Empreintes 01 | 2008

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Ursachen dieser Entwicklungsstörung werden verschiedene Faktoren (u.a. Mangelernährung, Stoffwechselerkrankungen oder Infektionskrankheiten) diskutiert. Die Schmelzanomalien entstehen während der Zahnbildung – also in der Kindheit – und ihre Auswertung ermöglicht nicht nur Einblicke in den Gesundheitsstatus während der Wachstumsphase, sondern verweist auch auf das Alter, in dem die entsprechenden Beeinträchtigungen auftraten. Das Entstehungsalter der hypoplastischen Episoden wurde anhand der Entfernung des Schmelzdefektes von der Schmelz-Zement-Grenze bestimmt 20. Entsprechende Veränderungen an mehreren Zähnen eines Individuums wurden zusammengefasst, wenn sie während derselben HalbjahresPeriode entstanden sind. Zahnschmelzhypoplasie konnte lediglich bei zwei der 26 „Traufkinder“ festgestellt werden. Bei dem zwei- bis zweieinhalbjährigen Knaben (821a) entstanden die Schmelzdefekte im Alter von ungefähr 6 Monaten. Die Bezeichnung LHPC steht für ‚localized enamel hypoplasia of the primary canine’ – ein Schmelzdefekt, der am häufigsten in der Phase entsteht, wenn das Kind Objekte in den Mund steckt, wobei der Zahnschmelz schon vorher geschwächt worden war 21. Der rund achtjährige Knabe (760a) litt entweder unter einer chronischen Erkrankung oder einer komplexen Entwicklungsstörung. In der Altersverteilung der hypoplastischen Defekte sind mehrere Krankheitsepisoden erkennbar, die sich erstmalig im Alter von 6–12 Monaten im Zahnschmelz niederschlugen. Anschließend lassen sich mehrere Episoden zwischen zwei und vier Jahren und später noch zwischen fünf und fünfeinhalb Jahren beobachten.

D. J. Ortner, S. mays, Dry bone manifestations of rickets in infancy and early childhood. International Journal of Osteoarchaeology 8, 1998, 45-55. 21 S. W. Hillson, Diet and dental disease. World Arch. 11, 1979, 147-162. – P. Caselitz, Caries–Ancient plague of humankind. In: K. W. Alt, F. W. Rösing, M. Teschler-NICOLA (Hrsg.), Dental Anthropology (Wien 1998) 203-226. 22 S. ULRICH-BOCHSLER, Von Traufkindern, unschuldigen Kindern, Schwangeren und Wöchnerinnen. Anthropologische Befunde zu Ausgrabungen im Kanton Bern. In: J. Schibler, J. Sedlmeier, H Spycher (Hrsg.) Beiträge zur Archäozoologie, Archäologie, Anthropologie, Geologie und Paläontologie. Festschrift für Hans R. Stampfli, 1990, 309-318. 23 vgl. u.a. S. ULRICH-BOCHSLER, E. Schäublin, Beobachtungen an Bestattungen in und um Kirchen im Kanton Bern. Archives suisses d’anthropologie générale, Genève, 47, 1983, 65-79. – J. Wahl, Über Traufkinder und andere Bestattungen. In: Miscellanea Anthropologica, Historica et Archaeologica. 20 Jahre Historische Anthropologie im Kanton Bern. Jubiläumsschrift für Susi Ulrich-Bochsler (Bern 1994) 51-53. 24 P. Eggenberger, M. Rast Cotting, S. ULRICH-BOCHSLER, Wangen an der Aare, reformierte Pfarrkirche, ehemaliges Benediktinerpriorat, Schriftenreihe der Erziehungsdirektion des Kantons Bern (Bern 1991) 79 ff. 20

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Cribra orbitalia (poröse Veränderungen im Bereich des Augenhöhlendachs) gelten im Allgemeinen als Anzeiger für Mangelerkrankungen (v.a. Eisenmangel), die durch Parasitenbefall und/oder ungünstige Ernährungsbedingungen hervorgerufen werden 22. Bei den „Traufkindern“ von Grevenmacher kommen derartige Porositäten nur zweimal in starken Ausprägungsgraden vor: Bei einem ca. 2-jährigem Knaben (821a) deuten mehrere Knochen- und Zahnveränderungen auf eine mögliche Rachitis 23 hin, die wiederum als Folge einer Vitamin D-Mangelernährung oder Absorptionsschwäche angesehen werden, aber auch durch zu geringe UV-Licht-Exposition bedingt sein könnte. Letzteres kommt nur vor, wenn das betreffende Individuum den größten Teil seines Lebens in geschlossenen Räumen verbracht hat. In präindustriellen Gesellschaften wären solche Umstände allerdings ungewöhnlich und wohl nur als Folge einer körperlichen oder geistigen Behinderung zu sehen. Entsprechende Anzeichen sind bei diesem Knaben jedoch nicht fassbar. Nur bei einem Individuum, dem etwa 8-jährigen Knaben (760a), wurde Karies beobachtet. Es handelt sich um Wurzelhalskaries in fortgeschrittenem Stadium am zweiten Milchbackenzahn unten rechts. Zahnsteinablagerungen hingegen sind bei vier Individuen, das jüngste 2–4 Jahre alt, festzustellen. Dies deutet auf eine eher proteinreiche und kohlehydratarme Ernährung hin 24 – also ein Überwiegen von Milchprodukten und Fleisch gegenüber Cerealien. Bei mittelalterlichen Populationen wird dies gemeinhin mit einem gehobenen Status und Wohlstand in Verbindung gebracht, obwohl ein Überwiegen der Viehhaltung auch ein Regionalphänomen oder Folge demografischer Entwicklungen sein konnte (z.B. nach Pestepidemien). Insgesamt gibt die vorliegende Serie damit vergleichsweise wenige Anzeichen zu erkennen, die auf eine schwierige Ernährungssituation hinweisen würden. Im Gegenteil, es kann eher von einer quantitativ und qualitativ guten Subsistenzgrundlage ausgegangen werden. In drei Fällen können Gefäßeinsprossungen im Schädelinneren, d.h. Symptome einer länger dauernden Meningitis (Hirnhautentzündung) diagnostiziert werden. Damit ist dieses Phänomen vergleichsweise häufig. Ursache können verschleppte Infektionen der oberen Atemwege sein, die zu einer Ausbreitung von sekundären Erregern ins Neurocranium führten. Dies muss nicht zwangsläufig fatal enden, könnte aber durchaus den Tod gerade für kleinere Kinder bedeutet haben. Die Eskalation einer an sich banalen Infektion ist bei unzureichender medizinischer Versorgung, insbesondere fehlender Antibiose, keine Rarität. Auch die Entzündung der


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