrauen in die

Ulrich Blum: Die Krise bringt einen enormen Konsolidierungs-

auf eine baldige Bewältigung der Krise geweckt. Hysterie wur-

der Staat die Wirtschaft einmottet und der Krach danach kommt,

Handlungsfähigkeit des Staates bestärkt und so Hoffnungen de so verhindert.

Also hat das Konjunkturpaket anders gewirkt als es sollte? Ulrich Blum: Es hat nicht real, sondern eher virtuell gewirkt. Das

Konjunkturpaket II ist jetzt etwa eineinhalb Jahre alt. Bis Sommer vorigen Jahres waren von den 70 Milliarden Euro höchstens zehn Milliarden Euro im Markt angekommen. Inzwischen ist es allenfalls ein Drittel. Ein Großteil wird dieses Jahr wirksam werden. Ob es dann tatsächlich zu mehr Investitionen führt, wage ich zu bezweifeln.

Hat sich der Abstand zu den westlichen Ländern verringert und Sachsen-Anhalt von der Krise sogar profitiert?

Ulrich Blum: Das hieße ja: Die Armut geht zurück, wenn die

Reichen weniger werden. Das sehe ich kritisch, denn wir sind

durchaus von den Wohlstandszahlern in Bayern oder BadenWürttemberg abhängig. Sachsen-Anhalts Wirtschaft ist in etwa so geschrumpft wie der Bundesdurchschnitt.

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zwang mit sich. Wirtschaftskrisen führen entweder dazu, dass oder die Folge ist ein beschleunigter Wandel. Der wird schmerz-

lich sein. Im Maschinenbau beispielsweise – da darf man nichts

beschönigen – werden etwa 30 Prozent der Unternehmen in den nächsten Jahren eingehen. Das heißt nicht, dass die Produkti-

onskapazität wegfällt. Die Frage ist: Wer übernimmt wen? Die

Solarbranche ist bisher auf deutsche Verhältnisse ausgerichtet. Für Chinesen allerdings ist das ein Klacks. Die brauchen eine Lupe, um überhaupt zu erkennen, was hier im Hinblick auf die

Größe einzelner Unternehmen läuft. Hier gilt es, das Geschäftsmodell zu überdenken. Individuelle Lösungen sind gefragt. Mit

Standardprodukten kann man zwar eine Technologie aufbauen.

Sie sind aber nie Garant für wirtschaftlichen Erfolg auf Dauer. Dabei handelt es sich stets um eine Einstiegs-, nie um eine Aufstiegstechnologie.

Bleibt es das Schicksal Sachsen-Anhalts, immer auf Anschlussjagd zu sein?

Ulrich Blum: So pauschal kann man das nicht sagen, aber Sach-

sen-Anhalt hat es in der Tat nicht einfach. Das Problem sind die

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Interview

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Die Halloren Schokoladenfabrik aus Halle kreierte eine spezielle

Pralinenkollektion anlässlich der

Hochzeit der schwedischen Kronprinzessin Viktoria.

fähigkeit beweisen. Diese stützt sich nicht zuletzt auf das hier im Land vorhandene

Fachkräftepotenzial.

Das ist ein wichtiger Standortvorteil. Und auch die Innovationsdichte Foto: Halloren Schokoladenfabrik AG

der hiesigen Chemie ist höher als in Westdeutschland.

Sachsen-Anhalt

ist darin das dominierende Land. Im

Ernährungsgewerbe kann eigentlich fast nichts schief gehen, weil hier Lo-

kalkolorit und Markenbewusstsein eine große Rolle spielen. Altlasten. Die bestehen hauptsächlich in der sehr schwierigen

Ostprodukte haben also das Negativimage der Billigmarke verloren?

kombinate beispielsweise, waren zur Wende in einem verhee-

Ulrich Blum: Das gibt es längst nicht mehr. Mit dem Anspruch

stand. Der Rationalisierungseffekt war gerade in dieser Branche

ten, unser „Back-Pabst“ aus Halle hat sich mit Kathi bundes-

Industriestruktur als Hinterlassenschaft der DDR. Die Chemie-

renden Zustand und hatten einen enormen Mitarbeiterbeenorm. Im Jahr 2004 wurde hier mit weniger als zehn Prozent

der Mitarbeiter das Produktionsvolumen der DDR wieder erreicht. Aber: Die Produktivität hatte sich allenfalls vervierfacht

– nicht verzehnfacht. Allein daran sieht man die schwierige Aus-

gangslage. Der Großmaschinenbau, Stichwort SKET, ist zusammengebrochen. Der nahtlose Anschluss war in Sachsen-Anhalt

an vielen Stellen viel schwieriger als in Sachsen oder Thüringen. Welche Branchen werden mittel- und langfristig vom Strukturwandel profitieren und welche werden weiter Federn lassen?

Ulrich Blum: Es gibt eine Reihe von Gütern, die besonders trans-

portintensiv sind und daher in der Region produziert werden müssen. Das gilt zum Beispiel für Baustoffe. Diese Branche

halte ich in Deutschland und in Sachsen-Anhalt für stabil. Auch Pharmazie und Chemieindustrie werden ihre Leistungs-

von „Rotkäppchen“ kann kein Sekt aus dem Ausland mithalweites Renommee erworben, die Halloren Schokoladenfabrik

beliefert jetzt sogar das schwedische Königshaus, um nur einige zu nennen. Man muss bedenken, dass es in Ostdeutschland ein zurückgestautes Unternehmertum gab. Normaler-

weise macht sich kein 55-Jähriger selbständig. Erst mit der

Wende konnte eine ganze Generation von 30- bis 55-Jährigen

aus dem System ausbrechen und sich selbständig machen. Der Effekt wurde nach zehn Jahren spürbar, wenn auch oft

noch in kleinem Maßstab. Das beste Beispiel für innovative Ideen ist die Halloren Schokoladenfabrik, die ihre Expansion

mit Finanzierungen „an den Banken vorbei“ organisierte. Viele Westdeutsche würden nie darauf kommen, in welchen Bereichen ostdeutsche Firmen inzwischen engagiert sind. Mozart-

kugeln, die man in ganz Deutschland kauft, werden zum Bei-

spiel auch im Halloren-Stammwerk in Halle produziert. Und Mumm-Sekt gehört zu Rotkäppchen.


Interview

Welchen Einfluss kann in Zeiten der Globalisierung eine Landesregierung auf die wirtschaftliche Entwicklung ausüben?

Ulrich Blum: Es war das Menetekel kurz nach der Wende, nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern in allen ostdeutschen Ländern, dass Landesregierungen angesichts der Fülle der Herausforderungen eher Unruhe säten statt konstante In-

vestitionsbedingungen zu bieten. Lediglich in Sachsen wurde damals unter Kurt Biedenkopf solide, langfristige Wirtschaftspolitik gemacht. Erst seit dem Amtsantritt von

Ministerpräsident Wolfgang Böhmer ist auch in SachsenAnhalt die notwendige Verlässlichkeit eingekehrt. Das liegt

nicht nur an ihm persönlich, sondern auch daran, dass das

System gereift war. Inzwischen verzeichnete Sachsen-An-

halt zahlreiche Unternehmensansiedlungen. Das zeigt die

Und wie kann man das ändern? Ulrich Blum: Es würde schon reichen, die regionalen Highlights herauszuheben. Ein Beispiel: In Sachsen-Anhalt gibt es eine De-

signschmiede ersten Ranges und keiner weiß es. Das Zentrum

des Designs in Deutschland ist seit rund 100 Jahren die Burg

Giebichenstein in Halle. Wer vermarktet Giebichenstein als bundesweite Marke? Das Design bestimmt etwa zehn bis 20 Prozent des Marktwertes eines Produktes. Dieses Bewusstsein für die eigenen Stärken gilt es zu entwickeln. Karl Marx sagte: „Das

Sein bestimmt das Bewusstsein:“ Ich drehe das um: In SachsenAnhalt wie in Ostdeutschland insgesamt muss das Bewusst-

sein das Sein bestimmen. Grundlage dafür sind entsprechendes

Selbstbewusstsein und das Besinnen auf die eigenen Stärken.

Bedeutung langfristig orientierter Wirtschaftspolitik. Ein

Alle reden derzeit von den Veränderungen der vergangenen

stets Prügelknaben sein. Dieser positive Effekt ist in Sachsen-

Land dann überhaupt noch geben?

zweiter Punkt: Unternehmer wollen geliebt werden und nicht Anhalt augenscheinlich.

Wurden die Weichen in Sachsen-Anhalt also richtig gestellt? Ulrich Blum: Im Vergleich der mitteldeutschen Länder steht

Sachsen-Anhalt in Sachen Wirtschafts- und Finanzkompetenz

sehr gut da. Seitdem sich Kurt Biedenkopf von der politischen Bühne zurückgezogen hat, ist Wolfgang Böhmer nicht nur der

beliebteste ostdeutsche Ministerpräsident. Er ist auch eine der

bekanntesten Persönlichkeiten bundesweit und trägt dadurch

nicht unwesentlich zur inzwischen positiveren Wahrnehmung des Landes bei.

Stichwort Wahrnehmung: Im Land wird zuweilen heftig über den

Frühaufsteher-Slogan diskutiert. Sehen Sie sich als Frühaufsteher? Ulrich Blum: Ich halte den Spruch zumindest für witzig. Die wichtige Frage bei einer Imagekampagne lautet aber: Wo hat

das Land Nachholbedarf? Hier geht es darum, deutlich zu ma-

chen, welche reiche Kulturlandschaft Sachsen-Anhalt darstellt.

20 Jahre. Wo sehen Sie Sachsen-Anhalt in 20 Jahren? Wird es das

Ulrich Blum: Ich halte nichts von der „Aktion Bürgerferne“. Vorteile der Zentralisierung lassen sich nutzen, ohne dass Länder aufgelöst werden. In der langfristigen Entwicklung gibt es stets

Aufstieg und Niedergang. Wenn wir die Chancen nutzen, wird sich

in diesem Landesteil eine sehr wohlhabende Struktur entwickeln. Das reiche Bayern war nach dem Zweiten Weltkrieg noch bitter-

arm. Die Menschen gingen in andere Regionen wie das Ruhrge-

biet, um dort ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Erst durch die

Unterstützung der anderen Länder kam das Land auf die Beine und hängte schließlich die anderen ab. Jetzt geht es Sachsen-Anhalt

ähnlich. Viele junge Leute arbeiten im Westen. Das ist zunächst

nichts Schlechtes. Wichtig ist, dass sie irgendwann die Chance er-

halten, wieder hierher zurückzukehren. Gewaltige Binnenmigrationen sind in Deutschland nichts Ungewöhnliches. Allein Bayern hat seit dem Krieg über drei Millionen Einwohner gewonnen.

Sie fürchten also nicht, dass Sachsen-Anhalt zum Altersheim der Republik wird, wie eine Zeitung jüngst titelte?

Wir sind ja steinreich, nicht nur an Burgen und Schlössern. Das

Ulrich Blum: In den nächsten Jahren ist der Abwanderungstrend

rungspersönlichkeiten eine ganz wichtige Rolle. Das Bewusst-

gehen, den Prozess kreativ gestalten. Wenn aber die Zukunftstech-

Image als Kulturland spielt für die Ansiedlung bestimmter Fühsein als historisches Zentrum des Heiligen Römischen Reichs

Deutscher Nation und in jüngster Geschichte der drei Landesbe-

reiche, des sächsischen, des anhaltischen und des preußischen, müsste kulturell noch viel besser vermarktet werden. Das Kulturbewusstsein der eigenen Bevölkerung ist oft noch zu wenig ausgeprägt. Die Sachsen sind da anders. Die wissen, was sie haben und verkörpern es auch.

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sicher nicht zu stoppen. Man muss besonnen und klug damit um-

nologien hier eine breitere Basis haben und andere Regionen ihren Vorsprung darin verlieren, wird er sich umkehren. Bayern ist derzeit

auf der Spitze der Leistungsfähigkeit, aber das kann in 20 Jahren

längst vorbei sein. Regionen machen Aufstieg und Abstieg mit. Und in einem bin ich mir sicher: Sachsen-Anhalt ist im Aufstieg. Das Gespräch führte Christian Wohlt.

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Technik

Fußball auf dem Marktplatz Screen Rent: „Erfinder“ des Public Viewing Von Ute Semkat Ein Sieger der Fußball-WM stand bereits am 10. Oktober 2009 fest. „An diesem Tag wusste ich, dass wir die Wirtschaftskrise überstehen werden“, atmet der Magdeburger Unternehmer

Dirk Roswandowicz noch einmal tief durch. Es war der Tag, an dem sich die deutsche Elf mit einem 1:0 gegen Russland

ihr Ticket für Südafrika erspielte. „90 Minuten lang habe ich

gebangt“, erinnert sich der 38-Jährige im schwarzen Kapuzen-

shirt und streicht wie fröstelnd über seine Arme: „Ich kriege jetzt noch Gänsehaut.“

Neun Monate später stehen die Videobildwände der Magde-

burger Firma Screen Rent in Städten Deutschlands und der Schweiz. Vor den Riesenfernsehern unter freiem Himmel jubelt, stöhnt, schreit die Gemeinde der Fußballbesessenen. Wie

ein Virus infiziert Public Viewing selbst ganz abgeklärte und

Gelegenheits-Fans. Südafrika ist neuntausend Kilometer weit, aber die Champions erscheinen ganz nah und ganz groß.

Public Viewing ist der Sommersport dieses Jahres, und die Firma Screen Rent bereitet die Schau-Plätze für die schweißfreie

Massenbewegung mitten in den Städten vor. Die Magdeburger sind nicht die einzigen Vermieter von Videowänden mit

einer gestochen scharfen Bilderübertragung, aber sie besitzen die Markenrechte am Begriff Public Viewing. Diesen vermoch-

te kaum jemand in Deutschland unfallfrei zu buchstabieren, als kurz vor der Jahrtausendwende BWL-Student Roswandowicz seiner „Intuition“ folgte, wie er es nennt, und bereits in

seine erste Videowand investierte. Zuvor hatte er mit einer

mobilen Bildwand aus mehreren „auf Pump“ gekauften Fernsehmonitoren auf der Grünen Woche in Berlin für einen Aussteller geworben.

Von seinem Schreibtisch in einem schmucklosen Büro im Magdeburger Gewerbegebiet Ölmühle hat der längst diplomierte

Betriebswirt immer die Wandtafel mit den aktuellen Einsatz-

orten im Blick. „23 Veranstaltungen an fünf WM-Tagen sind schon eine Herausforderung“, meint er gelassen und checkt

nebenbei die E-Mails. In der letzten Maiwoche war er noch

selbst in Hongkong, um eine mit 130 Quadratmeter Bildfläche „besonders große und besonders leichte“ Videowand direkt

aus dem Werk zu kaufen. China soll inzwischen der bedeu-

tendste Hersteller von Großbildwänden sein. Zehn Tage vor dem Anpfiff der WM landete der supermoderne Neuerwerb auf dem Frankfurter Flughafen.


Technik

Bevor die Zuschauer den Ball übers Fußballfeld rollen sehen, haben die Techniker von Screen Rent bereits Berge versetzt. Bis zu 100 Kilogramm wiegt ein Bildschirmmodul von einem

Quadratmeter Größe, und zwischen 20 und 100 solcher Teile – je nach gewünschter Wandgröße – müssen aus den Trans-

portkisten gepackt werden. Ein Kran hievt die Module aufein-

ander, und dann werden sie von den Männern – immer Helm

auf, Sicherheitsgurt um – in bis zu sieben Meter luftiger Höhe miteinander verkabelt. Zuvor hat das Team für den Unterbau gesorgt. Die Wassertanks zwischen den Metallgerüsten sind kein Feuerlöschteich-Ersatz, sondern das Gewicht von bis zu

20  000 Liter Wasser stabilisiert zusätzlich die Bildwand. Denn

schlimmstenfalls könnte außer den Begeisterungsstürmen der Zuschauer ein echter Gewittersturm aufkommen.

