Moers Festival Magazin 2007

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Session: 16 Uhr Konzert: 19 Uhr

Dunkelzelt

Session: 16 Uhr Konzert: 19 Uhr

midnight spezial I Denis Gäbel Band & Gäste / 24 Uhr midnight spezial II Schlosstheater

Billie Holiday – Lady sings the blues / 24 Uhr

Berimbrown / 24 Uhr midnight spezial I Die Röhre

Denis Gäbel Band & Gäste / 24 Uhr midnight spezial II Schlosstheater

Billie Holiday – Lady sings the blues / 24 Uhr

Antibalas / 23 Uhr midnight spezial I Die Röhre

Denis Gäbel Band & Gäste / 24 Uhr

Jutta Koether 2006

Programmänderungen vorbehalten!

Brooklyn Funk Essentials / 24 Uhr

Hotel Van der Falk

Hotel Van der Falk

Konzert: 17 Uhr Konzert: 19 Uhr

Dunkelzelt

concerts in the dark

mœrs festival Magazin

Die Röhre

Hotel Van der Falk

the night

the night

the night

concerts in the dark Dunkelzelt

concerts in the dark

Mai 2007

Peking / Trondheim-Oslo / Köln-Berlin / 11 Uhr Peking / Trondheim-Oslo / Köln-Berlin / 11 Uhr

Peking / Trondheim-Oslo / Köln-Berlin / 11 Uhr

Tribera*

the morning

the morning Tribera*

the morning

Hayden Chisholm The Embassadors / 14 Uhr Zu & The Thing / 15.15 Uhr Mikko Innanen & Innkvisitio / 16.30 Uhr Fennesz & Mike Patton / 17.45 Uhr Hiromi / 19 Uhr

Festivalzelt

Montag 28. Mai 2007

Tribera*

FM3 / 20 Uhr Sidsel Endresen & Humcrush / 21.15 Uhr Steve Coleman & Opus Akoben / 22.30 Uhr

Gnawa Crossroads / 15 Uhr Andrea Keller Quartet / 16.15 Uhr Olaf Rupp & Shoji Hano / 17.30 Uhr

Eckard Koltermann Border Hopping / 15 Uhr Eldbjørg Raknes TINGeLING / 16.15 Uhr Keiji Haino+Merzbow: Kikuri / 17.30 Uhr Cornelius / 20 Uhr Anthony Braxton Sextet + 1 / 21.15 Uhr Steven Bernstein‘s MTO / 22.30 Uhr

Festivalzelt

Festivalzelt

Festivalzelt

Oral Beats & Strukt / 18 Uhr GRH Trio feat. Earl Howard / 19 Uhr Ultralyd / 20.15 Uhr Sharon Jones & The Dap Kings / 21.30 Uhr

Sonntag 27. Mai 2007

Samstag 26. Mai 2007

Freitag 25. Mai 2007

ÜBERSICHT

Schutzgebühr: EUR 3.-

Festivalmagazin

www.moers-festival.de


Die Träger / Principal Patrons:

Die Partner / Partners:

Die Förderer und Medienpartner / Funders and Media Partners:

Kulturpartner

Wir bedanken uns bei der Firma Union Getränke, dem Autohaus Minrath, dem Hotel Van der Valk und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband für Ihre freundliche Unterstützung


Inhalt 4 Vorwort 7 Grußwort programm Freitag, 25. Mai 2007 8 Oral Beats & Strukt 9 GRH Trio feat. Earl Howard 10 Ultralyd 11 Sharon Jones & The Dap Kings Samstag, 26. Mai 2007 13 Eckard Koltermann Border Hopping 14 Eldbjørg Raknes TINGeLING 15 Keiji Haino + Merzbow: Kikuri 16 Cornelius 17 Anthony Braxton Sextet + 1 18 Steven Bernstein‘s MTO Sonntag, 27. Mai 2007 20 Gnawa Crossroads 21 Andrea Keller Quartet 22 Olaf Rupp & Shoji Hano 23 FM3 24 Sidsel Endresen & Humcrush 25 Steve Coleman & Opus Akoben Montag, 28. Mai 2007 27 Hayden Chisholm The Embassadors 28 Zu & The Thing 29 Mikko Innanen & Innkvisitio 30 Fennesz & Mike Patton 31 Hiromi 32 36 37 38

the night concerts in the dark the morning midnight special I & II

mœrs festival 2007 3

magazin 40 Preface 42 Anthony Braxton – Dreifaltigkeit Mit seinen Auftritten in der Zeit zwischen 1974 und ’78 festigte Anthony Braxton den Ruf des moers festivals als innovative Plattform für improvi- sierte Musik. Ein Versuch, Licht in Braxtons hoch komplizierte Ästhetik und Philosophie zu bringen. 46 Steve Coleman – Ohne Worte Wie Anthony Braxton hat auch Steve Coleman ein musikalisches System entwickelt. Nachdem er lange versucht hatte, seine Ästhetik mit kryptischen Schriften zu erklären, entdeckte er die Musik als Sprache. 50 New York – Der Ausverkauf Mit der Schließung des New Yorker Clubs Tonic im April hat die Downtown-Avantgarde-Szene ihr letztes Refugium verloren. Einige Stimmen be- troffener Musiker. 54 Victoriaville – Geräusche, Klänge, Emotionen Das kanadische „Festival International de Musique Actuelle de Victoriaville“ definiert sich neu. Der Künstlerische Leiter Michel Levasseur spricht über sein Festival im Umbruch. 56 Australien – Weiter Weg Aus europäischer Sicht ist zeitgenössischer Jazz aus Australien auch heute noch ein weißer Fleck auf der Weltkarte der improvisierten Musik. Aber die Szene in „down under“ ist umtriebig und aktiv. 58 China – Big Noise Auch im „Reich der Mitte“ gibt es eine Szene für improvisierte Musik. Die hat sich anders entwickelt, als im Rest der Welt. Der Musiker und Szene-Aktivist Yan Jun liefert eine Innensicht. 61 Radio – Die Nacht der Jazz-Festivals Premiere: Live schicken WDR 3 und Ö1 die Programme des moers festival und der INNtöne in den Äther – in NRW und Österreich geschichte 62

moers revisited – Ein Blick zurück Das moers festival blickt auf seine eigene Geschichte. Neben Re-Prints aus dem 1977er-Programmheft veröffentlichen wir den Aufsatz „Gedanken zum Begriff des ‚Neuen’“, der nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.

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Impressum & Service


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mœrs festival 2007

vorwort

Vorwort Herzlich willkommen beim 36. moers festival! Während ich diese Zeilen schreibe, knapp zwei Wochen vor Beginn des Festivals, ist die meiste Arbeit getan und die Vorfreude auf das nahende Ereignis nimmt zu. In der kommenden Woche beginnt der Aufbau des Zeltes, die Fahrdienste werden eingeteilt und die Zimmerlisten für die Hotels werden erstellt. Morgen produziert Jutta Koether, die unser diesjähriges Festivalmotiv gestaltet hat, im Studio das Pausensignal fürs Hauptprogramm. Alles läuft nach Plan und unser Team hat das Wesentliche im Griff. Lediglich das Wetter ist nach den schönen Wochen im April wieder in seine unberechenbare, wechselhafte Phase eingetreten und gehört damit weiterhin zu den Faktoren, die kein noch so motiviertes Festivalmanagement in den Griff bekommt. Und als umweltbewusste Menschen unterdrücken wir sorgfältig alle Gedanken, die uns nahe legen wollen, dass „Global Warming“ auch eine gute Seite haben könnte. Das moers festival ist das internationale Musterbeispiel für die Barrierefreiheit eines Großevents. In der starken Partnerschaft mit der Aktion Mensch und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband ist es in den vergangenen Jahren gelungen, alle wesentlichen Angebote und Einrichtungen des Festivals barrierefrei zu gestalten. So werden in diesem Jahr zum ersten Mal die Namen der auftretenden Musikerinnen und Musiker nicht nur angesagt, sondern auch auf Großbild übertragen, und es wird dank des Engagements der Sparkasse am Niederrhein sogar einen behindertengerechten EC-Automaten auf dem Festivalgelände geben. Während wir unserem Anliegen, ein barrierefreies Festival zu schaffen, immer näher kommen, sind wir mit einem anderen Anliegen, ein umweltverträgliches Großereignis zu veranstalten, noch nicht am Ziel. Leider gibt es einen Widerspruch zwischen ökologischer Vernunft und dem Auftrag des Festivals, „Musiker aus aller Welt“ an den Niederrhein zu holen.


vorwort

Gerade die stark gesunkenen Flugkosten verführen dazu, Musikerinnen und Musiker aus weiter entfernten Gegenden einzuladen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob sie noch andere Konzerte in Europa haben. Selbstverständlich haben wir uns bemüht, z.B. für Andrea Keller, die aus Melbourne anreist, noch einige Konzerte in Europa (Kopenhagen und Galway) zu buchen. Sharon Jones aus New York „teilen“ wir uns mit dem Nattjazz-Festival in Bergen, Gnawa Crossroads aus Marokko mit dem Music Meeting in Nijmegen, Haino/Merzbow aus Tokio mit dem Kulturbunker in Köln-Mülheim und FM3 aus Peking mit dem Festival „Dissonanze“ in Rom. Nicht geklappt hat es mit Anthony Braxton, Steven Bernstein und Steve Coleman. Diese nord-amerikanischen Formationen waren leider zu groß, um sie noch woanders unterbringen zu können. Ebenfalls mit dem alleinigen Reiseziel Moers setzen sich Earl Howard und Hiromi mit Band (in New York) ins Flugzeug. Ich bin nicht sicher, ob dies die richtige Stelle ist, darüber öffentlich nachzudenken, ich wollte es aber einmal loswerden. Mein Trost ist, dass wir Ihnen, dem Publikum und den professionellen Gästen (von denen ebenfalls eine ganze Reihe von weit „auswärts“ kommen), die Reise in andere Länder ersparen, wenn wir kompakt das Aktuellste „aus aller Welt“ in Moers präsentieren. Und schließlich kommt gut die Hälfte der eingeladenen Musikerinnen und Musiker aus Europa. Ganz besonders vorbildlich verfahren z.B. die Musiker aus Wien (Oral Beats), die mit eigenem Bus anreisen und österreichischen Journalisten eine Mitfahrgelegenheit anbieten. Dass dieses moers festival wieder möglich wurde, verdanken wir in erster Linie der Stadt Moers und unseren Partnern und Sponsoren, bei denen ich mich an dieser Stelle für ihre fortgesetzte Unterstützung sehr herzlich bedanken möchte. Dank gebührt aber auch unserem super motivierten jungen Team und Ihnen, dem besten Publikum der Welt. Reiner Michalke

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SIMPLY CLEVER

OB JAZZ ODER ŠKODA. AM BESTEN LIVE. ŠkodaAuto. Wir machen Kultur mobil. In unseren Autos findet man nicht nur eine Hupe, sondern auch gerne mal einen Bass, ein Schlagzeug und eine Gitarre. Denn wir fördern die deutsche Jazz-Kultur. Mit dem Jazz-Award für herausragende Persönlichkeiten und einem eigenen Jazz-Preis für Jugend Big Bands. Außerdem sind wir Partner des Moers Festivals und gehen jedes Jahr mit der International Škoda Allstar Band auf Tournee. Am besten erleben Sie uns einmal live – zum Beispiel bei einer Probefahrt. Mehr Informationen erhalten Sie bei Ihrem Autohaus Minrath, unter 0 28 41/145-0 oder www.skoda-auto.de


grußwort

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Grußwort

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SCHWARZ

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Leagas Delaney definiert keine Überfüllungen in Reinzeichnungsdokumenten, diese sind von der Litho/Druck anzulegen und zu überprüfen

Datum 27.04.2007 Projekt Roomster Kino für Moers Ausdruck 001 Produkt Anzeige Medium Festivalmag. DU-Termin 04.05.2007 Kunde Skoda Format 210x280mm Job-Nr. SKO12-078-07

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Prof. Karl Karst Programmchef WDR 3 Nur wenigen Musik-Festivals gelingt es, mit der Entwicklung ihres Genres Schritt zu halten und Künstler zu präsentieren, die Veränderungen in der improvisierten Musik aktuell mit gestalten. Der Jazz prägte maßgeblich die improvisierte Musik des 20. Jahrhunderts. Begleitet und dokumentiert auf vielen amerikanischen oder europäischen Festivals, zeigen sich dort die erstaunlichen Veränderungen im Jazz. Und mit jedem neu aufkommenden Jazz-Stil formt sich meist ein weiterer Festivaltyp, der bald für die Stilistik typisch erscheint. Mit dem Wechsel in der künstlerischen Leitung im vergangenen Jahr ist etwas geglückt, was kaum für möglich gehalten wurde: Das moers festival schafft den Spagat, die eigene Geschichte gleichermaßen zu reflektieren wie vorwärtsdrängende Künstler von heute und von morgen auf die Bühne zu bringen. Das waren von Anfang an die Stärken dieses Festivals, weshalb es bereits in den 1970er- und ’80er-Jahren international den Ruf innehatte, kreative Plattform für zeitgenössische, improvisierte Musik zu sein. Der neue Künstlerische Leiter, Reiner Michalke, öffnet Fenster in alle Richtungen der Moderne, ohne beliebig zu sein, und bietet Orientierung, ohne Vollständigkeit zu versprechen. Über all dem steht stets die Suche nach der Qualität der musikalischen Idee und die Erforschung und Weiterentwicklung des musikalischen Materials. Das Kulturradio WDR 3 wird das moers festival auf seinem Qualitäts-Weg gerne begleiten und als Partner unterstützen. Schon jetzt sind die ersten Früchte der Zusammenarbeit zu verzeichnen: Die Jazz-Redaktion von WDR 3 hat mit der „Nacht der Jazz-Festivals“ ein Radioformat aufgelegt, das sowohl auf europäischer Ebene als auch für die Fans des Jazz in Deutschland und Österreich eine Novität darstellt: 10 Stunden lang sendet WDR 3 in der Nacht vom 26. auf den 27. Mai live und in kurz zuvor aufgezeichneten Mitschnitten die Konzerte der beiden gleichzeitig stattfindenden Jazz-Festivals moers festival und den oberösterreichischen INNtönen – in NordrheinWestfalen durch WDR 3 und in Österreich durch Ö1. Ich gratuliere dem moers festival zum gelungenen Neustart und wünsche den Besuchern und den Radiohörern in Deutschland und in Österreich ein belebendes Hörereignis.


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Freitag, 25. Mai 2007

programm

18.00 Uhr / Festivalzelt

Oral Beats & Strukt

Aus dem Kollektiv Oral Office, das sich neben dem ausgebildeten Diplomsprecher aus Musikern, Tänzern und VisualArtists zusammensetzt, ging jenes Projekt hervor, das den Auftakt zum heurigen Festival in Moers bildet. „Bei Oral Beats liegt der Schwerpunkt auf der Sprache – wobei das weder nach Rap noch nach Märchenonkel klingt, sondern viel eher von Hörspiel oder zeitgenössischem Gesang beeinflusst ist“, erklärt der Sänger und Bandleader Christian Reiner. In Moers unternehmen seine musikalischen Mitstreiter Matthias Koch (Drums) sowie die in Köln lebenden Achim Tang (Bass) und Philipp Zoubek (Piano) gemeinsam mit Matthias Fritz und Markus Dorninger (beide Visuals) den Versuch, die Poesie von Sprache offen zu legen. Die Stimme funktioniert dabei wie Musik, geht weg vom Inhalt und stellt – vergleichbar mit dem absurden Theater – starke Inhalte in abstrakter Form dar. Christian Reiner: „Der Inhalt ergibt sich durch den Klang und durch die Aussage, dass in den stimmlichen Äußerungen des Alltags sehr wohl viel Musik steckt“. Ergänzend

dazu wird die Musik ein Stück weit zum Sprechen gebracht – um sich irgendwo in der Mitte mit den ebenso spontan wie die Klangkünstler agierenden Visual-Artists von Strukt zu treffen. Diese sind dank eines von ihnen entwickelten Animations- und Zeichen-Tools nicht nur in der Lage, auf Entwicklungen zu reagieren, sondern auch selbst die Richtung vorzugeben. Im Idealfall wird das Publikum auf allen Ebenen angesprochen, ohne zu bemerken, dass es sich dabei um verschiedene Dinge handelt. „Gute Bands werden schließlich auch nicht daraufhin überprüft, was der einzelne Musiker macht“, argumentiert der Mann mit der sonoren Stimme. Obwohl es bei Oral Beats stellenweise stark nach Elektronik klingt, orientiert man sich am Ende dann doch eindeutig in Richtung der oben angedeuteten Band-Tugenden. Das bewahrt das Projekt wohltuend davor, zur intellektuellen Übung zu verkommen: „Uns geht es schon sehr um den Groove. Wir sind nicht diejenigen, die nur in ihren Kunstkämmerchen sitzen, an Reglern schrauben und ernst drein schauen – von irgendwoher kommt ein hoher Ton und das ist dann die Erfindung der Welt .“ Martin Gansinger

Mathias Koch _ dr Achim Tang _ b Christian Reiner _ voc Philip Zoubek _ p Matthias Fritz _ visuals Markus Dorninger _ visuals


Kein Jazz mehr, nicht einmal free. Für Georg Graewe, Ernst Reijseger, Gerry Hemingway und Earl Howard führt dieser Begriff längst in eine Sackgasse. Art Lange versuchte dies schon 1989 im Booklet für „Sonic Fiction“, der ersten CD des GRH Trios, irgendwie in Worte zu fassen und fand den Begriff: „Neue improvisierte Musik europäischer Prägung“. Etwas, das weit abseits ausgetretener Pfade liegt. Eine Musik der Aufführung und weniger der Schöpfung. Und ein Intermezzo der Gegensätze. So arbeitet Reijseger normalerweise mit sardischen Chören, afrikanischen Sängern, Cello- und Gambengruppen, schreibt Filmmusiken für Werner Herzog, veranstaltet Soloperformances in Museen der Moderne. Graewe komponiert Streichquartette, Orchesterstücke, Lieder, Kammeropern, inszenierte eine Videokantate nach Albert Einstein, leitet das GrubenKlangOrchester, führt ausschließlich eigene Werke auf. Hemingway kollaborierte von 1983 bis 1994 mit Anthony Braxton, entwickelte neue Spiel- und Kompositionstechniken für Percussion. Howard schuf Soundtracks für Film- und Videokünstler wie Mary Lucier, Rii Kanzaki, Bob Harris, Bill Brand oder Nam June Paik, öffnete mit seinem Synthesizer Kurzweil K 2500 sowie der Zusammenarbeit mit Evan Parker, John Zorn, Thomas Buckner, George Lewis sowie David Wessel neue Türen für die elektronische Improvisation. Vier Künstler, die ein Kunstwerk kreieren, unabhängig voneinander, und erst im Endstadium die individuell gestalteten Elemente zusammensetzen. Dennoch wirkt ihr gemeinsames Tun auf wundersame Weise wie aus einem Guss. Nichts ist

programm

Freitag, 25. Mai 2007 9

Georg Graewe _ p Ernst Reijseger _ vc Gerry Hemingway _ dr Earl Howard _ electr

19.00 Uhr / Festivalzelt

GRH Trio feat. Earl Howard

abgesprochen oder vereinbart. Graewe, Reijseger, Hemingway, die 2006 ihre in der herrlichen Akustik des neuen Bruno Walter Saals des Nationaltheaters München aufgenommene CD „Continuum“ veröffentlichten, und ihr amerikanischer Gast treffen sich ohne jegliches kompositorisches Gerüst. Erstmals war dies bei den Donaueschinger Musiktagen 2006 der Fall, jetzt eben in Moers. Keine Tempi, keine Rhythmen, keine Dynamiken, keine Tonarten, keine Melodien. Und auch keine Proben. Nur das Jetzt zählt, und dieses Jetzt entsteht aus der individuellen Kraft dieses Quartetts. Piano, Marimbafon, Percussion, Saxofon und Synthesizer positionieren sich: „Continuum Phase

One“. Sie spielen einfach, Phase für Phase, ohne Zwang, ohne Erwartungen. Lassen sich fallen, vertrauen einander. Ein Treffen von Seelenverwandten, die lange durch andere Welten wanderten, sich im Fall des GRH Trios 1999 ohne Groll trennten und 2005, einer inneren Stimme folgend, wieder zueinander fanden. Auch der gemeinsamen Freiheit wegen. Eine ästhetische Grundhaltung. So wird Musik zur reinen Spekulation. Reinhard Köchl


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Freitag, 25. Mai 2007 Eigentlich dürfte Ultraschall für den Menschen nicht hörbar sein, da er sich oberhalb der menschlichen Hörschwelle befindet. Doch von solchen physikalischen Grundgesetzen halten die vier Norweger von Ultralyd trotz ihres Bandnamens herzlich wenig: Sie hebeln das Naturgesetz kurzerhand aus und kehren es ins extreme Gegenteil um. Das Resultat ist eine zähglühende Soundmasse, die sich aus den riesigen Bassund Gitarrenboxen über das Publikum ergießt. Norwegen ist ein künstlerisch äußerst reichhaltiges Land, berühmt für die Vielzahl der musikalischen Stile, die sich dort in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben. So brachte das Land nicht nur vorzügliche Fachkräfte in sämtlichen Untergruppierungen des Heavy Metal hervor, sondern auch zahlreiche Künstler, die diese zum Teil sehr weit auseinander liegenden Stile furchtlos miteinander zu verbinden verstehen.

programm Ein charakteristisches Beispiel stellt das norwegische Quartett Ultralyd dar, bestehend aus Saxofonist Kjetil Møster, der vor Energie strotzenden Gitarre von Anders Hana, dem berüchtigten Bassgitarrenschinder Kjetil D. Brandsdal und Schlagzeuger Morten J. Olsen. Vier junge Musiker, die irgendwo im Zwielicht von Metal, Jazz, Experimental und improvisierter Musik rocken, was Lungen, Arme und Finger herzugeben im Stande sind. Alle vier sind in ihrer Heimat angesehene Improvisationskünstler und dicht vernetzt in der vielfältigen Noise-Szene: Anders Hana verkörpert die Spezies von Gitarristen, die ihr Instrument dramatisch pompös und ohne Rücksicht auf irgendwelche bisher bekannten Akkordprogressionen bedient – wahrlich wikingerhaft! Seine Saitendienste nehmen auch die Formationen Noxagt (mit Bassist Brandsdal)

