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Lebensträume

”Wir tun gut daran, Glück und Zufriedenheit nicht in die ferne Zukunft zu verlegen „ Der Mensch braucht Träume, um die Möglichkeiten des Lebens auszuloten, sagt der Philosoph Wilhelm Schmid. Ob man sie realisiere oder nicht, sei zweitrangig. Er selbst träumt von Ecuador und einer Tasse Kaffee unter Greisen. Interview: Lukas Hadorn Foto: Gregor Hohenberg

Haben Sie auch Träume, Herr Schmid?

Diese Frage hat mich vor rund einem Jahr sehr stark beschäftigt, als ich sechzig Jahre alt geworden bin. Das hat mich getroffen wie der Blitz, und ich habe mich gefragt, was ich in meinem Leben bisher gemacht habe und welche Träume ich noch realisieren möchte. Und?

Ich habe immer von einer Reise um die Welt geträumt. Und jetzt ist die Zeit gekommen, diesen Traum in die Realität umzusetzen. Sobald ich pensioniert bin, werden meine Frau und ich damit beginnen, die Welt zu bereisen. Mit der Organisation haben wir bereits begonnen. Wo soll es denn hingehen?

Rundherum. Ein erster Schwerpunkt ist Ecuador. Dieses Land fasziniert mich. Vielleicht, weil der Äquator mittendurch führt. Oder weil unsere Bananen von dort kommen. Im Tal der Hundertjährigen soll es auch einen sehr guten Kaffee geben. Ich erhoffe mir einiges davon, dort eine Tasse zu trinken (lacht). Wie wichtig ist es, Träume auch wirklich zu realisieren, so wie Sie das tun?

Das ist keineswegs zwingend. Träume haben für den Menschen in erster Linie 18

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Philosoph Schmid Denken und schreiben Wilhelm Schmid (61) lebt als freier Philosoph in Berlin. Er ist einer der bekanntesten Philosophen im deutschsprachigen Raum und Autor zahlreicher Bücher. Sein jüngstes Werk, «Gelassenheit – Was wir gewinnen, wenn wir älter werden», Verlag Insel, schaffte es nur eine Woche nach der Veröffentlichung in die Top zwanzig der Spiegel-Bestsellerliste. 2012 erhielt Schmid den deutschen Meckatzer-PhilosophiePreis für besondere Verdienste bei der Vermittlung von Philosophie, 2013 wurde er von der Dr. Margrit Egnér-Stiftung für sein Werk zur Lebenskunst ausgezeichnet. Wilhelm Schmid ist im Wechsel mit der Schweizer Philosophin Katja Gentinetta als Kolumnist für Vivai tätig. www.lebenskunstphilosophie.de

eine transzendente Funktion. Das bedeutet, dass sie uns helfen, das Leben zu öffnen und den Horizont zu erweitern. Sie machen es möglich, dass wir auch in der Enge des Alltags unseren Gedanken und Gefühlen freien Lauf lassen. Dann können Träume also komplett unrealistisch sein?

Grundsätzlich schon, ja. Wobei es für viele Menschen wichtig ist, dass die Träume wenigstens realisierbar sind. Ob man sie dann realisiert, ist zweitrangig. Aber es sollte zumindest theoretisch möglich sein. Das ist der geistige, gedankliche Sinn von Träumen in unserem Leben: Sie geben uns Ziele und einen Zweck, für den wir leben. Brauchen wir solche Ziele?

Das scheint eine Besonderheit des Menschen zu sein, ja. Soweit wir es heute wissen, unterscheiden wir uns in diesem Punkt auch von den Tieren, die keine Projekte in ferner Zukunft konzipieren, um sie dann schrittweise umzusetzen. Der Mensch hingegen braucht etwas in der Ferne, worauf sich über die Zeit hinweg Spannung aufbauen lässt. Eine Weltreise zum Beispiel. So lautete Ihre Antwort, und es war auch die mit


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