Loses Kabel, blanke Nerven Das Wetter ist ein unberechenbares Risiko für jeden Open-Air-

Veranstalter, dagegen überlässt Screen Rent bei der Vorberei-

tung nichts dem Zufall. „Die Jungs arbeiten ganz schön unter Druck“, bestätigt Roswandowicz, der bis vor einigen Jahren noch selbst jede Wand mit aufbaute. Ein möglicher Ausfall der

Technik mitten im Spiel ist die Horrorvision für Zuschauer wie

Verleihfirma. „Zum Glück hatten wir das noch nicht.“ Dennoch vermag der ehemalige Fußballer des 1. FC Magdeburg in diesen Tagen die Pässe und Tore nicht restlos entspannt zu genießen.

Einmal war es verdammt eng: „Zur WM 2006 ruft mich eine Stunde vor dem Spielanpfiff unser Techniker aus Neuss an und

sagt: Der Bildschirm bleibt schwarz. Bei der Probe hatte alles

prima funktioniert.“ Eigentlich ist Roswandowicz eher der Typ, der die Ruhe zu behalten versteht. Aber damals hätten die Ner-

ven blank gelegen, weil es eine gefühlte Ewigkeit dauerte, den Fehler zu lokalisieren. „Und die Polizei wollte schon die Veran-

staltung absagen.“ Wie sich schließlich herausstellte, hatte

sich nur ein Kabel gelockert – ein einziges von etwa 400. Zehn Minuten vor dem Anpfiff lief die Videowand wieder.

Screen Rent kann gleichzeitig bis zu 30 transportable Videobild-

wände mit insgesamt 400 Quadratmeter Sichtfläche aufbauen. 2005 übersprang das Unternehmen erstmals die Umsatzmillion und verdoppelte sie im Jahr vor Beginn der Wirtschaftskrise.

„Wer mit uns Public Viewing macht, soll einfach ein

gutes Gefühl haben.“ Firmenchef Dirk Roswandowicz,

ehemaliger Fußballer mit BWL-Diplom, hat den Erfolg im Blick. Gegen Billiganbieter tritt Screen Rent „mit dem besten Produkt und dem besten Service“ an.

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Technik

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Allerdings – seit viele Wettbewerber in das Geschäft eingestiegen sind, haben sich die Vermietungspreise halbiert. Um weiterhin lohnenswerte Margen zu erreichen, arbeiten die Magdeburger zielstre-

big am Markenaufbau. Gegen Billiganbieter treten sie „mit dem besten Produkt und dem besten Service“ an: „Unsere Kunden müssen

sich um nichts kümmern, wir organisieren den Transport, bestellen

Daumen und Zeigefinger: Prof. Dr. Omar Akbar nennt sich selbst einen „aggressiven Von Cornelia Heller

den Autokran am Aufbauort, notfalls sorgen wir auch für den Strom-

Wie für ein Bühnenbild spannen sich die alten Platanen entlang

Mannschaft und die Erfahrungen aus mittlerweile 2   000 Veranstal-

ße ausmachen kann, ist der Platanenrahmen noch groß. Als er

anschluss. Und wir bringen eine eigene, bei uns gut ausgebildete

tungen mit“, zählt der Unternehmer auf und fügt hinzu: „Wer mit uns Public Viewing macht, soll einfach ein gutes Gefühl haben.“

In die Wüste geschickt Ein gutes Gefühl haben auch Eventmanager im Nahen Osten, wenn sie den Namen Screen Rent hören. Seit dem ersten Auf-

des Berliner Ku’damms. Als ich den Mann in der Ferne der Stra-

mich erreicht, hat er den Rahmen locker gesprengt: Omar Akbar, Professor an der Hochschule Anhalt, Stadtforscher nennen ihn

andere, Urbanist sei er, sagt er von sich selbst. Der bis zum Jahr 2009 amtierende Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau und Geschäftsführer der IBA Stadtumbau 2010 liebt Berlin, braucht diesen Ort, wie er sagt, für seine Geschichte, seine Identität.

trag für ein Autorennen in Dubai vor fünf Jahren schickt die

Dabei entlehnt sich für mich sein Name mit dem elegischen O

und einen Mann in die Wüste. Im Vorjahr wurde das Unterneh-

denke an Omar Sharif, der als Kapitän Nemo mein Mädchenherz

Magdeburger Firma jeden Winter einen Teil ihrer Ausrüstung men vom Könighaus Bahrain für die Live-Übertragung einer

Militärparade zum zehnjährigen Jubiläum des Staatsober-

haupts engagiert. Dorthin waren die beiden 40-Tonnen-Lkw von Dubai aus acht Tage unterwegs. Eigentlich seien es nur etwa 600

Kilometer Entfernung, aber die Grenzabfertigung gestalte sich mit-

unter etwas abenteuerlich, grient Roswandowicz. Vier seiner Leute saßen in der Wartezeit untätig im Hotel.

Nach der Technikprobe ließ König Hamad bin Isa Al Khalifa den

Deutschen von einem Abgesandten seinen Dank übermitteln.

eher aus den Scheherazaden aus Tausendundeiner Nacht, ich

bewohnte, und höre das Allah akbar, das fünfmal des Tags gen

Mekka die arabische Welt durchhallt. Der Omar Akbar hier am Tisch dieser Berliner Eckkneipe, der Deutsche im nadelstreifen-

grauen Anzug und mit ebenso grauem, langem Haar, der Mann mit den afghanischen Wurzeln, der bescheiden ein stilles Wasser ordert und in dessen lebendigem Gesicht ich die Spuren seiner

Geschichte suche, hat mit seinen Ideen ein ganzes Land verändert.

„Mit der Bitte, das Bild sollte noch etwas heller sein.“ Roswandowicz

Es war ein Satz, der 2001 den Anstoß für eine Internationale

taghell. Aber natürlich war der Wunsch seiner Majestät am nächs-

mit dem, ach, so schlechten Image, das sich bis dato die rote La-

schmunzelt: „Unsere Wände sind auch bei stärkstem Sonnenlicht ten Tag erfüllt.“

Die Lust am kollektiven Schauerlebnis hat Public Viewing zum festen Bestandteil vieler Großveranstaltungen über den Sport hinaus bis in Kultur und Politik gemacht. Screen Rent war schon bei der Wok-WM

von Stefan Raab und im Wahlkampf von Guido Westerwelle dabei, beim Papstbesuch 2005 in Bayern und bei der Berlinale. Was muss

das für ein tolles Gefühl sein für Roswandowicz` vornehmlich junge

Mitarbeiter, wenn unmittelbar vor der Videowand Madonna über den roten Teppich schreitet? Oder wenn sie mit dem „All-Area-Pass“ bei der Bühnenshow von Robbie Williams oder Kylie Minogue jeden Bodyguard abtreten lassen können? Der Firmenchef zuckt mit

den Schultern: „Zur Professionalität von Screen  Rent-Mitarbeitern gehört, dass sie ihren Job machen und das auch den VIPs ermöglichen.“ Unauffällig, hinter der Wand.

www.screenrent.de

Bauausstellung in Sachsen-Anhalt gab, in diesem Bundesland terne für die höchsten Arbeitslosenzahlen in Deutschland mit

Mecklenburg-Vorpommern teilte, das kaum fassbare 13 Prozent

Bevölkerungsverluste seit der Wende verzeichnete, auszubluten drohte. Omar Akbar entwarf damals Visionen, die sicherlich

manchem zu verspinnert klangen und eher synonym für noch

Unbekanntes in sich leerenden Großsiedlungen standen. Aber

er sagte damals auch „Da muss sich was drehen“, und machte diese inzwischen legendäre Handbewegung mit Daumen und Zeigefinger. Der Satz und die Handbewegung sind dieser Tage

oft bemüht worden. Ob beim feierlichen Eröffnungsakt der IBA

in der Johanniskirche in Magdeburg, den Stadtpräsentationen von Aschersleben bis Weißenfels, der Eröffnung der Überblicks-

ausstellung in Dessau. Sie sind jetzt auch Teil seiner Geschichte. Sie beginnt in Afghanistan.

„Wir sind in der großen Villa meines Großvaters aufgewachsen, der Akbar hieß…“, erzählt er in seinem leichten, kaum hörbaren


Portrait

„Da muss sich was drehen“

Optimisten“ und gab den Anstoß zur IBA Stadtumbau 2010

Akzent, entwirft, entführt in eine fremde Welt, die ferner der

meinen kaum sein kann, in ein Haus mit unzähligen Zimmern, in dem die Familie mit Onkels und Tanten lebte, und einen Gar-

ten, in dem die Wasser plätscherten und die Cousinen lachend glucksten. Er erzählt von einem Afghanistan, das modern und

frei war, dessen König in den 1920er-Jahren zu einer Europareise aufbrach, nach seiner Rückkehr das Tragen von Schleiern verbot und den Stadtteil Darulaman – hier wurde Omar Akbar

geboren – nach Vorbild deutscher Stadtanlagen baute. Und er erzählt von seinem Großvater, der Minister, Botschafter und

Berater des Königs Nadir Shah war, in dessen Haus Politiker,

Intellektuelle, Wissenschaftler, Künstler ein- und ausgingen, in dem man Goethe kannte, zitierte, man weltoffen, aufgeklärt und modern war. „Das war der Ort, an dem ich 1948 zur

Welt kam und die Atmosphäre, in der ich aufwuchs“, endet er

schließlich, legt die dunkel geränderte Brille vor sich auf den

Tisch und reibt die Augen, als würde dadurch die Rückkehr in die Gegenwart leichter.

Die Wärme des Hauses scheint bis heute und bis hierher zu rei-

chen, sie umfing ihn auch, als die Mutter starb und der Vater, ein

Chemiker, 1957 nach Deutschland geht, um zu promovieren. Drei

Jahre später holte er seine drei Söhne nach. Das schwäbische Fellbach wurde neue Heimat, im Haus einer Frau, die seine Mutter wurde, so gut, wie es die eigene kaum besser hätte sein kön-

nen, in einer Stadt, in der er sich zu keiner Zeit als Fremder fühlt. Ganz im Gegenteil. Nach der Schule beginnt er eine Bauzeichnerlehre in einem Architekturbüro. „Ich konnte wahnsinnig gut

zeichnen, durfte im 2. Lehrjahr sogar entwerfen.“ Parallel macht

er Musik, spielt Bassgitarre in einer Band, geht zur Schauspiel-, schließlich Abendschule. 1968, mitten in die Studentenunruhen

der sich aufbäumenden Nachkriegsgeneration, kommt Omar

Akbar nach Berlin, beginnt an der Bauakademie, dann an der Technischen Universität Berlin Architektur zu studieren.

Schon im Studium sind es die sozial aufgeladenen Gebiete der Städte, die ihn als Planer fesseln. Einen Slum im iranischen

Teheran sucht er sich als Ausgangspunkt seiner Promotion. Kör-

perlich will er die Armut spüren, die hinter den Häusermauern wohnt, schläft dort sogar auf der Straße, denkt sich hinein in

fremde Strukturen, politische Verhältnisse, entgeht dort nur knapp während der politischen Unruhen 1980 einer verirrten Pistolenkugel. „Wie zu Zeiten der französischen Revolution“, lacht

er heute, irgendwie auch stolz, so etwas miterlebt zu haben.

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 02/10

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Portrait

Der Kosmopolit Akbar kommt durch die Welt. Auf den Iran folgen Irak, Gambia, Jemen, Ägypten. Er arbeitet für die Gesell-

schaft für Technische Zusammenarbeit GTZ als Städteplaner, Städtesanierer, scheint als Mann mit dem „anderen Hintergrund“ der ideale Mittler zwischen den Kulturen, als Begleiter

von Prozessen, von beiden Seiten geschätzt. Und dann 1993 Sachsen-Anhalt? „Ein Kollege rief mich an. Er sagte, eine Stelle ist ausgeschrieben, die Hochschule Anhalt sucht einen Profes-

sor.“ Er überlegt, zählt die Kilometer zwischen Berlin, wo die Familie lebt, und Dessau, bewirbt sich schließlich. „Die Grün-

dung der Hochschule war für mich das interessantere Thema, nicht Dessau und das Bauhaus.“ Noch. Denn dann passiert

gleiches wieder. Jemand spricht ihn an, die Stelle des Direktors sei vakant. Er ringt mit sich, durchwacht Nächte, zweifelt, zögert, noch drei Tage bis Bewerbungsschluss. Entschließt sich und wartet. Der wissenschaftliche Beirat der Stiftung hat

Vorbehalte: Bauzeichner, Schauspieler, Stadtplaner. Zu wenig

Reputation? Akbars Bruder, ein Psychoanalytiker, sagt weise: „Wirst Du genommen, ist es okay. Wirst du nicht genommen, hast du einen schönen Feierabend.“ Mit dem ist es vorbei, als

der Anruf mit der Zusage kommt und sein Name von 1998 an

in einer Reihe mit den Bauhausdirektoren Gropius, Meyer, van der Rohe mithin genannt werden wird.

Er sieht sich von Stund an als Motor, als Ermutiger für die Mit-

arbeiter, die eigenen Potenziale zu entdecken und an sie zu

glauben, schafft Möglichkeiten für Synergien, Netzwerke, für Forschung, Lehre und Gestaltung, für Publikation, schickt die

Mitarbeiter hinaus in die Welt, fördert Begabte. Trotzdem: „Das Bauhaus zum Zentrum der Diskussion und des Erfahrungs-

austausches zu profilieren, ist uns nur rudimentär gelungen“, räumt er ein, wissend um die Problematik, dass das Bauhaus

als die legendäre, weltberühmte Hochschule für Gestaltung

heute „lediglich“ Ort der Stiftung Bauhaus ist – ein Umstand, der Fachleute und Besucher aus aller Welt jeden Tag aufs Neue verwirrt.

2001 ist das Jahr mit dem Zitat und der Handbewegung. Der „aggressive Optimist“ Akbar, durchaus auch streit-

bar und hart in der Auseinandersetzung, prägt den Satz „Da muss sich was drehen“ und setzt auf Wachstum in der Krise. Fortan suchen 19 sachsen-anhaltische IBA-Städte nach exemplarischen Lösungen in schwierigen Zeiten von

befahrbare Galerien, Kumpelplätze und Bildungszentren,

später, seit April 2010, zeigt Sachsen-Anhalt die Ergebnis-

ches „zum Drehen“ gebracht hat. Omar Akbar hat die IBA nicht

Schrumpfung und demografischem Wandel. Neun Jahre se dieses Stadtumbaus, dieser „20 Jahre Transformation

eines Landes“, eine Erfolgsstory für eine ganze Reihe von

Klein- und Mittelstädten, in denen man flüsternde Gärten,

Campusideen und Bibliotheken für sich erfunden und so manmehr als Direktor der Stiftung und Geschäftsführer über die Ziellinie getragen. 2009 hat ein Wechsel stattgefunden. Und trotz-

dem ist sein Name dieser Tage so präsent wie kaum ein anderer.


Portrait

Wir reden über seine jüngste Reise. Gerade ist er von einem

er lachend, „noch nie bin ich so oft zitiert worden. Ein Kollege sag-

Einwohner-Satellitenstadt an der Wolga, zurückgekehrt. Er erzählt

geliefert.“ Und auf einmal ist es da, was kaum einer zu denken

internationalen Kongress aus Togliatti, einer einst 800 000von seinem Vortrag, in dem er über die Erfahrungen in SachsenAnhalt gesprochen und die Kollegen aus den Niederlanden, Italien, Amerika, Russland begeistert hat. „Ich schwöre ihnen,“ erzählt

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 02/10

te, ich hätte ihnen mit meiner Rede eine Vorlage wie beim Fußball

gewagt hatte: Sachsen-Anhalt wird mit seinen Stadtumbauideen zum Vorreiter und sich so auch auf der 12. Internationalen Architektur-Biennale im August in Venedig präsentieren. Genial.

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Unternehmensnachfolge

Stabübergabe: Die Zukunft der Firma fest im Blick Für  1  500 Unternehmen steht ein Generationswechsel an – Inhaber und Nachfolger erhalten fundierte Unterstützung Von Frank Pollack

Andreas Heckel ist die Ruhe selbst. Ein Okular vor sein Auge ge-

Uhren sind Andreas Heckels Welt, seit er denken kann. In der

Sperrklinken eines Pendeluhrwerks. Nur wenn alle Teile perfekt

worden. „Vieles hier und im Büro stammt noch von meinem

klemmt, prüft er das Zusammenspiel von Rädchen, Federn und ineinandergreifen, kann das mechanische Wunderwerk funktionieren.

Werkstatt seines Vaters im halleschen Steinweg ist er groß ge-

Urgroßvater“, verrät der 42-Jährige und deutet auf Werkzeuge, Möbel und Accessoires aus der Gründerzeit.


