Wandeln im Chaos. Festivalmagazin der 6. Internationalen Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec

Page 1

Internationale Messiaen-Tage Görli t z-Zgorzelec 12 . 01 . — 15 . 01 . 2023 Fes t ivalmagazin Wandeln im Chaos

Internationale Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 2023

Konzerte

Quatuor pour la fin du temps (O. Messiaen) und Quatuor pour l’Aurore des Temps (C. van Lunen)

normal 30,00 € ermäßigt 20,00 €

Festivalticket

Alle Veranstaltungen (ausgenommen Sonntagsbrunch am 15 01 22)

normal 80,00 € ermäßigt 50,00 €

Freiheit durch den wandelnden Augenblick Klavierrezital

normal 25,00 € ermäßigt 15,00 €

Rahmenprogramm

Führungen normal 7,00€ ermäßigt 4,00€

Klangrausch im Wandeln durch Jahrhunderte Orgelkonzert

normal 25,00 € ermäßigt 15,00 €

Menschen, die ins Lied sich retten Liedkonzert

Philosophisch-spiritueller Spaziergang normal 7,00€ ermäßigt 4,00€

Taxishuttle

4,00€

normal 25,00 € ermäßigt 15,00 €

Verleih uns Frieden Chorkonzert normal 25,00 € 3 MESSIAEN TAGE

Donnerstag

18 00

, 12.01.

REDE: Eröffnungsrede und Gedanken zum Wandeln im Chaos ▬ Prof. Dr. Peter Oliver Loew

Anschließend Empfang

20 00

Kulturforum Görlitzer Synagoge

Freitag , 13.01.

17 00

FÜHRUNG: Die Gedenkstätte Stalag VIII A ▬ Prof. Dr. Rolf Karbaum

Europäisches Zentrum

18 00

KONZERT: Klangrausch im Wandeln durch Jahrhunderte ▬  Filip Presseisen (Orgel), Mi-Seon Kim (Sopran), Denny Wilke (Orgel), Christian Kühne (Orgel)

Anschließend Podiumsgespräch mit Messiaen-Schüler

Thomas Daniel Schlee

ERÖFFNUNG: Ausstellung „Musik im okkupierten Polen 1939-1945“ ▬ Frank HardersWuthenow (Moderation)

Europäisches Zentrum

20 00

KONZERT: Menschen, die ins Lied sich retten ▬ Ania Vegry (Sopran), Katarzyna Wasiak (Piano), Frank Harders-Wuthenow (Moderation)

Europäisches Zentrum

Samstag , 14.01.

10 00

PODIUMSGESPRÄCH: Zwangsarbeit in Städten – Effekte auf den Wandel des Alltags ▬ Daniel Breutmann, Isabel Panek

Rabryka - Werk1

Sonntag , 15.01.

10 00

Heilige Messe mit Gedanken zum Wandeln im Chaos und Werken Messiaens ▬ Generalvikar Dr. Alfred Hoffmann, Domkantor Thomas Seyda Kathedrale St. Jakobus

12 00

SPAZIERGANG: Wandeln durch GörlitzZgorzelec – wie Böhme und Messiaen die Welt wahrnahmen ▬ Johannes Schäfer, Samuel Wagner

Vom Jakob-Böhme-Haus zum Europäischen Zentrum

15 00

Kathedrale St. Jakobus

PODIUMSGESPRÄCH: Mystik und Natur - wie Böhme und Messiaen die Welt verstanden ▬ Thomas Isermann, Thomas Daniel Schlee, Prof. Dr. Stefan Keym, Frank Seibel (Moderation)

Jakob-Böhme-Haus

17 00

PODIUMSGESPRÄCH: Lebenswandel über die Neiße hinweg ▬ Agnieszka Bormann, Hanna Ilnicka, Lothar Quinkenstein, N. N., Justyna David (Moderation)

Rabryka - Werk1

20 00

KONZERT: Verleih uns Frieden ▬ Ensemble der Europa Chor Akademie, Tobias Brommann (Orgel), Jan Hoffmann (musikalische Leitung) Kreuzkirche

11 30

Gemeinsamer Sonntagsbrunch ▬ mit dem Festivalteam und Festivalgästen Hinweis: nicht im Festivalticket enthalten Restaurant Villatoro in Zgorzelec