Ultralyd 20.15 Uhr / Festivalzelt

und Jaga Jazzist dankend in Anspruch. Seit neun Jahren arbeiten Hana und Olsen zudem als Duo MoHa! zusammen. Olsen selbst, studierter Schlagzeuger, kollaboriert auch noch mit Größen wie Fred Frith, Axel Dörner, Didi Bruckmayr oder Michael Moore. Ganz gleich, ob solo, im Doppelpack oder im UltralydKollektiv: Man verschont die Zuhörer nicht mit rauen Tönen, schafft sich musikalische Freiräume und tankt auf der Bühne pure Energie – um diese dann ungefiltert und ohne Umwege an das Publikum abzugeben. Henrik Drüner

Kjetil Møster _ sax Anders Hana _ g Kjetil D. Brandsdal _ b Morten J. Olsen _ dr


programm

In den frühen 1970er-Jahren veränderten sich die Dinge im Soul des Südens der USA: Streicher weichten den Sound auf, die Disco-Welle schwappte in die Studios, legendäre Labels wie Stax schlossen ihre Tore, die Zeit der großen Hits war damit aus und vorbei. Nun aber, mehr als 30 Jahre später, kommen Sharon Jones & The Dap Kings mit einem Repertoire, das ganz die alte Schule des Southern Soul ist, aber ohne die geringste Spur von Nostalgie: die Band als Rhythmusmaschine mit wuchtigen Bässen, kreischenden Hörnern, funky Drums und Gitarren mit treibenden Riffs im Memphis-Sound – und der Groove wie bei James Brown und seinen JB’s, aber als ganz und gar eigenes Ding. Dass bei der Frontfrau der achtköpfigen Band sämtliche Klischees einer Soulsängerin zu finden sind, mag man für eine schöne Nebensache halten: Sharon Jones ist im Süden geboren, in Augusta, der Heimatstadt von James Brown. Zufall? Sie hat schon als junges Mädchen in

New York im Kirchenchor gesungen, mit 18 ihren ersten Gospel geschrieben und ist zur selben Zeit von Funk und Soul infiziert worden. Die Mama wollte nicht erlauben, dass die Tochter woanders singt als in der Kirche – aber Sharon setzte sich durch. Kaum hatte sie die Highschool absolviert, kamen auch schon erste Auftritte. Leben konnte die Soulfrau davon bis vor wenigen Jahren nicht. Alle möglichen Jobs hat sie gemacht: in New Yorks größtem Gefängniskomplex auf Rikers Island zum Beispiel und nebenher in Studios als Backup-Sängerin. Und sie hat in lokalen Bands, auf Hochzeitspartys und in kleinen Clubs gesungen, bis sie in den 1990ern ihre ersten Singles aufnahm und vor ein paar Jahren das erste Album einspielte. Mit dem energetischen,

21.30 Uhr / Festivalzelt

Sharon Jones & The Dap Kings Sharon Jones _ voc David Guy _ tp Neal Sugarman _ sax Ian Hendriksen _ sax Binky Griptite _ g Tommy „TNT“ Brenneck _ g Bosco „Bass“ Mann _ b Fernando „Boogaloo“ Velez _ perc Homer „Funky-Foot“ Steiweiss _ dr

Freitag, 25. Mai 2007 11 rauen Funk-Soul von „Dap-Dipping With Sharon Jones And The Dap Kings“ begann die internationale Karriere der Sängerin und ihrer Band. In England verpasste man ihr das Etikett „The Queen Of Funk“, und vor zwei Jahren kam die zweite CD auf den Markt. Wenn diese temperamentvolle Entertainerin die Bühne betritt, gibt sie sich völlig ihrer Musik hin und verausgabt sich vor dem Publikum, ganz nach ihrem Motto: „The only way you’re going to enjoy life is through funk!“ Uli Lemke


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programm

Zu Moers hat Eckard Koltermann eine besondere Beziehung: In der Zeit von 1988 bis 1999 war der Holzbläser und Komponist musikalischer Leiter beim Schlosstheater Moers. In diesen elf Jahren konnte er dort intensiv an einer Symbiose aus komponierter und improvisierter Musik experimentieren, wie sie mittlerweile zum Markenzeichen des 1958 in Herne geborenen Koltermann geworden ist. Denn, so ist er auch heute noch überzeugt, es müsste „unter der kommenden Generation von Musikern eine Musikform zu finden sein, in der sowohl die gehobene Art der Improvisation als auch die gehobene Art der Interpretation eins werden kann.“ Auch seine Beziehungen zum Nachbarland Holland sind eng. Für viele Jahre war Koltermann unter anderem einer der wichtigsten Solisten in der von Willem van Manens geleiteten Contraband, für die er stets auch als raffiniert schreibender Komponist in Erscheinung trat. Grenzen zu überschreiten ist also für den letztjährigen Kurator der moers-festival-Reihe „concerts in the dark“ kein Problem. Wohl deshalb hat er sein 2004 ins Leben gerufenes Quartett mit den beiden Niederländern Paul van Kemenade und Wolter Wierbos zum Sextett erweitert. Ohne Netz und doppelten Boden improvisiert man sich hier durch raffiniert gesetzte Originalkompositionen, die allesamt aus der Feder der beteiligten Musiker stammen. Aber im Gegensatz zum Quartett, dessen Klangbild allein durch

Koltermanns Bassklarinette eher dunkel getönt ist, stehen beim Sextett hellere Klangfarben im Mittelpunkt und mit van Kemenades markantem Spiel auf dem Altsaxofon und Wierbos Multiphonics auf der Posaune ergeben sich zudem ad hoc überraschende Reibungen. Auch lässt man bewusst die „klassische“ Rollenverteilung einer Jazzformation außer Acht – nicht nur, weil hin und wieder kollektiv improvisiert wird, sondern auch, weil Eckard Koltermann Border Hopping unbegleitetes Solospiel ebenso einbezieht wie das Improvisieren

15.00 Uhr / Festivalzelt

Eckard Koltermann Border Hopping

Eckard Koltermann _ bcl Stevko Busch _ p Markus Conrads _ b Achim Krämer_ dr Paul van Kemenade _ as Wolter Wierbos _ tb

Samstag, 26. Mai 2007 13 im Trio und Quartett bis hin zur voller Besetzungsgröße. Ein solches Raffinement kommt an. „Erinnerungswürdige Kollektivimprovisationen sowie eine hervorragende Interaktion zwischen Rhythmusgruppe und Bläsern“, hieß es nach einem Konzert mit Eckard Koltermann Border Hopping im Amsterdamer Bimhuis: „herausragender und inspirierter europäischer Impro-Jazz.“ Martin Laurentius


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Samstag, 26. Mai 2007 Bezaubernd schön und faszinierend fremdartig zugleich ist der Jazz-Folk-Pop der norwegischen Sängerin Eldbjørg Raknes. Statt eine weitere Interpretation der bekannten Jazzstandards zu liefern, bevorzugt sie die Vertonung der Lyrik von Pablo Neruda, Paul Celan oder James Joyce. Die 37-Jährige versteht sich als eine experimentierfreudige New-Jazz-Vokalistin, die ihre Stimme als Instrument einsetzt und das Publikum mit ihrem tiefen und weichen Timbre verzaubert. Nach dem Besuch einer Theaterschule studiert die in Trondheim lebende Raknes von 1990 bis 1994 am dortigen Musikkonservatorium Jazzgesang und Kompositionslehre. Bereits 1991 gibt sie im Duo mit dem norwegischen Pianisten Christian Wallumrød auf dem Internationalen Jazzfestival in Molde ihr musikalisches Debüt. In den Folgejahren tritt Raknes neben ihrem Studium bei verschiedenen Tourneen mit ihrer A-Cappella-Gruppe Kvitretten und dem Jazztrio Nutrio auf. Nach Auflösung von Nutrio gründet sie 1997 ihr eigenes Quartett: TINGeLING. „TINGeLING ist meine Band – und das bedeutet mir sehr viel!“, sagt sie noch heute mit Nachdruck. Ihre Mitstreiter zu Beginn sind der Gitarrist und Bassist Nils-Olav Johansen, der Schlagzeuger Per Odvar Johansen sowie die Pianistin und Keyboarderin Maria Kannegaard. Mittlerweile wurde das Schlagzeug durch eine weitere Gitarre, Stian Westerhus, ersetzt – das internationale Niveau dieser Musiker ist natürlich geblieben. Neben der Besonderheit, zeitweise barfuß vor’s Publikum zu treten, liegt Raknes’ Spezialität in ihrer „Mehrstimmigkeit“: Sie produziert Rhythmen aus Zisch- und Schnalzlauten sowie kurze Leitmotive mit ihrer eigenen Stimme, nimmt diese im LiveSampling-Verfahren in „real-time“ auf und begleitet sich anschließend selbst mit den Kompositionen und den Versen verschiedenster Autoren. Im Zusammenspiel mit den TINGeLING-Musikern ergibt sich so eine hochinteressante

programm Mischung aus rhythmischem Fundament, perkussiven Basslinien sowie anschwellenden und verebbenden Tonfolgen zwischen Flüstern und Quieken. Wie ihre Landsfrau Sidsel Endresen gehört die Vokalkünstlerin zu den eigenständigsten norwegischen Sängerinnen, die Maßstäbe setzt und so gar nicht dem Klischee nordischer Fabelwesen entspricht.

Eldbjørg Raknes _ voc Maria Kannegaard _ p Nils-Olav Johansen _ g, b Stian Westerhus _ g, electr

Henrik Drüner

16.15 Uhr / Festivalzelt

Eldbjørg Raknes TINGeLING


Wer hätte das gedacht: Für den Japaner Masami Akita alias Merzbow ist der expressionistische deutsche Künstler Kurt Schwitters das Vorbild. Ähnlich wie Schwitters, der nach Ende des ersten Weltkriegs seine Collagen aus Zeitungsausschnitten, Reklame und weiteren Werkstoffen als „MerzBilder“ bezeichnete und unter anderem auch heute noch für sein Lautgedicht „Ursonate“ bekannt ist, so hat sich Merzbow einer ganz und gar eigenen, radikalen Ästhetik verschrieben – und sein Künstlerpseudonym gefunden. Sich überlagernde rauschhafte Filterklänge, fiepende Feedbacks, quietschende Theremingeräusche und fauchender

programm Synthi-Lärm türmen sich bei seinen Konzerten und auf seinen mittlerweile mehr als 100 CDs stets zu einer undurchdringlichen, gewaltigen und ohrenbetäubenden „Wall Of Noise“ auf. Sein Landsmann Keiji Haino gehört in Japan zu den Pionieren des Free Rock. Seit mehr als 30 Jahren erforscht der Schlagzeuger, Gitarrist und Sänger die Grenzbereiche zwischen (Free) Jazz, Rock und Avantgarde, und seine 1978 ins Leben gerufene Psychedelic-FreeRock-Band Fushitsusha ist bis heute legendär. Neben seinen zahlreichen eigenen Projekten ist Haino, der schon frühzeitig seine eklektizistischen Klangkunstwerke in einer ästhetischen Logik zusammenführte, immer auch mit

Samstag, 26. Mai 2007 15 verschiedenen international bekannten Improvisationskünstlern zu hören, wie etwa mit John Zorn und Bill Laswell, Peter Brötzmann und Thurston Moore, Barre Phillips und Derek Bailey, Christian Marclay und Fred Frith. Seit kurzem bildet er mit Merzbow das Duo Kikuri. Merzbows infernalischer und oft brachial klingender, so genannter „Japanese Noise“ ist wie geschaffen für Hainos psychedelische Hammerschläge und fulminante Improvisationen. Gäbe es in Abwandlung des Begriffs „Extremsportler“ die Bezeichnung „Extremmusiker“, die beiden Japaner gehörten als Kikuri sicherlich zu den ersten Protagonisten dieser Zunft. Vorsicht: brutal laut (siehe Warnhinweis).

Keiji Haino _ g, voc Masami Akita _ electr

17.30 Uhr / Festivalzelt

Keiji Haino & Merzbow: Kikuri

Achtung: Aufgrund der zu erwartenden hohen Lautstärkeentwicklung empfehlen wir bei diesem Konzert dringend die Verwendung von geeignetem Gehörschutz. Entsprechende Ohrstöpsel werden kostenlos im Eingangsbereich zur Verfügung stehen.


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Samstag, 26. Mai 2007

programm

20.00 Uhr / Festivalzelt

Cornelius Anfang der 1990er erreichte das Attribut „hip“ seine semantische Wasserscheide. Beschrieb es bis dahin alles, was zum Beispiel irgendwie nach Charles Mingus klang, so war seine neue Bedeutung von nun an: „Einzig auf der Basis von coolem Wissen seinen Lebensunterhalt bestreiten“. Ein Epizentrum dieses Paradigmenwechsels lag in Downtown Tokio. Neben Fotografen, Magazinmachern, Grafikern und allem, was dazugehört, hatte das so genannte „Shibuya-Kei-Movement“ auch seine Musiker und Bands. Zu den hierzulande berühmtesten zählen etwa Pizzicato Five, Buffalo Daughter, Fantastic Plastic Machine – und Keigo Oyamada, besser bekannt als Cornelius. Er konnte es sich offenbar aufgrund einer Art Superheldenexistenz in seiner Heimat leisten, nicht jedes Jahr, sondern alle fünf Jahre ein Album zu veröffentlichen: „Fantasma“ (1997), „Point“ (2002) und das aktuelle „Sensous“. Im Studio

müssen wir uns den Autor dieser Werke als eine Art hochintelligenter „Pynchon“-Krake vorstellen, der mit acht virtuellen Armen wie wild um sich greift, Klangpartikel gegeneinander dreht und wendet, und Verhältnisse justiert, bis sie in Anime-Schnittgeschwindigkeit nutzlose, aber inspirierende Information verspritzen. Die Soundquellen reichen von akustischer Gitarre bis zum audibelen Datencrash und funktionieren im funkysten Sinne als Cut ups, aber ohne Zufallsfaktor. Ob er dabei die Latin-Jazz-Experimente von Gabor Szabo zitiert oder einfach einen eigenen Song bis zur Unkenntlichkeit dekonstruiert, stets bleibt eine eindeutige Handschrift bestehen: klar gegeneinander abgesetzte Klänge mit unkaschierten Raumatmosphären, eine beinahe reine Groove-Mathematik auf

Basis melodisch-harmonisch schwingender Funk-Fragmente und ein weit geöffneter Geschmackshorizont. Der London Telegraph bezeichnete Cornelius als „Phil Spector für die Post-RaveGeneration“, und auch die Coldcut-Musiker Matt Black und Jonathan More entdeckten wohl eine Geistesverwandtschaft und ließen ihren „Atomic Moog 2000“ von Oyamada remixen. Der teilt mit seinen Londoner Kollegen auch das Interesse an der Koppelung von Bild und Klang und verzahnt bei Live-Auftritten seine sonischen Schnittmuster mit einer dynamischen Videoshow, über die ein hingerissener Arto Lindsay urteilt: „The Cornelius shows I have seen are intensely visual as well as musical. The last one I saw featured the best use of media I have ever seen.” Zu seinen Live-Shows gehört mittlerweile eine komplette Rhythmusgruppe, bei der sich Oyamada auschließlich auf Gesang und Gitarre beschränkt – obwohl das Wort „Beschränkung” im Zusammenhang mit seiner Musik nicht erlaubt sein dürfte. Eric Mandel Keigo Oyamada _ g, voc H. Horie _ keyb H. Shimizu _ b Y. Araki _ dr


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Die Improvisation – unendliche Weiten. Mittlerweile schreiben wir schon das Jahr 2007 und werden noch immer nicht müde, die Abenteuer von Anthony Braxton zu erzählen, der mit ständig wechselnder Besatzung seit fast 40 Jahren unterwegs ist, um neue Klangmöglichkeiten zu erforschen, neue Spielformen und neue Mixturen. Viele Lichtjahre vom Heimatplaneten Jazz entfernt, dringt Braxton in akustische Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gehört hat. Wenn überhaupt jemand dafür in Frage kam, seine Auffassung von Musik im metaphorischen Sinn mit den Abenteuern des Raumschiffes Enterprise umschreiben zu lassen, dann der 61-jährige Komponist, Reedsplayer und bekennende Science-Fiction-Fan aus Chicago. Doch wäre es ein schwerer Fehler, Braxton als abgehobenen Träu-

mer zu disqualifizieren. Der Mann ist ein Sternenbummler par excellence, ein Forscher mit dem Wissen um Vergangenheit und Zukunft, ein kalkulierter Draufgänger, der jedes Problem mit seinem faszinierenden Intellekt löst, aber niemals ein unbedachter Hasardeur. Vor allem ein Schachspieler, sowohl auf dem Brett wie auf der Bühne. Braxton liebt spektakuläre Eröffnungen, riskante Attacken, kesse Rochaden und ausgetüftelte Strategien. Was mit der Dynamik eines Flächenbrandes daherkommt, ist in Wirklichkeit das Ergebnis exakten Kalküls. Nur auf diese Weise nämlich lassen sich pausenlos Konventionen durchbrechen und ihnen eigene, originelle Alternativen entgegenstellen. Nicht allein als Saxofonund Klarinettenvirtuose, als Interpret solch instrumentaler Exoten wie der

21.15 Uhr / Festivalzelt

Anthony Braxton Sextet + 1

Samstag, 26. Mai 2007 17 Kontrabassklarinette, dem Kontrabasssaxofon oder dem Sopranino und als Leader eigener Quartette hat Anthony Braxton einen Teil Musikgeschichte geschrieben. In seinem Werkverzeichnis finden sich unter anderem Stücke für vier Orchester, metaphysische Opern, Streichquartette und Kompositionen für 100 Tuben – oder für Alphorn-Ensemble. Kurz: Der musikalische Kosmos Anthony Braxtons ist grenzenlos, bunt und in turbulenter Bewegung. Auch das moers festival, in dessen Orbit der amerikanische Avantgarde-Monolith zwischen 1974 und 1978 alljährlich eintauchte, profitierte von seiner immensen Strahlkraft. Bei seiner Rückkehr nach fast 30 Jahren bringt er „9 Compositions“ mit, die seine Formation 12+1 im Frühjahr 2006 im New Yorker Club Iridium auf acht Audio-CDs und eine DVD bannte. Die Präsentation erfolgt mit einer abgespeckten Bandversion, besagtem Sextet + 1. Dazu zählen der Trompeter Taylor Ho Bynum, die Violinistin Jessica Pavone, der Tubist Jay Rozen, der Bassist Chris Dahlgren, der Percussionist und Vibrafonist Aaron Siegel sowie der Elektroniker Phillip Schulze. Und auch diesmal bleibt nichts dem Zufall überlassen. Captain Braxton berechnet wieder höchstpersönlich den Kurs. Mit Gestaltungsprinzipien, die auf mathematischen Beziehungen gründen, mit seriellen Konzepten innerhalb freier Tonalität. Dass die Reise dennoch zu einem emotionalen Erlebnis gerät, gehört zu den vielen wundersamen Rätseln, die der Mann seinen Bewunderern stets von Neuem aufgibt. Reinhard Köchl

Anthony Braxton _ sax Taylor Ho Bynum _ tp Jessica Pavone _ v Jay Rozen _ tu Chris Dahlgren _ b Aaron Siegel _ perc, vib Phillip Schulze _ electr


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Samstag, 26. Mai 2007

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22.30 Uhr / Festivalzelt

Steven Bernstein’s Millenial Territory Orchestra Das Wort „Eklektizismus“ ist im DeutImpuls für diese Gruppe hat Bernstein schen nicht unbedingt positiv besetzt. gespürt, als er mit Arrangements für Besagt es doch, dass sich jemand auf die Musik zum Robert-Altman-Film unschöpferische Weise aus verschie„Kansas City“ betraut wurde, der in den denen Quellen bedient. Im englischen/ 1930er-Jahren spielt. Der Produzent Hal amerikanischen Sprachgebrauch verhält Willner hatte den ihn im Vorfeld mit vier es sich etwas anders. Wenn einem da Kassetten mit Musik aus eben diesem attestiert wird, „eclectic“ zu sein, dann Jahrzehnt versorgt. Das, was Bernstein darf das meist als großes Lob auf die auf den Bändern hörte, stammte zum Fähigkeit verstanden werden, diverse großen Teil von so genannten TerriElemente geschickt zusammenzufügen. tory Bands, die im ersten Drittel des Der Zug-Trompeter Steven Bernstein vergangenen Jahrhunderts durch viele beherrscht eben diese Kunst aus dem Städte des Mittleren Westens zogen Effeff. Mit seinem Millenial Territory und dort in Tanzschuppen, Ballsälen, Orchestra treibt es der New Yorker, der Bars und sonstigen Etablissements sonst auch Bands wie Sex Mob und aufspielten. Viele Dokumente dieser Spanish Fly vorsteht und mit so unterFormationen aus der Prä-Big-Band- und schiedlichen Künstlern wie Leonard -Swing-Ära gibt es nicht, abgesehen Cohen, Bill Frisell, Trey Anastasio, Linda von einigen dreiminütigen Aufnahmen, Ronstadt, Bobby Previte, Lou Reed oder die damals mit 78 Umdrehungen abgeden Crash Test Dummies gearbeitet spielt werden mussten. Bei der Hinterhat, fast auf die Spitze. Den ersten grund-Recherche zu seinem Job hob

Bernstein wahre Schätze, entdeckte Stil-Elemente, die ihm bisher nicht vertraut waren und sich ihm doch sofort erschlossen. Vier Jahre nach „Kansas City“ debütierte sein Millenial Territory Orchestra im New Yorker DowntownClub Tonic (der jetzt, begleitet von einem hässlichen Schlussakkord, seine Pforten schließen musste) und brachte dem Publikum bei freitäglichen Mitternachts-Shows eine Musik nahe, die einerseits weit in der Zeit zurückgriff und doch immer wieder ins Jetzt führte. Mit einer Mischung aus AuthentizitätsWillen und Neuschöpfer-Ambitionen schlägt Bernstein mit dieser Band Brücken. Er verbindet jazzig getönte Tanzmusik der 1930er mit dem, was den Menschen ein halbes Jahrhundert später in die Beine fuhr: etwa Klängen von Stevie Wonder, Sly Stone oder Prince. Er lässt Tradition und Moderne einander umarmen, in dem er mit seinen Mannen beispielsweise Don Cherrys „Relativity Suite“ aufführt, er konfrontiert den Spirit der Frühphase des Jazz mit dem freien Geist, der durch die Avantgarde unserer Tage weht. Wonderfully eclectic. Ssirus W. Pakzad Foto: Ssirus W. Pakzad

Steven Bernstein _ tp Eric Lawrence _ reeds Doug Wieselman _ reeds Peter Apfelbaum _ reeds Clark Gayton _ tb Charlie Burnham _ v Matt Munisteri _ g Ben Allison _ b Ben Perowsky _ dr


wir

Sind noch zu

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retten?