Unternehmensnachfolge

Seit 1892 steht das „Uhren- und Schmuckgeschäft August He-

dig führte, verlangten von dem bisherigen Angestellten nun

Kontinuität: Im Nachbarhaus eröffnet und 1910 in die heutigen

mit dem Betrieb?

ckel“ in Halles südlicher Innenstadt für bleibende Werte und Geschäftsräume eingezogen, blieb es stets mit seinem Standort

verwachsen, firmierte immer unter dem Namen seines Grün-

ders und befand sich ununterbrochen im Besitz von dessen Nachfahren.

schnelle, fundierte Entscheidungen: Wie sollte es weitergehen Eine Frage, mit der sich viele Familienunternehmen konfrontiert

sehen, wie Achim Schaarschmidt von der IHK Halle-Dessau be-

richtet. „Allein in Sachsen-Anhalt steht derzeit bei rund 1 500

Firmen pro Jahr ein Generationswechsel bevor“, schätzt der

Um diese Traditionen zu bewahren, musste Andreas Heckel in

Referent für Wirtschaftsförderung. Für ganz Deutschland geht

Denn der plötzliche Tod seines Vaters im September 2009 und

„übergabereifen Betrieben“ pro Jahr aus. Bei jedem elften davon

ski, die seit fast drei Jahrzehnten das Ladengeschäft eigenstän-

erzwungenen Schließung“ aufgrund gescheiterter Nachfolger-

den zurückliegenden Monaten Mut zur Veränderung beweisen. die fast gleichzeitige Erkrankung seiner Tante Edelgard Kowal-

das Institut für Mittelstandsforschung (IfM) von etwa 71  000 rechnen die Bonner Wissenschaftler mit einer „geplanten oder suche. Dadurch drohten jährlich etwa 33  000 Arbeitsplätze ver-

loren zu gehen.

Wie mühsam der Weg zu einer erfolgreichen Firmenübergabe

sein kann, weiß auch Antje Leuoth, Betriebsberaterin der Hand-

werkskammer Halle, aus der Zusammenarbeit mit ausstiegswilligen Unternehmern und potenziellen Nachfolgern. Dass

beide Seiten überhaupt zueinander finden, alle juristischen, steuerlichen und fachlichen Probleme einvernehmlich aus dem

Weg räumen, sich auf einen Kaufpreis einigen und auch noch die notwendige Finanzierung sicherstellen, sei „nie ein glückli-

cher Zufall“, sondern „das Ergebnis eines langen und oft auch schmerzhaften Prozesses“, sagt die Diplom-Ökonomin. „Um ein optimales Ergebnis zu erzielen, sollte man dafür zwei bis fünf Jahre einplanen.“

Die größten Hürden aber lägen nicht etwa auf der sachlichen,

sondern auf der emotionalen Ebene, beobachtet die Beraterin: „Vielen Unternehmern fällt es schwer, loszulassen“. Rund die

Hälfte der Firmeninhaber schiebe das Thema zu lange vor sich her. „Viele werden erst wenige Monate oder gar Wochen vor ih-

rem geplanten Ausstieg aktiv“, erklärt sie. Manche verdrängten das Thema sogar noch „lange nach ihrem Eintritt ins Rentenalter“ und gefährdeten damit nicht selten ihr Lebenswerk.

Dass Andreas Heckel das Uhren- und Schmuckgeschäft eines

Tages übernehmen würde, galt in der Familie als ausgemacht. „Meine beiden Brüder und auch die Töchter meiner Tante ar-

beiten in anderen Berufen“, erklärt der gelernte Uhrmacher, Die erfolgreiche Unternehmensübergabe ist

kein Zufall. Bis zu fünf

Jahre dauert es oft, bis

die Verhältnisse zwischen Alt-Inhaber und neuem

Firmenchef geordnet sind.

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 02/10

der während und nach seiner Ausbildung Erfahrungen in insgesamt drei Fachbetrieben sammelte, bevor er 1995 in das einst vom Urgroßvater gegründete Unternehmen zurückkehrte. „Mit

meinem Vater hatte ich in den vergangenen Jahren des Öfteren über eine Nachfolgeregelung gesprochen, allerdings blieben unsere Pläne im Ungefähren“, bedauert der Jungunternehmer

heute und fügt hinzu: „Wir hätten uns schon viel früher externen Rat holen sollen.“

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Unternehmensnachfolge

„Das Thema Nachfolge war bis vor etwa fünf, sechs Jahren in

binnen weniger Wochen einen tragfähigen Businessplan. „Vie-

sich Achim Schaarschmidt, „So gab es 2005 bei uns kaum Bera-

dabei Schritt für Schritt zu einem funktionierenden Ganzen“,

der öffentlichen Diskussion praktisch nicht präsent“, erinnert

tungen auf diesem Gebiet“. Erst durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit von Kammern und Verbänden wurde das Problem von

vielen wahrgenommen. „Relativ schnell entstanden daraufhin

Angebote zur Unterstützung, und sie werden von Firmen zunehmend genutzt“, resümiert der Wirtschaftsförderer. Allein

bei den Kammern Sachsen-Anhalts ließen sich im vergangenen Jahr rund 600 Firmen zum Thema Nachfolge beraten.

Andreas Heckel suchte im Frühjahr 2009 erstmals den Kontakt

zu Antje Leuoth und Achim Schaarschmidt. Auf ihre Empfehlung hin lernte er bei einer Berufsfindungsmesse den Nachfol-

gerclub Sachsen-Anhalt kennen, „eine Art Partnervermittlung für Firmenübergaben“, wie Sebastian Baum, Chef des vom

Wirtschaftsministerium und dem Europäischen Sozialfonds ge-

förderten ego-Projektes erklärt: „Wir stellen Kontakte zwischen Firmeninhabern und potenziellen Übernehmern her und begleiten Übergabeprozesse mit individueller Beratung und praktischer Hilfe.“

Für Andreas Heckel sollte sich die Klubmitgliedschaft besonders

nach dem plötzlichen Tod seines Vaters als wertvoll erweisen. Mit einem Unternehmensberater des Netzwerks sowie der Unterstützung von IHK und Handwerkskammer erarbeitete er

le Details, die vorher nur vage Vorstellungen waren, fügten sich

freut sich der Existenzgründer, der seine Tante ebenso für das Konzept gewinnen konnte wie später seine Hausbank.

Dabei wurde vereinbart, dass der Uhrmacher nicht nur die väter-

liche Werkstatt, sondern auch das Ladengeschäft übernimmt. „Beide Bereiche sind heute wieder zu einer Firma verschmolzen“, erklärt Edelgard Kowalski, die den Uhren- und Schmuck-

verkauf seit DDR-Zeiten als eigenständiges Unternehmen be-

trieben hatte. Was die 60-Jährige dabei besonders freut: „Für

die Kunden wird sich dadurch nicht viel ändern. Denn ich stehe, ebenso wie unsere langjährige Verkäuferin, weiterhin hinterm Ladentisch. Und auch am Namen über unserer Eingangstür wird sich nichts ändern.“

„Bei der Preisfindung für die Übernahme half uns die Hand-

werkskammer durch eine unabhängige Unternehmensbewertung,“ berichtet Andreas Heckel, „und auch bei der Finanzierung unterstützten uns die Kammern, zum Beispiel mit einer

Fördermittelberatung oder einer Stellungnahme für die Bürgschaftsbank.“

Die solide Finanzierung und das fundierte Konzept lassen den

verheirateten Vater von zwei Söhnen auch als Selbständigen

ruhig schlafen. „Durch die intensive Beschäftigung mit dem

Antje Leuoth (Hand-

werkskammer Halle) und Achim Schaar-

schmidt (IHK HalleDessau, r.) standen

Uhrmachermeister

Andreas Heckel bei der

Firmenübernahme mit Rat und Tat zur Seite.


Unternehmensnachfolge

Unternehmen und seinem Marktumfeld habe ich sogar viele

denlokal in unmittelbarer Nachbarschaft frei wurde, gewann

chen“, erklärt der Firmenchef. So sei er von dem „hohen Anteil

ge Kunden spezialisiert hat. „Das stärkt den Branchenmix in

der Uhrmacher einen Friseur als Nachmieter, der sich auf jun-

neue Informationen gewonnen, die mir zusätzlich Mut ma-

unserer Straße und bringt uns interessante Zielgruppen“, ist er

an Stammkunden überrascht, die uns die Treue halten, selbst

überzeugt. Das sei nicht anders als bei einer Uhr: „Ein Rädchen

wenn sie nicht mehr in Halle wohnen.“ Doch Heckel möchte

muss ins andere greifen.“

auch um neue Kunden werben. Als jüngst zum Beispiel ein La-

Beratung, Kontakte, Finanzierungen Scheidende Firmenchefs und ihre Nachfolger finden in

Sachsen-Anhalt umfangreiche Unterstützung. Hier einige Beispiele:

– Gründercoaching. Beratungsprogramm der KfW-Mittel

standsbank für Jungunternehmer (auch Nachfolger) bis

maximal fünf Jahre nach Firmenübernahme/Firmengründung. Der Zuschuss beträgt in Sachsen-Anhalt bis zu 75 Prozent,

bei Gründung aus Arbeitslosigkeit bis zu 90 Prozent.

– Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern. Sie sind der Anlaufpunkt für eine Erstberatung, für

– Ausfallbürgschaften. Wenn bankübliche Sicherheiten fehlen, können Firmeninhaber, Nachfolger und Gründer

die Vermittlung von Kontakten zu Netzwerkpartnern, für

Finanzierungen bis zu 80 Prozent der Darlehenssumme

eine Fördermittelberatung, für Unternehmensbewertun-

durch Landesbürgschaften absichern. Voraussetzung ist

gen usw.

www.halle.ihk.de, www.magdeburg.ihk.de,

www.hwk-halle.de, www.hwk-magdeburg.de

– Nachfolger-Club Sachsen-Anhalt. Erfolgreiche „Part-

die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle (z.  B. IHK).

Firmenkonzept vorausgesetzt, springt das Landesinstitut auch dann ein, wenn andere Banken abwinken. Dabei

bereite Unternehmer. Bietet darüber hinaus Gründungs-

können die Mittel bei Bedarf sogar ohne Hausbank ausge-

begleitung und Lotsendienst zu einem umfangreichem

reicht werden. Es gibt verschiedene Darlehensprogramme

regionalem Experten-Netzwerk.

wie IMPULS (für Gründer und Nachfolger), IDEE (für Inno-

vationsprojekte) oder WACHSTUM (Mezzanine-Darlehen).

www.nachfolger-club.eu

– ego.-PilotenNetzwerk. Kostenfreie Beratung für Nachfolger oder Gründer, unter anderem zu Geschäftsidee

und Businessplan, Risikoabwägung und Qualifizierung,

Finanzierung und Förderung. Landesweites Netzwerk aus 25 Beratern.

www.ego-pilotennetzwerk.de

– Beratungshilfeprogramm des Landes Sachsen-Anhalt.

Die kofinanzierte Beratung kann dabei helfen, Firmen für

Nachfolger attraktiv zu machen, zum Beispiel durch Identifizierung von Innovations- und Rationalisierungspotenzialen oder die Verbesserung interner Abläufe. 75-prozentige

Förderung von bis zu 30 Beratertagen à maximal 800 Euro.

www.ib-sachsen-anhalt.de

www.bb-sachsen-anhalt.de

– Darlehen der Investitionsbank. Ein überzeugendes

nervermittlung“ für potenzielle Nachfolger und ausstiegs-

www.ib-sachsen-anhalt.de

www.ib-sachsen-anhalt.de

– Hilfen für Hochschulabsolventen. Mit dem Programm

ego.-Start erhalten Hochschulabsolventen oder wissen-

schaftliche Mitarbeiter, die sich zum Beispiel als Nachfolger selbständig machen, Hilfen zur Sicherung des

Lebensunterhalts. Die Förderung ist mit Darlehen aus dem Programm ego.-Plus kombinierbar.

www.ib-sachsen-anhalt.de

– Stille Beteiligung. Mit 25  000 bis 1 Million Euro engagiert sich die Mitteldeutsche Beteiligungsgesellschaft

als stille Teilhaberin. Voraussetzungen: Überzeugendes

Unternehmenskonzept, solide Bilanz- und Ertragsverhältnisse. Kostenvorteile: Verbesserte Eigenkapital-Situation. Entscheidungshoheit bleibt beim Unternehmer.

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 02/10

www.mbg-sachsen-anhalt.de

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Forschung

Mit viel Mut im Herzen und reichlich Sonne im Tank Sachsen-Anhalt ist bei der Entwicklung von alternativen Antriebstechnologien ganz vorn mit dabei Von Sabine Tacke Platt wie eine Maischolle glitzert das seltsame Gefährt strah-

Rund 30 Studenten des Fachbereiches Elektrotechnik, Maschi-

Anhalt (FH) am Standort Köthen bleiben irritiert stehen, stau-

hochschule arbeiten seit fünf Jahren an ihrem „Lightrider“, so

lend weiß in der Junisonne. Ein paar Studenten der Hochschule nen über das unbekannte Objekt, das auf dem Campus gelandet ist. Grüße aus der Galaxis?

Keine Panik. Die beiden Studenten, die den Boliden hinter sich

herziehen, kommen in friedlicher Absicht. Und sie sind auch

nicht vom Mars. Das, was André Herzberg und Torsten Gläßer da aus einem Schuppen rollen, ist ein Stück Zukunft. Aber ganz irdischer Natur. Fünf Meter lang und 1,80 Meter breit ist

das flunderflache Solarauto. Das erste in Sachsen-Anhalt. Noch

hat es die Sonne nicht im Tank, denn die Solarzellen fehlen. Pilotenkanzel, Lenkung, Fahrersitz und einige Elektrokomponenten warten ebenfalls auf ihren Einbau. Für Aufsehen hat das Köthener Solarmobil dennoch schon gesorgt: Anfang Juni auf

der Intersolar in München, der weltweit größten Fachmesse der Solarwirtschaft.

nenbau und Wirtschaftsingenieurwesen an der Köthener Fach-

der Name des Rennautos. „Als wir anfingen, steckte die Solartechnik in Sachsen-Anhalt noch in den Kinderschuhen“, erzählt

Professor Ulrich-Michael Eisentraut, der das Projekt leitet. Einer seiner Studenten hat den Prodekan damals mit dem Solarvirus

infiziert. „Er hatte eine Reportage über das Solarauto-Rennen in Australien gesehen, die World Solar Challenge. Und da wollte er unbedingt mal dabei sein. So ging’s los.“ Die Studenten bauten

zunächst einen 70 Zentimeter langen und 30 Zentimeter breiten Prototyp. „Da haben wir festgestellt, dass wir das können.“

Jahrelange Studien am Computer folgten. Und ganz wichtig: die Gruppe hat sich Unterstützung gesucht. Vor zwei Jahren gründeten die Köthener gemeinsam mit Q-Cells aus dem Thalheimer Solar Valley und dem Fraunhofer-Institut den Studiengang Solartechnik. „Der Schulterschluss hat sich bewährt“, resümiert der Professor. Der „Lightrider“ hat gewaltig Schub bekommen.

Stolze Crew: die

Studenten André

Herzberg, Torsten

Gläßer (rechts) mit ihrem Professor

Ulrich-Michael Ei-

sentraut. Fünf Jahre Arbeit stecken in

ihrem „Lightrider“.


Forschung

Reinhard Manlik, Vor-

sitzender des Regionalclubs Niedersachsen/ Sachsen-Anhalt (von

links), ADAC-Präsident

Peter Meyer und Ulrich Krämer (ADAC Nieder-

sachsen/Sachsen-Anhalt) weihen die Strom-Zapf-

Foto: Nicole Bosold

säule in Magdeburg ein.

Seit einem dreiviertel Jahr tüfteln die Studenten nicht nur am

Der Audi hat nach der Umrüstung eine maximale Reichweite von

bleme gibt’s immer. „Uns fehlen zum Beispiel die geeigneten

In Magdeburg gibt’s seit kurzem sogar kostenlose Stromstöße

Computer, sondern auch in der Werkstatt an ihrem Renner. Pro-

Solarzellen. Die stellt auch Q-Cells nicht her. Das sind Hochleis-

tungszellen, wie sie in der Raumfahrt verwendet werden. Aber da kostet eine rund 250 Euro. Und wir brauchen 2 500. Das Geld haben wir nicht“, sagt Torsten Gläßer, der die Entwicklung koor-

diniert. Also werden erstmal herkömmliche Zellen benutzt und

so eingepackt, dass sie zur Not dem australischen Wüstensturm

trotzen könnten. Denn im nächsten Jahr wollen die Köthener Studenten bei der „World Solar Challenge“ auf jeden Fall starten. 3   021 Kilometer durch glühende Hitze.