13 00

FÜHRUNG: Die Gedenkstätte Stalag VIII A ▬ Kinga Hartmann-Wóycicka, Alexandra Grochowski Europäisches Zentrum

14 30

KONZERT: Freiheit durch den wandelnden Augenblick ▬ Pierre-Laurent Aimard (Piano)

Anschließend Gespräch mit Pierre-Laurent Aimard und Prof. Dr. Stefan Keym

Europäisches Zentrum

17 00

KONZERT: Olivier Messiaen und Camille van Lunen: Quatuor pour la fin du temps – Quatuor pour l’Aurore des temps ▬ Broken Frames Syndicate

Anschließend: Podiumsgespräch mit Camille van Lunen Europäisches Zentrum

ALLE ANGABEN OHNE GEWÄHR. DER AKTUELLE STAND DES PROGRAMMABLAUFES IST HIER ZU FINDEN:
WWW.MESSIAEN-TAGE.EU/PROGRAMM-2023
PROGRAMM 5 MESSIAEN TAGE 4 MESSIAEN TAGE

Taxishuttle

Reservierung erforderlich unter: music@meetingpointmm.eu

Das Europäische Zentrum in Zgorzelec kann nach vorheriger Reservierung auch mit einem Taxishuttle erreicht werden. Weitere Informationen wie Abfahrtszeiten und Stationen sind auf der Website der Messiaen-Tage zu finden: WWW.MESSIAEN-TAGE.EU

Editorial 8

„Wandeln im Chaos

Vom Zeltkonzert bis heute 10 Eine Reflektion auf  Jahre Erinnerungsarbeit

Ein Orgelakkord von Olivier Messiaen… 14 Gedanken von Prof. Dr. Peter Oliver Loew

Veranstaltungsorte

Europäisches Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur Koźlice 1, Zgorzelec

Festivalcafé

Art Goreliz Weberstraße 9/10, Görlitz

Jakob-Böhme-Haus Daszyńskiego 12, Zgorzelec

Festivalbar

Kathedrale St. Jakobus An der Jakobuskirche 4, Görlitz

Kreuzkirche Erich-Mühsam-Straße 1, Görlitz

Kulturforum Görlitzer Synagoge Otto-Müller-Straße, Görlitz

Horschel Restaurant Untermarkt 1, Görlitz

Wandel – Chaos 16 Erinnerungsarbeit im Kontext der Zeit

Konzert: 20 Klangrausch im Wandeln durch Jahrhunderte

Gefangenschaft und Repression

Führungen, Spaziergang, Diskussionen: 48 Wandel und Wandeln in Görlitz und Zgorzelec

Das Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A 50 Eine historische Einführung

Konzert: 52 Menschen, die ins Lied sich retten Ausstellung: 59 Musik im okkupierten Polen - Gedenkarbeit im deutschpolnischen Dialog

Gedenken an Olivier Messiaen

Gegen das Vergessen 62 Die Arbeit des Meetingpoint Memory Messiaen

Kunst des Gedenkens 26 Der Meetingpoint Memory Messiaen und die Messiaen-Tage

Konzert: 30 Quatuor pour la fin du temps (O. Messiaen) Quatuor pour la l’Aurore des Temps (C. van Lunen)

Konzert: 38 Freiheit durch den wandelnden Augenblick

Konzert: 66 Verleih uns Frieden

Impressum 76

Rabryka - Werk I Conrad-Schiedt-Straße 23, Görlitz

DAS AKTUELLE FESTIVALPROGRAMM UND KURZFRISTIGE ÄNDERUNGEN FINDEN SIE AUF: WWW.MESSIAEN-TAGE.EU/PROGRAMM-2023

INHALT 7 MESSIAEN TAGE 6 MESSIAEN TAGE

Editorial

Selten war so viel Chaos. Erst hat die Corona-Krise die Ordnung des Alltags über Wochen und Monate außer Kra gesetzt. Dann erschütterte der Angri Russlands auf die Ukraine die Weltordnung und das Weltbild in Millionen von Köpfen. Eine Karikatur brachte diese Unordnung dieser Tage mit bitterem Humor auf den Punkt: Zwei Friedenstauben, Mutter und Vater, sitzen auf dem Sofa, Friedenstaube junior kommt mit einem Ko er ins Wohnzimmer und sagt: „Ich gehe zur Armee“.