Irgendwo muss man ja anfangen. Keine Frage: Mit einem taz-Abo allein verändern Sie noch nicht die Welt – aber Sie stärken damit kritische Stimmen, die es ähnlich sehen wie Sie. Und wer Haltung zeigt, geht bekanntlich den ersten Schritt, um Dinge anders zu machen. Deshalb: Abonnieren Sie die taz NRW.

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Sonntag, 27. Mai 2007

programm

Ein paar hunderttausend Begeisterte mittel der Gnawa-Bruderschaften im treffen sich jedes Jahr in Essaouria nördlichen Afrika und weiter im Osten zum Musikfestival. An normalen Tagen kultureller Bestandteil des Sufismus. kann man die marokkanische KüstenAls einer der Leiter des Festivals stadt mit Bus oder Bahn erreichen, aber von Essaouira hat Ziad langjährige während der Zeit des Festivals gibt es Erfahrungen mit Gnawa-Musikern Extraflüge von Casablanca. Im Zentrum gesammelt, und schon oft mit dem des Geschehens steht jedes Mal ein Sänger und Guembri-Virtuosen Hamid dreisaitiges, basslastiges Instrument, el Kasri gearbeitet. Mit dem Projekt das perkussiv und melodisch zugleich „Gnawa Crossroads“ zeigen el Kasri und bearbeitet wird: die Gimbri, GuemZiad nun neue Bezüge zwischen der bri, Guenbri, oder noch komplizierter: Musik der Gnawa, europäischem Jazz, Haj’houj, und auch Sintir taucht in den afrokaribischem Temperament und Beschreibungen hiesiger Spezialisten schwarzafrikanischer Roots auf. Den auf. Die Guembri gilt als archaisches Kern bilden el Kasri und seine Gnawa Bassinstrument, das angesichts seiner Masters mit ekstatischen traditionellen hervorragenden Eigenschaften als Gesängen, welche Ziad durch moderne Slap-Bass und seiner seit Jahrzehnten Kompositionen ergänzt. Der kubanische auch im Jazz anzutreffenden BeliebtPianist Ramón Valle erweitert das heit allerdings keineswegs altertümlich Spektrum um lateinamerikanische wirkt. Don Cherry, Pharoah Sanders, Harmonien. Der Gitarrist Ando Biswane Randy Weston, Robert Plant und Jimmy stammt wiederum aus Surinam und Page, Bill Laswell und zuletzt Archie der Bassist Reno Steba aus Aruba. Die Shepp haben mit diesem Musikwerkwestafrikanische Note kommt von Aly zeug kommuniziert und experimentiert. Keita, der mit seinem Balafon die tranWie auch Karim Ziad. Der in Frankreich cigen Läufe der Guembri aufgreift und lebende, algerische Percussionist ist ein umspielt – crossculture at its best. Uli Lemke bekennender Fan des Instruments und hat sich natürlich mit dessen Quellen befasst. Die Guembri ist das Trance-

15.00 Uhr / Festivalzelt

Gnawa Crossroads

Andro Biswane _ g Ramón Valle _ p Aly Keita _ balafon Reno Steba _ b Karim Ziad _ dr Hamid el Kasri _ guembri, voc Wahid Boudjeltia _ garagab, voc Mohammed Errougui _ garagab, voc Kacem Fouitah _ garagab, voc Abdelghafour Quahbi _ garagab, voc

In Kooperation mit: NPS-Radio und Music Meeting Nijmegen


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Am anderen Ende der Welt, im fernen Australien, wächst und gedeiht eine prächtige Jazz-Community, deren Mitglieder uns vielleicht nur deshalb nicht sonderlich vertraut sind, weil es für die Musiker zu aufwändig und umständlich ist, sich in hiesigen Breitengraden vorzustellen. Aber sicher auch, weil die Labels vom fünften Kontinent Schwierigkeiten haben, internationale Vertriebswege für ihre Produkte zu finden. Dabei gibt es doch soviel zu entdecken. In Melbourne etwa, der Dreieinhalb-Millionen-Metropole, rumort es musikalisch ohne Unterlass. Galt die Hauptstadt des Bundesstaats Victoria früher als Hochburg für Fusion und artverwandte Stile, blüht dort jetzt die Vielfalt. Zu den zentralen Gestalten der Melbourner Jazz-Szene gehört die einflussreiche Pianistin und Komponistin Andrea Keller. Nicht nur die Tastenkünste der 33-Jährigen stehen hoch im Kurs, nein, auch das, was sie auf’s Notenpapier zaubert. Über einen Mangel an Kompositionsaufträgen

kann sie sich jedenfalls nicht beschweren. Das Australian Art Orchestra, die BigSmallBand des Pianisten Mike Nock oder das Melbourne Women’s Jazz Festival bestellten Partituren bei ihr. „Komponieren hat immer eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt“, sagt Andrea Keller. „Ich habe schon mit neun oder zehn Jahren angefangen, da mein älterer Bruder Musik schrieb und ich wie er sein wollte. Später, als ich mich für Jazz und Improvisation interessierte, habe ich das Komponieren genutzt, um bestimmte Dinge verstehen zu lernen und auch viel auszuprobieren. Wie das Spielen auch ist Schreiben eine endlose Quelle der Freude und Frustration – ich würde mich nicht für das eine oder das andere entscheiden können.“ Besonders eindrucksvoll ist das, was die in Sydney als Tochter tschechischer Eltern geborene Musikerin für ihre Band zu Papier bringt, ob das nun Arrangements von Bela-BartokKompositionen („Mikrokosmos“) oder

Sonntag, 27. Mai 2007 21 eigene Werke sind. Manchmal mag sich Keller nicht zwischen Formstrenge und Verspieltheit entscheiden. Mit Gespür für Stimmführung schickt sie die beiden Bläserstimmen in die Umarmung, und ihre Klangfarbenvisionen fügen sich zu verwunschenen Stimmungsbildern. Das Ausnotierte brechen sie und ihre Mannen durch beherzte Improvisationen auf. Kellers Quartett, mit dem sie jetzt in Moers gastiert, kommt übrigens ohne Tieftöner aus. „Als unser damaliger Bassist nach New York zog, musste ich umdenken. Es wäre seltsam gewesen eine neue Persönlichkeit in unsere Einheit zu integrieren. Außerdem wollte ich musikalisch und kompositorisch ohnehin andere Wege gehen und da bot es sich an, den Bass nicht zu ersetzen. Es war eine lohnende Herausforderung, auf das Instrument zu verzichten – mittlerweile ist es das Natürlichste auf der Welt für mich. Die reduzierte Besetzung hat die Art, wie wir als Ensemble spielen, erweitert und erlaubt der Musik mehr Freiheit und Raum.“ Ssirus W. Pakzad

16.15 Uhr / Festivalzelt

Andrea Keller Quartet

Andrea Keller _ p Eugene Ball _ tp Ian Whitehurst _ ts Joe Talia _ dr


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Sonntag, 27. Mai 2007

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Olaf Rupp _ g Shoji Hano _ perc

17.30 Uhr / Festivalzelt

Olaf Rupp & Shoji Hano Ist eine Kunst oder Musik denkbar, die bewusst alle sozialen, emotionalen und geografischen Koordinaten ihres Schöpfers ignoriert? Der Berliner Gitarrist Olaf Rupp gibt zumindest vor, es zu versuchen. Auf der akustischen wie auf der elektrischen Gitarre entfaltet er Welten, die so abstrakt sind, dass man sie nicht einmal mehr als bizarr bezeichnen kann. Der Begriff Klangfläche nähert sich den spontanen Konstruktionen zumindest an. „Ich will jede Emotion aus meinem Spiel ausschalten. Natürlich weiß ich, dass das nicht möglich ist. Deshalb höre ich meine Sachen auch lieber, als dass ich sie spiele. Ich bin dann immer überrascht, wie viel ich darin finde, von dem ich meinte, es gar nicht hineingetan zu haben.“ Auf der Suche nach dem vollkommenen Geräusch auf der Gitarre

hat Rupp eine monolithische Sprache Partitur. Er fühlt sich keiner Tradition geschaffen. Das Ohr des unbefangenen oder Schule verpflichtet, fühlt aber eine Hörers muss sich in seinen seltsamen innige geistige Verwandtschaft mit Klanglabyrinthen nur einmal verfangen jenen Free-Jazz-Saxofonisten, die den haben, um sie auf Anhieb wiederzuerlinearen musikalischen Richtungssinn kennen. Dabei muss man seine Musik mit beweglichen Clustern aufbrachen. noch nicht einmal mögen. Einst wollte Doch auch die Prinzipien der Minimal Rupp alles Schöne aus seinen Klängen Music, die Techniken der spanischen verbannen, doch auf dem schmalen Gitarre und die unerbittliche SachGrad, auf dem sich Abstraktion in pure lichkeit der elektroakustischen Musik Emotionalität entlädt, gewinnen die fließen in sein Spiel ein. Wie diese Prinzipien entstellter Schönheit einen Quellen zusammenfließen, entscheidet derart intensiven spirituellen Zauber, sich in jeder Performance auf überradass etwas neues Schönes entsteht. schende Weise neu. Sein Duo mit dem Bis zu einem gewissen Grad leidet japanischen Percussionisten Shoji Hano Olaf Rupp unter seiner prädestinierten ist die Erfüllung eines langgehegten Position. Es gibt nur wenige Musiker, Traums. „Ich mag Musiker, die sich bei mit denen er kontinuierlich spielen kann. der Strukturierung ihres Spiels eher auf „Manchmal finde ich es schade, dass ich Intuition als auf kopflastige Konzepte so allein dastehe. Ich würde viel lieber verlassen. Schon bei seinen Projekten mit mehr Gleichgesinnten kommuniziemit Peter Brötzmann und Derek Bailey ren. Natürlich gibt mir das solistische fiel mir Shoji Hano als kraftvoll und senSpiel viele Freiheiten, aber es macht sibel agierender Drummer auf“, erzählt ja viel mehr Spaß, diese Freiheiten im Rupp. „Shoji Hano ist schon lange mein Dialog mit anderen Musikern auszukoWunschpartner für ein solches Percussten.“ Freiheit selbst bedeutet Rupp sions-E-Gitarren-Duo.“ Wolf Kampmann nicht mehr als die Abwesenheit von


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Als Christiaan Virant 1999 in Peking für die Gründung der Band FM3 nach Musikern suchte, die wie er Ambitionen auf dem Feld der elektronischen Live-Musik hatten, musste er zwar lange suchen, fand aber dann einen kompetenten Partner in dem Keyboarder Zhang Jian. Seitdem hat sich allerhand geändert: Laut Virants Angaben hat sich die Szene während der letzten drei Jahre fast verdreifacht und experimentiert trotz mangelnder kommerzieller Perspektiven munter mit Noise, Breakcore und audiovisuellen Setups. FM3 gehören heute zu den bekanntesten Vertretern dieser Nische und sind unter anderem mit der akustischen Gestaltung eines Parks für die Olympiade 2008 beauftragt worden. An ihrer Bekanntheit dürfte ihre so genannte „Buddha Machine“ nicht ganz unschuldig sein. Sie ist inspiriert von

zigarettenschachtelgroßen Abspielgeräten, die Virant in einem buddhistischen Tempel entdeckte: Sie spielten ausschließlich einen fest installierten Dauerloop ab – einen Chant, der den Tempel auch ohne Stimmkraft eines verantwortlichen Mönchs mit einer nie endenden Soundambience versorgte. Bei der – in derselben Fabrik in Auftrag gegebenen – Version von FM3 handelt es sich um neun batteriebetriebene, quietschbunte Exemplare. Sie ähneln Radioempfängern, nur dass sie per Werkseinstellung auf die Loops von FM3 beschränkt sind, die sich nun räumlich frei kombinieren lassen. Zur Überraschung aller Beteiligten erfreute sich diese „Buddha Machine“ rasch großer Beliebtheit. Zu den ersten Kunden gehörten etwa Brian Eno, Alan Bishop (Sun City Girls), Thomas Fehlmann und

20.00 Uhr / Festivalzelt

FM3

Sonntag, 27. Mai 2007 23 der Musiker und Ableton-Live-Entwickler Robert Henke (Monolake), die zum Teil auch eigene Versionen von BuddhaMusik auf der Staubgold-Kopplung „Jukebox Buddha” veröffentlicht haben. Mittlerweile sind mehr als 10.000 „Buddha Machines“ verkauft worden, und das in einer Ära, in der sich das Ende des physischen Tonträgers immer deutlicher abzeichnet! Mittlerweile haben FM3 es geschafft, trotz des Vollzeitjobs, den die ständige Nachproduktion des Erfolgsproduktes mit sich bringt, wieder auf Tour zu gehen: Zunächst mit einer Eigenbau-Zither und einem traditionellen Saiteninstrument namens Gu Quin, dann wieder als Akteure eines selbst entwickelten Spiels namens „Buddha Boxing”. Für ihr neues Live-Projekt „Marshall Plan” bleiben solche Maschinen, aber auch Computer und aufwändige Verkabelungen und Verschaltungen zuhause. Stattdessen wird ihr Auftritt in Moers die Frage beantworten können, wohin sich ein Duo bewegt, das die Grenzen zwischen elektronischer Musik und interaktiver Performance bereits erfolgreich zum Verschwimmen gebracht hat, wenn es seine „akustischen Wurzeln” erkundet. Eric Mandel

Christiaan Viran Christiaan Virant Zang Jhian


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Sonntag, 27. Mai 2007

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21.15 Uhr / Festivalzelt

Sidsel Endresen & Humcrush Das Phänomen Sidsel Endresen lässt sich mit gängigen musikalischen Kategorien nur unzureichend beschreiben. Treffendere Bilder finden sich im Reich der Märchen und schwarzen Künste. Die norwegische Sängerin ist eine Alchimistin, die es nicht nur versteht, der Natur ihr Geheimnis abzulauschen, sondern die den Elementen ihren Willen aufzuzwingen vermag. Das Konzert ihrer Stimmen dehnt den Raum aus. Sie singt nicht nur, sie hört tief in sich hinein. Ihre Songs offenbaren molekulare Strukturen, einander umtanzende Mikrokosmen, eine DNA der Emotionen. Wenn sie ein Ding singt, bleiben mindestens vier andere Dinge ungesungen. Es ist wie Einatmen und Ausatmen. Ein Mantra, das Ziel und Ursprung jeder Existenz verbindet. „Meine Hauptquelle ist Arbeit“, konstatiert Endresen nüchtern. „Die Arbeit mit meinen Musikern. Ich bin sehr konkret. Es gibt bestimmte Stimmungen und Bewegungen, die ich zusammenbringen muss. Wie ich das tue, verändert sich von Performance zu Performance. Ich glaube jedoch nicht, dass meine Inspiration metaphysischer Art ist.“ Hört man ihre Songs aus der Distanz, bleibt dieses Bekenntnis schwer nachvollziehbar. In einer Live-Situation hingegen wird deutlich, dass ihre vokalen Zauberformeln ungeheuer physisch sind. Da steht eine Frau, die jede Zelle ihres Körpers in Vibration versetzt und Ganzkörpergesang betreibt. „Ich bin absolut detailversessen. Dazu muss ich mich ungeheuer konzentrieren. Ich schaffe eine Zone, in der diese Details leben können, und fülle sie sparsam. Die Stille ist ein äußerst aktiver Raum, der viele Bewegungsmöglichkeiten gewährt.“ In diesem fortwährenden Dialog mit jener Urknetmasse der Stille trägt Sidsel

Endresen ihre ganz persönlichen Nuancen zur introspektiven Farbpalette der norwegischen Musik bei. Ihre Stimme ist Licht. Wenn sie improvisiert, beugt sie sich nicht den Gesetzen des Jazz, sondern steckt ihre eigenen Koordinaten ab. Deshalb war sie die kongeniale Wunschpartnerin für Ståle Storløkken, Keyboader beim norwegischen Quartett Supersilent, und Thomas Strønen, Mitgründer und Schlagzeuger der norwegisch-englischen Band Food. Als Humcrush experimentieren die beiden mit einer Synthese aus analogen und digitalen Klängen, die sie mal energetisch hoch auftürmen lassen, mal fast bis zur Stille reduzieren. In Norwegen standen Storløkken und Strønen bereits einmal mit ihrer Landsfrau auf der Bühne. In Moers trifft man das erste Mal außerhalb der Heimat aufeinander. Wolf Kampmann Foto: Ssirus W. Pakzad

Sidsel Endresen _ voc Ståle Storløkken _ keyb, electr. Thomas Strønen _ dr, electr.


Vor rund 20 Jahren war Steve Coleman einer der führenden Köpfe im New Yorker Musiker-Kollektiv M-Base, zusammen mit Greg Osby, Cassandra Wilson und anderen. Damals schon experimentierte der Altsaxofonist mit dem zu dieser Zeit noch ziemlich unbekannten Rap. Jedoch setzte er mit seiner Band Five Elements einem stur durchgehaltenen 4/4-Rhythmus ungerade Metren entgegen und brachte so den Rap aus dem Takt und dem (Tanz-)Schritt. Über dieses unter anderem auch von Funk infizierte Gebräu blies Coleman mit strahlendem, vibratolosem Ton sein Altsaxofon, kühl, klar, sprudelnd, überlegt – und überlegen. Seitdem gingen mehr als 20 Jahre ins Land, Rap und HipHop waren Big-Business für die Musikbranche – nicht nur in den USA. Coleman selbst arbeitete in dieser Zeit an einem eigenen musikalischen System, das so etwas wie eine allumfassende „Weltmusik“ darstellen sollte, oftmals aber hinter schwer verständlichen Liner notes verborgen blieb. In den 1990ern veröffentlichte er beim Major BMG seine Platten, die mit Titeln wie etwa „The Sonic Language Of Myth“ mit dazu beitrugen, Colemans Ruf als eiskalter Egomane zu bestätigen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends dann ein Bruch: Mit dem Wechsel zur französischen Independent-Firma Label Bleu erschien eine CD, deren Titel wie ein Ausrufezeichen klang: „Resistance est Futile“ (auf Deutsch: „Widerstand ist zwecklos“). Wen er mit diesem Ausruf ansprach, war nicht auszumachen, ob sich selbst oder sein Publikum oder gar seine Kritiker. Klar wurde aber mit der Musik dieses Live-Doppel-Albums, dass Coleman liegen gelassene, nicht weitergeführte Entwicklungslinien aus der eigenen Geschichte erneut aufgriff, um diese mit den gemachten Erfahrungen und aus anderen Perspektiven neu zu bearbeiten und fortzusetzen. Auch sein Projekt für das moers festival ist unter diesem Aspekt zu sehen: Der Altsaxofonist und seine Five Elements

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Sonntag, 27. Mai 2007 25

22.30 Uhr / Festivalzelt

Steve Coleman & Five Elements feat. Opus Akoben

treffen auf die Conscious-Rapper des HipHop-Kollektivs Opus Akoben aus der US-amerikanischen Hauptstadt Washington. Ein Wunschprojekt, wie Coleman gesteht. „Die Idee, beide Bands zusammenzubringen, ist seit rund drei Jahren in meinem Kopf. Ich spüre, dass die Kreativität und die Energie beider Bands zu einem ganz besonderen Ereignis führen werden“, so die Prophezeiung des Altsaxofonisten für dieses einmalige Live-Ereignis. Martin Laurentius Foto: Ssirus W. Pakzad

Steve Coleman _ as Jonathan Finlayson _ tp Tim Albright _ tb Jen Shyu _ voc Thomas Morgan _ b Tyshawn Sorey _ dr Opus Akoben: Kokayi _ voc Sub-Z _ voc Ezra Greer _ b Jay Nichols _ dr AyCE International _ dj


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Jazzthetik


Was ist Schlechtes daran, wenn ein Baby gleich mehrere Väter hat? Besser, als würde sich gar niemand dazu bekennen. Ob nun Saxofonist Hayden Chisholm oder Posaunist Nils Wogram den entscheidenden Impuls zur Zeugung gaben, ob Bassmann Matt Penman oder gar Schlagwerker Jochen Rückert Root 70 zum Laufen brachten, solche Haarspaltereien erscheinen angesichts des quietschfidelen, aus dem Erbgut von Jazz, Reggae, Latin, Funk, Bop und Hop gezeugten Bastards irgendwie völlig unerheblich. Möglicherweise verhält es sich bei den Embassadors, der logischen Fortschreibung von Root 70 und einem weiteren Gemeinschaftsprojekt im besten Sinn, genauso. Mit einem wesentlichen Unterschied: Anstatt des Kölner Elektronikers Burnt Friedman setzen nun die Streicher Claudio Bohórquez (Violoncello) und Gareth Lubbe (Viola) ihre Duftmarken in die kollektive Windel. Und Chisholm hat den noch jungen Sprössling ganz offiziell adoptiert. Um klare Verhältnisse zu schaffen. The Embassadors – das ist seine Band. Der neuseeländische Saxofonist, Klarinettist und Weltenbummler mit einer

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Vielzahl von Wohnsitzen, darunter auch Köln, kann damit endlich seine extreme Obsession für musikalische Dynamik ausleben. Nach dem geräuschvollen Maximum folgt jetzt das kaum hörbare Minimum, die Reduktion bis hin zur absoluten Stille, die kammermusikalische Variante des Balgs. Was keinesfalls bedeutet, dass es sich um ein pflegeleichtes, ein unproblematisches Kind handelt. Wer Chisholm, Wogram, Penman und Rückert kennt, der weiß, dass bei ihren spielerischen Laborversuchen noch nie glatte, beliebig austauschbare Null-Acht-Fünfzehn-Profile herauskamen. Perfekte Voraussetzungen, um ein kleines Monster zu erschaffen. Im Prinzip verkörpert es alles, was Chisholm schon immer heilig war: Sound, Emotion, Präzision und blühende Fantasie. Die Magie entsteht nicht durch die Bemühung eines Einzelnen, sondern im gesamten Ensemble. „Mich interessiert der Gruppensound und kein Solo-Scheiß mit Spannung-Höhepunkt-AuflösungsFormat“, zitiert die Jazzthetik den