Auf 150 Stundenkilometer Spitzengeschwindigkeit bringt es der dreirädrige, 250 Kilo schwere „Lightrider“. Die besten Solar-

boliden fahren auf der Strecke Durchschnittsgeschwindigkei-

ten zwischen 90 und 100 Kilometer pro Stunde. Doch die australische Weltmeisterschaft ist nicht nur das leiseste, sondern

120 Kilometern und kann an jeder Steckdose aufgeladen werden. für Elektromobile. Der ADAC hat gemeinsam mit dem Ingenieurbüro Lindow am Magdeburger Ring (Thietmarstraße, Abfahrt Ol-

venstedt) eine Stromtankstelle in Betrieb genommen. „Wir sind davon überzeugt, dass Elektroautos als Batterie-, Hybrid- oder

Brennstoffzellenfahrzeug eine vielversprechende Perspektive zu Er-

haltung der Mobilität darstellen“, sagt ADAC-Präsident Peter Meyer. Der Automobilclub will in den nächsten Jahren zusammen mit

dem Energieversorger RWE ein Netz von Ladestationen in ganz Deutschland schaffen. „Das ist die Voraussetzung für das Wachstum in dieser Mobilitätssparte“, ist Meyer überzeugt.

Im Moment sind bereits 30 Stromsäulen am Netz, 20 weitere sol-

len dieses Jahr noch hinzukommen. Damit es sich auch lohnt, ins

umweltbewusste E-Mobil umzusteigen, gibt’s den Saft aus den Säulen bis Ende 2011 gratis.

auch eines der härtesten Rennen der Welt. „Voriges Jahr sind 30

Experten rechnen damit, dass schon im Jahr 2020 rund eine Mil-

Teamleiter für die Elektrotechnik.

Straßen unterwegs sind. Die Autohersteller scheinen endlich aus

Teams gestartet, nur 15 kamen ins Ziel“, weiß André Herzberg,

So exotisch das alles klingt, die Köthener sind nicht die einzigen

in Sachsen-Anhalt, die sich mit alternativen Antriebstechniken beschäftigen. Gerade hat die Firma Krebs und Aulich aus De-

lion dieser umweltfreundlichen Fahrzeuge auf Deutschlands ihrem Dornröschenschlaf erwacht zu sein. Die Branche hat ihre

Forschungsinvestitionen im Bereich der alternativen Antriebe seit 2006 mehr als verdreifacht.

renburg im Harz einen Audi A2 erfolgreich auf Elektroantrieb

Trotzdem wird das Solar-Team von der Köthener FH manchmal noch

sortium, zu dem sich mehrere Firmen, Hochschulen und Institu-

Quatsch! Professor Eisentraut nimmt’s gelassen und kontert mit

umgerüstet. Die Harzer sind Mitglied im Harz.EE-Mobility-Konte zusammengeschlossen haben. Harz.EE-Mobility untersucht

zum Beispiel, wie regional erzeugte erneuerbare Energien optimal für Elektroautos genutzt werden können.

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 02/10

belächelt: Solartechnik im sonnenarmen Deutschland, was für ein einer überzeugenden Feststellung: „Wir zeigen doch, dass es geht.“

www.hs-anhalt.de

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Stadtentwicklung

„Provinz ist eine Sache der Landkarte, nicht des Kopfes“ IBA, Landesgartenschau und Neo Rauch – Aschersleben zeigt, wie Imagewandel heute funktionieren kann Von Cornelia Heller

Aschersleben und Magdeburg – zwei Städte in Sachsen-Anhalt. Die eine eher klein, gerade zählt man wieder 28  000 Einwohner, die andere mit fast zehn Mal so vielen Menschen. Die eine im hügligen idyllischen Vorharz gelegen, die andere auf dem glatten Tablett der Magdeburger Börde. Beide sind mehr als 1 200 Jahre alt, beide haben in der Region des heutigen Sachsen-Anhalts – die eine mit Albrecht dem Bären, die andere mit Otto dem Großen – deutsche Geschichte geschrieben. Und beide haben sich vor acht Jahren neben 17 anderen Städten für eine Teilnahme an der Internationalen Bauausstellung (IBA) Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 beworben, wurden nominiert und zeigen in diesem Jahr noch bis Oktober die Ergebnisse dieser Arbeit. Jede fand dabei ihren ganz eigenen Weg, um das Weniger an Bevölkerung mit einem Mehr an Stadt- und Lebensqualität auszugleichen. Eine Spurensuche.

„In Aschersleben tut sich gar nichts!“, erinnert sich Wolfgang

der Blick auf ein Teilstück der weltweit ersten Durchfahrgalerie

Jahren die Stadt auf den drei Bundesstraßen querten und ganz

bunten Kunstwerken. Zur Zeit stellt der Berliner Maler Andree

Adam noch gut an die Aussprüche jener, die noch vor wenigen schnell weiterfuhren. Grau und schmutzig hat auch er seine Geburtsstadt in Erinnerung. Jetzt sind zwar immer noch unzähli-

ge Laster und Pkws unterwegs – bis zu 18 000 Durchfahrende lassen sich hier an einem Tag locker zählen. Und doch ist alles

anders. In der Straße Hinter dem Zoll, einer engen Schlucht zwischen dem sanierten Gebäude der ehemaligen Werkzeugfabrik

und gegenüberliegenden kleineren Wohnhäusern, öffnet sich

– auf gut Englisch DRIVE THRU gallery – mit haushohen, großen

Volkmann hier seine Bilder aus, es sind fünf aus dem Zyklus

„Feierabend“. Bunt und schrill schieben sie sich subtil und doch unausweichlich ins Blickfeld der Autofahrer, die bremsen, anhalten und gucken sollen.

Aschersleben macht dieser Tage Furore mit seiner neuen Galerie. Sie ist mit ihren Bildern, Fotos und künstlerischen In-

stallationen entlang der Durchfahrtsstraßen ein Baustein im

Bremsen, anhalten, gucken: Aschersleben zeigt in der weltweit ersten DRIVE THRU gallery derzeit

Bilder des Berliners Andree Volkmann aus dem Zyklus „Feierabend“.


Stadtentwicklung

Zurück in die Mitte:

AGW-Geschäftsführer

Wolfgang Adam vor dem städtebaulich wichtigen

Projekt Hopfenmarkt und Ritterstraße.

Umbauprozess der Stadt im Rahmen der IBA 2010 und lässt

alle suchen einen Weg, die zu weit gewordenen Kleider „abzunä-

Jahr zeitgleich ausgerichteten 3. Landesgartenschau staunen.

scheint naheliegend und sinnvoll. Doch die Schwierigkeit beim

außerdem die inzwischen 200  000 Besucher der in diesem

Mit ihrem Konzept „Von außen nach innen – Konzentration auf den Kern“ gelang der alten Stadt nicht nur mit der Idee einer

Galerie der große Wurf. „ ‚Ab in die Mitte’, hieß das zu Beginn“,

erklärt der Geschäftsführer der Ascherslebener Gebäude- und Wohnungsgesellschaft mbH AGW Wolfgang Adam, als wir über die IBA und das reden, was sie in der Stadt verändert hat. Die

erklärte Stadtpolitik im Dreiklang von Bildung, Wirtschaft und Stadtumbau setzte den Mut voraus, am Stadtrand massiv abzu-

reißen. „Den haben wir als Wohnungsgesellschaft aufgebracht.“ Adam, „Herr“ über heute 3 200 Wohnungen, hat den Bestand der AGW in den zurückliegenden 20 Jahren halbiert – halbie-

ren müssen. Anfang 2000 standen weit über 25 Prozent der

Wohnungen in Aschersleben leer. „So wurde entschieden, 800 Wohnungen abzureißen, nicht nur, aber vor allem am Rand“, zeigt er in Richtung Norden und meint das Wohnge-

biet Helmut-Welz-Straße. „Hier fuhr kein Bus mehr hoch, kein

Bus mehr runter. Und nur ‚Opa Paul‘ hatte einen Führerschein, Oma nicht. So gestaltete sich für viele ein einfacher Weg in die Altstadt zum Tagesausflug.“

„Beim Stadtumbau muss man übergreifend arbeiten. Und denken“, meint Wolfgang Adam, Geschäftsführer der Ascherslebener Gebäude- und Wohnungsgesellschaft. Adam beschreibt Realitäten, die nicht nur für Aschersleben typisch sind. Sachsen-Anhalts Städte schrumpfen wie andere europäische Orte in Italien, den Niederlanden oder in Russland. Sie

SACHSEN-ANHALT-MAGAZIN 02/10

hen“. Sich dabei vom Rande aus auf die alte Mitte zu bewegen, Umbau schlummert im Detail. Die Bewohner der Helmut-Welz-

Straße schätzten ihre Wohnlage, die Ruhe, ein bisschen auch die Abgeschiedenheit. „Wir haben versprochen, unsere Häuser in

der Innenstadt schnell zu sanieren, um allen, die aus der Peripherie rein in die Stadt umziehen sollen und wollen, eine Woh-

nung anzubieten. Und wir haben unser Versprechen gehalten“, blickt Wolfgang Adam zurück. Beim Stadtumbau, sagt er, müsse

man übergreifend arbeiten. Und denken. Das ist im Stadtbild der ältesten Stadt Sachsen-Anhalts heute gut ablesbar.

So hat die Stadt die riesige Schmuddelbrache der alten Beste-

hornschen Papier- und Kartonagenfabrik, besser bekannt noch als „VEB Optima“, mitten in der Stadt zu einem „Bildungszentrum Bestehornpark“ umgebaut. Mehrere frei agierende Schulträger verwirklichen heute genau dort die Vision der Stadt, ein

begehrter Wohn- weil Bildungsstandort zu sein. Es ist überhaupt das Prestigeprojekt Ascherslebens im Rahmen der Inter-

nationalen Bauausstellung und Schauplatz der aktuellen Stadt-

entwicklung, Schnittpunkt von Vergangenheit, Gegenwart und

Zukunft. Im Erdgeschoss des hellen, neu angebauten Riegels, der später als Kreativwerkstatt für die Schüler der ganzen Stadt

genutzt werden soll, setzen versierte Gärtner Blütenträume in verzückende Hallenschauen der Landesgartenschau um.

Aschersleben blüht und grünt dieser Tage im Wechselflor der

Jahreszeiten, und „Natur findet Stadt“. Es war die Idee der Ber-

liner Landschaftsarchitekten Faust, Schroll und Schwarz vom

Büro sinai, die Geschichte des 1599 in Aschersleben geborenen Universalgelehrten Adam Olearius und seine große, sechs Jahre währende Expedition zum russischen Zarenhof nach Moskau

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Stadtentwicklung

Stark: Der Hallenser Künstler Moritz Götze vor seinem Werk „Mond“, zu sehen auf dem Landesgartenschaugelände.

und Isfahan im Orient, seine „Große moskowitische und persische

Der Imagewandel der Stadt macht aber noch anderes möglich.

der großen weiten Welt weht seither durch Herrenbreite, Stadt-

gewichtiges Faustpfand gemein. In allen drei Städten ist gegen-

Reise“, mitten in die alte Stadt hinein zu komponieren. Ein Hauch

park und den Promenadenring, auf dem man der Geschichte der

Stadt entlang der mittelalterlichen Befestigungsanlage mit noch immerhin 15 erhaltenen Türmen ganz nah sein kann.

Aschersleben hat irgendwie alles richtig gemacht. Und wird attraktiv, für jeden der hierherkommt. Gerade hat die AGW in der

Herrenbreite mit dem besten Blick auf die blühenden Wiesen der Landesgartenschau eine sanierte Villa mit sechs Wohnungen an die neuen Mieter übergeben. Die Warteliste war lang. Ein neues Projekt direkt am Promenadenring in der Wilhelmstraße, Ecke Liebenwahnscher Plan, für das man Fördermittel des Landes in einem Wettbewerb für innovative Projekte gewann, wird dieser

Tage nach der Planungs- in die Ausschreibungsphase gehen. Auch

für diese Wohnungen gibt es bereits jede Menge Interessenten. Wie auch für die im Umbau befindlichen Häuser der Staßfurter

Höhe, wo man aus schwer vermietbaren Fünfgeschossern at-

traktive Dreigeschosser macht. „Der hohe Standard“, sagt Adam, „animiert die Leute, zurück in die Stadt zu ziehen.“

Denn Aschersleben hat seit Juni mit München und Leipzig ein wärtig der Name des international renommierten Malers Neo

Rauch präsent. Die beiden Metropolen zeigen die Ausstellungs-

teile seiner Retrospektive „Begleiter“. In Aschersleben sind die

Werke seiner Meisterschüler mit dem Titel „Von Vorn“ zu sehen. Höchstselbst kam der Künstler dieser Tage in die Stadt seiner

Kindheit und Jugend zur Vernissage und ließ am Bekenntnis zu seiner Heimatstadt keinen Zweifel aufkommen. Er prägte gar das

Wort „mini-MoMA“ in Anlehnung an das weltberühmte Museum

of Modern Art in New York im Hinblick auf die Ausstellungsräume

im neuen Gebäudeanbau des Bestehornparks. Hier, so meinte er, könnte er sich vorstellen, in Zukunft auch selbst auszustellen. Das

wäre für die kleine Stadt zweifellos ein neuerlicher Zugewinn. Und so beweist sich die Wahrheit der Eröffnungsworte von Prof. Arno Lederer zu Vernissage, übrigens seines Zeichens Architekt des Bestehornparks. Er sagte: „Provinz ist eine Sache der Landkarte und nicht des Kopfes“.


Stadtentwicklung

Überraschende Renaissance auf Elbkilometer 326 Die alte Kaiserstadt Magdeburg übte sich für die IBA im „Leben an und mit der Elbe“

„Die Treppe geht ja ins Wasser“, ruft die Kleine mit den bun-

brachliegenden Flächen annehmen konnte und im IBA-Prozess

Schmunzeln. Heute, an einem Bilderbuch-Sommertag, ist

stand. „Die IBA war und ist die große Chance für Magdeburgs

ten Zopfhaltern ihrer Mutter hinterher und erntet allseits

kaum ein Platz frei auf den vom Wasser umspülten breiten Sitzstufen am Domfelsen. Kollektives Schauen, gewisserma-

ßen Public Viewing, auf Magdeburgs großen Fluss, die Elbe. Die Treppe ist fast neu. Ihre Stufen säumen seit vorigem Sommer die Wasserkante. Je nach

die einmalige Gelegenheit für ein Heranrücken an den Fluss ver-

Stadtentwicklung, die Stadt wieder an die Elbe heranzuführen“, sagt Scheidemann und weiß, dass die alte Kaiserstadt neue Ak-

zente sucht und braucht, um nach wirtschaftlichem Umbruch und hoher Bevölkerungsabwanderung im Ranking der Städte wie-

Pegelstand gibt es mal mehr, mal weniger von ihnen.

Magdeburg, auf halbem Wege

zwischen Quelle und Mündung auf Elbkilometer 326, übte sich für die Internationale Bauausstellung im „Leben an und mit

der Elbe“. Es ist das Thema, unter dem die Stadt acht Jahre lang den Fluss und die Stadt

einander näher zu bringen versuchte.