Es ist zum Verrücktwerden, wenn alte Gewissheiten erschüttert werden. Es sei denn, man hält die irdische Ordnung per se für fragil und fragwürdig. Oder für unerträglich. Dann bleibt die Flucht – oder der Flug – in weite Höhen. Eskapismus?

Welt ucht ist ein Attribut, mit dem Olivier Messiaen und sein künstlerisches Scha en o etikettiert wurde und wird. Sind wir nicht aufgerufen, an der Verbesserung der Welt zu arbeiten, anstatt sich uns der damit verbundenen Last entziehen zu wollen?

Doch gerade in schwierigsten Zeiten wird deutlich, wie sehr Menschen sich nach einer Abkehr von der Sorgenschwere der Welt sehnen. Diese Sehnsucht ist so alt wie die Menschheit. In der Bibel spiegelt sie sich besonders eindrucksvoll in der O enbarung des Johannes. Olivier Messiaen ließ sich in der schwersten Zeit seines

Lebens von dieser Ho nungsvision inspirieren und schuf sein “Quatuor pour la n du temps“ zum größten Teil im Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A in Görlitz-Moys, wo er es am 15. Januar 1941 mit drei französischen Mitgefangenen uraufgeführt hat.

Der Begri des Eskapismus ist durchaus abschätzig konnotiert: als Flucht aus dem Hier und Jetzt des Augenblicks und seiner sozialen, kulturellen und wirtscha lichen Zwänge und Begrenzungen. Flucht versus Rebellion. In diesem Gegensatz ist erkennbar, wie sehr Messiaen mit dem verbreiteten gesellscha skritischen Zeitgeist der ersten Nachkriegsjahrzehnte über Kreuz lag.

Doch ist die Abkehr von der Welt beim tief religiösen Katholiken Messiaen nicht einfach eine Flucht ins Beliebige und Ungefähre; schon gar nicht eine Flucht in Konsum und Genuss. Vielmehr ist die Flucht vor den äußeren Umständen hier als zielgerichtete Suche nach einer Kra quelle, einem Frei-Raum in der Seele zu verstehen.

Insofern lässt sich Messiaens meditative Einkehr durchaus als subtile Form des Widerstands und der Selbstrettung deuten. Messiaens Musik lotet gleichsam die Vielschichtigkeit der menschlichen Existenz aus –und damit ihre Wandlungsfähigkeit.

Krieg und Gefangenscha reißen Menschen aus ihren sozialen Rollen in Beruf, Familie, Freundeskreis und werfen sie auf sich selbst zurück:

Wer bin ich ohne meinen sozialen Status, mein kulturelles Umfeld, meine Heimat?

In solchen Extremsituationen können sich Menschen neu nden oder er nden. Wandlungen sind nötig und möglich – im besten Fall.

Chaos erzeugt Wandel. Und doch bleibt da die Sehnsucht nach dem Vertrauten, das Menschen leitet. Dies gilt auch für die Internationalen Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec. Von 2008 bis 2020 wurde Olivier Messiaens Quartett auf das Ende der Zeit jedes Jahr am Tag der Urau ührung am historischen Ort gespielt. Immer am 15. Januar. Seit 2017 ist dieses singuläre Konzert Teil einer Dramaturgie, die einen Bogen über mehrere Tage spannt.

Dann hat die Corona-Pandemie zwei Jahre Pause verordnet. Das Festivalprogramm für 2021 hat diese Bedrohung thematisch aufgenommen: „Angst und Ho nung“. Ein dichtes, spannendes Programm ist entstanden – und war letztlich nie zu hören; aber zu lesen! Das Festival-Magazin, das als i-Tüpfelchen gedacht war, wandelte sich gewissermaßen zum Grundnahrungsmittel. Mehr war nicht. Oder doch: Im Oktober 2022 konnten wir Günter Baby Sommer gemeinsam mit Johannes Enders und Steffen Gaitzsch erleben, wie sie Olivier Messiaens „Quartett auf das Ende der Zeit“ als Jazz -Adaption im Gedenkzentrum auf dem einstigen Stalag - Gelände präsentierten.

„Wandeln im Chaos“: Das ist das Leitmotiv der Internationalen MessiaenTage Görlitz-Zgorzelec im Jahr 2023. Es ist ein programmatischer Versuch eines Perspektivwechsels. Chaos wird als Herausforderung und Chance begri en, Wandeln als Entscheidungsfeld und Gewinn.