32-Jährigen. Das Resultat eines tief sitzenden Kindheitstraumas aus seiner Heimatstadt Auckland, wo Dixieland und Brass Band (O-Ton Chisholm: „Der Soundtrack der Hölle“) hoch im Kurs stehen. Ein guter Grund, um zu fliehen. Zuerst ins freiwillige Exil in die Schweiz, dann nach Deutschland. Dort probierte Hayden alles aus: Literaturprogramme, ein James-Joyce-Projekt oder wie es ist, mit Deutschlands bestem Posaunisten, Nils, zu arbeiten. Er initiierte das James Choice Orchestra, engagierte sich für den Zusammenschluss bekannter Musiker der freien Improvisationsszene und fiel auf. Elf Jahre lang spukt dem „Köllschen Jung“ mit den breitem englischen Akzent nun schon die Idee mit seinen Embassadors durch den Kopf. Rhythmische Signaturen, gepaart mit klassischer Form und der Mikrotonalität von Root 70. Nicht schlecht für einen ohne musikalische Wurzeln. Ein Original, das keinen Stammbaum braucht, um sich zu reproduzieren. Reinhard Köchl Claudio Bohórquez _ vc Hayden Chisholm _ sax Gareth Lubbe _ va Matt Penman _ b Jochen Rückert _ dr Nils Wogram _ tb

14.00 Uhr / Festivalzelt

Hayden Chisholm – The Embassadors


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Montag, 28. Mai 2007

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„Garage Rock“ ist ein Genre ohne Stars, jüdischen Tradition entlehnten Massaein Produkt gequälter weißer Vorstadtda-Themen, ist dem Trio The Thing eben Teenager, die sich ihren verzweifelt sein Garage Rock. An die Stelle von unbeholfenen Reim auf den sich urban Gesang und ungelenkem Gitarrengeggebenden Rock‘n‘Roll machen. Man niedel tritt bei Mats Gustafsson (Tenornimmt die Energie des Punk und ist zuund Baritonsaxofon), Ingebrigt Håkermeist nur in den Garagen der Eltern zu Flaten (Bass) und Paal Nilssen-Love hören – oder auf liebevoll zusammenge- (Drums) ein offener Soundclash, wobei stellten „Back From The Grave“-Compi- – wie in dem berühmten Reeves/Bullocklations. Garage Rock hat aber heutzuFilm mit dem Bus – die Faustregel gilt, tage nur noch so viel mit Garagen zu nicht unter das Energielevel zu fallen, tun wie Garage House, bezeichnet aber wie es durch das Thema aufgestellt schlüssig eine auf straightes Wegrowurde. Dank dieses integrationsfreucken beschränkte Maximierung minidigen Konzepts fusionierte The Thing maler Ausdrucksmittel. Und was Albert während der vergangenen Jahre leicht Ayler sein Gospel, John Zorn seine der mit verwandten Geistern wie der Cato

entdecken die römischen „not-catagorizable punk-freejazz-headbangers-sun-rafreaks” (Selbesteinschätzung) Gebiete, die selten zuvor ein Musiker (verehrte Ausnahmekollegen wie The Minutemen oder Peter Brötzmann ausgenommen) betreten hatte. Musikalische Reiseberichte erschienen auf Labels wie Atavistic, Red Note, Frenetic und Wide und erfreuen sich bei Eingeweihten steigender Beliebtheit. Zu ihnen gehören unter anderem Mike Patton, Dälek, Melvins, Eraldo Bernocchi, The Ex, Steve Albini und Han Benninck, mit denen Zu ja immer wieder auf der Bühne und im Studio kooperieren. Intensive sonische Verschlaufungen dürfen bei dieser „Echtzeit-Battle of the Bands“ erwar-

15.15 Uhr / Festivalzelt

Zu & The Thing Zu Luca T Mai _ sax Massimo Pupillo _ b Jacopo Battaglia _ dr The Thing Mats Gustafsson _ sax Ingebrigt Håker Flaten _ b Paal Nilssen-Love _ dr

Salsa Experience und Joe McPhee, der schon vor dem Garage-Coup als Dauer-Vierter dabei war. Während bei diesen mit schöner Zuverlässigkeit vom Stammlabel Smalltown Supersound dokumentierten Gipfeltreffen nachweislich „Whole Lotta Love“ herrschte, ist die Begegnung mit der Band Zu ein noch offenes Experiment. Dem Thing steht ein identisch instrumentiertes, spiegelbildliches Power-Trio gegenüber. Irgendwo zwischen den Genregrenzen

tet werden, bewusst als Nachfolge des letztjährigen Zusammentreffens von The Thing und Raul Björkenheims Scorch konzipiert. Nur dass dieses Jahr nicht zwei siameschische Zwillingsbands, sondern offenbar gleich nach der Geburt getrennte Geschwisterkapellen erstmalig aufeinander treffen, um den gemeinsamen Stammbaum zu erkunden und abzugleichen. Eric Mandel


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Mikko Innanen _ sax Timo Lassy _ sax Seppo Kantonen _ org Joonas Riippa _ dr

„Musik ist Musik. Sie lässt sich schlecht in Staatsgrenzen zwängen“, sagt Mikko Innanen, finnischer Sopran-, Alt- und Baritonsaxofonist. Bei ihm gilt das Motto: global denken, aber lokal handeln. Denn nicht nur bei den Gruppen Delirium, Teddy Rok 7 oder Gourmet arbeitete Innanen mit einheimischen bzw. skandinavischen Musikern zusammen, sondern vor allem mit seinem Quartett Innkvisitio. Eine so eigenwillige und eigensinnige Jazzszene wie die finnische gibt es ohnehin nur wenige auf der Welt. Der Pianist und Komponist Samuli Mikkola, der in seinen Werken auf zeitgenössische Weise finnische Melancholie verströmt, die international preisgekrönte Band UStreet All Stars, der Pianist Kari Ikonen und eben Saxofonist Innanen bilden die Speerspitze einer breiten Jazzmannschaft mit profilierten Interpreten und Aktiven. Innanen, Baujahr 1978, schloss das Studium an der Jazzabteilung der einzigen Musikhochschule Finnlands,

16.30 Uhr, Festivalzelt

Mikko Innanen & Innkvisitio

Montag, 28. Mai 2007 29 der Sibelius-Akademie in Helsinki und Kuopio, mit Erfolg ab. Hervorstechend ist besonders sein kraftvoller Ansatz. Viele Bands zeichnen sich zusätzlich durch einen speziellen, oft als typisch finnisch bezeichneten Humor aus. So auch Innkvisitio, eine Formation aus Helsinki, die sich von scheinbar unwandelbaren Prinzipien lösen konnte. Denn mit einer konservativen HardbopHaltung haben sie nichts gemein. Im Gegenteil: Bei ihnen verbinden sich Lebenslust, perfektes Können und schiere Spielfreude zu einem großen, gemeinsamen Ganzen. Die beiden Saxofonisten, Innanen und Timo Lassy, stehen stets zum instrumental-technischen Duell bereit, während Schlagzeuger Joonas Riippa die Felle bearbeitet und Seppo Kantonen, der Popularität erlangte durch die Studioarbeit mit Bassist Pekka Pohjola (beispielsweise beim „Heavy Jazz“-Album von 1995), die Orgel fauchen und wimmern lässt. Mikko Innanen & Innkvisitio zeigen sich innovativen Projekten und Kompositionen immer aufgeschlossen, bleiben ständig in Bewegung, erforschen unentwegt neues Material – und sind noch lange nicht am Ende ihres künstlerischen Weges angekommen. Henrik Drüner


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Montag 28. Mai 2007

programm

17.45 Uhr / Festivalzelt

Fennesz & Mike Patton Christian Fennesz musiziert seit den frühen 1990ern am Rande, in sinnvoller Ergänzung, im Gegensatz zu oder gar nur scheinbar mit den Mitteln elektronischer Musik. Ob die nun Techno, Intelligent Techno, IDM, Minimal, Neo-Folk, Improv oder Noise genannt wurde – gewiss war Fennesz in den Plattenschränken, CD-Kolumnen, DJSets und Produktionscredits irgendwo in der Nähe davon, ohne jedoch als Autor unter einem der Begriffe fixierbar gewesen zu sein. Dabei ist sein eigentliches Hauptinstrument die seinerzeit für tot erklärte Gitarre. Mit ihr bildet der Wiener am liebsten Melodien, Riffs, Umkehrungen und Harmonisierungen, die im Verbund mit sorgsam verfugten Drones, Rhythmen und Zwischenfrequenzen klingen und klirren und damit den verheißungsvoll dröhnenden Twang der Yardbirds und der Rolling Stones und vor allem aber der Beach Boys heraufbeschwören.

Fennesz gehörte neben Derek Baily zu den Gitarristen auf David Sylvians „Blemish”, kooperierte mit Ryuchi Sakamoto und spielte freie Sets mit Jim O‘Rourke und Thomas Rehberg, wobei er je nach Laune mal als Gitarrist, mal als Softwarer-Operator im Einsatz war. Seine Solo-Alben, etwa „Endless Summer“ und „Venice“, sind rare Beispiele für ein Gitarrenspiel, das buchstäblich entlang den exponentiell steigenden Möglichkeiten der elektronischen Klangmanipulation mutiert, ohne jedoch den Soul zu verlieren. Insofern lässt sich die Brücke zu seinem Partner bei dieser Europapremiere schlagen. Selbiges kann nämlich auch für Mike Pattons Stimme gelten. Wie etwa bei Diamanda Galas oder David Moss ist dessen Organ gleichermaßen persönliche Soundsignatur wie unendlich erweiterbares Klangfeld. Der feine Unterschied zu Fennesz: Patton kommt vom Metal. Nach Chart-Hits mit Faith No More war es ausgerechnet John Zorn, der dessen offensichtlich unterforderte Hyperaktivität in geregelte Bahnen lenkte. Sein Coming out als Avantgardist hatte der Sänger mit seiner Rolle in dessen „Elegy” für Jean Genet. Seitdem hat Patton das Prinzip Metal mit Bands wie Fantomas, Mr. Bungle und Peeping Tom zur ständig erweiterbaren Kampfzone erklärt, produziert Solo-Alben und spielt mit zahlreichen improvisierenden und andere, extrem musizierenden Kollegen zusammen. Ergebnisse liegen auf diversen Labels vor, von Tzadik bis Warner Brothers (!), in letzter Zeit aber vor allem auf seinem eigenen Imprint Ipecac. Hier veröffentlicht er neben seinen Projekten ohne stilistische Einschränkung weitere musikalische Grenz- und Extremfälle, Klangcarambolagen und „Nah-Tod-Erfahrungen” – und dann auch noch die Sorte von HipHop, für den kein anderes Label den rechten Mumm hat. Eric Mandel Christian Fennesz _ electr Mike Patton _ voc, electr


1979, als Hiromi Uehara in Hamamatsu, einer japanischen Stadt in der Präfektur Shizuoka, das Licht der Welt erblickte, erreichte das Genre, in dem sie sich auf ihrem neuen Album „Time Control“ lustvoll austobt, gerade die Spitze seiner Popularitätskurve: Fusion. Mit ihrer lockeren, unbekümmerten, humorvollen Art hat die Wahl-New-Yorkerin jüngst eine totgesagte Stilrichtung wieder belebt. Hiromi gönnt ihrem Publikum eine detailreiche Saft- und Kraftvariante des Jazz Rock. Ohne Unterlass wirbelt das zarte Persönchen, das einerseits irgendwie hyperaktiv wirkt und sich anderseits ziemlich gut unter Kontrolle hat, durch zum Bersten gefüllte Eigenkompositionen, in der Haken schlagende Themen querfeldein stürmen, sich reiche ornamentierte Motive durch all die vielen Breaks winden. Hiromis Quartett Sonicbloom rockt los, erlaubt sich kurze swingende Zwischenspurts und tänzelt funky. Die Chefin erinnert in ihren pointierten Piano-Soli manchmal an ihren Mentor Ahmad Jamal. Aber sie lässt auch den Synthie zwitschern, jaulen und sirren. Mit dem Gitarristen David „Fuze“ Fiuczynski (unter anderem Screaming Headless Torsos, Lunar Crash, Meshell Ndegeocello) liefert sie sich dann sogar Keyboard-GitarrenDuelle – so etwas bekommt man sonst kaum noch zu hören. In Nummern wie „Time Out“ entwickelt der in Deutschland aufgewachsene Amerikaner am bundlosen Instrument gar vokale Qualitäten – er lässt seine Gitarre laut auflachen, schnattern oder aufgeregt parlieren. Seine Doughnut-Geberin Hiromi, die mit sechs Jahren ersten Klavierunterricht bekam und mit acht von ihrer Lehrerin an den Jazz herangeführt wurde, musste sich lange damit herumplagen, als Wunderkind betrachtet zu werden. Sie hat die an sie gerichteten Erwartungen aber gut verdaut. Mit zwölf trat sie regelmäßig öffentlich auf, als 14-Jährige teilte sie mit philharmonischen Orchestern die Bühne. Mit 17 wurde sie durch eine Begegnung mit

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dem Pianisten Chick Corea geprägt. Schon in Teenagerjahren besaß Hiromi Uehara eine solch ausgeprägte musikalische Autorität, dass man die noch nicht Volljährige sogar Werbe-Jingles für die ganz Großen der japanischen Industrie schreiben ließ. Statt abzuheben entschloss sich Hiromi, ihrer bereits genossenen Ausbildung noch einen draufzusatteln und schrieb sich am Berklee College Of Music in Boston ein. Noch während ihres Studiums konnte sie einen Deal beim Telarc-Label landen. Auf ihren bisherigen vier Veröffentlichungen (ihr Debüt „Another Mind“ von 2003 erreichte in Japan binnen kurzer Zeit Goldstatus) zeigt sich, dass sich Hiromi nicht eingrenzen lässt. Ihr Repertoire reicht von straight swingendem Jazz bis zu ihrem aktuellen Jazz Rock alter Schule. Ssirus W. Pakzad Foto: Frank Capri Hiromi _ p David Fiuczynski _ g Tony Grey _ b Martin Valihora _ dr

19.00 Uhr / Festivalzelt

Hiromi


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programm

the night Freitag, 25. Mai 2007

Einlass: 21.30 Uhr Ein neuer Ort für „the night“: Beginn DJ Set: 22.00 Uhr Der Konzertsaal im Souterrain Live: 23.00 Uhr des Hotels Van der Valk gleich Ort: Hotel Van der Valk am Rand des Moerser FreizeitDJs: Ancient Astronauts (Switchstance parks ist in den drei Nächten von Freitag bis Sonntag das Venue für Recordings)

tanzbare, funk-infizierte Grooves und clubtaugliche CrossoverSounds.

Antibalas Das multi-ethnische Afrobeat-Monster mit zwölf Köpfen aus Brooklyn in New York hat eine ordentliche Portion Latin, Jazz, Funk und Soul gefrühstückt. Antibalas (spanisch für „kugelsicher“) glückt das seltene Kunststück, das Publikum mit guter Laune zu infizieren, ohne aber den politischen Anspruch zu verlieren. Mit langweiligen Retro-Sounds hat Antibalas nichts zu schaffen. Auf einem soliden Afro-Beat-Fundament gibt es hin und wieder elektronische Spielereien und überraschende Klangexperimente: So ist auf dem aktuellen Album „Security“ auch ein Hackbrett-Solo zu hören. Götz Bühler: „Selten klang Fela Kutis geistiges und musikalisches Erbe selbstbewusster, soundspielerischer und schweißtreibender.“

Amayo _ voc, perc Aaron Johnson _ tp Victor Axelrod _ keyb Jordan McLean _ tp Eric Biondo _ tp Nick Movshon _ b Stuart Bogie _ sax Luke O‘Malley _ g Marcus Farrar _ shekere Martin Perna _ bs Marcos Garcia _ g Chris Vatalaro _ dr


programm

Samstag, 26. Mai 2007

Sonntag, 27. Mai 2007

Einlass: 22.30 Uhr Beginn DJ Set: 23.00 Uhr Live: 24.00 Uhr

Einlass: 22.30 Uhr Beginn DJ Set: 23.00 Uhr Live: 24.00 Uhr

Ort: Hotel Van der Valk DJs: Ancient Astronauts (Switchstance Recordings)

Ort: Hotel Van der Valk DJs: Soul Buddies

Berimbrown 2007 feiert Berimbrown 10. Jubiläum: Als Ausweg aus den Elendsvierteln ihrer Heimatstadt Belo Horizonte in Brasilien entdeckten die neun Bandmitglieder 1997 u.a. die Kampftänze Capueira und Maculele. Rasch entwickelten sie daraus ihre mitreißende Bühnenshow, wie sie bis heute das Markenzeichen dieses Kollektivs ist. Rock, Funk und Soul USamerikanischer Prägung stehen gleichberechtigt neben den unterschiedlichen Spielarten moderner populärer Musik aus Brasilien. Die Herkunft aus den Favelas hat man bei Berimbrown aber nicht vergessen: In ihren kompromisslosen Texten bringt man den alltäglichen, harten Überlebenskampf in den Großstädten Brasiliens zur Sprache und gibt zudem den Jugendlichen mit Workshops und sozialpolitischen Projekten eine Zukunftsperspektive.

Brooklyn Funk Essentials 1993 rief der Produzent Arthur Baker die Brooklyn Funk Essentials ins Leben. Rasch wurde dieses Acid-Jazz-Kollektiv zu einer festen Größe in der New Yorker Jazz- und Slam-Poetry-Szene, und mit der Version des Pharoah-Sanders-Klassikers „The Creator Has A Masterplan“ konnte man sogar einen veritablen Underground-Hit landen. Mit wechselnden Besetzungen und stets offen für Gastauftritte bekannterer und unbekannterer Musiker verfeinerten sie im Laufe der Jahre ihre eh schon besondere und eigenwillige Form des Funk dann auch noch mit Reggae, Latin, Dub, House und HipHop. Nachdem es Anfang des neuen Jahrzehnts ruhig um die Brooklyn Funk Essentials geworden war, feierten sie im vergangenen Jahr mit der CD „In The Buzz Bag“ ein furioses Comeback.

Tom Nascimento _ voc, g Berico _ voc, g Ronilson _ b, dr Buda _ dr Marconi _ dr, perc Adriano George _ voc, tp Léo Brasilino _ voc, tb DJ A Coisa (The Thing) _ pickups; Master Negoative _ berimbau, perc, voc

Papa Dee _ voc Everton Sylvester _ voc Desmond Foster _ voc, b, g Hanifah Walidah _ voc, comp Lati Kronlund _ b, g, keyb Iwan Van Hetten _ keyb, tp, voc Yancy Drew Lambert _ dr, voc Ziggy Zerang _ sound Philippe Monrose _ dr, perc

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Ancient Astronauts Tom Strauch und Kabanjak sind das DJ-Team Ancient Astronauts vom Label Switchstance Recordings aus Moers. Diese beiden versierten DJs und Produzenten sind bekannt dafür, jede Tanzfläche im Griff zu haben und zu rocken. Sie zeichnen sich durch eine stilsichere Selektion tanzbarer Perlen aus Raw Funk, Afro, HipHop, Reggae und Modern Dopebeats aus.

In Kooperation mit dem Hotel Van der Valk, Krefelder Straße 169, 47447 Moers


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Ich möchte in einer Gesellschaft »leben, in der kein Mensch,

egal ob Muslim oder Christ, Angst haben muss.

«

(M. P. aus Püttlingen)

In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Geben Sie uns Ihre Antwort im Internet:

Unabhängig. Nichtkommerziell.

EINE INITIATIVE DER


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concerts in the dark Konzeption & Programm: Gunda Gottschalk

Nachdem 2006 der Saxofonist und Klarinettist Eckard Koltermann die „concerts in the dark“ verantwortet hatte, ist in diesem Jahr die Wuppertaler Geigerin Gunda Gottschalk die Kuratorin für diese dreitägige Konzertreihe im Dunkelzelt. Gottschalk: „Das Dunkelzelt verstehe ich als einen besonderen Ort der Begegnung. Hier kommunizieren Musiker in der freien Improvisation miteinander. Manche von ihnen treffen sich hier im Dunkeln zum ersten Mal. Das Publikum hört live Musik, ohne die Musiker zu sehen. Das Erspüren und Ertasten der Klänge, die Suche und das gegenseitige Finden wird gleicherma-

ßen von Ausübenden wie Rezipienten erfahren. Gibt es hier Momente der Irritation, so sind sie gewollt. Denn nur bei Verzicht auf eine vorgefertigte Gewohnheit kommen wir zu neuer Erfahrung. Ich habe in diesem Jahr an zwei Tagen Musik mit Lichtkunst kombiniert – nicht, um das Moment des Dunkelseins aufzuheben, sondern, um Dunkelheit für sehende Menschen immer wieder neu hervorzurufen. Die Ästhetik der Lichtkünstler ermöglicht es den Zuhörenden, visuelle Erfahrung von der Hörerfahrung

abzukoppeln und zu einem intensiveren Zu-Hören zu gelangen. Ich hoffe, dass Situationen entstehen, in denen sich Menschen miteinander austauschen können: Vielleicht hat sich ein Passant gerade von dem klingenden Schuhputzer Marc Rijmenants aus Belgien vor dem Zelt die Schuhe putzen lassen und kommt dabei ins Gespräch über Musik, Wahrnehmung und Weltanschauung.“

Der klingende Schuhputzstuhl

Helios Streichquartett

Phil Wachsmann & Martin Blume

Samstag, 26. Mai 2007

Sonntag, 27. Mai 2007

Montag, 28. Mai 2007

Dunkelzelt 16 Uhr – Session: Phil Wachsmann _ v Martin Blume _ dr Andrea Keller _ p 19 Uhr – Konzert: Phil Wachsmann _ v Martin Blume _ dr

Dunkelzelt 16 Uhr – Session: Helios Streichquartett & Eckard Koltermann Quartett 19 Uhr – Konzert: Helios Streichquartett feat. Terry Jenoure _ v Sebastian Gramss _ b Wasiliki Noulesa _ video

Dunkelzelt / Schloss 17 & 19 Uhr – Konzert: Carl Ludwig Hübsch _ tu Michael Vorfeld _ light performance

In Zusammenarbeit mit der Aktion Mensch und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband.