Heute radelt man entlang der Elbe, skatet, joggt am Ufer, sitzt

in flussnahen Cafés und Restau-

rants, auf wassernahen Stufen

oder picknickt bei Sommerwetter auf den weiten Elbwiesen. Doch

das war nicht immer so. Es war

gar schlichtweg nicht möglich. „Der Stadtkörper“, sagt Dr. Dieter

Scheidemann, Beigeordneter für

Stadtentwicklung, Bau und Verkehr der Stadt Magdeburg, „wie

Die Stadt am Fluss im Blick: Dr. Dieter Scheidemann, Magdeburgs Beigeordneter für Stadtentwicklung, und Rainer Nitsche, Beigeordneter für Wirtschaft, Tourismus und regionale Zusammenarbeit.

eine Spindel längs der Elbe gezo-

gen und in ihrem Kern verdickt, findet im Fluss ein ganz besonde-

der aufzuholen. Man könnte meinen, eine Renaissance hat mit der

in die Festungsanlagen, war Umschlagplatz für die wachsende

diesen Wandel erlebbar machen.

res Merkmal. Die Elbe war Furt, war als Abgrenzung eingebunden Industrie.“

Ganze Areale waren vor allem durch elbnahe Industrieansiedlun-

gen über Jahrzehnte unzugänglich. Erst der wirtschaftliche Niedergang vieler Betriebe nach der politischen Wende 1989 mach-

te es im Umkehrschluss möglich, dass sich die Stadt dieser nun

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IBA eingesetzt. Entlang der Elbe reihen sich heute Schauplätze, die Schauplatz eins: der alte Handelshafen im Norden der Stadt. Hier schwappt Elbewasser in ein selten schönes Hafenbecken, und die alten roten Speicherhäuser lassen an Hamburg und deren Speicherstadt denken. So weit entfernt sind die Magdeburger Ideen von eben jener hanseatischen Nachnutzung nicht. Die creative

class, die klugen Köpfe, will man in das Quartier locken, ihre Han-

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Stadtentwicklung

delsware: Wissenschaft. Das Fraunhofer Institut hat sich bereits

mit einer legendären Bierkistenaktion auf einer brachliegen-

im „Elbe-Office“ ziehen die nächsten Mieter ein. Der „Wissen-

gezeichneten Stadtteil Salbke begann, erntete als Bürger-

angesiedelt, die „Denkfabrik“ entstand aus zwei alten Speichern, schaftshafen“ ist im Wachsen und soll in Zukunft auch städtebau-

lich noch enger an die Stadt und den Campus der Otto-von-Guericke-Universität heranrücken. Eingebunden in ein europäisches

Projekt, das dem Austausch von Erfahrungen bei der Entwicklung

von Wissenschaftsquartieren dient, hat Magdeburg hier eine

Vorreiterrolle übernommen. Auch das steht der Elbestadt gut.

Wilhelm van Winden, der EU-Koordinator eben jenes Projektes, sagt: „Wissenschaftshafen, Campus und Elbe liegen in Magde-

burg so eng beieinander, und man ist nicht weit von der Innen-

stadt entfernt. Das ist eine Kombination, die nicht viele Städte aufweisen.“

Schauplatz zwei macht anderen vor, wie das mit dem „Stadt

rückt näher an den Fluss“ gehen kann. Seit der Öffnung des

alten Elbebahnhofs, der seit der Wende ohne Nutzung war,

den Fläche im von Arbeitslosigkeit, Wegzug und Leerstand

bibliothek der besonderen Art bereits auf der 11. Architektur-

Biennale in Venedig 2008 Aufmerksamkeit und Anerkennung. In Salbke, in dessen Ortsmitte bis zu 80 Prozent der Gebäude leer stehen und das, wie ein Journalist schrieb, „als Sinnbild

eines postindustriellen Pompeji“ gilt, planten Architekten und

Bürger gemeinsam in mehreren Workshops eine einzigartige

Bibliothek: Ihre Regale sind nicht verschlossen und ihre Bücher zu jeder Tages- und Nachtzeit von jedermann ausleihbar. Das „Lesezeichen“ ist zum Freizeittreff und Veranstaltungsort des Stadtteils avanciert und zeugt von Phantasie und Mut, auch

in schwierigen Zeiten zu neuen Ufern aufzubrechen. „Die IBA“, sagt Scheidemann, „ist kein Tag X, an dem alles fertig ist. Die IBA hat Prozesse in Gang gesetzt, die wir weiterführen und begleiten werden.“

kann man auf einer durchgängigen Uferpromenade auf einer

So zieht sich die Spur des Wandels in Magdeburg ganz nah

nen rund elf Hektar mitten in der Stadt war früher das Synonym

schönsten und vielleicht ehrlichsten Seite. Schauen und gucken

Länge von 2,5 Kilometern der Elbe folgen. Der Bahnhof mit seifür hektischen Warenumschlag, hier dampften die Lokomoti-

der Elbe. Die alte Kaiserstadt am Fluss zeigt sich dort von ihrer lohnt auf Elbkilometer 326.

ven, quietschten die Güterwaggons, standen ungezählte Lagerschuppen dicht an dicht. Und er grenzte direkt an das Wasser.

„Die IBA hat Prozesse in Gang gesetzt, die wir weiterführen werden“, sagt Dr. Dieter Scheidemann, Magdeburgs Beigeordneter für Stadtentwicklung. Jetzt sind die Bauflächen neu geordnet. Die Klaviatur des klassi-

schen Flächenmanagements wurde dafür von den Fachleuten der Stadt bedient. Entlang dieses Wegs ist eine ganze Reihe weiterer

flussnaher Projekte erlebbar, beginnend beim Um- und Neubau

der Lukasklause zum Otto-von-Guericke-Zentrum oder der neuen Brücke und Treppenanlage am Domfelsen, vorbei am Stadtbalkon als Ausguck hinüber zur Stadthalle oder der ausgegrabenen

Bastion Cleve, die Einblicke in die Geschichte Magdeburgs als

Festungsstadt gibt. „Da ist wirklich viel passiert“, freut sich Dieter Scheidemann und ist sich sicher, dass Besucher, die lange

nicht hier waren, überrascht sein werden, wie die Elbestadt sich verändert hat.

Schauplatz Nummer drei hat gerade mal wieder international von sich reden gemacht. Mit dem „European Prize für Urban

Space 2010“ wurde in Salbke, einem südlichen Stadtteil Mag-

Der Uferbereich präsentiert

deburgs, die „Freiluftbibliothek Lesezeichen“ ausgezeichnet.

sich heute als Promenade mit

Internationalen Bauausstellung angesehen werden. Was 2004

sich dem Strom zu nähern.

Die ist zwar kein IBA-Projekt, darf aber wohl als ein Effekt der

vielfältigen Möglichkeiten,


Stadtentwicklung

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Demographischer Wandel

Wenn sich ein Schleier über die Wirklichkeit legt Bevölkerungsentwicklung stellt Wohnungsunternehmen vor bislang unbekannte Herausforderungen Von Petra Uhlmann Die Anrufe von Lieselotte Schmidt (Name geändert) bei der Woh-

ist. Zu DDR-Zeiten seien viele der jetzigen Mieter so genannte

den vergangenen Monaten. Regelmäßig berichtet die 81-Jährige

gen gewesen. Altern war ein Thema, das noch Lichtjahre entfernt

nungsbaugenossenschaft Sangerhausen haben sich gehäuft in

am Telefon von ihrer kaputten Heizung, die dringend repariert wer-

den müsse. Und jedes Mal stellt der herbei geeilte Monteur dann fest, dass mit der Heizung alles in Ordnung ist und die alte Dame sich nicht erinnern kann, den Notdienst gerufen zu haben.

Erstbezieher der neuen Wohnungen in den Plattenbausiedlunschien. Aber nach der Wende sind in Sangerhausen, einer Stadt

mit rund 30  000 Einwohnern im südlichen Sachsen-Anhalt, mehr als 90 Prozent der Arbeitsplätze weggebrochen. Die Kinder sind der Arbeit nachgezogen, die Eltern blieben zurück.

Generationenhaus

der Wohnungsbaugenossenschaft Sangerhausen:

Die Bewohner ge-

nießen gemeinsam das Miteinander.

Erfahrungen wie diese sind kein Einzelfall. Nach Schätzungen

Der demographische Wandel ist inzwischen auch bei den Woh-

eines normalen Alltagslebens schwerer und schwerer, wenn Ge-

der Wohnungswirtschaft in Sachsen-Anhalt, nennt Zahlen: „Allein

von Experten wird für 1,2 Millionen Menschen die Bewältigung

dächtnis und Orientierung nachlassen, sich über das Denken, das Urteilsvermögen und die eigene Wirklichkeit ein Schleier zu legen beginnt. Mit der Diagnose Demenz beginnt sich für viele der Betroffenen ein soziales Problem aufzutun.

„Wie geht man richtig damit um?“, fragt Karina Kaiser, die Vor-

standssprecherin der Sangerhäuser Wohnungsbaugenossen-

schaft. „Wir sind meist die ersten Ansprechpartner der Mieter, weil man uns ja anrufen kann, wenn sonst niemand mehr da

nungsgesellschaften angekommen. Jost Riecke, Verbandsdirektor für den Zeitraum 2010 bis 2025 wird die Zahl der Haushalte in Sachsen-Anhalt voraussichtlich um 140  000 sinken. Zugleich verschiebt

sich die Alterspyramide. Im Vergleich zu heute wird sich die Zahl der

20- bis 65-Jährigen um 29 Prozent verringern, während die Zahl der über 65-Jährigen bis 2025 um 13 Prozent auf rund 600   000 steigt.“

Prof. Dr. Reimer Gronemeyer, Altersforscher, Theologe und Soziolo-

ge der Justus-Liebig-Universität Gießen, beschreibt die Situation in Deutschland ganz nüchtern: „Bereits heute lebt jeder zweite über

85-Jährige allein. Kann man sich eigentlich wundern, dass diese


Demographischer Wandel

alten Menschen es schwerer und schwerer haben, sich im Alltag

Die städtische Gesellschaft war eines der ersten Wohnungsunter-

akzeptierende Gemeinschaft sein.“

wicklungskonzepte integriert haben. Der Kerngedanke dabei: Die

zurechtzufinden? Die wichtigste Prävention dürfte eine wärmende,

Als erstes Bundesland versucht nun Sachsen-Anhalt, mit der Inter-

nationalen Bauausstellung (IBA) „Stadtumbau 2010“ neue Lösungs-

ansätze für den Umgang mit dem demographischen Wandel zu entwickeln. Auch die Wohnungsunternehmen im Land sind daran beteiligt und müssen sich der Herausforderung stellen. Sie betreten Neuland damit, denn das Leitbild stetigen Wachstums gilt nicht

mehr. Mieter werden weniger und älter. Alterserkrankungen wie

nehmen in Sachsen Anhalt, die das Thema Demenz in ihre EntMieter sollen so lange wie möglich in ihrem Stadtteil und dem

vertrauten sozialen Umfeld leben können, auch mit Demenz. Die Mietkosten dürfen die oft begrenzten finanziellen Möglichkeiten

der Mieter nicht übersteigen. Es galt also, eine gute Balance zu fin-

den zwischen notwendigen Umbau- und Sanierungsmaßnahmen, bezahlbaren Mieten, aber der Wohnungsgesellschaft zugleich die wirtschaftliche Grundlage zu sichern.

Demenz bekommen plötzlich auch eine wohnungspolitische Di-

In Schönebeck ist diese Gratwanderung gelungen: Bei einer Größe von

Wege gefunden werden, um die Selbsthilfe zu fördern, Netzwerke

und fünf Euro Kaltmiete pro Quadratmeter beträgt die monatliche Miete

mension. Und nicht nur für Jost Riecke ist klar: „Es müssen neue zu bilden und die Übernahme von Verantwortung zu stärken.“

Die Wohnungsbaugenossenschaft in Sangerhausen hat es verstan-

den, schon frühzeitig die Zusammenarbeit mit sozialen Dienstleistern zu suchen, damit Mieter möglichst lange in ihren Wohnungen

selbstbestimmt leben können. Sowohl im von der WGS neu erbau-

21 Quadratmetern pro Mieter im eigenen Wohnbereich der Demenz-WG mit Nebenkosten maximal dreihundert Euro. „Wir haben im Innenbereich

nur so viel sanieren lassen, wie für die veränderte Nutzung notwendig war und uns erst einmal entschlossen, die Fassade nicht anzufassen“, erinnert

sich Sigrid Meyer. „Was nutzen uns strahlende Schmuckschatullen, wenn der Mieter zum Beispiel die Pflegekosten nicht mehr bezahlen kann?“.

ten Generationenhaus im Stadtteil Süd, als auch im Mai 2009 er-

öffneten Mieterzentrum (MIETZ) im Wohngebiet Othaler Weg sind

Vereine und soziale Dienstleister gemeinsam Nutzer und Betreiber. Durch die Kooperation der WGS mit „projekt 3 e. V.“ und „MitBürger e. V.“ wird ein breites Spektrum der sozialen Beratung und Betreu-

ung abgedeckt. „Unsere Absicht ist es, erst einmal in den Köpfen der Mieter etwas zu verändern, sie zum Mitgestalten und Mitreden anzuregen“, sagt Dieter Klein von projekt 3 e. V.. „Und wenn sie selbst-

bestimmt agieren, vielleicht sogar selbst Hilfe anbieten, sind das die besten Voraussetzungen für gute Nachbarschaft und würdevolles Altern“, fügt René Pischel hinzu.

Die Geschäftsführerin der Städtischen Wohnungsbau GmbH Schö-

nebeck, Sigrid Meyer, sieht den demographischen Wandel auch als

Chance. „Wir sind gezwungen, völlig neue Konzepte zu entwickeln“, sagt sie. Gemeinsam mit anderen Vermietern hat ihr Unternehmen im Jahr 2003 den Verein „Selbstbestimmt Wohnen e. V.“ gegründet.

Schönebeck liegt an der Elbe, unweit der Landeshauptstadt Magdeburg – eine adrette Kleinstadt, in der es sich eigentlich gut leben

lässt. Doch die Idylle ist trügerisch, wie Sigrid Meyer berichtet: „Rund

20 Prozent unserer Wohnungen standen über acht Jahre leer. Mehr als 40 Prozent unserer Mieter sind inzwischen über 60 Jahre.“

Die Schönebecker Wohnungsbaugesellschaft hat sich auf die Her-

ausforderungen eingestellt, die mit der veränderten Bevölkerungsstruktur einhergehen. „Wir möchten unsere älter werdenden Mieter

auch in Zukunft halten, ihnen ein lebens- und liebenswertes Umfeld bieten“, nennt sie die Zielstellung.

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Warteliste für die WG: Sigrid Meyer, Geschäftsführerin der SWB Städtische Wohnungsbau GmbH Schönebeck.

Viel wird heute geredet über dringend nötige Integration, die Ge-

fahren sozialer Entmischung oder Nachbarschaftskonflikte. Und doch bedurfte es einer gehörigen Portion Mutes, vor fünf Jahren

mit einem Thema, über das nicht nur kaum gesprochen wurde, sondern das auch sehr angstbesetzt war, in ein gewachsenes Wohnquartier hineinzugehen. Die komplette Etage eines „normalen“ Wohnblockes in eine Wohngemeinschaft für Menschen mit

Demenz umbauen? „Wir wussten, dass vieles auf dem Spiel stand, dass wir Vertrauen und einen langen Atem brauchen“, blickt Si-

grid Meyer zurück. „Neun Monate nach der WG-Eröffnung gab es die ersten drei Anmeldungen. Dann sprach es sich herum. Inzwischen haben wir eine lange Warteliste.“ www.swb-schoenebeck.de

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Logistik


Logistik

Eine seetüchtige Dreiecksbeziehung Magdeburgs Hafen will Mittelpunkt einer Hinterlanddrehscheibe für die großen Seehäfen werden Von Ute Semkat Staub steigt auf und bleibt pelzig auf Haut und Zunge haften,

Mittellandkanal wurden nach 1990 wieder hervorgeholt und das

Schleier flimmert sie über der Ladung auf dem Lastkahn, in dessen

Kanal im Jahr 2003 mit einer Trogbrücke geschlossen, Teil des Ver-

als sich die Wolke längst aufgelöst hat. Nur noch als graubrauner Bauch sie gerutscht und gerollt ist. Die Schute ist zu gut zwei Dritteln gefüllt, schätzt Rene Pusch mit einem kurzen Blick ein und

fehlende Verbindungsstück zwischen Mitteland- und Elbe-Havelkehrsprojektes „Deutsche Einheit“ Nummer 17.

winkt dem LKW-Fahrer zu, der bereits von der Kaimauer wegrollt.

Seit vor drei Jahren das neue Containerterminal fertig geworden

Boot muss bis zum Abend raus.“ Tausend Tonnen der stauben-

ter Kailänge und 115 Hektar Ansiedlungsfläche. Der Jahresumschlag

„Das war heute schon seine vierte Fahrt“, sagt der Vorarbeiter, „das

den Rübenpellets aus der 70 Kilometer entfernten Zuckerfabrik

Könnern passen hinein, das Futtermittel wird bis nach Belgien verschifft.