Musik kann die Vielfalt von Wandlungen besonders eindrücklich machen – nicht nur durch Verstehen erkannter und bekannter Motive, sondern vor allem durch intuitives ästhetisches Wirken. Damit besinnen wir uns in unseren Konzerten zurück auf das oberste Ziel von Messiaens Scha en, dass Musik direkt und wirkmächtig spürbar werde.

Die Konzerte bieten eindrückliche Momente in der vollen Bandbreite zwischen dynamischem Exzess und nahezu vollständigem rhythmischem Stillstand. In dieser Art schweben, kreisen und ießen Motive besonders intensiv im Orgelkonzert ineinander und auseinander zwischen Stücken Johann Sebastian Bachs, Messiaens und seiner Schüler oder Inspirierten. Das Quartett von Messiaen transferiert Camille van Lunen in andere zeitlose Phänomene und Prozesse in der Natur- und Tierwelt, die sie ebenso hörbar macht.

Pierre-Laurent Aimard zelebriert in seinem Klavierrezital, wie Messiaen die modernen Stürze in den Augenblick zwar hochkomplex, aber auch eindrücklich erfahrbar in höchst meditativer Intensität entwickelte. In ebendieser Stimmung ru das Chor-

konzert in der Handschri diverser europäischer Komponisten nach Frieden.

Das Liedkonzert bietet der kompositorischen Virtuosität von Komponisten eine Bühne, die auf vielfältige Weise zu einem abrupten Lebenswandel aus Polen ins Exil gedrängt wurden, was in ihrer Musik deutlich wird.

Dieses Wandeln durch den Sog von musikalischem Rausch wird ergänzt durch Impulse über historische Orte und das heutige GörlitzZgorzelec, ihre Wandlungen und die Ein üsse auf vorige Generationen und auf uns. Wir erleben, wie die Welt mystisch wahrnehmbar werden kann – angeregt von Gedanken Messiaens und des Görlitzer Theosoph Jakob Böhme. Wir wollen ins Gespräch kommen, welchen Wandel wir wahrgenommen haben, wahrnehmen und welche Wandlungen wir wollen.

Lassen Sie sich also inspirieren von den Internationalen Messiaen-Tagen Görlitz-Zgorzelec 2023 – und von den Beiträgen in diesem Festival-Magazin.

Samuel Wagner, Künstlerischer Leiter der Internationalen Messiaen-Tagen Görlitz-Zgorzelec Frank Seibel , Vorstandsvorsitzender Meetingpoint Memory Messiaen e.V.
FOTO: © EMILIAN T SUBAKI, ACCEN TU S MUSIC 8 MESSIAEN TAGE
Frank Seibel
EDITORIAL 9 MESSIAEN TAGE
Samuel Wagner

Vom Zeltkonzert bis heute: 15 Jahre Erinnerungsarbeit

Vor wenigen Wochen feierte der Meetingpoint Memory Messiaen e.V. sein 15-jähriges Bestehen und 15 Jahre der Arbeit für das Gedenken an die Kriegsgefangenen des Stalags VIII A Görlitz, in welchem insgesamt 120.000 Kriegsgefangene aus aller Welt in den Jahren 1939-1945 von den Deutschen festgehalten wurden und über 10.000 davon nicht mehr nach Hause zurückkehrten.

Ein wenig seltsam war mir da schon, als wir uns an die Vorbereitung des Jubiläums machten. Eine Feierlichkeit in der Gedenkstätte genau jetzt in dieser Zeit, wo Kriegsgefangenenlager von den russischen Truppen in den besetzten Gebieten der Ukraine aufgebaut werden, junge Männer und Frauen dort gegen ihren Willen festgesetzt werden und auch gegen jede Regel des Krieges durch Drohnen und Bomben in Gefangenscha getötet werden.

Bis vor kurzem glaubten wir, dass die Zeit der Kriege, zumindest in unseren geogra schen Breiten, die Zeit der Gefangenenlager, der Ermordung von Zivilisten, hinter uns liegt. Die Realität erwies sich als grausam, das Gefühl der Sicherheit als trügerisch. Unsere Arbeit zur P ege der Erinnerung an die tragischen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und das Schicksal seiner direkten Opfer, der

Kriegsgefangenen, hat plötzlich eine neue Dimension angenommen. Es ist nicht nur notwendig, sich an die Vergangenheit zu erinnern und darüber zu sprechen, sondern auch, sich aktiv mit den aktuellen Geschehnissen auseinanderzusetzen und Stellung zu beziehen.