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the morning 26. Mai, 27. Mai & 28. Mai 2007, 11.00 – 13.00 Uhr, Tribera*

Während im vergangenen Jahr Musiker aus Beirut, Wien und dem Rheinland bei den morgendlichen Projekten zu Gast waren, ist die Wahl für Pfingsten 2007 auf die Städte Peking, Trondheim und Oslo sowie Köln und Berlin gefallen. In allen nur denkbaren Besetzungen, ergänzt und erweitert durch Kollegen aus dem Hauptprogramm (etwa Zhang Jian und Christiaan Virant von FM3 oder die Wiener Musiker von Oral Beats) entstehen Begegnungen, denen die besondere Magie des ersten Zusammentreffens innewohnt.

8gg Matthias Muche

Peking

Hintergrund der chinesischen Künstler sind das Label Sub Jam und die Plattenfirma Kwan Yin Records (gegründet von Yan Jun), die zusammen in Peking eine innovative Plattform für experimentelle, improvisierende Musiker bilden. Als Projekt „Tie Guan Yin“ (Guan Yin ist in Asien nicht nur der Name des populärsten Buddhas, sondern ins Deutsche übersetzt bedeutet „guan“ soviel wie „beobachten, sehen“ und „yin“ „Klang, Information“) präsentieren sich die Musiker und Medienkünstler auf dem moers festival in unterschiedlichen Kombinationen als ein „elektro-akustisches Improvisationsensemble“, mit dem digitale und analoge, abstrakte und musikalische Klänge verschmolzen werden. Wu Na _ ghu zheng „8gg“ Fu Yu & Jia Haiqing _ electr, visuals Yan Jun _ electr Shenggy _ dr

Kim Myhr

Köln/Berlin

Trondheim/Oslo

Die sechs norwegischen Musiker stammen aus dem Umfeld des Fri Resonans Festivals in Trondheim. Sie legen großen Wert auf einen offenen Umgang mit Klängen und lieben anspruchsvolle Strukturen – wie alle norwegischen Musiker. Als Vertreter einer jungen Generation repräsentieren sie zudem eine neue Spielart improvisierter Musik in Norwegen.

Klaus Holm _ as, cl Kim Myhr _ g Martin Taxt _ tu Lars Myrvoll _ electr Eivind Lønning _ tp Espen Reinertsen _ ts, fl

Sechs Musiker aus Köln und Berlin stehen für die beiden Kreativzentren der improvisierten Musik in Deutschland. Sven Hahne und Matthias Muche verfolgen als Gründer der Kölner FRISCHZELLE vergleichbare interdisziplinäre Arbeitsmethoden wie die Gäste aus China und Norwegen. Auch hier kommen Künstler mit unterschiedlichen Hintergründen zusammen und definieren neue Ausdrucksmöglichkeiten in der Symbiose von akustischen und elektronischen Klangerzeugungen und visueller Kunst. Eric Schaefer _ dr Clayton Thomas _ b Carl Ludwig Hübsch _ tu Axel Dörner _ tp Matthias Muche _ tb Sven Hahne _ electr


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midnight specials

26. Mai & 27. Mai 2007

24 Uhr, Schlosstheater Moers Billie Holiday Lady Sings The Blues Regie: Urich Greb Musikalische Leitung: Tim Isfort Dramaturgie: Erpho Bell Mit: Eva Müller Als Mitternachtsspecial zum mœrs festival wird an zwei Abenden die erfolgreiche Inszenierung „Billie Holiday – Lady Sings The Blues“ von Ulrich Greb aufgeführt. Als Jazzsängerin ist Billie Holiday (1915-1959) längst eine Legende, in deren unvergesslicher Stimme sich stets die Essenz des Jazz widerspiegelt. Als Kind mit Armut, Vergewaltigung, Prostitution und Tod konfrontiert, verarbeitet – und verdrängt – sie später als erwachsene Frau und Künstlerin diese schmerzhaften und schweren Traumata ihrer Kindheit und Jugend – mit ihrer Musik, dem Jazz, aber auch mit Drogen und Alkohol. Die enge Verbindung der Musik mit ihrer Biografie führt sie in ein Leben voller Extreme. „Man hat mir gesagt, dass niemand das Wort ‚Hunger‘ so singt wie ich. Genauso wie das Wort ‚Liebe‘. Vielleicht liegt das daran, dass ich weiß, was diese Worte beinhalten. Vielleicht liegt das daran, dass ich stolz genug bin, mich erinnern zu wollen.“ Eine Produktion des Schlosstheaters Moers

25. Mai, 26. Mai & 27. Mai 2007

24 Uhr, Die Röhre Denis Gäbel Band & Guests Der in Köln lebende Saxofonist Denis Gäbel brachte im letzten Jahr seine erste CD unter eigenem Namen heraus. „Keep On Rollin’“ ist ein ganz besonderes, ein sehr persönliches Tribut an einen der ganz großen Helden des Jazz: Sonny Rollins. Mark Soskin (selbst für mehr als 15 Jahre Pianist in Rollins’ verschiedenen Bands gewesen) lobt die respektvolle, innovative Art und Weise, wie Denis Gäbel mit der vielgestaltigen Musik des „Saxophone Collossus“ umzugehen versteht. Und Laurence Donohue-Greene vom New Yorker Jazzmagazin All About Jazz schrieb enthusiastisch über „Keep On Rollin’“: „What a fantastic tribute to Sonny Rollins, an a very personal one at that!“ Mit Überraschungsgästen von der Bühne im Festivalzelt. Denis Gäbel _ sax Pablo Held _ p Matthias Nowak _ b Jonas Burgwinkel _ dr


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Preface Improvisierte, aktuelle Musik ist universell. Es gibt sie überall auf der Welt. Und spätestens seit dem vollständigen Einzug des Internet in unseren Alltag wissen alle alles von den anderen - und das in Lichtgeschwindigkeit. Schleusen, Filter, Einschränkungen aller Art existieren nicht mehr. Musik verbreitet sich ungezügelt und ungebremst. Doch leider geschieht dies oft zufällig und ohne erkennbaren Zusammenhang. Dem Anspruch des moers festival, eine Momentaufnahme dessen zu zeigen, was überall auf der Welt an aktueller, improvisierter Musik passiert, möchten wir auch in diesem Magazin in Auszügen gerecht werden. So stellten wir uns die Fragen, welchen Stellenwert improvisierte Musik für das Kulturleben in China besitzt? Was ist los in „down under“? Welche Relevanz hat ein Musikereignis wie das jährlich im Frühling ausgetragene „Festival International de Musique Actuelle de Victoriaville“ für Nordamerika? Es gibt auch „musikalisches“ zu lesen – Anthony Braxton etwa, oder sein Landsmann Steve Coleman. Für das moers festival ist das übrigens nichts Neues, wie man am Schluss dieser Ausgabe nachlesen kann: Schon vor 30 Jahre wurde das, was auf der Bühne und rund um das „Internationale New Jazz Festival Moers“ passierte, im Programmheft reflektiert. So machte sich Dr. Wolfgang Biesterfeld schon 1977 seine Gedanken zum Begriff des „Neuen“. Ein zeitloser Artikel, der nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Die Redaktion


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Anthony Braxton Dreifaltigkeit

Anthony Braxton ist wichtiger Bestandteil der Geschichte des moers festival. In den fünf Jahren von 1974 bis ’78 war er jedes Mal entweder als Solist oder mit verschiedenen Besetzungen in Moers zu hören: Er gehörte zu den Künstlern, die entscheidend den Ruf dieses Festivals als innovative Plattform für improvisierte Musik festigten. Seine „Rückkehr“ nach fast 30 Jahren ist ein besonderes Ereignis. Foto: Karin Hyzdal von Miserony (1977)


Anthony Braxton ist nicht nur Musiker und Komponist. Vielmehr ist er ein Musiktheoretiker und Philosoph, der ein hochkompliziertes und anspruchsvolles System entwickelt hat, das aber kein logisch strukturiertes Regelwerk darstellt. Eher beschreibt es einen Raum, der nach allen Seiten offen ist und sich ständig verändert und erneuert. Im Gespräch mit dem Journalisten und Musikwissenschaftler Peter Niklas Wilson erläuterte Braxton sein System. Denn schon damals, 1987, lag es in mehreren Schriften vor – wie beispielsweise in den rund 1.700 Seiten starken „Tri-Axium Writings“. Die Arbeiten an diesen Schriften begann Braxton 1973, ein Jahr bevor er zum ersten Mal in Moers auftrat, und sie dauerten bis in die erste Hälfte der 1980er. „Mein Interesse gilt der Welt der Musik und der Dynamik klanglicher Logiken, so wie sie von der Antike bis zur Gegenwart definiert wurden“, stellte Braxton schon vor 20 Jahren fest. Diese „Dynamik klanglicher Logiken“ ermöglicht es, die von ihm entwickelten zwölf Klassen seiner Musik beinahe unendlich oft miteinander zu kombinieren oder gar mit verschieden großen Besetzungen aufzuführen, ohne dass die grundlegenden Prinzipien seiner Musik in Frage gestellt werden. Die folgenden, unkommentierten Zitate aus drei Interviews, die Braxton in den Jahren 1971, ’79 und ’87 gegeben hat, lassen Einblicke in seine (musikästhetische) Philosophie zu und zeichnen die Entwicklung nach, die diese Philosophie, aber auch der Musiker und Komponist, der Theoretiker und Mensch Anthony Braxton in diesen 16 Jahren genommen hat. Anschließend wirft Wolf Kampmann einen Blick auf Braxtons Werk aus heutiger Sicht – und zeigt, dass Braxton nicht alleine steht: Auch sein elf Jahre jüngerer Landsmann Steve Co-

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leman, übrigens wie Braxton in Chicago geboren, hat ein musikalisches Systems und eine eigene Sprache entwickelt.

„Neue“ Musik Es gibt keine neue Musik ohne eine neue Realität. Und wenn eine neue Realität eingetreten ist, so muss die Musik dieser neuen Realität nicht „neu“, sondern sinnvoll auf diese Realität bezogen sein. Ich habe mich zur wissenschaftlichen Untersuchung der Musik entschlossen, um die magische Bedeutung und die umgestalteten Möglichkeiten kreativer Techniken zu erkunden. **

Kreativität & Gesellschaft Wir wissen, wen und was die neue Kunst repräsentiert, wenn sie überall Gehör finden kann. Sie wird zu einer Bedrohung bestehender Werte, sie kann neue Dimensionen schaffen und die Leute dazu bringen, das Bestehende zu verändern. Das ist gefährlich für die, die in einem Wechsel keinen Fortschritt sehen. *

Wenn man über Kreativität spricht, dann spricht man über Menschen. Man muss dahin kommen, dass man die Kreativität eines Menschen anerkennt, ohne gleich Werturteile darüber zu fällen. Auch mein Konzept „bedeutender“ Kreativität ist irrelevant. Erstes und letztes Rezeptionskriterium muss sein, die Kreativität einer Person zu akzeptieren. ** Ich sehe mein Schaffen als mit der Kreativität der ganzen Erde verbunden. Und wenn ich von globaler Kreativität rede, dann beziehe ich mich darauf, was ich das Kontinuum transafrikanischer Evolution nenne, das Kontinuum transeuropäischer Evolution und das Kontinuum der transasiatischen Evolution. ***

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Disziplin & Ordnung Ich glaube, dass die Zeit kommen wird, in der die Bedeutung von Disziplin, Ordnung und musikalischen Regeln wieder erkannt wird. Das hängt natürlich von den Interessen der einzelnen Individuen ab. Ich selbst bin sehr an Ordnung interessiert, und ich beabsichtige, darin fortzufahren. Ich bin auf der Suche nach der zugrunde liegenden Basis, welche den tieferen Sinn einer gegebenen Sprache oder geordneten Gruppe bestimmt. **

Philosophie & System Gegenwärtig sind die ersten drei Bücher der „Tri-Axium Writings“, die mein philosophisches System darstellen, schon erschienen. Ich erwähne dies deshalb, weil ich meine Musik sehr methodisch angegangen bin, und daher bin ich seit etwa fünf Jahren in der Lage, von meinem musikalischen System zu sprechen, also nicht nur von einzelnen Kompositionen. Das heißt, ich betrachte meine Musik als additives musikalisches System, und das bedeutet, dass ich die ästhetische Vorstellung habe, all diese Musik sich simultan ereignen zu lassen. *** Ich wollte also das nehmen, was ich von den Europäern lernte und dies auf die neue Situation anwenden, die sich in den Sechzigern eröffnet hatte: Die Bebop-Strukturen waren so erweitert worden, dass wir uns schließlich bis zur völlig freien Improvisation bewegt hatten. Ich persönlich fand freie Improvisation interessant und auch notwendig, aber sie genügte mir nicht. Warum? Weil mir auffiel, dass, wenn man ohne Noten, ohne Regeln spielt, das schließlich unweigerlich genauso einengend wird wie Bebop oder traditionell notierte Musik. ***

* Robert Levin, „Anthony Braxton und die dritte Garde des Free Jazz“, in: Jazzpodium, April 1971 ** Guido Gazzoli, „Anthony Braxton – Ein alternatives Herangehen“, in: Jazz Forum (deutsche Ausgabe), Juni 1979 *** Peter Niklas Wilson, „Braxton, der Universalist“, in: Jazzthetik, August 1987


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Das Konzept des „Conceptual Grafting“ heißt: Man isoliert Spielstrategien, Logiken, intervallische Logiken, Logiken für gehaltene Klänge, pointilistische Logiken usw. Und davon ausgehend integriere ich diese Materialien in einen breiteren Kontext, den ich nun „Language Music“ nenne. Dies ist die erste Klasse meiner Musik und liefert das Material für das ganze System. Ich habe mich sehr bemüht, die Entwicklung meines Werks genau zu dokumentieren, denn das Konzept existentieller Freiheit als solche hat mich nie interessiert. Mich interessiert die Freiheit, nach neuen Arten von Kontrolle zu suchen! Das ist also, was es mit „Conceptual Grafting“ auf sich hat. Es war der Anfang der Isolation – der Isolation musikalischer Materialien.***

...Logik & Musik Jeder Bereich des Universums hat eine bestimmte Logik, eine bestimmte Seinsweise, aber seine umfassendere Bedeutung liegt doch im Zusammenhang des Ganzen. Und genau das ist, was ich will. Ich möchte eine Mikrokorrespondenz, eine Makrokorrespondenz und eine spirituelle Korrespondenz. Die Dreizahl ist wesentlich für meine Musik.***

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Anthony Braxton ...nicht weniger, als die Welt verändern

Auffällig ist Anthony Braxtons Konzentration auf kleine und größere Kreisläufe. Der Bandname Circle ist nur ein Beleg dafür. Jede seiner Kompositionen beschreibt einen Kreis und seine künstlerischen Perioden nennt er Zyklus. Sein Gesamtwerk beschreibt jedoch eher einen Puls, bei dem jede Glücklich, wer dem Meister hier noch Äußerung auf die jeweils nächste folgen kann. Fast wollte man meinen, hinausläuft. „Gegen 1968/69 fand ich er will gar nicht verstanden werden, die Komponenten meines Systems. Es solange sein System in sich stimmt. reichte nicht aus, mich einfach in die Doch dann bezieht er den Hörer in seine Nachfolge von Ornette Coleman oder Überlegungen ein und langsam beginnt Anton Webern zu begeben. Ich schuf man zu begreifen, worum es ihm geht. einen neuen Satz aus zwölf Bausteinen. „Zukünftig werden die Hörer nicht mehr Damals wollte ich ein Modell errichten, in Sesseln sitzen, um Musikern auf das meine Einflüsse derart kombinieren der Bühne zuzuhören. Die Separierung würde, dass für mich selbst etwas von Musik und Mensch wird auslaufen. Relevantes entsteht, etwas, das auf die Dabei können auch virtuelle Erfahtechnologischen Herausforderungen der rungen eine Rolle spielen. Events von Zeit reagiert. Ein holistisches Modell, verschiedenen Plätzen der Welt können das ich ‚tricentric thought unit offeverbunden werden. Das Potential der ring‘ nenne. Ich wollte verschiedene kreativen und evolutionären VerändeVokabularien, Syntaxen, Hieroglyphen, rungen ist gewaltig. Die Kräfte, die in narrative Logiken, Farben, Bewegungen, diese Richtung arbeiten, sind bislang strukturelle Dynamiken und Symbole in noch verborgen. In meinem System einheitliche Systeme integrieren.“ steht jede Komposition in Verbindung


mit jeder anderen und ist von originärer Identität. Wenn ich ein Stück für Streichquartett schreibe, kann es auch von jeder anderen Instrumentierung aufgeführt werden. Jede Komponente einer Komposition kann herausgelöst und in einer anderen Komposition untergebracht werden. Ich bin weder an Freiheit noch an Nicht-Freiheit interessiert, sondern daran, Dinge auf der Basis meiner Bedürfnisse des jeweiligen Moments zu kombinieren. Meine Arbeit war niemals eine Zurückweisung der Tradition, sondern deren Bestätigung. Ich habe stets versucht, in meiner Musik Spaß zu haben. Das Bekannte, Unbekannte und Intuitive durchdringen einander. Ich zelebriere das Wunder Europas im Kontext der Errungenschaften Asiens und Afrikas. Meine Musik ist rational, meditativ und intuitiv im Sinne Hildegard von Bingens.“ Seit einigen Jahren erscheint Braxtons Musik zugänglicher als in der Vergangenheit. Jedoch anders als bei vielen Altjazzern, die im Alter eben jene Widerstände vermeiden, die sie in ihrer Jugend gerade gesucht haben, ist seine „Ghost Trance Music“ die bewusste Weiterentwicklung seiner vorherigen Konzepte. Auf diesem Weg informierte sich Braxton weder bei den amerikanischen Improvisatoren noch bei den

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europäischen Komponisten, sondern bei den nordamerikanischen Ureinwohnern. Vor etwa zwölf Jahren kam er an den Punkt, an dem er die zwölf Bestandteile seiner Musik überdenken musste. „Ich besuchte Kurse über die Musik der Indianer und begann mich immer mehr für Trance Music zu interessieren. Statt Intellektualismus oder Emotionalismus interessierte mich Spiritualismus als Komponente, die meine Beziehung mit mir selbst und meiner Hoffnung auf eine transzendente Erfahrung vereint. Die Entwicklung der ‚Ghost Trance Music‘ setzte nach dem Studium der Musik der Indianer ein. Ich studierte persische und afrikanische Trance-Musik sowie gregorianische Choräle. Mein Prototyp ist ein kontinuierliches Statement ohne Anfang und Ende. Eine Melodie, die transtemporal und transidiomatisch ist. Wie bei Bach ist Improvisation die Grundlage jedes Ausdrucks in meiner Musik. Am Ende entsteht eine Musik, die weder improvisiert noch notiert,

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aber zugleich beides und in jedem Fall rituell ist.“ Braxton geht seit Anbeginn ganz eigene Wege im oft bemühten Koordinatensystem von Improvisation und Komposition. Eine Trennung zwischen Improvisation und Komposition hat er niemals vorgenommen. Das gelangte ihm nicht nur zum Vorteil. Wenn er sein Bezugssystem definiert, klingt er gleichermaßen kampfentschlossen wie verbittert. „30 Jahre lang habe ich darum gekämpft, meine Arbeit aufführen zu können. Damit ist jetzt Schluss. Keine Bettelei mehr. In Amerika wird immer noch bezweifelt, dass Europa überhaupt einen Anteil am Jazz habe. Die Neokonservativen leugnen sogar den Beitrag der Euroamerikaner und wollen den Jazz allein den Afroamerikanern zuschreiben. Ich bin froh, dass es Europa gibt, denn ohne das Interesse der Europäer an meiner Musik hätte ich definitiv keine Laufbahn gehabt. Dennoch ist es so gut wie unmöglich, im europäischen Musikbetrieb als Afroamerikaner Fuß zu fassen. In Amerika muss man sich hingegen den Spielregeln der neoklasisschen Jazz-Gemeinde beugen. Ich habe kein Interesse daran, alle zehn Jahre mal ein Orchester-Stück in Amerika aufführen zu dürfen, wozu dann ein Haufen Leute in schwarzen Anzügen erscheinen. Ich will mit meiner Musik nicht weniger als die Welt verändern. Ein neues Universum schaffen. Ich gebe mich nicht mit einer Position in der hinteren Reihe zufrieden. Deshalb ist es bequemer, mich komplett zu ignorieren.“ Wolf Kampmann Fotos: Ssirus W. Pakzad


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Steve Colemann

Ohne Worte

Über viele Jahre versuchte Steve Coleman, sein Werk, seine Ästhetik und Philosophie mit teils kryptischen Schriften zu erklären. Bis er entdeckte, dass Musik als Sprache ausreicht. Foto: Ssirus W. Pakzad