Hier draußen am Terminal am sogenannten Trennungsdamm

floriert der Schüttgutumschlag, das traditionelle Hafengeschäft. Etwa ein Drittel der Umschlagmenge bringt es dem Magdebur-

ger Hafen heute noch. In der Sonne prahlen glitzernde Hügel von Buntmetallschrott und lassen die Nachbarberge mit unver-

brauchtem Roheisen aus Brasilien und Russland finster aussehen. Im Rücken des Trennungsdamms strömt die Elbe vorbei, vor dieser langgestreckten Insel liegt der Kanalhafen mit der Einfahrt in die Hafenbereiche weiter stadteinwärts. In Gegenrichtung glei-

ist, verfügt der Magdeburger Hafen über insgesamt sechs Kilomewuchs bis 2008 auf drei Millionen Tonnen – allerdings wurde diese

Marke im Krisenjahr 2009 wieder unterschritten. Hafendirektor

Karl-Heinz Ehrhardt sieht die Entwicklungschancen dennoch voller Optimismus. Er will Magdeburg zum Mittelpunkt einer Hinter-

landdrehscheibe für die Häfen an Nord- und Ostsee entwickeln: „Für die Warenströme Richtung europäischer Osten und Südosten bietet sich die Zwischenlagerung in unserem Binnenhafen

doch regelrecht an“, sagt Ehrhardt. Wenn er von einem „Duisburg des Ostens“ spricht, klingt das vielleicht nach Größenwahn. Aber

der Mann hat in Hamburg gearbeitet und weiß, wovon er – sehr nüchtern und kein Wort zuviel – spricht. Davon später noch.

ten Schubverbände mit frischer Fracht aus Magdeburg hinaus,

Rückgrat für die Großen

Tschechien im Osten als Ziel. Pusch lächelt amüsiert auf die Frage,

Zunächst verbessert Ehrhardt den Begriff Hafen in Logistikstand-

sucht nach dem weiten Meer verspürte. „Bin jahrelang auf einem

nichts mehr erreichen. Wir haben unser Geschäft von den Um-

das Ruhrgebiet und die Niederlande im Westen oder Polen oder ob er beim Anblick eines vorbeiziehenden Schiffes etwas Sehn-

Hochseeschiff gefahren“, erzählt der gebürtige Mecklenburger. Und dann? „Dann habe ich meine Frau kennengelernt, die war

Schiffsstewardess.“ Und stammte aus dem Binnenland an der Elbe, wohin das Paar später zog. Jetzt arbeitet Pusch inzwischen seit 25 Jahren im Magdeburger Hafen.

Die Anfänge des größten Hafens in Mitteldeutschland reichen bis in 19. Jahrhundert zurück, als zunächst das Westufer der Elbe mit

einer Kaimauer befestigt wurde. Als die Frachtschifffahrt immer mehr Dampf machte, wurden größere Umschlagkapazitäten benötigt. So entstanden im Norden Magdeburgs mehrere Hafenbereiche. Die alten Pläne für ein Wasserstraßenkreuz von Elbe und

Der beste Platz im Magdeburger Hafen liegt weit über der Elbe und den Schiffen. Von der Plattform des 50-Tonnen-Krans erschließt sich das geäderte Netz von Wasserstraßen und

Hafenteilen – vorausgesetzt, der Betrachter ist schwindelfrei.

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ort: „Denn mit dem reinen Hafengeschäft können Sie heute gar

schlagzahlen abgekoppelt und leben heute mit drei Standbeinen: Umschlag, Speditionsgeschäft, logistikrelevante Ansiedlungen. Die Mischung bringt es.“ Dazu gehört auch, dass das Schiff nicht

das einzige Transportmittel und die Wasserstraßen nicht der al-

leinige Weg geblieben sind, mit dem der Hafen Geld verdient. „Früher haben die Hafendirektoren ihre ganze Arbeitszeit aufs Wasser gesehen. Heute drehen wir uns schon mal die Hälfte der Zeit um und gucken uns einen LKW oder einen Zug an.“

Die Wirbelsäule muss sich Magdeburgs Hafenchef dabei nicht

verrenken. Wie auf Bestellung rollt die Hafenbahn vorüber. Ihre

Gleise führen vom öffentlichen Bahnnetz in alle Hafenbereiche. Wenige hundert Meter weiter rauscht der Autoverkehr auf der A2 vorbei. „Alle drei Verkehrsträger lassen sich in einem Radius von nur einem Kilometer miteinander verbinden“, erklärt Ehrhardt

eine Dreierbeziehung, die bei den Logistikern „trimodaler Stand-

ort“ genannt wird, und legt nun doch mit unverkennbarem Ehr-

geiz nach: „Wir sehen uns in der Rolle des Generalunternehmers,

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Logistik

der den besten Weg für seinen Kunden selbst wählt. Der muss uns nur sagen, wann die Fracht abgeholt werden muss und wann sie wo sein soll.“

Als Beispiel erzählt der Hafenchef von einem Unternehmen, das

Ware aus Marokko benötigt. „Wir machen für diesen Kunden die Seeschifffahrt bis Hamburg, schlagen dort im Überseehafen um

und transportieren per Binnenschiff nach Magdeburg weiter. Hier lagern wir die Ware auf unseren eigenen Flächen und beliefern das Unternehmen dann in den Mengen, die es abruft. Also wir bedienen die ganze Logistikkette.“

Als der alte Handelshafen ausgedient hatte und die Stadt Magde-

burg dort in Citynähe einen Wissenschaftshafen entwickelte, übertrug sie ihrem Hafenbetrieb 40 Hektar Ersatzflächen im nördlichen Industriegebiet Magdeburg-Rothensee, die bis zum

Rothenseer Verbindungskanal (dem Anschlussstück zwischen Mittellandkanal, Häfen und Elbe) reichen. In diesem so genann-

ten Hansehafen verpachtet Ehrhardt jetzt Gewerbeimmobilien. „In der ersten Reihe an Unternehmen, die ständig die Kaikante brauchen, die anderen siedeln wir weiter hinten an. Und die letzten 50 Meter vorm Kai behalten wir als Hafengelände dauerhaft in unserem Zugriff.“

Auf der knapp zehnminütigen Autofahrt vom Verwaltungssitz zum Hansehafen kann Ehrhardt jedes Unternehmen beim Namen nennen. „Dort baut Enercon gerade eine Windradanlage mit

7,5 Megawatt.“ Der Hersteller von Windenergieanlagen aus dem

ostfriesischen Aurich produziert in Magdeburg an zwei Standorten Teile, in Rothensee sind es Turmsegmente und Rotoren-

von Bremerhaven bis Stettin eine prosperierende Entwicklung zu

verschickt werden. Gegenüber vom Ölhafen hat der Hafenchef

Rotterdam, Amsterdam, Antwerpen gelang. Seit 2008 ist Magde-

blätter, die als schweres Stückgut oder per Container in die Welt zuvor auf ein hohes Gebäude mit der weithin lesbaren Aufschrift

„Beiselen“ gezeigt: „Die sitzen in Ulm und erweitern hier jetzt ihr Saatgutlager“. Fast andächtig fügt er hinzu: „Mit dem Inhaber habe ich schon vor zwanzig Jahren Geschäfte gemacht.“

Nachdem der in diesem Jahr 60-Jährige etliche Jahre für die Me-

tallgesellschaft Frankfurt um den Globus gereist war, ging er zur

Hamburger Reederei und war wieder „bis zu 200 Tage im Jahr in der Luft unterwegs – oder in China“. Der norddeutsche Dialekt ist

erkennbar, aber geboren wurde Karl-Heinz-Ehrhardt in Dresden. Als er neun war, verließ seine Familie die DDR und wurde in

sichern – so wie es dem Binnenhafen Duisburg als Rückgrat für burg ein Kooperationspartner von Europas führender Seehafenlogistik-Gruppe Eurogate, die ein Inland-Container-Netzwerk zur Entlastung der Seeterminals aufbaut. Die weltweite Krise habe

zwar die Verlagerung von Seehafenumschlag vorerst ausgebremst, erklärt ein Sprecher bei Eurogate. Aber der Hansehafen in Magde-

burg eigne sich wegen seiner Infrastruktur für „eine stärkere Rolle im Hinterlandverkehr. Insbesondere für das System Wasserstraße

bietet Magdeburg durch die Anbindung an das Wasserstraßenkreuz, die Elbe und den Mittellandkanal ein hohes Potenzial.“

Bayern heimisch. Doch dann lernte der junge Ehrhardt in Ham-

Neue Schleuse wird nächsten Sommer fertig

Hafendirektor in Magdeburg, ist er wieder an seinem Heimat-

Wer in Magdeburg anlegt, kann den Binnenhafen als Zollamtsplatz

„Man muss schon 20, 30 Jahre in dem Metier gewesen sein, um

zuständig für die Infrastrukturentwicklung des Hafens und für Ar-

burg an der Elbe den Beruf eines Reedereikaufmanns. Seit 2002 fluss gelandet.

da erfolgreich mitmischen zu können“, sagt er mit unverkenn-

barem Stolz. Und so lässt er jetzt auch „die alten Verbindungen spielen“, um Magdeburg als Hinterlandterminal für die Seehäfen

nutzen. Das spart den Schiffseignern Zeit und Geld, weiß Ina Schulle, beitssicherheit. Auch in der Sicherheit sei der Hafen Spitze, zeigt sie

auf die weitläufige Abstellfläche für Gefahrengut am Hanseterminal.

„Das ist nicht einfach Betonboden. Der ist wasserundurchlässig.


Logistik

Hafenmeister Klaus Kürfke arbeitet seit 1987 im

Magdeburger Hafen und „macht alles“. Auch von seinen Mitarbeitern verlangt er viel Flexibilität.

gonnen. Zuerst drüben am Trennungsdamm, zeigt er schräg übers Wasser in den Hafenteil, wo sein Vorarbeiter Pusch mit den Rüben-

pellets beschäftigt ist. „Dort haben wir früher manchmal knietief im Schlamm gestanden und Kohle entladen. Heute gibt es weniger Kraftarbeit, weniger Dreck. Macht mehr Spaß.“

Schwindelfreien Mitmenschen bietet die oberste Plattform des

Hafenkrans den besten Überblick: Die Hafenbereiche und die Elbe, die mehrfach ausgestülpte Kanalverbindung und die Trogbrücke –

dieses am Boden unüberschaubare Puzzle geht aus der Vogel-

perspektive endlich eine geordnete Beziehung ein. Im Verbindungskanal liegt eine Baustelle bloß. Dort wachsen die Wände

einer Niedrigwasserschleuse aus dem Wasser. Wenn in trockenen

Sommern mit der Elbe bisher auch das Wasser im Kanal sinkt, müssen voll beladene Schiffe um ein oder zwei Containerlagen

geleichtert werden. Aber sobald im Sommer 2011 die neue Schleu-

se fertig sein wird, bleibt der Wasserstand im Kanal ganzjährig auf vier Metern. Dann ist auch der letzte Schönheitsfehler im ausgefeilten „System Hafen“ beseitigt.

Und die Fläche hat ein separates Absperrsystem, damit können wir einzelne Sektionen abschiebern, wenn ein Container leckt.“

Magdeburger Hafen GmbH

Damit könne kein Umweltgift in den Wasserkreislauf oder die Elbe gelangen.

– 3 Hafengebiete (Kanalhafen, Güterverkehrs-

aber noch am Tag zuvor „brummte es“, sagt Karl-Heinz Ehrhardt.

– KV-/Containerterminal

rere Wochen lang gar nichts mehr ging. Doch jetzt ertönt ein Signal,

– Kailänge  6 490 Meter

greift den ersten Container vom Schiff. Routine. Schwerer hat es in

– 8 180 Quadratmeter gedeckte Lagerfläche

bler mit 100 Tonnen Eigenmasse – der eine wandgroße Stahlplatte

– Hafenbahn mit eigenen Triebfahrzeugen

Am Kai herrscht kurz vor dem Pfingstwochenende mäßiger Betrieb,

zentrum Hansehafen, Industriehafen)

Sorgenfalten bekam er nur im vergangenen Winter, als gleich meh-

– Gesamtfläche einschließlich Wasser ca. 655 Hektar

und der 50-Tonnen-Portalkran setzt sich langsam in Bewegung und

– 6 Krananlagen bis 50 Tonnen

diesem Moment der Fahrer des Reach-Stackers – eine Art Gabelsta-

– 172 500 Quadratmeter befestige Lagerfläche

von der Waggonfläche der Hafenbahn zentimetergenau auf der La-

– 54 Kilometer Gleisnetz mit Anliegeranschlüssen

defläche eines LKW absetzen muss. Der Mann in der roten Warn-

weste, der den Fahrer einwinkt, ist Klaus Kürfke, der Hafenmeister. Kürfke hat 21 Leute unter sich. Warum er dann selbst den Einwinker

macht? „Ich mache alles. Sonst könnte mir ja jeder erzählen, dies

und das geht nicht.“ Auch seine Leute machen „alle alles“, fügt er hinzu. Wer den Kran steuert, muss auch die Hafenbahn fahren kön-

nen. 1987 hatte der gelernte Stahlbauschlosser mit der Aussicht auf bessere Verdienstmöglichkeiten im Vierschichtsystem im Hafen be-

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www.magdeburg-hafen.de

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Ernährungswirtschaft

Guter Geschmack mit 140 Jahren Tradition

Colbitzer Heidebrauerei bringt ein neues Bier auf den Markt – würzig, charaktervoll und regional verwurzelt Von Sabine Tacke

Smalltalk ist nicht sein Ding. Er kommt lieber gleich zur Sache.

Die großen Brauereien hoffen, mit peppigen Geschmacksstof-

Im Dezember 2001 übernahm Christian August die Geschäfts-

vergangenen Jahr seinen Tiefstand seit der Wende erreicht.

Und seine Sache ist das Bier.

führung der Colbitzer Heidebrauerei. Es sollte nur ein kleiner

Flirt werden. „So zwei bis drei Monate wollte ich bleiben. Inzwischen sind daraus neun Jahre geworden“, erzählt der Jurist. Und

fen einen Weg aus der Krise zu finden. Der Bierkonsum hat im

100 Millionen Hektoliter Bier verkauften die Brauereien im Jahr 2009, ein Rückgang von 2,8 Prozent.

ans Weggehen denkt der gebürtige Niedersachse längst nicht

Die Branche stöhnt. Doch die Bierflaute hinterlässt bei Christian

seines Bieres sowieso. Eigentlich ist August ein unruhiger Geist.

Motto – privat wie beruflich. Noch dieses Jahr soll ein neues Sud-

mehr, die Region ist ihm ans Herz gewachsen, der Geschmack Jahrzehntelang trieb es ihn durch Deutschland. Er beriet Unter-

nehmen, dann zog er weiter. Ausgerechnet das kleine Colbitz mit seinen 3 300 Einwohnern sollte die längste und wohl auch

letzte Station im Berufsleben des 61-Jährigen werden. Darüber staunt er selbst ein wenig. Aber er ist ein Unternehmer, der mit Lust und Liebe Bier braut.

August keinen schalen Geschmack. Nicht nachgeben, lautet sein

haus gebaut werden. Mitte des Jahres bringt die Heidebrauerei ein neues Bier auf den Markt: das „Colbitzer Hell“. „Ende Juni steht

das „Helle“ in den Läden, ein mildes, spritziges Bier. Eine Marke, die in unserem Haus Tradition hat. Wir beleben sie jetzt wieder.“

Gut ein halbes Jahr hat die Entwicklung des „Hellen“ gedauert. Pünktlich zur Fußball-WM konnten Fans sich damit zuprosten.

„Ein würziges, charaktervolles Bier. Das ist der Geschmack der

Gutes Timing, das sicherlich kein Zufall ist. Fußball und Bier, das

zeichen einer Region zu werden. „Dabei sah es nach der Wende

nes holzgetäfelten Büros, in dem schon 1906 der Firmenchef

Menschen hier.“ Das „Colbitzer“ hat es geschafft, zum Wahrgar nicht gut aus. Das Colbitzer war vom Markt verschwunden. Die Leute probierten erstmal die Marken aus dem Westen

aus.“ Doch jetzt schäumt es wieder. Die Colbitzer Heidebraue-

rei ist nach der Hasseröder die größte in Sachsen-Anhalt. Rund 50  000 Hektoliter verlassen jährlich das 9 000 Quadratmeter große Betriebsgelände an der Brauereistraße. 2,8 Millionen Euro setzten die 18 Beschäftigten im vergangenen Jahr um.

