Artikel aus dem Behörden Spiegel August 2012, www.behoerdenspiegel.de
Eine neue Elite braucht das Land Demographiepolitik in Thüringen (BS) “Wir müssen nur darauf achten, dass wir nicht zurück in eine Phase der theoretischen Erörterung kommen, sondern mit handfester konkreter Politik dem Thema Rechnung tragen”, fordert Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht in Sachen Demographiestrategie. Mit dem Behörden Spiegel sprach sie über Abwanderung und Alterung in Thüringen, die Altschuldenproblematik im Wohnungsbaubestand, eine Gemeindegebietsreform und die Neufassung eines Beamtendienstrechts vor dem Hintergrund der demographischen Herausforderungen. Das Interview führte Behörden Spiegel-Chefredakteur und Herausgeber R. Uwe Proll.
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ehörden Spiegel: Demographiepolitik hat im Freistaat Thüringen einen hohen Stellenwert, denn das Land ist ja in zweifacher Hinsicht betroffen, einmal von Abwanderung und zum anderen von der allgemeinen Alterung. Lässt sich die Abwanderung stoppen oder gar zurückdrehen?
Lieberknecht: Die demographische Situation in den östlichen Bundesländern ist durch einen zweifachen Verlust an jungen Menschen gekennzeichnet. Da war zum einen die enorme Abwanderung Anfang der 90er Jahre, gefolgt von einer etwas abgeflachten Abwanderungsbewegung in den letzten Jahren. Unser Ziel ist ganz klar, ein ausgeglichenes Saldo hinzubekommen, also unsere Einwohnerzahlen nicht durch Abwanderung zu verringern. Wir haben politische Gestaltungsmöglichkeiten: Leute können zurückkommen und kommen auch zurück. Hier kann Politik einen Beitrag leisten. Thüringen ist attraktiv geworden. Wir haben eine Wirtschaftsdichte, die sonst in ganz Deutschland nicht angetroffen werden kann, das ist ein Superlativ! Wir machen daraus keine große Schlagzeile, doch ich nenne Ihnen hierzu mal ein paar Zahlen: 81 Industriebetriebe kommen auf 100.000 Einwohner. Wir haben nicht
Christine Lieberknecht ist Ministerpräsident des Freistaats Thüringen. Foto: BS/Staatskanzlei Thüringen
die großen Unternehmenszentralen hier in Thüringen, aber wir haben eine dichte Struktur kleiner Unternehmen. Auf 1.000 Einwohner kommen zehn Handwerksbetriebe, das sind Menschen, die die Ärmel hochkrempeln und eben auch Ausbildungsplätze schaffen. Behörden Spiegel: Sehen Sie Anzeichen dafür, dass Sie ein ausgeglichenes Saldo erreichen können? Lieberknecht: Die Entwikklung sehe ich durchaus positiv, dass es uns gelingen wird, wieder mehr junge Leute hier zu halten. Auch ein Indiz hierfür, dass wir in Thüringen attraktiver geworden sind, ist die Tatsache, dass 40 Prozent der an thüringischen Hochschulen Studierenden inzwischen aus den sogenannten alten Ländern kommen. Sie gehen nach Jena, Ilmenau, nach Nordhausen oder Weimar. Sie schätzen dort das gute Studienangebot und noch viel mehr die guten Studienbedingungen.
Behörden Spiegel: Nun bestimmt den demographischen Wandel allgemein die rasante Alterung der Gesellschaft. Auch ein thüringisches Problem. Wichtiger als die Ab-
wanderung? Lieberknecht: Natürlich ist die Bevölkerungsentwicklung, also der Rückgang der Bevölkerungszahl aufgrund der niedrigen Geburtenzahlen bei gleichzeitigem Anstieg des Durchschnittsalters der Bevölkerung das gravierendere und in seiner Wirkung langfristig bedeutendere Problem. Diese Thematik ist eine langsam, aber sehr langfristig wirkende Entwicklung, die in Thüringen bereits zu Beginn der 90er-Jahre eingesetzt hat. Es gibt kein Beispiel in der Geschichte, weder in der deutschen noch in der europäischen oder in irgendeinem Land auf dieser Welt, wo von einem auf das nächste Jahr die Geburtenzahl glatt halbiert worden ist wie im Jahr 1991/92. Die Folgen haben wir seit 20 Jahren zu verkraften. Die damals Geborenen haben heute das Schulsystem durchlaufen, sind in der Berufsbildung angekommen und werden demnächst dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Da zeigt sich schon jetzt ein Arbeits-
kräftemangel, der für unsere wirtschaftliche Entwicklung negative Folgen haben wird. Behörden Spiegel: Welche institutionellen Instrumente sind in Thüringen zum Umgang mit dem demographischen Wandel geschaffen worden? Lieberknecht: Wir haben eine Service-Agentur Demographischer Wandel eingerichtet, die das Demographie-Thema als wirkliche Querschnittsaufgabe für alle Ministerien, alle Politikbereiche und das tägliche Leben, sowohl das private wie das wirtschaftliche, als einheitlich begreift. Neben der Ehrenamtsstiftung haben wir, das ist einmalig in Deutschland, einen Generationenbeauftragten berufen, der Multiplikatorenschulungen im Land durchführt, an denen alte und junge Menschen gleichermaßen teilnehmen, um Potenziale und Chancen besonders für Kommunen auszuloten. Die thüringische Akademie ländlicher Raum widmet sich besonders der demographischen Situation in den ländlichen Bereichen. Im Grunde ist die Service-Agentur ein Managementund Vernetzungsinstitut. Behörden Spiegel: Warum hat das Demographie-Thema so lange gebraucht, um auf die Prioritätenliste der Politik weit nach oben zu kommen? Hatte nicht schon Franz-Josef Strauß vor 40 Jah-