Nur wenige Jazzmusiker haben in den letzten 20 Jahren eine so beeindruckende künstlerische Kurve beschrieben wie der Saxofonist Steve Coleman. Es scheint noch gar nicht so lange her, da war er der Vorzeige-Hipster der so genannten M-Base-Szene von New York, die den Jazz aus ihrem Dauerantagonismus zwischen Pop und Avantgarde herauslösen sollte. Coleman war schon immer ein sperriger Typ. Doch im Lauf der Jahre wurde seine Musik nicht nur immer abstrakter, sondern der ideologische, philosophische und esoterische Überbau seiner Kompositionen wurde immer gewaltiger. Er selbst begann lange Pamphlete zu seiner Musik zu verfassen. Jeder Ton, jeder Partikel einer Improvisation, jede musikalische Konstellation wurde Bestandteil einer immergültigen Wahrheit, die uns normal Sterblichen nur in winzigen Dosen offenbart wird. Doch Coleman fühlt sich weniger als Missionar, sondern eher als wortloser Überbringer. „Der generelle Kontext dessen, was ich sage, kann zwar verstanden werden, aber es sind doch hauptsächlich Schwingungen, die von meinem Spiel ausgehen. Vibrationen kann man fühlen, nicht verstehen. Man muss nichts über Ägypten wissen, wenn man ein Gefühl äußern oder verinnerlichen will.“ Nun wird Jazz landläufig eher selten als Soundtrack zu den Pyramiden wahrgenommen und über die Improvisationsfähigkeit der alten Ägypter wissen wir herzlich wenig. Musikalisch oder verbal – Coleman liebt es, in Orakeln zu sprechen. In seinem unablässig expandierenden System machen sie stets Sinn. Ob sie hingegen die Distanz zum Hörer verkürzen, mag dahingestellt sein. Umso überraschender, dass Coleman seine Musik bei aller Verschlüsselung immer noch als Sprache versteht. „Du kannst dich mit jemandem hinsetzen und über ganz unterschiedliche Dinge unterhalten. Das können große oder kleine Dinge sein. Ein Fußballspiel oder die tiefen Dinge des Lebens. Das

magazin Gespräch entwickelt sich, je nachdem, was du mit dem oder den anderen zu besprechen hast. Woher kommen jedoch deine Gedanken? Dieselbe Frage stellt sich in der Musik. Es ist eine Sprache. Wenn ich das Saxofon ansetze, muss ich nicht mehr über die Sprache nachdenken. Die Gedanken kommen von selbst. Ich muss nicht darüber nachdenken, ob ich Adjektive, Verben oder Nomen benutze. Die Sprache ist nur ein Mittel, um Ideen zu kommunizieren. Die Worte sind eine Reflexion der Ideen. Sie sind einfach da. So ist es mit der Musik. Man übt so lange, bis es natürlich wird. Es ist ein natürlicher Fluss.“ Da kommen wir dem Kern schon ein Stück näher. Colemans Denksystem selbst ist Musik. Jede Form der musikalischen Reduktion verbietet sich, wenn das System selbst immer komplexer wird. Es bedarf keiner Übersetzungen

mœrs festival 2007 47 von Kosmos oder Alltag in Klang. Die Musik bildet sich gewissermaßen selbst ab und erhebt sich über jede Kategorie verbaler oder visueller Kommunikation. „Ich muss nicht umschalten, um in Musik zu denken. Sie ist in jedem einzelnen Moment da. Zu einem Musiker kann ich manchmal eine musikalische Phrase singen, und er wird sofort wissen, was ich meine. Der einzige Unterschied zwischen der verbalen und der musikalischen Sprache besteht darin, dass die zweite wesentlich symbolischer ist. Wenn ich für Menschen spiele, muss ich mir allerdings Gedanken machen, wie ich diese Sprache am besten einsetzen kann, um mich verständlich zu machen. Es war ein langer Prozess, bis ich dahinter kam, dass der Hörer die Musik nicht so versteht wie ich. Ich darf den Hörer nicht überfordern. Über dieses Problem denke ich viel mehr nach als über die


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Ideen, die sowieso in mir stecken.“ Sicher wäre Steve Coleman ein Publikum lieber, das sich ausschließlich aus Musikern zusammensetzt. Doch er weiß, dass er dieses niemals finden wird. Coleman macht aus der Not eine Tugend und überlässt es letztlich dem Hörer, ob er genervt den Kopf einzieht oder nach eigenen Transformationen für die Musik suchen wird. „Je mehr hinter der Musik steckt, desto schwerer wird es, darüber zu reden. Hinter John Coltranes Musik steckte unheimlich viel, spirituell wie technisch. So technisch, dass man sich besser gar keine Gedanken darum macht. Aber er sprach nicht darüber. Er äußerte sich nur über generelle und spirituelle Dinge, nicht aber über die Spezifika seiner Musik. Manche Musiker sehen die Musik nur als Musik an und weiter nichts, andere versuchen über die Musik zu tieferen Wahrheiten vorzudringen. Mit dem Publikum ist es dasselbe. Dem einen genügt es, einfach nur die Musik zu hören, der andere will hinter die Musik dringen. Was ich spiele, wird durch die Erfahrung meines Lebens gefiltert. Oft wird übersehen, dass Musik an sich nicht existiert. Sie wird erst durch die Menschen, die sie hören, existent. Jeder Mensch verändert die Musik, weil er sie anders hört. Nichtmal mein Drummer oder Bassist hört die Musik wie ich, auch wenn wir ein gemeinsames Verständnis für die Musik haben. Unsere Erfahrungen überlappen jedoch in einer Weise, dass wir gemeinsam musizieren können. Ich denke nicht, dass jemand meine Musik verstehen muss, weil es gar nicht möglich ist, dass er sie in der gleichen Weise wie ich verstehen kann.“ Wolf Kampmann


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New York

Der Ausverkauf

Der New Yorker Club Tonic hat Mitte April schließen müssen – womit die Downtown-Avantgarde-Szene ihr letztes Refugium verloren hat. Doch die Musiker und auch das Publikum nahmen dies nicht einfach hin – mit einem Proteststurm sollten die Verantwortlichen im Rathaus der Stadt New York wachgerüttelt werden. Ssirus W. Pakzad hat sich in New York umgehört.

Es ist ja nun nicht so, als gebe es in New York keine Jazzclubs. Wer das Stadtmagazin Village Voice durchblättert und im Musikteil auf den Seiten mit den Konzertanzeigen hängen bleibt, der hat schnell den Eindruck, dass im Big Apple mehr Jazzclubs als Starbucks-Filialen existieren. Die Namen, mit denen da geworben wird, lesen sich wie ein halbes Jazzlexikon. Was aber sind das für Läden, die inserieren – oft winzige, unwürdige Joints, in der die Musiker die paar Kröten schlucken müssen, die sie bekommen. Einige der Auftretenden sehen Jobs in solchen Etablissements ganz pragmatisch: als öffentliche Probe. Dann gibt es in Manhattan Restaurants mit JazzLive-Musik, in der die Musiker gegen permanentes Geplapper, Gläser- und Geschirrklirren anspielen müssen. Und natürlich sind da die über die Grenzen der Stadt hinaus bekannten Jazzclubs, wie etwa das Village Vanguard oder das Blue Note – die aber scheinen hauptsächlich japanische Touristen durch „cover charge“ und „drink mini-

mum“ das Geld aus der Tasche ziehen zu wollen. Echte New Yorker sind in solchen Läden stets in der Unterzahl. Die Musik, die man in den etablierten Clubs zu hören bekommt, ist fraglos fantastisch, aber sie repräsentiert kaum das, was sich im Jazz unserer Zeit vorwärts bewegt. Wer etwa wissen wollte, welche Strömungen aus dem Jazzunderground kommen, der musste schon in die Lower East Side fahren und das Tonic besuchen. Das kleine flache Haus, das zwischen zwei Gebäuderiesen erstickt zu werden drohte, wurde für einige Jahre der Zufluchtsort für die Avantgarde- und Improvisationsszene, nachdem die Knitting Factory musikalisch einen anderen Kurs gefahren war – ein Zuhause für den, der sich dem Experiment verschrieb. Nun hat dieses Forum für musikalische Querdenker dicht gemacht. Die Laden-Miete wurde auf so dreiste Weise erhöht, dass den Pächtern schnell klar wurde, welche Botschaft dahinter steckte: Verpisst euch! Es blieb Ihnen auch gar nichts


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Jim Black

Michael Blake

anderes übrigens. Wie dem Tonic war es zuvor schon etlichen kleinen Experimental-Theatern und Galerien in der Umgebung ergangen. Die Szene hat die Schließung des Tonic nicht sang- und klanglos hingenommen. Erst gab es ein offizielles Abschiedsfestival, dann, am Tag nach der Schließung, noch ein inoffizielles Konzert. Als die Polizei kam, um das Gebäude zu räumen, weigerten sich der Gitarrist Marc Ribot und die Sängerin Rebecca Moore, das Musizieren einzustellen. Sie wurden in Handschellen abgeführt. Im Mai ist ihr Gerichtstermin. Die Organisation „Take It To The Bridge“ organisierte auf den Stufen des an der Brooklyn Bridge gelegenen Rathauses von New York einen Protest und eine Pressekonferenz, die auf die Schließung des Tonic und das große Kultursterben in Manhattan aufmerksam machte. Außerdem setzte man eine von bislang über 1.600 Menschen unterschriebene Petition auf, die die Stadt New York auffordert, Kulturpolitik nach europäischem Vorbild zu


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Dave Binney

betreiben und bei Schließungen wie der des Tonic adäquate Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Ein paar exklusive Stimmen zur Schließung und zum Ende des Tonic. Der Bassist Ben Allison: „Für mich war das Tonic ein Ort, der einen geradezu zum Experimentieren aufforderte. Seine sehr schlichte, fast rustikale Atmosphäre nahm mir den Druck, den ich oft spüre, und ich konnte mir sogar erlauben, hier musikalisch mal zu scheitern – ohne Konsequenzen. Viele Menschen wurden von dem Club angezogen und anders als in anderen New Yorker Läden fand man hier immer viele Musiker im Publikum. Es war einfach ein großartiger Ort um sich anzuhören, was die anderen musikalisch so trieben.“ Trauer auch beim Saxofonisten Michael Blake: „Für mich war das Tonic wie ein zweites Zuhause. Es könnte sein, dass irgendwann in Brooklyn eine Art Tonic aufmacht. New York City war immer ein großartiger Ort für Kultur, aber die vielen kleinen unabhängigen Läden verschwinden immer mehr und das wird viel von der einzigartigen Energie abziehen, wegen der viele Menschen nach New York reisen.“

Blakes Saxofonkollege Dave Binney wird in seinem Statement sehr deutlich: „Das Tonic war ein vitaler Ort für kreative Musik. Es hat die Rolle der Knitting Factory übernommen, als die kommerziell wurde. Die Schließung ist eine Metapher für das, war derzeit in New York passiert. Sie bringen die Kultur hier um die Ecke, um LuxusAppartments, Hotels und Banken zu bauen. Das Ironische ist, dass so etwas ohne die geringste Weitsicht geschieht. Die Verantwortlichen kapieren nicht, welche Folgen das Ausmerzen der Kultur hat. Bald wird New York eine Stadt der Reichen sein, die nicht mehr wissen, was sie in ihrer Freizeit mit sich anstellen sollen.“ „Es ist schon pervers“, lacht der Schlagzeuger Jim Black. „Erst sind jede Menge Leute in die Lower East Side gezogen, weil es hier noch Kultur gab. Genau diese Menschen aber, die es plötzlich hip fanden, hier zu wohnen,

haben die Mietpreise in die Höhe getrieben. Sie sind es letztendlich, die die Kultur, wegen der sie einst hergekommen sind, vertrieben haben. Die Szene muss jetzt nach Brooklyn ausweichen. Ich finde, wir sollten in Manhattan das Recht haben, einen Laden wie das Amsterdamer Bimhuis zu haben.“ Der Saxofonist Ellery Eskelin merkt an: „Das Tonic war einer der wenigen Clubs, die genug Fassungsvermögen hatten, um gute Gagen zu zahlen. Abgesehen davon hat sich hier eine Szene gebildet, die sich nun über die vielen kleinen Clubs verstreuen wird, die jetzt überall in Brooklyn aufmachen. Ich finde, es sollte eine zentrale Anlaufstelle für Musik wie unsere geben. Ich hoffe, wir schaffen es, einen Ersatz für das Tonic zu finden.“ Fotos: Ssirus W. Pakzad (Eine Petition gegen die Schließung des Tonic gibt es auf www.takeittothebridge.com.)

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Victoriaville

Geräusche, Klänge, Emotionen

Seit 1983 ist das „Festival International de Musique Actuelle de Victoriaville“ eines der ambitioniertesten in Nordamerika. Dann kam 2006: Jazz war komplett aus dem Festival im kanadischen Victoriaville verschwunden. Ein gelungenes Experiment? Wohl nicht ganz – denn Michel Levasseur rudert mit seiner diesjährigen Programmgestaltung zurück, wie er selbstkritisch im Gespräch mit dem USamerikanischen Journalisten Josef Woodard bekennt. Einblicke in ein Festival im Umbruch.

KTU, Victoriaville 2006

Victoriaville ist eine trügerisch ruhige Kleinstadt, die in der ländlichen Region Bois Francs der kanadischen Provinz Quebec liegt. Sie ist so weit von Montreal entfernt, dass man dort beinahe seine eigenen Gedanken hören könnte. Das Stadtzentrum besteht aus wenigen Häuserblocks, die sich schnell zu Fuß erkunden lassen. Und nach einer kurzen Autofahrt ist man direkt im Reich der Milchfarmen, in einer weiten, offenen Landschaft. Seit 23 Jahren ist dieser friedliche Ort jedes Jahr für einige Tage ein El Dorado für Musikfans, deren Geschmack eher zur experimentellen Seite des musikalischen Spektrums neigt. Einmal im Jahr wird dieser idyllische Ort zur Plattform für freie Improvisation, für Avantgarde-Jazz, Avant-Rock, Noise und elektronische Musik (letztere steht im Gegensatz zu den Groove-basierten Elektronik-Sounds der modernen Club-Kultur) – also für Musik, die unkonventionell ist. Gleichgültig, ob unter dem einprägsamen Namen „Victoriaville“ oder der offiziellen Bezeichnung FIMAV („Festi-

val International de Musique Actuelle de Victoriaville“), das von Michel Levasseur 1983 gegründete Festival ist inzwischen längst zu Nordamerikas bekanntestem Ereignis für progressive und kreative Musik geworden. Auf der Liste der Künstler, die in Victoriaville schon mehrfach aufgetreten sind, gibt es so bekannte Namen zu finden wie etwa Anthony Braxton (der nach drei Auftritten in 2003 dieses Jahr zurückkehrt), John Zorn, Mike Patton, Thurston Moore mit Sonic Youth, Cecil Taylor, Derek Bailey, Merzbow, The Melvins, Keiji Haino oder Diamanda Galas. Kurz vor der 24. Wiederkehr seines Festivals ist Levasseur fast ein wenig über den hohen Stellenwert erschrocken. „Es ist ein Ereignis, das mich total in Anspruch nimmt. Durch den Erfolg des Festivals wird es immer intensiver. Irgendwann wurde ich richtig abhängig von dieser jährlichen Energiedosis, und deshalb habe ich weiter gemacht. Aber ich bin heute noch erstaunt darüber, dass es uns überhaupt gibt.“ Inzwischen

ist Levasseur lange genug im Festival-Geschäft, um die Fragilität solcher Ereignisse, die Notwendigkeit, sich laufend weiterzuentwickeln, und die damit verbundenen Risiken zu kennen. Anfangs lernte Levasseur viel von europäischen Festivals, wie etwa dem in Moers, und ließ sich davon inspirieren. „Victoriaville ist ein ständiger ‚Work-in-progress‘“, meint er, „Als ich anfing, wusste ich nicht viel über Musik und musste einen Lernprozess durchlaufen. Unser Festival bekam aber schnell Kontakte zu anderen, vergleichbaren Events weltweit. ,Vandoevre‘ in Nancy, Frankreich, ist eines davon, oder auch ,Taktlos‘ vom Label Intakt in Zürich. Und dann gab es auch noch das Festival in Moers, bei dem die ganze Downtown-Szene von New York zu hören war. John Zorn etwa, oder Elliott Sharp und Arto Lindsay. Alle kamen sie nach Moers in Europa – zumindest die Musiker, die auch mich interessierten“, erinnert sich Levasseur. Während der vergangenen Jahre veränderte sich die Programmgestaltung von Victoriaville – um unterschiedliche Publikumsgruppen zufrieden stellen zu können. Unter den verschiedenen Subkulturen, wie sie in Victoriaville anzutreffen sind und die im Programm berücksichtigt werden wollen, gibt es die elitären Avantgarde-Jazz-Hörer ebenso wie die Fans von Noise, Rock und Elektronik. Und dann auch solche Besucher, deren Musikgeschmack keine Grenzen kennt. Das Aufbrechen und Überschreiten von Stilgrenzen ist nach Levasseur schon immer das Ideal von Victoriaville gewesen: „Das ist überhaupt der Grund, warum es ja auch kein Jazzfestival ist. Wir mussten schon vor 25 Jahren Begriffe wie ,Musique Actuelle‘ zur Beschreibung benutzen, obwohl sie damals so gut wie unbekannt waren und weder eine richtige Bedeutung oder gar Geschichte hatten. Das Festival kennt keine Grenzen, das ist im Kern die Idee. Manchmal wird man von der Realität eingeholt und muss sich mit den Zuhörern auseinandersetzen, die


nur deshalb kommen, weil sie eine bestimmte Richtung hören möchten. Es ist auch heute noch nicht einfach, das Publikum im Konzert mit den verschiedene Stilen und Gattungen zu konfrontieren“, erzählt Levasseur. „Ich weiß nicht warum, aber das Jazz-Publikum ist das schwierigste, das ich kenne. Jazz hat schon seit langem den Ruf, für alle Formen von Musik offen zu sein. Aber während der vergangenen fünf Jahre habe ich festgestellt, dass mir diese Gruppe am meisten Kopfzerbrechen bereitet. Sie wehren sich gegen elektronische und elektro-akustischen Musik ebenso wie gegen ganz leise, fast unhörbare Sounds.“ Er verweist zudem auf die Vielseitigkeit im Programm des „neuen“ Moers‘ als Zeichen dafür, dass die Jazz-Festival-Szene, obwohl sich Victoriaville nur am Rand dieser Szene bewegt, auf die Notwendigkeit reagiert, sich weiterzuentwickeln und neue Wege zu beschreiten. „Das Ziel meines Festivals besteht darin, neue Künstler und neue Trends in der Musik zu entdecken – und das heißt ein ständiger Wandel und Wechsel. Das zwingt uns geradezu, das Publikum auszuwechseln und neue Besuchergruppen anzulocken. Das bedeutet wiederum Stress für die Besucher, beispielsweise Geld für ein Ticket auszugeben, ohne zu wissen, was einen erwartet.“ Insofern war das Festival von 2006 ein Experiment, weil sich das Programm sehr weit vom Jazz entfernte – abgesehen von Acts wie dem Trio Fieldwork mit dem Pianisten Vijay Iyer. Im letzten Jahr öffnete sich Levasseur verstärkt gegenüber Elektronik, Rock und noiseorientierter Musik, unter anderen mit dem norwegischen Duo Femail und dem Sänger Mike Patton, der als „Artist in Residence“ gleich bei drei verschiedenen Konzerten zu hören war. „Letztes Jahr hatten wir ein Festival mit sehr wenigen bekannten Namen, weshalb weniger Besucher kamen“, betont Levasseur. „Ich muss das Programm verbreitern, um es lebendig und inte-

magazin ressant zu gestalten. Das sichert zwar nicht unsere Zukunft, aber es bringt in jedem Fall frischen Wind. Musikalisch war das letzte Festival ein großartiges Ereignis: energiegeladen, mit einem jüngeren Publikum und jüngeren Künstlern auf der Bühne. Andererseits hatten wir weniger Besucher und ein entsprechendes Defizit. Daran müssen wir arbeiten.“ Als Reaktion auf 2006 hat Levasseur dieses Jahr die Ausgaben zurückgefahren und das Programm wieder mit Konzerten unter anderem von Braxton, Zorn und der Pianistin Marilyn Crispell jazzbetonter gestaltet. Mit dem Strom der vielen Festivalbesucher schwillt jedes Jahr die Bevölkerungszahl von Victoriaville auf ein Vielfaches an. Alle kommen, um nach einem eng gesteckten Zeitplan das Festivalprogramm zu genießen – üblicherweise 24 Konzerte in fünf Tagen an vier oder fünf verschiedenen Spielorten, unter anderem im neuen Hockeystadion mit dem schönen, bezeichnenden Namen „Collisée“. Die Kleinstadtatmosphäre, so Levasseur, „ist verantwortlich für einen großen Teil des Erfolges und Grund dafür, dass das Festival überhaupt existiert: dieses Gemeinschaftsgefühl, die Intimität und die Nähe zwischen Künstlern und dem Publikum. Hier hat man überhaupt die Ruhe, um so verschiedenartige Musik aufzunehmen – im Gegensatz zu lauten Orten wie einer Großstadt, in der man nur abgelenkt werden würde. Man kommt nach Victoriaville, weil die Atmosphäre gut ist und man sich mit anderen austauschen kann. Aber man spricht nicht nur über Musik, sondern auch über Kunst, das Leben und andere Themen. Manchmal ist das Publikum durch das Programm verunsichert oder sogar geschockt – ein Zeichen, wie sehr die Musik bewegt und beschäftigt.“ Über die Langlebigkeit seines „Festival International de Musique Actuelle de Victoriaville“ ist Levasseur auch heute noch erstaunt. Seinem Festival eilt mittlerweile der Ruf voraus, neue,

mœrs festival 2007 55 jüngere Hörer-Generationen zu erreichen, die nach akustischen Abenteuern lechzen. „Ich wollte das Festival auf jeden Fall länger als 17 Jahre machen. Derek Bailey machte mit seiner ,Company Week‘ nach 17 Jahren Schluss, bevor ich die Gelegenheit hatte, dieses Festival zu besuchen. Als ich Derek zu diesem Thema fragte, antwortete er, dass er es nicht sein ganzes Leben lang machen wollte und irgendwann einfach damit aufhören musste. Damals gab es Victoriaville schon ungefähr 12 oder 13 Jahre, sodass eines meiner Ziele war, unser Festival auf jeden Fall länger zu machen als 17 Jahre. Dann kam das 20. Jahr, und schon bald steht das 25. an. Ich kann nicht erkennen, was danach kommen wird. Ich möchte dennoch dieses Jubiläum nicht als das Ende betrachten, aber es ist ein weitaus größerer Schritt als 17 oder 20 Jahre... Dennoch muss es irgendwann einmal ein Ende haben. We’ll see.“ In einer Zeit, in der die Musikindustrie ständig neue Technologien und Tonträger-Formate entwickelt, ist Live-Musik eines der letzten kulturellen Refugien. „Ich denke, Konzerte werden immer mehr das ‚Real Thing‘“, ist Michel Levasseur überzeugt. „Diese ganze Musik, an die man einfach und umsonst rankommt, beraubt sich doch selbst ihrer Bedeutung, bleibt namen- und gesichtslos. Das ist beunruhigend. Aber was die Live-Musik betrifft, da bin ich optimistisch, weil man wieder dorthin zurückkehrt. Denn wenn man ein Konzert von, sagen wir: Merzbow gesehen hat, weiß man, wer Merzbow ist. Das ist keine Musik, die man beim Abwasch hört. Obwohl es zurzeit so aussieht, als sei Musik umsonst und gehöre überall dazu, so ist das Blödsinn! Ich bin überzeugt davon, dass wir zu dem menschlichen Bedürfnis zurückkehren, Musik mit anderen teilen zu wollen – und im direkten Kontakt mit den Musikern auf der Bühne zu erleben.“ Foto: Martin Savoie


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Australien

Hafen von Melbourne

Weiter Weg

Aus europäischer Sicht ist zeitgenössischer Jazz aus Australien auch heute noch ein weißer Fleck auf der Weltkarte der improvisierten Musik. Aber ein Blick in die Jazz-Szene des fünften Kontinents lohnt. Der Journalist John Clare, der unter anderem für australische Tageszeitungen wie The Sidney Morning Herold und The Sun Herold schreibt, gibt Einblicke in die umtriebige und aktive Szene seiner Heimat in „down under“. Heute noch, im Zeitalter von Internet und Globalisierung, ist „Entfernung“ ein bestimmender Faktor für Australiens Musikleben. Einen Großteil von zeitgenössischer Jazz- und Improvisationsmusik lässt sich zwar auch hier finden. Aber obwohl Australien nicht die große musikalische Vielfalt vorzuweisen hat wie anderswo, so gibt es dennoch Entwicklungen und Strömungen, wie sie sich wohl nur hier in der Distanz zu den Jazzzentren der Welt entfalten können – und die tatsächlich überaus originell und einmalig sind. Das Trio The Necks, in Australien vom Publikum und von den Medien gefeiert, überzeugt mit einem hypnotisch improvisierten Minimalismus, der kraftvoll klingt und unverwechselbar ist. Eigenschaften, wie sie auch bei Triosk und weiteren Bands des Trompeters Phil Slater zu Tage treten. Dessen verschiedene Ensembles spielen über weite Strecken akustisch, setzen aber oft auch Elektronik ein. Die Ergebnisse klingen mit ihrem beständigen, fast orchestralen An- und Abschwellen frisch und energetisch. Zeitgenössischer Jazz und improvisier-

te Musik sind im kulturellen Leben Australiens gest verankert. Die Grundlagen dafür lassen sich zu den verschiedenen Formationen des Pianisten und Komponisten Paul Grabowsky zurück verfolgen, aber auch zu Clarion Fracture Zone, die von den drei bedeutenden Musikern und Komponisten Sandy Evans, Tony Gorman und Alister Spence geleitet, später dann aufgelöst wurde, bis hin zu den Jazz- und World-Music-Ensembles Wanderlust und The Catholics (mit Miroslav Bukowsky bzw. Lloyd Swanton) und dem Drummer Allan Browne.