Auch wenn es nicht in aller Munde ist. Wer einmal Colbitzer

getrunken hat, bleibt meist dabei. Es ist ein Traditionsbier, das die Torheiten der Mode an sich vorbeiziehen lässt. August: „Der gute Geschmack liegt bei uns in Frauenhänden. Zwei Braumeis-

terinnen kümmern sich bei uns um Kunst und Wissenschaft des Bierbrauens. Das ist eines unserer Erfolgsgeheimnisse. Dazu kommt das wunderbare Heidewasser – ein Gottesgeschenk.“

Am Rezept des „Colbitzers“ soll sich auch in Zukunft nichts ändern. Modisches Schnick-Schnack-Bier wird nicht in den zwölf Tanks der

Brauerei brodeln. „Sicherlich kann man mit den Trendbieren Geld verdienen. Und wer will das nicht. Aber wir sind eine kleine Brauerei und können uns solche Experimente nicht erlauben.“

gehört auch für Christian August zusammen. Die Wände seiresidierte, sind geschmückt mit Fußballwimpeln, Mannschaftsfotos, Autogrammen. Augusts besonderer Stolz: ein Wimpel

mit Unterschriften der legendären 74er-FCM-Mannschaft, die im Europapokal-Endspiel den AC Mailand auskickte. Auf einem

wuchtigen Eichenholzschrank thront ein abgewetzter Fußball, der 1980 bei den Olympischen Spielen auf dem Rasen war. Solche Raritäten kommen nicht von ungefähr in die Hände des

Brauerei-Chefs. Er liebt den Sport nicht nur, er fördert ihn, unterstützt 259 Sportvereine der Region.

„Das ist ein Pfund, mit dem wir hier viel mehr wuchern sollten. Keine andere Stadt in Deutschland hat so viele Olympiasieger

und Weltmeister hervorgebracht wie Magdeburg. Aber das

weiß kaum jemand. Die Leistungen der Menschen hier sollten viel mehr gewürdigt werden.“

Ebenso die regionalen Produkte, die Landschaft und die Sehens-

würdigkeiten. August ist ein leidenschaftlicher Botschafter für

die Region. „Man braucht etwas Zeit, um die Kleinodien hier zu finden. Aber sie sind da. Zum Beispiel das Jagdschloss in Letzlingen oder die Wolmirstedter Schlossdomäne.“ Als Christian

August vor neun Jahren in Colbitz ankam, hat er die zauberhaf-


Ernährungswirtschaft

ten Ecken für sich entdeckt. Jetzt will

er sie auch anderen zeigen. Deshalb ist er neben seinem 12-Stunden-Job

auch noch Vorsitzender des Tourismusverbandes geworden.

Man sieht: Für Smalltalk hat August

wirklich keine Zeit. Stillstand gibt es

für ihn nicht. 70- bis 80  000 Hektoliter Bier pro Jahr sollen künftig in

den Kesseln sieden. Der Firmenchef hat ein klares Ziel vor Augen: „2012 wird die Colbitzer Heidebrauerei 140

Jahre alt. Wir müssen sie jetzt so

aufstellen, dass sie weitere 140 Jahre Bestand hat.“

www.colbitzer-heidebrauerei.de

Gutes Bier braucht gute Zutaten, weiß Christian August. Und es

braucht die Leidenschaft, einen

Geschmack zu kreieren, den die

Konsumenten für sich entdecken können.

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Alle 15 Minuten: Eure News. Euer Verkehr. Euer Wetter.

Guten Morgen SAW-Land.


Fortbildung

Gute Verbindungen – gesetzt für die Ewigkeit Schweißtechnische Lehranstalt Magdeburg ist gefragter Partner der Industrie und des Handwerks Von Andreas Müller Konzentriert und vertieft – gestandene Männer ziehen hinter sich

ablegen muss. So hat die hoch spezialisierte und vom Deutschen

Die Arbeiter klappen die Visiere ihrer Helme herunter, führen die

lassene Magdeburger Bildungsstätte in den 20 Jahren ihrer Ge-

den Vorhang ihrer Kabinen zu und rücken an die Werkbank heran. Elektrode gefühlvoll an das Metall. Dann blitzt und zischt es vor ihnen auf. Stahl schmilzt. Funken sprühen. Flackernder Rauch steigt

Verband für Schweißen und verwandte Verfahren (DVS) zugeschichte schon mehrere Tausend Schweißer qualifiziert und geprüft.

aus den Boxen, verschwindet in Absaugtrichtern an der Wand.

Allein am Standort Barleben vor den Toren Magdeburgs sind die

Für die 14 Arbeiter aus dem Norden Sachsen-Anhalts ist das Licht-

lastet. Rund 70 weitere Plätze für das Training der verschieden

bogenschweißen eigentlich Alltag. Doch hier in der Schweißtech-

nischen Lehranstalt Magdeburg (SLM) schauen ihnen Lehrer auf

die Finger und auf die Naht – und das macht auch alte Hasen schon mal unruhig. Doch das Gesetz verlangt, dass ein Schweißer die Prüfung in dieser Fügetechnik aller zwei Jahre aufs Neue

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vier Werkstätten mit insgesamt 60 Schweißkabinen gut ausgeSchweißverfahren stehen in Außenstellen in Dardesheim am Harz und Gardelegen in der Altmark zur Verfügung. In Barleben ließ sich die Lehranstalt 1995 im Technologiepark Ostfalen nieder. SLM-

Geschäftsführer Jürgen Bendler schwärmt von diesem Standort. „Das Umfeld ist modern. Hier wimmelt es von innovativen Firmen.

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Fortbildung

Hier haben wir beste Bedingungen bis hin zu den Grünanlagen ringsum und sogar einen Biberteich für die Pause.“

Beim Rundgang durch die Lehranstalt wird deutlich, dass auch

der großzügige Neubau modernsten Ansprüchen genügt. Die Ein-

gangshalle mit einer gläsernen Kuppel und einer knallroten Treppe ähnelt einem luftigen Atrium. Von hier geht es in die hellen Büros

und zu den Seminarräumen oder in die Werkstätten und Labors. Selbst über einen modern ausgestatteten Hörsaal verfügt die An-

stalt. Das Motto in Großbuchstaben an seiner Stirnseite spricht für sich: „Schweißen will gelernt sein“.

Werkstoffprüfer Heiko Ludewig vermisst

sogenannte Biegeproben für einen

Auftraggeber der

Industrie. Zahlreiche

Unternehmen nutzen

das akkreditierte

Werkstofflabor in

Barleben, um ihre

Produkte von unab-

hängigen Experten

beurteilen zu lassen.

Allgegenwärtig auf Plakaten im Haus ist auch ein Spruch des Fach-

verbandes: „Ohne Schweißen ist nix mit schönem Leben“. Jürgen Bendler zitiert ihn immer wieder, wenn er die Bedeutung der Bildungsstätte mit 35 Beschäftigten betonen möchte. Konkret heißt

das: Kaum ein Auto, eine Brücke, ein Herzschrittmacher oder eine Rakete ist ohne die Schweißtechnik denkbar. Allein für den Bau

eines Kreuzfahrtschiffes müssen hunderte Kilometer Schweißnähte gezogen werden. Entsprechend hoch ist der Bedarf der In-

dustrie und des Handwerks an gut geschulten Fachkräften. 2009 wurden an der SLM  1 100 Teilnehmer aus- oder weitergebildet. Das war das höchste Ergebnis der vergangenen 20 Jahre.


Fortbildung

Absolventen der Lehranstalt haben am größten mitteleuro-

päischen Wasserstraßenkreuz von Magdeburg mitgebaut, sie

Schweißtechnische Lehranstalt Magdeburg

Bohrinseln, an Seilbahnen in den Alpen oder für die Türme von

SLM wurde im September 1990 als gemeinnützige

forderungen gewachsen sind, stützt sich der Unterricht auf mo-

der Handwerkskammer Magdeburg. 2009 realisierte

Leistungstest zur Ermittlung der vorhandenen Handfertigkeiten

sowie als Dienstleister mit der Materialprüfung und

und Praxis auf den neuesten Stand gebracht.

5,1 Millionen Euro. Damit wurde das Ergebnis von

„Priorität haben bei uns die Qualität der Schweißverbindung

ihrem Hauptsitz in Barleben sowie Außenstellen in

Eingang des Instituts mehrere bei einem Unglück in einem

tut in Bosnien-Herzegowina gehört zu den leistungs-

Behälter hatten sich dabei in gefährliche Raketen verwandelt

will sie in Gardelegen einen kompletten Neubau

mahnen zur äußersten Vorsicht im Umgang mit gefährlichen

mit 25 Ausbildungsplätzen das modernste Bildungs-

schweißen Stahl im Hafen von Rotterdam, auf norwegischen Windkraftanlagen aus Sachsen-Anhalt. Damit sie höchsten An-

GmbH gegründet. Sie ist eine 100prozentige Tochter

dernste Übungs- und Prüfgeräte. Jeder Kurs beginnt mit einem

sie mit der Aus- und Weiterbildung von Schweißern

und Fachkenntnisse, und dann werden die Teilnehmer in Theorie

mit der Zertifizierung von Firmen einen Umsatz von 2008 um 45 Prozent übertroffen. Die Lehranstalt mit

und die Sicherheit“, sagt Geschäftsführer Bendler. Er hat am

Dardesheim und Gardelegen und einem Tochterinsti-

Unternehmen explodierte Gasflaschen aufstellen lassen. Die

fähigsten in Deutschland. Sie hat 35 Mitarbeiter. 2010

und hohen Sachschaden angerichtet. Die zerfransten Flaschen

errichten. Der „Geschäftsbereich Gardelegen“ wird

Schweißgasen. Respekt statt Routine.

zentrum für Schweißtechnik in der Altmark sein. Er kostet rund 1,5 Millionen Euro.

Erfahrene Lehrer stehen den Kursteilnehmern zur Seite, um deren Schwächen festzustellen und zu überwinden. „Beim Schweißen kommt es nicht allein darauf an, dass eine Naht

Schweißtechnische Lehranstalt Magdeburg gGmbH

Werte zählen. Die Lehranstalt hat eine der modernsten digi-

An der Sülze 7, 39179 Barleben, Tel. 039203 761-0

schön und glatt geformt ist, sagt Jürgen Bendler. Die inneren talen Röntgenanlagen in Deutschland, um die Qualität der Nähte sichtbar zu machen. Das Bild auf dem Monitor zeigt mit

absoluter Gewissheit, wie gut ein Facharbeiter sein Handwerk

versteht. Im Angesicht des Schweißers wird unter Umständen auch das Urteil „NE“ für „nicht erfüllt“ vergeben. Er bekommt eine neue Chance.

Mit ihrer Laborausstattung hat sich die Magdeburger Lehran-

stalt zu einem gefragten Prüflabor der Industrie entwickelt. Sie ist in mehrere Forschungsprojekte von Universitäten und Hochschulen einbezogen und zertifiziert im Auftrag der Staatlichen Bauaufsicht Metallbaufirmen.

Das Niveau der Magdeburger Schweißtechnikexperten hat

sich inzwischen herumgesprochen. In Bosnien-Herzegowina wurde im Juli 2005 in der Stadt Tuzla ein Institut für Schweißtechnik eröffnet. Hauptgesellschafter ist die Schweißtechnische Lehranstalt Magdeburg.

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Geschäftsführer: Dipl.-Ing. Jürgen Bendler

Fax 039203 761-55, info@sl-magdeburg.de

www.sl-magdeburg.de

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Projekte

Fifty-fifty-Taxi – Fahrschein ins Leben Verkehrssicherheitsaktion hat Zahl tödlicher Disko-Unfälle erheblich gesenkt Von Sabine Tacke Der Tod lauerte auf dem Asphalt. Drei junge Männer trifft das Verhängnis in den frühen Morgenstunden des 4. März. Nach

einem Disko-Besuch schießt ihr VW Passat von der Landstra-

ße 43 bei Flechtingen und kracht gegen einen Baum. Die drei

Lukas Uhlmann zeigt

das Ticket ins Leben. Er und seine Freunde

Jessica Klafke und Toni

Flechtinger sind auf der Stelle tot. Im Unfallprotokoll wird spä-

Petersen lassen sich nach

hatte getrunken.

am Petriförder sicher mit

ter vermerkt sein: Der Todesfahrer, gerade einmal 25 Jahre alt,

Nach Angaben der Polizei in Sachsen-Anhalt verunglückten im

vergangenen Jahr 263 15- bis 25-Jährige in Disko-Nächten. Die

Fahrer: meist unter Alkoholeinfluss. Und viel zu oft sind es Suff-

einer Strandbar-Party

dem Fifty-fifty-Taxi von

Bernd Jentschke nach

Hause bringen.

Fahrten in den Tod. 37 Jugendliche starben 2009 auf den Straßen. Für diese jungen Menschen stehen als traurige Mahnung blu-

menbekränzte Kreuze an den Straßenrändern. 37 Tote. 37 Fami-

lientragödien. 37-faches Leid, das niemand jemals lindern kann. Trotz all der Dramatik gibt die Statistik Anlass zur Hoffnung. Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Hövelmann vergleicht

die Werte: „Im Jahr 2000 gab es noch 951 Unfallopfer in Dis-

Das Engagement hat sich gelohnt, die Botschaft ist bei der

der Unfallzahlen kommt nicht von ungefähr. 1999 wurde in

es 1999 angefangen. 2009 konnten 38  000 verkauft werden.

ko-Nächten. Beinahe vier Mal mehr als heute.“ Der Rückgang

Sachsen-Anhalt das „Fifty-fifty-Taxi“ eingeführt. Ein Projekt, das

Leben rettet. Ein einfacher und genialer Gedanke: Statt im Alkoholrausch über die Landstraßen zu brettern, können sich die

16- bis 26-Jährigen einfach ins Taxi setzen und mit einem speziellen Fahrschein nach Hause fahren. Endstation ist dann nicht

der Straßengraben, sondern das heimische Bett. Im schlimmsten Fall droht am nächsten Morgen ein dicker Kater.

Die Taxis stehen zum Teil sogar vor den Diskotheken oder kön-

nen ganz normal gerufen werden. Der Service erstreckt sich über das Wochenende von Feitag, 22 Uhr, bis 6 Uhr Sonntag

früh. Für den Fahrschein ins Leben zahlen die Jugendlichen nur die Hälfte des regulären Taxi-Preises.

Die andere Hälfte übernimmt eine Sponsorengemeinschaft,

Bevölkerung angekommen. Mit 5 000 „Fifty-fifty-Tickets“ hat

Zender: „Das bisher beste Ergebnis.“ Das waren 5 000 Tickets mehr als 2008. Und auch dieses Jahr lässt sich die Aktion gut

an. Rund 30  000 der „Fifty-fifty-Fahrscheine“ sind bereits unter die Leute gebracht.

Insgesamt gingen seit Beginn der Aktion 400  000 Tickets

über die Theken der Verkaufsstellen. Das sind alle Sparkassen

im Land, die ÖSA-Agenturen oder AOK-Kundencenter. Für 1,25 Euro können Jugendliche oder Ihre Eltern und Großeltern die

Taxi-Scheine kaufen. Das Ticket ist aber 2,50 Euro wert. Ganz

logisch: Je mehr Scheine, desto länger darf die Fahrstrecke

sein. „Ein besseres Geschenk kann man seinen Kindern doch gar nicht machen“, wirbt der Innenminister, der Schirmherr des Projekts ist.

die diese Verkehrssicherheitsaktion seit elf Jahren unterstützt.

Knapp 140 Taxi-Unternehmen mit 320 Fahrzeugen machen

gesteuert. „Und wir werden sie auch weiterhin fördern. Denn

auch die sollen in den nächsten Jahren verschwinden.