The Necks

Australian Art Orchestra


Noch heute aktiv sind die Veteranen Bernie McGann (Altsaxofon) und John Pochee (Schlagzeug), die beide in die freien Bereiche der improvisierten Musik vorstießen, ohne jedoch den Free Jazz eines Ornette Coleman zu kopieren (ähnlich wie auch der mittlerweile verstorbene, gebürtige Engländer Joe Harriott). Deren musikalischen Experimente bilden heutzutage die Basis für viele australische Musiker der jüngeren Generation. Über McGann äußerte sich Grabowsky geradezu enthusiastisch: „Ich bin überzeugt, dass Bernie einer der größten Altsaxofonisten aller Zeiten ist.“ Auch der überragende, leider nicht mehr aktive Tenorsaxofonist und Komponist Mark Simmonds gehört zu der Gründergeneration des modernen Jazz in Australien. Er leitete eine ganze Reihe von Formationen, mit denen er ein eigenständiges Konzept verfolgte, das zwischen Mainstream und Modern Jazz pendelte und mit einem kraftvollen und kompakten Ensemble-Sound zu überzeugen wusste. In vielen seiner Bands war Scott Tinkler als Sideman mit seinen erfindungsreichen Linien und seinem energetischen Ton auf der Trompete zu hören. Über Tinkler urteilte Paul Grabowsky vor einer Weile, dass dieser zu „den bedeutendsten zeitgenössischen Trompetern weltweit“ gehören würde. (Obwohl ich das sicherlich nicht objektiv beurteilen kann, so lässt sich dennoch sagen, dass er es mit jedem Trompeter auf der Welt aufnehmen könnte.) Und mit seinem unverwechselbaren, rhythmischen Ansatz kommt auch der Schlagzeuger Simon Barker aus der Talentschmiede um Simmonds, Tinkler und Slater. Für einen wichtigen, aber nur schwer einzuschätzenden Einfluss aus jüngerer Zeit stehen der Saxofonist Julian Lee, der Gitarrist Steve Magnusson und der Pianist und Akkordeonist Stephen Grant (laut anderen Quellen soll er Piano und Trompete spielen). Ihr gemeinsames Trio (ohne Schlagzeug) steht für eine besondere Form von Kammer-Jazz,

magazin der mit seinen zahlreichen Folk- und Weltmusik-Zitaten eindringlich klingt und überzeugend ist. Einen ähnlichen Weg geht die Band Way Out West, bei der Dung Nguyên eine mit vietnamesischem Gestus gespielte, modifizierte E-Gitarre in Kontrast zum kompakten Ensemble-Klang setzt.

mœrs festival 2007 57 Non-Jazz“-Szene nimmt der Pianist, Cellist und Komponist Roger Dean ein. Als er vor einigen Jahren von England nach Australien übersiedelte (um dort die „Australien Heart Foundation“ zu leiten), rief er schon bald nach seiner Ankunft das australische Gegenstück zu seiner in England für Furore sorgenden Band Lysys ins Leben, die nun unter dem Namen AustraLysis die Grenzbereiche von Jazz und elektronischer Musik erforscht.

In Melbourne zuhause ist die Pianistin und Komponistin Andrea Keller. Deren Arrangements und Improvisationen etwa über Bartoks „Mikrokosmos“ offenbaren eine andere, nicht unwichIn Australien gibt es zwei große Jazztige Inspirationsquelle für die jüngere festivals: das „Melbourne Jazz Festival“ Generation: die Neue Musik und die der und das „Wangaratta Festival Of Jazz“. 2. Wiener Schule. Ein anderes Zentrum, Während in Melbourne der Schwerin dem mit notierter und improvisierter punkt auf Konzerten mit großen und beMusik experimentiert wird, ist Briskannten Namen liegt, wie zum Beispiel bane. Hier hat sich eine Gruppe junger, Wayne Shorter und McCoy Tyner, so virtuoser Musiker als so genannter ist das „Wangaratta Festival Of Jazz“ Artisans Workshop zusammengeauch ein Forum für zeitgenössischen schlossen, aus dem einige Mitglieder in australischen Jazz. Zudem präsentiert Grabowskys Australian Art Orchestra man hier Musiker der europäischen spielen. Dieses Australian Art Orchesund US-amerikanischen Avantgarde ter verfolgt wiederum das Ziel, eine – wie beispielsweise Tomasz Stanko großorchestrale improvisierte Musik und Oliver Lake. Weitaus kleiner ist ad hoc auf der Bühne entstehen zu das „Jazz Now Festival“, das im Studio lassen. Ein anderes, wichtiges Orchesdes Sydney Opera House stattfindet. ter ist Ten Part Invention, das unter der Dennoch ist es bedeutend und wichtig Leitung von John Pochee stets auf der für die hiesige improvisierte Musik, wie Suche nach einer spezifisch austraes jüngst der Drummer Jim Black mit lischen Musik ist. seinen Solo-Impressionen verdeutlicht In Australien hat sich zudem – wie hat. Die Konzertreihe „Pinnacles“ in andernorts auf der Welt auch – eine Brisbane wiederum ist Plattform für Szene mit jungen Musikern etabliert, die allerneueste zeitgenössische Szene. die sich mit einer eigenen und besonUnd auch die Konzerte, die jährlich bei deren Form von Improvisationsmusik Vergabe der Friedman-Jazz-Stipendien auseinandersetzt, ohne mit den „klasin der Oper von Sydney ausgetragen sischen“ Gattungen des Jazz etwas werden, verdeutlichen auf brillante Art zu tun zu haben. Dazu gehören Bands und Weise die Eigenständigkeit der wie Mind/Body Split oder Machine improvisierten Musik in Australien. For Making Sense und Künstler wie Zum Schluss noch einmal zurück zum Rick Rue, Chris Abrahams, Jim Denley, Stichwort „Entfernung“. Wenn auslänTim O’Dwyer und Clayton Thomas. Der dische Musiker zum „Wangaratta Festiverantwortet auch das Programm des val Of Jazz“ kommen, sind sie anfangs Festivals „Now Now“, das zusammen verwirrt und oft auch amüsiert darüber, mit „What Is Music?“ eine wichtige wie anders wir hier unten leben. Rasch Plattform für diese neue, grenzüberentdecken sie aber die „feinen Unterschreitende Improvisationsmusik ist. schiede“ in unserer Lebensart – und Eine besondere Position in dieser „Jazz lernen diese dann auch zu schätzen.


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China

Big Noise in China

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Tie Guan Yin Trio (Foto: Zhang Jian)

Der Autor dieses Beitrags, Yan Jun, gehört selbst zur Szene improvisierter Musik in China. Als Künstler bringt er Genre-übergreifende Projekte auf den Weg, als Betreiber eines Labels, Kwan Yin Records, liefert er die Plattform für interessante Veröffentlichungen. Und als Journalist berichtet er über die verschiedenen kreativen Ausprägungen der Szene seiner Heimat. Beste Voraussetzungen, um eine spannende Innensicht auf die improvisierte Musik Chinas zu geben.

Während man im Westen stets auf der Suche nach dem Neuen ist, müssen sich chinesische Musiker mit dem begnügen, was sie in China vorfinden. Als Wang Fan 1996 das erste chinesische, 40-minütige experimentelle Musikstück „Dharma’s Crossing“ produzierte, war er erst kurz zuvor nach Peking gezogen. Für die Aufnahmen verwendete er einen Walkman, ein Mini-Mikrofon, einen Kassettenrecorder und eine akustische Gitarre, zudem nahm er die Stimme eines Fernseh-Nachrichtensprechers auf. Über seine Soundscapes legte er sich ständig wiederholende Liedtexte, die jedoch niemand verstehen konnte, weil sie sich wie Zauberformeln anhörten. Was Wang Fan nicht wusste, war, dass seine Arbeitsweise überhaupt nicht neu war, sondern schon andere vor ihm auf ähnliche Art und Weise Musik hergestellt hatten – für ihn bedeutete es aber, ohne großes Budget Musik machen zu können. Mit einem Roland-Synthesizer und einem digitalen Recorder arbeitete er acht Jahre lang und produzierte mit seiner ungewöhnlichen Kompositionstechnik eine Musik, die in keine der gängigen Stilschubladen passte: So mischte er hunderte von Tönen ineinander, um am Schluss einen einzigen Ton zu bekommen. Als Wang Fan sich mit japanischem No Wave beschäftigte, lag er weit hinter irgend-


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Yan Jun, Dajuin Yao & Li Jianhong Wang Fan & FM3 (Foto: Liao Weitang)

Jeff Zhang & Shenggy (Foto: Sister Ray)

welchen Trends zurück, denn anderswo war man schon längst in andere musikalische Bereiche vorgestoßen. Als er dann Noise-Core produzierte, hatte er noch nie etwas von Merzbow oder Joe Colley gehört. Und dass er bis heute weder das britische Ensemble AMM, noch Sun Ra oder die Szene um John Zorn kennt, das dürfte jedem klar sein. Mit Tradition Wang Fan ist ein extremes Beispiel, sicherlich. Was ich damit zeigen möchte, ist, wie wir hier in China improvisieren und mit Musik experimentieren. Die meisten chinesischen Musiker haben eine Ausbildung. Wenn sie sich dann davon frei gemacht haben, sind ihnen keine Grenzen gesetzt. Improvisieren hat in China durchaus Tradition. Obwohl die alten chinesischen Rechtsgelehrten und Philosophen den jeweiligen Regierungen komplizierte Gesetze und feste moralische Regeln an die Hand gegeben hatten, stand Improvisieren hoch im Kurs. Es wurde aber nicht nur über Musik improvisiert, sondern zum Beispiel auch Gedichte aus dem Stehgreif rezitiert. In der „klassischen“ chinesischen Musik gab es keine Angaben zum Tempo, sodass es ganz der Kreativität des Interpreten überlassen blieb, wie er die Stücke aufführte. Improvisieren erforderte im alten China

die gleiche Hingabe wie für das Malen eines Landschaftsbildes, für dessen Realisierung traditionelle Techniken ebenso erforderlich waren wie die ganz persönliche Haltung, Sichtweise und die Empfindungen des Malers selbst. Nach der Kulturrevolution und dem späteren Wirtschaftsboom haben die meisten Chinesen ihre Fähigkeit zum Improvisieren verloren und wollen sich mit diesem Teil ihrer Geschichte nicht auseinandersetzen. Der Verlust der alten Werte konnte bislang durch den Kapitalismus nicht aufgefangen werden. Auch heute noch steckt China und auch seine Musikszene mitten im Umbruch, weil im Land chaotische Zustände herrschen. Ein schönes Bild für den Zustand unserer improvisierten Musik liefert ein Blick auf eine Straßenkreuzung in einer chinesischen Stadt: nicht nur die Verkehrsplaner sind begabte Improvisatoren, sondern auch die Fußgänger. Nach der Öffnung des Landes in den 1980ern wurde auch Jazz gehört, vor allem in Shanghai und in Peking. Hauptsächlich war es weichgespülter Jazz-Pop – zum Beispiel Coco aus Shanghai – oder Bar-Jazz. Experimentelle Gattungen wie Free Jazz haben sich nie in China durchsetzen können. Der einzige Free-Jazz-Musiker, den ich kenne, ist Li Tieqiao. Als er noch in

China lebte, trat er aber als Rock- und Avantgarde-Musiker auf. 2002 lernte er John Zorn kennen und wanderte kurze Zeit später nach Norwegen aus. Beats & Bytes Auch in China ist eine Szene mit digital erzeugter Musik entstanden. In die elektronischen Settings werden oft auch akustische Klänge und menschliche Stimmen eingearbeitet. Das Projekt Tian Guan Yin, 2005 gegründet, ist ein Beispiel für diese Szene. Jedesmal, wenn man auf der Bühne zusammenkommt, setzt sich dieses Projekt aus verschiedenen Künstlern zusammen. Mal sind es traditionelle Instrumentalisten, mal Computermusiker, manche stehen auf Rock’n’Roll, wie etwa der Initiator dieses Projekts (und Autor dieses Artikels). Bislang sind zwei Alben erschienen, die unter dem Namen Tian Guan Yin Duo die Zusammenarbeit zwischen mir und dem Visual-Artist Wu Quan dokumentieren. Mittelpunkt dieser Szene ist FM3 aus Peking. Mit der Software „Ableton Live“, mit traditionellen Instrumenten und mit ihrer legendären, so genannten „Buddha Machine“ hat dieses Duo einen herausragenden Ruf erworben – allerdings als nicht-improvisierende Musiker. Mittlerweile spielen sie auf Gitarre, Melodica und Effektgeräten einen


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mœrs festival 2007 „Neo-Minimal-Abstract-Post-Rock“ (sorry, das ist wahrlich ein „experimenteller“ Ausdruck). Li Jianhong ist einer der wichtigsten Noise-Acts in China. In Hangzhou leitet er seine Plattenfirma 2Pi Records und organisiert dort das gleichnamige Festival. Klar, dass sich viele auf seinem Label mit Noise- und Sound-Core beschäftigen, dann aber auch in einem chinesischen Sinn zu improvisieren Doui Wei (Foto: Wang Xiaoxi)

verstehen. Um mögliche Verbindungen von Noise und Improvisationen geht es auch Junky von Torturing Nurse Shasha Records und der von ihm geleiteten Veranstaltung „Noishanghai“. Für Li Jianhong und Junky gehören Noise und Improvisation zusammen wie Brüder, entstanden aus der Revoltekultur der 1990er in China. Ihre Musik birgt die

magazin Leidenschaft für Zerstörung, Freiheit und Revolution in sich. Weil beide zuvor bereits als Rockmusiker Karriere gemacht hatten, hat sogar diese radikale Form von Musik in gewisser Weise eine fundierte Grundlange bekommen. Li Jianghong vergleicht die Improvisation mit einer Kampfsportart, über die er in Verbindung zur Natur steht. Geräusche und Lärm in seiner Musik, so Li Jianhong, stehen für traditionelle Philosophie und Okkultismus. Retro-Improv Geschichtsbewusstsein ist nicht gleichzusetzen mit Konservatismus. Wie Dou Wei zum Beispiel. Der ehemalige Rock-Star ist überaus produktiv und hat in den letzten Jahren verschiedene Projekte auf den Weg gebracht, wie etwa Bu Yi Ding (auf Englisch: „Not Always“), Mu Liang Wen Wang und Bu Yi Yang (auf Englisch: „Difference“). Der gelernte Schlagzeuger, der zudem auch traditionelle Instrumente wie Guqin, Zitter und Flöte spielt, produziert mit Bu Yi Ding eine ganz spezielle Mixtur aus Post-Rock und Jazz-Fusion mit ECM-artigen Klangflächen (er selbst beschreibt seine Band in Anlehnung an einen Werbeslogan als „Coca-Cola der Chinesen“). Mit Mu Liang Wen Wang wiederum setzt er Themen-Fragmente zu endlosen Melodieschleifen zusammen, mit denen er Erinnerung an die alte chinesische Liedkunst wach ruft. Dou Wei ist sicherlich ein retrospektiver, in die Vergangenheit schauender Musiker, der mit seinem Jazz auf der Guqin an die Stimmung alter chinesischer Landschaftsmalereien erinnert. Noch tiefer als Dou Wie ist die GuqinLehrerin Wu Na in der chinesischen Tradition verwurzelt. Für sie bedeuten ihre langen melodischen Stücke eine Rückbesinnung auf die Traditionen des alten China.

„Ethnische Musik“ 2002 hat der kasachische Musiker Mamur in Peking die Band IZ gegründet. Der Gitarrenmeister und Dömbra-Virtuose hat viele junge Musiker verschiedener ethnischer Bevölkerungsgruppen in China beeinflusst. Man unterscheidet sich vollkommen von den üblichen und sehr beliebten Restaurantbands, weil in dieser herausragende Instrumentalisten spielen. Yeerboli zum Beispiel trat beim „NO+CH“ Festival auf und improvisierte dort zusammen mit Elektromusikern und Jazzern aus Skandinavien. Huan Qing aus Dali ist ein Experimentalmusiker, der sich seit 2000 mit der Erforschung von Volksmusik beschäftigt und auf exotischen Instrumenten fremdartige Klänge erzeugt. Vor kurzem erschien auf seinem Label Ao Tu eine bemerkenswerte CD: Eine Live-Aufnahme mit ihm und dem französischen Elektro-Musiker und „Field Recording“-Produzenten Laurent Jeanneau, eingespielt auf dem alten Turm von Dali. Und Xiaohe, Sänger der Band The Glamorous Pharmacy, hat kürzlich eine Fake-Folk-Band gegründet, mit der er stellenweise improvisierte Musik spielt und in die er drei Peking-Oper-Schlagzeuger integriert. Die Szene in China ist gespalten. Einige erzeugen improvisierte Musik ausschließlich mit digitalen Mitteln – etwa 8GG und Yang Tao aus Peking, Lin Zhiying und Zhong Minjie aus Guangzhou, Wang Chuangcun aus Shanghai, Jimu und Vavanond aus Hangzhou. Andere wiederum stehen mit ihrer Musik ganz in der Vergangenheit, haben sozusagen den Duft der Erde neu entdeckt. Beide Seiten gehen auf Distanz zueinander, aber auch auf Distanz zum Alltag in China. Das Improvisieren hilft in einem Land zu überleben, das auch heute noch nach abstrakten Gesetzen regiert wird. Aber beide Szenen sind klein und wirken nur im Underground. Der Grund? In einem Staat, der mit Baustellen übersäht ist und bei dem die Umsiedlung ganzer Dörfer und Städte zur Tagesordnung gehört, könnte kein Derek Bailey leben.


magazin

mœrs festival 2007 61

Michel Godard, INNtöne 2006

Radio

Die Nacht der Jazz Festivals

Inhabitants, moers festival 2006

Seit 2006 werden in Kooperation zwischen den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten des WDR und ORF die Jazznächte gesendet. In der Nacht von Pfingstsamstag auf -sonntag kommt es nun zu einer besonderen Premiere: Live und als Aufzeichnungen schickt man die Programme des moers festival und der INNtöne in den Äther – in Nordrhein-Westfalen und in Österreich. Wer zum moers festival fährt, der gibt sich – insbesondere seit Reiner Michalke 2006 die Programmleitung übernommen hat – einer jazzmusikalischen Völlerei hin: Hauptprogramm, Matineen, Konzerte im Dunkelzelt etc. – und dann auch noch eine eigene lokale Radiowelle rund um die Uhr! Der Westdeutsche Rundfunk setzt aber 2007 noch eins drauf. Nicht nur, dass er Logistik und Technik für das moers festival radio stellt. Vielmehr sendet WDR 3 zehn Stunden lang aus Moers – und über Moers hinaus. Zum ersten Male fährt die erfolgreiche und bewährte Partnerschaft der WDRJazznächte mit den österreichischen Kollegen von Ö1 auf zwei Gleisen. Nicht mehr nur ausschließlich von einem Ort aus NRW und Österreich wird gefunkt (oder umgekehrt) – nein, diese Nacht auf Pfingstsonntag lebt von zwei parallel ausgetragenen Festivals, die sich vom Programm bestens ergänzen, atmosphärisch aber kaum unterschiedlicher sein könnten: das moers festival und das INNtöne Jazzfestival in Diersbach, Oberösterreich, in der Nähe von Passau. Paul Zauner, Posaunist, Labelchef und

Bauernbub veranstaltet die INNtöne heuer zum 22. Male, in der großen Scheune auf dem Gehöft der Familie, eingebettet in die sanfte Hügellandschaft des Innviertels. Der Pegel der Jazzleidenschaft schlägt dort ebenso hoch wie im flachen Moers, aber die Energiezufuhr ist gänzlich anders: hier Falafel und Döner, dort Schnitzel und Brathendl, ausgegeben von Mutter Zauner und Helferinnen. Diese WDR 3/Ö1 Jazznacht bringt die beiden Festivals im Stile einer Konferenzschaltung zusammen. Um 20.05 Uhr melden sich Michael Rüsenberg aus Moers, Herbert Uhlir und Karsten Mützelfeldt aus Diersbach mit jeweils kurzen musikalischen Appetithappen und atmosphärischen Schilderungen der beiden Festivals. Um 21 Uhr schließt sich der erste große Live-Block an: das Anthony Braxton Sextet +1 vom moers festival. Mit Braxton kehrt einer jener Helden an den Niederrhein zurück, die in den 1970er-Jahren dank mehrfacher Präsenz den Ruf dieses Festivals entschieden mitbegründet haben. Ihm folgt um 22.05 Uhr in einer Live-Schaltung

von den INNtönen ein Duo mit besonderem Esprit-Faktor: der französische Bassklarinettist Michel Portal und der franko-amerikanische Pianist Jacky Terrasson. In der Stunde vor Mitternacht schickt Moers das nächste Ensemble aus New York in den Äther: Steven Bernstein und sein quicklebendiges Millennial Territory Orchestra. Nach den 0.05-Nachrichten bestücken WDR 3 und Ö1 die Nacht mit Aufzeichnungen und Mittschnitten der jeweils ersten Festivaltage: die INNtöne zu den geraden Stunden (voraussichtlich mit dem Ensemble um den US-Sänger Dwight Trible und das multinationale Quartett des österreichischen Trompeters Daniel Nösig). Moers folgt in den ungeraden Stunden – unter anderem mit Sharon Jones & The Dap Kings aus New York und der Sängerin Eldbjørg Raknes aus Norwegen. Premieren über Premieren also... Die letzte Sendestunde teilen sich wiederum beide Festivals mit kurzen Aufzeichnungen. Fotos: Klaffenböck (INNtöne 2006), Oliver Heisch (moers festival 2006)­­­­


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mœrs festival 2007

geschichte

moers revisited 6. Internationales New Jazz Festival Moers 1977

Das moers festival schaut zurück auf die eigene Geschichte? Es ist spannend, in den alten Festivalprogrammen Parallelen zu Heute zu entdecken und zu prüfen, ob man sich schon damals der Bedeutung des „Internationalen New Jazz Festivals Moers“ bewusst war. Wir holen jedenfalls die alten Programmhefte aus dem Archiv, um mit dem 1977er-Jahrgang beginnend Auszüge daraus wieder zu veröffentlichen – „moers revisited“ wird in den kommenden Festivalmagazin-Ausgaben fortgesetzt.

begleitetet hatten, gab es in der ’77erAusgabe eine entscheidende Neuerung. Wurden in den vorangegangen Heften die auftretenden Bands mit Besetzungen – wenn überhaupt – und Terminen aufgelistet, allenfalls unterbrochen durch Zitate und Bilder von Musikern, so fand sich im Programmheft von 1977 ein: Vorwort. Doch dieses Vorwort war anders, als man es erwarten konnte. Hier gab es nicht nur Lobreden auf das FestivalProgramm oder das organisatorische Umfeld, keine Bitten oder Aufrufe an das Publikum. Vielmehr schrieb Dr. Wolfgang Biesterfeld, promovierter Literaturwissenschaftler, der später am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien in Kiel lehrte, einen Essay zum Begriff

des „Neuen“. Unter anderem stellte er Bezüge her zwischen dem „New Jazz“ im Festivalnamen und zeitgenössischen, aber nicht nur musikalischen Kunstströmungen. „Anspruch und Verpflichtung“, so die Überschrift, gegenüber dem Neuen waren schon vor 30 Jahren für ein ambitioniertes Musikfestival wie das in Moers maßgeblich, um inhaltlich kompetent und darüber hinaus gesellschaftlich relevant zu sein. Übrigens war Dr. Wolfgang Biesterfeld nicht nur Autor im Programmheft: 1978 stand er beim „7. Internationalen New Jazz Festival Moers“ selbst auf der Bühne – als Saxofonist und Klarinettist der Band Blasverbot, unter anderem mit Christoph Eidens am Vibrafon.

Anspruch und Verpflichtung – Gedanken zum Begriff des „Neuen“ Wenn wir von einer Sache sagen, sie sei „neu“, meinen wir damit etwas noch nicht da Gewesenes, bisher Unbekanntes. „Neu“ kann dabei in Polarität zu alt, überholt, unbrauchbar, abgenutzt stehen und das Junge, Zeitgemäße, Unverbrauchte, Moderne bezeichnen. Das Neue tritt an die Stelle eines anderen und möchte gemeinhin als das Bessere erscheinen. Das Etikett „neu“ kann verschiedene Wirkungen haben: Es erregt Interesse, zwingt zur Auseinandersetzung, weckt Hoffnung, weckt schlicht Kauflust. Man muss in der Einschätzung dieses Etiketts sehr wohl unterscheiden zwischen einer neuen Fernsehansagerin, einer neuen Philosophie, einem neuen Medikament oder einer neuen Zigarettenmarke. Dasselbe Etikett kann von der Mühe dispensieren, vorhandene unbequeme, unverarbeitete oder unverstandene Phänomene verständlich einzuordnen; wer in unseren großen Lexika sieht, wie viele Stichwörter sich zwischen Neoabsolutismus und Neozoikum pferchen lassen, vermisst oft eine befriedigende Auskunft über das, was hinter den Stichwörtern steht. In Weiterbildung und Wortkombinationen der Alltagssprachen ist der Bestandteil „neu“ häufig anzutreffen: Prägungen wie Neuigkeit, Neugier und Neuwert sind gängig, die redensartlichen Wendungen vom „neue Wege gehen“ und dem „neuen Wein in alten Schläuchen“ erscheinen vertraut. Ein fester Begriff im Zusammenhang mit „neu“ liegt vor etwa in „Neue Welt“, und dieser ist bereits viel mehr als eine geographische Bezeichnung früherer Zeiten für Amerika, er beinhaltet Hoffnung auf totalen Neubeginn und unbegrenzte Möglichkeiten. Das „Neue“, wenn man es erst genug prüft und das Umgangssprachliche beiseite lässt, ist immerhin eine philosophische Kategorie, die man im Fremdwort als das „Novum“ zu fixieren sich gewöhnt hat. Ihre Wegbereitung wird bereits in Religion und Theologie erfahren. Im Neuen Testament, vor allem bei Paulus, hören wir vom „neuen Menschen“, es ist die Rede vom kompromisslosen Anfang und von gänzlicher Absetzung vom Vorherigen und Überkommenen, und der Stifter des Christentums konnte sagen: „Ich mache alles neu.“ Später ist das Novum

Programmheft 1977

Nachdem schon in den Jahren zwischen 1972 und ’76 Programmhefte das „Internationale New Jazz Festival Moers“


geschichte

28. 05.1977

Yosuke Yamashita Trio (Japan) Yosuke Yamashita, p / Akira Sakato, reeds / Shota Koyama, dr Guido Mazzon Quartet (Italy) Guido Mazzon, tp / Renato Geremia, reeds / Roberto Bellatella, b / Tony Rusconi, dr Portal - Dudek - Haurand - Courbois (France/BRD/NL) Michel Portal, cl, bcl, acc / Gerd Dudek, reeds / Ali Haurand, b / Pierre Courbois, dr Re-Percussion (USA/BRD/Suisse) Barry Altschul, dr, perc / Detlef Schoenenberg, dr, perc / Reto Weber, dr, perc Sam Rivers Trio (USA) Sam Rivers, reeds / Joe Daily, tu / Bobby Battle, dr, perc The World Saxophone Quartet (USA) Julius Hemphill, as / David Murray, ts / Oliver Lake, as / Hamiet Bluiet, bs

29. 05.1977

Blasverbot (BRD) Achim Niemann, reeds, fl / Daniel Jakobs, dr / Klaus Dusek, b / Christoph Eidens, p George Lewis Solo (USA) George Lewis, tb Anthony Braxton Quintet (USA) Anthony Braxton, reeds / Muhal Richard Abrams, p / George Lewis, tb / Dave Holland, b / Barry Altschul, dr

mœrs festival 2007 63

ein Element der linearen Geschichtsphilosophie, speziell der revolutionären Utopie; das Neue bezieht sich hier auf die neue Gesellschaft. Unter den zeitgenössischen Denkern ist es besonders Ernst Bloch, der das Neue im Zusammenhang mit dem Reizwort „Front“ und „Ultimum“ zur Kategorie erhebt und ihm in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ einen elementären Platz zuweist. Eine weitergehende Betrachtung des Begriffs „neu“ kommt nicht an der Feststellung vorbei, dass, weil jede Epoche etwas als neu empfinden mag, dieses Neue von der jeweils nachfolgenden Epoche in seinem Neuigkeitscharakter relativiert werden kann. Gerade im Bereich der ästhetischen Disziplinen stellt sich die Frage, mit welchem Recht sich eine Kunst als neu bezeichnen darf und ob es auch in Zukunft neue Kunst geben wird. Die meisten ästhetischen Disziplinen haben sich doch in einer oder mehreren Stationen ihrer Geschichte als wesenhaft neu verstanden; der Begriff „Neue Welle“ beispielsweise im 20. Jahrhundert ist gleichermaßen als „nouvelle vague“ im französischen Film wie als „new wave“ in der amerikanischen Science Fiction anzutreffen. Was also ist das Neue an einer neuen Kunst, und wie steht es hier mit der Musik, mit dem New Jazz? Machen hier lediglich neues Material, neue Werkzeuge, neue Techniken und neue Thematiken das Neue aus? Auf diese komplexe Frage sind so verschiedene Antworten denkbar, dass wir nur zwei sehr prinzipielle zu geben wagen. 1. Es ist in der Tat auf den ersten Blick unendlich schwer, Neues und immer wieder Neues zu produzieren. Die Schöpfer des Neuen müssen jedoch keineswegs über der Lust am Hinzugewonnenen die Verfügbarkeit der Tradition vergessen: Eine ständige Anwesenheit der Totalität des Bisherigen gibt neuer Musik ein unerschöpfliches Materialreservoir an die Hand, und das Neue kann sich in immer neuen Kombinationen dieses Materials bezeugen. Neue Musik und New Jazz können so immer ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten bleiben und auch in Zukunft das Etikett „neu“ tragen, ohne sich als das „Neuste“ zu bezeichnen, was in die Nähe des Marktschreierischen geriete und nicht ernstgenommen werden müsste. 2. Die unbegrenzten Möglichkeiten aber müssen ausgeschöpft werden, denn der Künstler, der das Etikett des Neuen für sich beansprucht, ist seinerseits dem Neuen als Prinzip gegenüber verpflichtet. Diese Verpflichtung besteht darin, auf der ständigen Suche nach der Alternative zu sein, sie bewegt sich zwischen den Polen der Denkbarkeit und der Machbarkeit, sie muss eine Affinität zum Utopischen haben. Dieses Wort impliziert wiederum soviel an Gesellschaftsbezogenheit, dass das Problem des Verhältnisses von neuer Musik und neuer Gesellschaft unabweisbar thematisch wird. Sollen wir in diesem Verhältnis die Rolle der Musik dogmatisch als Wiederspiegelung, neutral als Korrespondenz, oder mit utopischem Bewusstsein als Fanal und Vorschein verstehen? Theodor W. Adorno hat in seiner „Ästhetischen Theorie“ dieses Verhältnis in hervorragender Weise zur Sprache gebracht, indem er Probleme der Gesellschaft gerade im musikalischen Bild verständlich zu machen sucht: „Das Verhältnis zum Neuen hat sein Modell an dem Kind, das auf dem Klavier nach einem noch nie gehörten, unberührten Akkord tastet. Aber es gab den Akkord immer schon, die Möglichkeiten der Kombination sind beschränkt, eigentlich steckt alles schon in der Klaviatur.“ Wenn man auch jedes Zitat verschieden auslegen kann, ist in diesem zumindest enthalten, dass es nur eine Frage der Kombination von Vorgegebenem ist, deren es bedarf, um neue Kunst und neue Gesellschaft ins Leben zu rufen. Wie stehen die, die neue Musik produzieren zu diesem Problem? Wie weit ist ihnen eine solcher Zusammenhang gegenwärtig oder gar Anliegen? Einer von ihnen, vielleicht der bedeutendste, sagte nur: „Come and listen“, und wir dürfen uns fragen, ob er damit meinte: „Hört’s euch doch mal an“, oder: „Wer Ohren hat zu hören, der höre.“ Dr. Wolfgang Biesterfeld (1977)


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mœrs festival 2007

geschichte

Christmann - Schoenenberg - Duo (BRD) Günter Christmann, tb / Detlef Schoenenberg, dr, perc Air (USA) Henry Threadgill, as, fl / Fred Hopkins, b / Steve McCall, dr, perc Paul Ruthertord - Barry Guy - Duo (England) Paul Rutherford, tb / Barry Guy, b Art Ensemble of Chicago (USA) Lester Bowie, tp, perc / Joseph Jarman, reeds, perc / Roscoe Mitchell, reeds, perc / Malachi Favours, b, perc / Don Moye, dr, perc

30.05.1977

Robert Schumann Quartett (BRD) Plays Compositions of Anthony Braxton Charles Tyler Quartet (USA) Charles Tyler, bs / Earl Cross, tp / Ronny Boykins, b / Steve Reid, dr, perc Lovens - Lytton - Sextet (GB/BRD/ USA) Kenny Wheeler, tp / Evan Parker, reeds / Paul Rutherford, tb / Dave Holland, b / Paul Lovens, dr, perc / Paul Lytton, dr, perc


geschichte

mœrs festival 2007 65 Muhal Richard Abrams - Malachi Favours – Duo (USA) Muhal Richard Abrams, p / Malachi Favours, b David Friedmann & Double Image (USA) David Friedmann, vib / David Samuels, marimbaphone / Harvie Swartz, b / Mike de Pasqua, dr Oliver Lake Quartet (USA) Oliver Lake, as / Gregory Jackson, g / Fred Hopkins, b / Paul Maddox aka Pheroen AK Laaf, dr Braxton - Jarman - Mitchel (USA) Anthony Braxton, reeds / Joseph Jarman, reeds / Roscoe Mitchel, reeds

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mœrs festival 2007 Impressum Festival Moers Kultur GmbH Meerstr. 2, 47441 Moers Telefon: +49 (0) 2841 / 20 11 18 Fax: +49 (0) 2841 / 20 18 74 E-Mail: festival@moers.de Web: www.moers-festival.de Geschäftsführung: Ralf Worgul Vorsitzende des Aufsichtsrats: Carmen Weist Stellv. Vors. des Aufsichtsrats: Stefan Doll Vorsitzender des Beirats: Christoph Melzer moers festival-Team Künstl. Leitung: Reiner Michalke Kuratorin „concerts in the dark“: Gunda Gottschalk Festivalbüro: Sabine Lange, Agnes Psykala, Sandra Baetzel, Marina Speckamp Artist Relation: Anandita Schinharl Public Relation: Kornelia Vossebein, Doro Zauner

impressum & service Marketing: Oberhaus Kulturmanagement, Karl Martin Wagner, Carlo Hohmann Webmaster: Olaf Kluck Corporate Design: Boros GmbH Agentur für Kommunikation Moderation Festivalzelt: Odilo Clausnitzer, Simonetta Dibbern Festivalmotiv (Bild & Ton): Jutta Koether moers festival-Radio: Johanna Bächer (Chefredaktion), Diana Arapovic, Nina Fiedler, Dietmar Horn, Keno Mescher, Florian Stein, Bernhard Osinski, Michael Poetters (Sendetechnik) Podcasts: Sven Meurer, Cornelius Kämmerling Musikerbetreuung: Jana Heinlein, Jonna Grimstein Kassenleitung: Alexandra Kinne Produktionsleitung: Gerhard Veeck Technische Leitung: Rainer Knauf Stage Management: Ed Greer Technisches Team: Ralf Wolters (Toningenieur FOH), Mark Buss (Toningenieur MON),

Sebastian Wendt & Björn Wiesehöfer (Mikrofonie), Oliver Müller (Stage), Joerg Schuchardt (Lichtdesigner/Operator), Martin Gottschall (Videoingenieur), Frank Kasper (Soundsystem Ingenieur), Dirk Peters (Technik Dunkelzelt), Stefan Hartmann-Firnich (Pianotechnik) Festivalmagazin Redaktion: Martin Laurentius, Reiner Michalke Autoren: John Clare, Henrik Drüner, Martin Gansinger, Yan Jun, Wolf Kampmann, Reinhard Köchl, Uli Lemke, Eric Mandel, Ssirus W. Pakzad, Josef Woodard Fotografen: Agenturen, Anja Elmine Basma, Ziga Koritnik, Christian Nielinger, Dulce Pinzon Übersetzung: Elmar Lamers (Englisch/Deutsch), Gao Yi & Wang Ning (Chinesisch/Deutsch) Titelbild: Jutta Koether Grafik: Birte Berns Produktion: Agentur Berns www.agenturberns.de Auflage: 5.000 Eintrittspreise Festivalticket: € 68,- Vorverkauf 1 € 78,- Tageskasse Tagesticket: € 32,- Vorverkauf 1 € 32,- Tageskasse Jugendliche: 2 Festivalticket: € 32,- Tageskasse Tagesticket: € 16,- Tageskasse Tickets „the night“: € 12,- / € 6,- 2 1 Vorverkauf zzgl. Vorverkaufsgebühren 2 Jugendliche bis einschließlich 21 Jahre (nur an der Tages/Abendkasse am jeweiligen Spielort mit Lichtbildausweis) Vorverkauf: Tickets gibt es an allen bekannten VvkStellen, Online-Bestellung: www.moersfestival.info „Tickets“ Wichtiger Hinweis: Festival- und Tagesticket berechtigen zum kostenlosen Eintritt zu „the morning“ und zu den „concerts in the dark“. Festivaltickets berechtigen zusätzlich zum kostenlosen Eintritt zu „the night“, „midnight spezial I & II“ („Billie Holiday“: begrenzte Platzanzahl – first come, first served) und in das Freibad „Solimare.

moers-festival-Radio Nach dem erfolgreichen Einstand in 2006 gibt es auch diesmal wieder ein moers-festival-Radio. Im ganzen Moerser Stadtgebiet lässt sich über die UKW-Frequenz 93,7 MHz das komplette Programm mitverfolgen – entweder stationär am Radiogerät zuhause oder in der Kneipe, oder mobil mit den eigens auf dem Festivalgelände für drei Euro zu bekommenden Mini-Radios. Eine eigene Festival-Radioredaktion bringt zusätzlich Interviews mit vielen Musikern, die in diesem Jahr in Moers zu hören sind, und liefert zahlreiche News und Infos rund um das moers festival 07 – dank der Technik des Westdeutschen Rundfunks in bester Klangqualität.

Adressen Festivalzelt: Freizeitpark Moers Hotel Van der Falk: Krefelder Str. 169 Dunkelzelt (gegenüber dem Schlosstheater): Kastell 6 Schlosstheater Moers: Kastell 6 Kantine im Neuen Rathaus: Eingang über Kastell Die Röhre: Weygoldstr. 10 *Tribera (Triangle below Rathaus): Kantine im Neuen Rathaus, Schlosstheater Moers, Dunkelzelt


Die Träger / Principal Patrons:

Die Partner / Partners:

Die Förderer und Medienpartner / Funders and Media Partners:

Kulturpartner

Wir bedanken uns bei der Firma Union Getränke, dem Autohaus Minrath, dem Hotel Van der Valk und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband für Ihre freundliche Unterstützung


Session: 16 Uhr Konzert: 19 Uhr

Dunkelzelt

Session: 16 Uhr Konzert: 19 Uhr

midnight spezial I Denis Gäbel Band & Gäste / 24 Uhr midnight spezial II Schlosstheater

Billie Holiday – Lady sings the blues / 24 Uhr

Berimbrown / 24 Uhr midnight spezial I Die Röhre

Denis Gäbel Band & Gäste / 24 Uhr midnight spezial II Schlosstheater

Billie Holiday – Lady sings the blues / 24 Uhr

Antibalas / 23 Uhr midnight spezial I Die Röhre

Denis Gäbel Band & Gäste / 24 Uhr

Jutta Koether 2006

Programmänderungen vorbehalten!

Brooklyn Funk Essentials / 24 Uhr

Hotel Van der Falk

Hotel Van der Falk

Konzert: 17 Uhr Konzert: 19 Uhr

Dunkelzelt

concerts in the dark

mœrs festival Magazin

Die Röhre

Hotel Van der Falk

the night

the night

the night

concerts in the dark Dunkelzelt

concerts in the dark

Mai 2007

Peking / Trondheim-Oslo / Köln-Berlin / 11 Uhr Peking / Trondheim-Oslo / Köln-Berlin / 11 Uhr

Peking / Trondheim-Oslo / Köln-Berlin / 11 Uhr

Tribera*

the morning

the morning Tribera*

the morning

Hayden Chisholm The Embassadors / 14 Uhr Zu & The Thing / 15.15 Uhr Mikko Innanen & Innkvisitio / 16.30 Uhr Fennesz & Mike Patton / 17.45 Uhr Hiromi / 19 Uhr

Festivalzelt

Montag 28. Mai 2007

Tribera*

FM3 / 20 Uhr Sidsel Endresen & Humcrush / 21.15 Uhr Steve Coleman & Opus Akoben / 22.30 Uhr

Gnawa Crossroads / 15 Uhr Andrea Keller Quartet / 16.15 Uhr Olaf Rupp & Shoji Hano / 17.30 Uhr

Eckard Koltermann Border Hopping / 15 Uhr Eldbjørg Raknes TINGeLING / 16.15 Uhr Keiji Haino+Merzbow: Kikuri / 17.30 Uhr Cornelius / 20 Uhr Anthony Braxton Sextet + 1 / 21.15 Uhr Steven Bernstein‘s MTO / 22.30 Uhr

Festivalzelt

Festivalzelt

Festivalzelt

Oral Beats & Strukt / 18 Uhr GRH Trio feat. Earl Howard / 19 Uhr Ultralyd / 20.15 Uhr Sharon Jones & The Dap Kings / 21.30 Uhr

Sonntag 27. Mai 2007

Samstag 26. Mai 2007

Freitag 25. Mai 2007

ÜBERSICHT

Schutzgebühr: EUR 3.-

Festivalmagazin

www.moers-festival.de


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