Rund 100  000 Euro haben die Partner 2009 zu der Aktion beiwenn man ein Leben retten kann, spielt Geld keine Rolle“, sagt

der Geschäftsführer des Ostdeutschen Sparkassenverbandes Wolfgang Zender.

mit. Zwar gibt es noch weiße Flecken auf der Landkarte, aber

Und die Taxifahrer mussten nicht erst mühsam überzeugt

werden. Der Vorsitzende des Landesverbandes Taxi und Miet-


Projekte

wagen, Wolfgang Bahls, war mit seinem Unternehmen von

Der Verband zahlt seinen Kollegen seit drei Jahren fünf Euro pro

Angst, wenn sie nachts unterwegs sind. Mein Sohn ist heu-

beteiligen. Allein die Magdeburger „Fifty-fifty-Taxis“ sind 30 bis

Anfang an dabei. „Wir haben doch selbst alle Kinder und

te 25, und auch er fährt mit dem Fifty-fifty-Taxi. Das ist eine wirklich gute Sache.“

Auto und Jahr. Ein kleiner Anreiz, sich an einer großen Aktion zu 40 Mal monatlich auf Disko-Tour.

www.fifty-fifty-taxi.de

Innenminister Holger Hövelmann

(2. v. r.) und der Chef des Ostdeut-

schen Sparkassenverbandes Wolfgang Zender (3. v.  r.) wollen Leben

retten. Hövelmann ist Schirmherr der Fifty-fifty-Taxi-Aktion, Zender einer der wichtigen Sponsoren.

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Spezialitäten

Der lebendige Trüffel unter den Käsesorten Helmut Pöschel aus dem kleinen Würchwitz im Süden Sachsen-Anhalts verhilft Milben zu Weltruhm Von Kirsten Hoffmann Helmut Pöschel ist „Milbionär“. Das sagt er mit stolzgeschwellter Brust. Der 65-Jährige lässt sich das Leben gut gehen. Die

Milben arbeiten für ihn. Tagtäglich. Auch nachts. Die winzigen

vor fünf Jahren von seinen Schülern verabschiedete, um das Volk der Käsemilben uneingeschränkt zu regieren.

Tierchen haben jetzt im Sommer ihre „Hoch“zeit. Holunderblü-

Jetzt also noch mal langsam zum Mitschreiben: „Die Milben set-

freudig vermehre. Dazu Quark, mager und gut abgetropft. Die

Nach einem Monat ist daraus würziger Käse geworden, nach

ten reicht Pöschel seinem Volk als Aphrodisiaka, damit es sich

Milben fressen genüsslich – das 40-fache ihres Körpergewichts. Pöschel erklärt und fühlt sich in seinem Element. Schließlich war der 65-Jährige Lehrer für Biologie und Chemie, bis er sich

zen bei der Verdauung Enzyme frei, die den Quark fermentieren. drei Monaten haben die bernsteinfarbenen Röllchen die richtige

Konsistenz. Ein Jahr später sind sie so trocken, dass man sie nur noch mit der Muskatreibe bearbeiten kann.“ Seine Oma habe mit


Spezialitäten

backen. „So haben wir alle Krisen überstanden“, sagt Pöschel. Der Milbenkäse aber war zu allen Zeiten etwas ganz Delika-

tes. Der kommt nur zu besonderen Anlässen auf den Tisch. In der Neuzeit gehören die Verkostungen für Gäste dazu. Dann heißt es „Milbenkäse trifft Wein“. Die beiden regionalen Pro-

dukte kurbeln den Fremdenverkehr an. Oft parken Reisebusse vor dem wildromantischen Hof in der Sporaer Straße, der bis in die 1970er Jahren landwirtschaftlich betrieben wurde.

Pöschel hat frisches Brot vom Bäcker geholt, beschmiert es mit

Butter, legt Käsescheiben darauf aus. Der Schalk in seinen Augen spricht mit, wenn er darauf aufmerksam macht: „Mit einem

Biss wandern etwa 100 Käsemilbchen in den menschlichen Verdauungstrakt.“ Aha. Jene, die sich vorher schon die 300fach

vergrößerten Milben unter dem Mikroskop angeschaut haben, üben zunächst Zurückhaltung. Dem Pöschel, der auch noch

Chef des „Filmstudios Wörchlitz“ ist, kommt da eine verlockende Idee: „Ich könnte die Milben unter einem Rasterelektronen-

mikroskop filmen – Jurassic Park ist nichts dagegen.“ Doch das könnte geschäftsschädigende Wirkung zeigen. Da lenkt er

schnell ab auf einen anderen Film. Der legendäre Egon mit sei-

ner Olsenbande hat in Würchwitz einen „Käse-Coup“ gelandet. Natürlich geht es in dem zwölfminütigen Streifen um die Delikatesse aus der Region. Sämtliche Filme, die der umtriebige Pöschel seit Jahrzehnten dreht, haben Heimatbezug. Nicht nur

thematisch. Die meisten Darsteller kommen aus der Bevölke-

rung im nahen Umkreis. Viele sind wie er mittlerweile Rentner und haben nun erst recht einen vollen Terminkalender.

„Es war sicher eine Zufallsentdeckung“, vermutet Pöschel, „dass Milben den Quark zu Käse und damit haltbar machen.“ Genial diesem Pulver Butter gewürzt, schwärmt Helmut Pöschel und nimmt die Besucher mit auf einen anschaulichen Ausflug in die

Tradition der Milbenkäseherstellung hier im kleinen Dörfchen Würchwitz im Burgenlandkreis ganz im Süden Sachsen-Anhalts.

Der Milbionär ist ein unterhaltsamer Erzähler. Da lässt sich

gut vorstellen, wie sich früher die Generationen – bis zu 14 Familienmitglieder lebten hier unter einem Dach – abends am

Küchentisch neben dem Herd versammelten. Mit den Produkten vom Bauernhof, den Früchten von der Plantage und den

Dingen aus dem Kolonialwarenladen, den seine Vorfahren betrieben, wurden auch die Erlebnisse des Tages auf dem

Tisch ausgebreitet. Unter der Zimmerdecke baumelte ein großes Stück Schinkenspeck und verströmte seinen würzigen

Duft. An den Wochenenden wurden riesige Blechkuchen ge-

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für Zeiten, in denen der Kühlschrank noch nicht erfunden war. Fortan übten sich die bäuerlichen Vorfahren im Altenburger Land erfolgreich in der Milbenzucht. Und das nun schon seit etwa 500 Jahren. Erstaunlich dabei ist: Über einen Umkreis von etwa 20 Ki-

lometern hinaus war der Milbenkäse schon nicht mehr bekannt. Vielleicht wollte jede Familie dieses kulinarische Unikum als Ge-

heimnis hüten? Einem Nachfahren wie Pöschel fällt Verschwie-

genheit allerdings schwer. Er ist der geborene Werbestratege, macht sich auch die modernen Medien zunutze. Vom Milbenkäse aus Würchwitz weiß inzwischen die ganze Welt. Die wissenschaftliche Beweisführung darüber, dass die Enzyme der Milben entzündungshemmend wirken, sei zwar noch nicht abgeschlos-

sen, aber bei vielen stelle sich gesundheitliches Wohlbefinden

nach dem Genuss des „lebenden“ Käses ein, weiß Pöschel. Und: „Nach dem ersten Bissen ist beinahe jeder Skeptiker überzeugt: Das ist der Trüffel unter den Käsesorten.“

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Spezialitäten

Anett und Uwe Schneider haben von Chemnitz aus eine Auto-

Just an diesem Tag sogar erwartet Pöschel Gäste, die er auf ei-

käse herkommt. Zwei Zuhörer mehr in der Runde, die sich von

aus Kuba auf dem Hof. Gemeinsam wollen sie ins Erdbeerfeld.

stunde unter die Räder genommen, um zu sehen, wo der Milben-

den Geschichten des Milbionärs erheitern lassen. Dichtung und Wahrheit liegen hier eng beieinander. Letztere ist dokumentiert

durch „Zeitzeugen“ aus der Geschichte der Milbenkäseherstellung. Die liebenswürdige Sammlung präsentiert Pöschel im Vor-

nem Kongress kennen lernte. Pünktlich stehen seine Freunde Auch ein Spargelessen mit Schnitzel hat der Gastgeber in Aussicht gestellt. Traditionell, regional typisch – und sehr lecker. Das kennt man auf Kuba nicht.

raum seiner Küche. Da „nur“ noch der Sohn mit Frau und Kind

Doch vorher ist für Ehepaar Schneider aus Chemnitz der Tisch

Milbenmuseum, meinte Pöschel vor fünf Jahren.

verkosten, den Käse mit Holunderblüte. Am liebsten würden sie

mit im Hause wohnen, sei hier allemal noch Platz für ein kleines

Prominenten Zeitgenossen kann man hier begegnen. Siegmund Jähn ist vom Milbenkäse so begeistert, dass er seinem russischen Kosmonauten-Kollegen Juri Malentschenko einen mit auf den

Weg (ins All?) gab. Auf dem Foto jedenfalls, aufgenommen in

einer Raumkapsel, hält Malentschenko den Milbenkäse in der Hand.

Unzählige Bilder zeigen Helmut Pöschel auf internationalen Tagungen und Kongressen. Als Botschafter für den Milbenkäse wird

er von „Slow Food“ dort hin geschickt. Die weltweite Vereinigung hat es sich zur Aufgabe gemacht, das traditionelle Lebensmittel-

handwerk und die regionale Geschmacksvielfalt zu bewahren. Sie

bringt Produzenten, Händler und Verbraucher zusammen. Das gefällt dem Milbionär aus Würchwitz. Er sammelt Kontakte weltweit. Von Indianern zum Beispiel weiß er, dass auch im feuchtwarmen Urwald-Klima Milbenkäse-Spezialitäten „gedeihen“.

Großmeister der kleinen

Krabbler: Helmut Pöschel

aus Würchwitz führt eine 500 Jahre alte regionale Tradition fort und stellt

Milbenkäse her.

gedeckt. Anett und Uwe dürfen einen saisonalen Leckerbissen an Ort und Stelle einen Großeinkauf ordern. Aber die in aufwändiger Handarbeit hergestellten Röllchen werden nur als eine Art

Eintrittskarte verkauft. Nun denken die Schneiders über eine ei-

gene Herstellung nach. Doch Käsemilben am Leben zu halten, ist eine große Kunst. Zum Glück ist Pöschel kein Egoist. Gern führt er die Besucher in seine Schatzkammer und gibt ab von seinem Reichtum an Zuchterfahrung.

Wer noch dazu in Sandsteinmauern wohnt, es immer um die 30 Grad warm hat bei einer Luftfeuchtigkeit von 100 Prozent, der hat die besten Startbedingungen.

www.milbenkaese.de

www.mibenkaesemueseum.de


Wir sind

Sachsen-Anhalt

„Was ich an Sachsen-Anhalt und seiner ältesten Stadt besonders schätze? Beide sind eine ganz schöne Herausforderung.” Andreas Michelmann (50) ist seit 1994 Oberbürgermeister Ascherslebens. Der ältesten Stadt Sachsen-Anhalts gelang in dieser Zeit ein bemerkenswerter Wandel von

Eine Gemeinschaftsaktion von Sachsen-Anhalt-Magazin und radio SAW. www.sachsen-anhalt-magazin-verlag.de www.radiosaw.de www.wir-sind-sachsen-anhalt.de

der einst grauen Durchfahrtsstadt zu einem lebens- und liebenswerten Ort. Besucher können sich dieser Tage davon überzeugen: bei der Internationalen Bauausstellung Stadtumbau 2010 und der 3. Landesgartenschau „Natur findet Stadt“. In einer aktuellen Umfrage unter den Gästen gaben übrigens 97 Prozent von ihnen der Stadt im Vorharz die Prädikate „Gut” und „Sehr gut”.


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Briefe an die Redaktion

Hervorragende Visitenkarte für Sachsen-Anhalt

Besonders IT-Sektor weiterempfohlen

Das Sachsen-Anhalt-Magazin ist eine

weiter weg interessante Themen vertie-

hervorragende Visitenkarte, stellen Sie doch in dieser Zeitschrift die vielfältigen

Facetten Sachsen-Anhalts in thematischer Breite vor. Wir haben die Publika-

tion mit Interesse gelesen. Die Artikel sind sehr ansprechend geschrieben und

gestaltet, hilfreiche Links am Schluss, gute Fotos und Zusammenfassungen. Mir gefällt insbesondere der Mix von kulturellen und historischen Themen sowie innovativen Akzenten.

Schön, dass man im Magazin auch von

fen kann, die im sonstigen Medienalltag

weniger beachtet werden. Gerade die Berichte über wirtschaftliche und wis-

senschaftliche Impulse aus der Region, insbesondere über den IT-Sektor, habe ich weiterempfohlen und damit auch

bei nicht „sachsen-anhalt-affinen“ Gesprächspartnern Interesse ausgelöst. n Adrian Teetz, München

Vielleicht stellen Sie in einer der

ische Geschichte, der man auf Schritt und

Tritt in Bau- und Kunstwerken nachspüren

kann? Sie bringen das prima rüber, die Fotos

sind ausdrucksstark, manchmal zu statisch, die Beiträge wie die aus Wissenschaft und

Forschung spannend geschrieben und in-

teressant. In den nächsten Ausgaben freue ich mich schon jetzt, auch über die x-tausend kleineren Unternehmen im Land zu

lesen. Doch wie wird aus dem Zufall ein Zustand? Wie kann man das Sachsen-AnhaltMagazin erwerben?

n Manuela Perlberg, mp-werbung Magdeburg

nächsten Ausgaben die Arbeit der

Titelgeschichte hat Interesse geweckt

Brüssel vor.

Das neue Wirtschafts-

Schwerpunkte setzen

n Thomas Krings, Kabinett von

gazin füllt eine Lücke in

ein zukunftsorientiertes, vielseitiges und lie-

Landesvertretung Sachsen-Anhalts in

EU-Kommissar Olli Rehn, Brüssel

und Gesellschaftsma-

Sie vermitteln im Sachsen-Anhalt-Magazin

der Berichterstattung

benswertes Bild von Sachsen-Anhalt und sei-

und lenkt neue Aufmerksamkeit auf die vielfältigen wirtschaftlichen Aktivi-

nen Bewohnern. Eine Schwerpunktsetzung

würde es erlauben, einzelne Aspekte, z. B. der Wirtschaft, näher zu beleuchten. Bleiben Sie

Daumen hoch und weiter so

täten in Sachsen-Anhalt. Als begeisterte

Ich muss der Redaktion

März-Ausgabe *Fest im Sattel* gleich

men, die Bilder und Texte haben eine hervor-

n Katherine Brucker, Generalkonsulin der

n Michael Krüger, Geschäftsführer

mit unsäglicher Werbung und ein hoch-

Vieles aus Sachsen-Anhalt unbekannt

Die veröffentlichten Meinungen müssen

Spaß. Wie wäre es mal mit einer freund-

Magazin in die Hände. Ein schönes, an-

an dieser Stelle mal ein dickes Lob für das

Sachsen-Anhalt-Magazin aussprechen!

Informative Beiträge aus der heimi-

Radfahrerin hat die Titelgeschichte der mein Interesse geweckt.

Vereinigten Staaten von Amerika, Leipzig

schen Wirtschaft, keine Überfrachtung wertiges Papier – da macht das Lesen

Mehr zufällig fiel mir das Sachsen-Anhalt-

lich-frechen (Sachsen-)Anhalterin auf

spruchsvolles Magazin, das Sachsen-Anhalt

der Titelseite?! Daumen hoch und weiter so!

n Frank Heinzl, MAROundPARTNER GmbH München

schon lange braucht. Wer weiß denn da draußen schon, was für tolle Ideen hier entstehen, welche interessanten Menschen

und Unternehmen das Land gestalten. Und das alles eingebettet in großartige europä-

bei der professionellen Darstellung der The-

ragende Qualität.

GISA GmbH , Halle/Saale

nicht die Meinung der Redaktion wiedergeben. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften – bitte stets mit Namen und Anschrift – gekürzt und auch elektronisch

zu veröffentlichen. Die Leserzuschriften

können per Post oder elektronisch an leserbriefe@st-magazin.de werden.

übermittelt

Stimmen zum Sachsen-Anhalt-Magazin an:

leserbriefe@st-magazin.de


Unternehmen brauchen optimale Bedingungen

STANDORTPOLITIK STARTHILFE UND UNTERNEHMENSFÖRDERUNG AUS- UND WEITERBILDUNG INNOVATION UND UMWELT INTERNATIONAL RECHT UND FAIR PLAY

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