Nun blickten wir vor wenigen Monaten zurück auf unsere getane Arbeit für das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkrieges, und die Bedeutung des Ganzen für uns als Deutsche, Polen, Europäer.

Vor 15 Jahren radelte Herr Goetze, unser Vereinsgründer mit jungen Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern in das Wäldchen, das etwas außerhalb der Stadt Zgorzelec gelegen war. Dort traf er auf den Zgorzelecer Geschichtslehrer Roman Zgłobicki, der sich mit seiner Arbeit der Aufarbeitung der schrecklichen Geschichte des Stalags und seiner Gefangenen verschrieben hatte. Gemeinsam leiteten sie so die erste Jugendbegegnung, die wir heute Worcation nennen und die mehr ist als eine reine Begegnung. Denn durch die Medien, Kunst und Musik, so war es Herrn Goetzes Überzeugung, kann der Mensch und vor allem junge Menschen mehr begreifen und ein tieferes Verständnis für das, was schon so weit weg zu sein scheint, entwickeln– und was das Wichtigste

ist, auch innerliche Kra schöpfen, um ein mündiger und aktiver Bürger in unserer Gesellscha zu werden.

Die zweite Säule unserer Arbeit fand ebenfalls vor 15 Jahren ihren Anfang, als 2006 das erste sogenannte „Zeltkonzert“ stattfand. Ich selbst dur e das letzte Konzert in diesem Format 2014 mitorganisieren. Es war gleichzeitig auch das erste Konzert ohne Herrn Goetzes Anwesenheit und auch aus noch einem weiteren Grund der Beginn einer neuen Phase unserer Arbeit, denn schon am 16. Januar, nachdem das Zelt wieder abgebaut war, rollten die Bagger zum Aushub für das Fundament des Europäischen Zentrums Erinnerung, Bildung, Kultur an.

In deutsch-polnischer Kooperation ist es gelungen, der Gedenkstätte Stalag VIII A äußerlich eine Struktur und ein Dach zu geben. Was folgte, war auch ein Umbau der innerlichen Struktur unserer Arbeit und unserer Kooperation mit unserem Partner der Sti ung Fundacja Pamięć, Edukacja, Kultura.

Aus dem Zeltkonzert wurde das Januarkonzert mit historischem Rahmenprogramm, wurden die Messiaen-Tage – ein Festival für zeitgenössische Musik, das so klar wie noch nie an den historischen Ort, dessen Problematik und das Gedenken im europäischen Kontext geknüp ist.

15 JAHRE ERINNERUNGSARBEIT 11 MESSIAEN TAGE 10 MESSIAEN TAGE

Gemeinsam ist es uns ebenfalls gelungen, das Haus mit Besucher:innen zu füllen, die Verbindungen zu den Familien der Kriegsgefangenen weiter auszubauen und vor allem die historisch-politische Bildung der nächsten Generationen, die ich persönlich als unser wichtigstes Aufgabenfeld emp nde, zu modernisieren und aktiv weiterzuentwickeln. Unser neues Bildungsangebot – übrigens unser Corona-Baby – ist seit Mitte 2022 erhältlich und wird sehr gut angenommen. Innerhalb von drei Monaten haben wir über 20 Schülergruppen bei uns willkommen heißen dürfen. Nun bilden wir junge Erwachsene aus, die diese Gruppen bei uns betreuen werden.

Bei den Vorbereitungen zum Jubiläum wurde aber ebenfalls sehr deutlich, dass unsere Arbeit immer von einem Mangel an Informationen über das Stalag VIII A an sich geprägt ist. Von über 120.000 Kriegsgefangenen, die im Lager registriert waren und in der gesamten Region zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, kennen wir heute nur etwas über 100 Namen. Die von unserem Partner – der Stiftung Erinnerung, Bildung, Kultur –beau ragte Arbeit von Archäologen, deren Untersuchungen des Geländes mit hochmoderner Technologie, haben uns neue Erkenntnisse über die Lagerstruktur sowie 3D-Modelle zur weiteren Nutzung gebracht. Auch Recherchearbeiten in verschiedenen Archiven bereichern nun unseren ebenfalls 2022 erschienenen Multi-

mediaguide sowie unsere neuen Informationstafeln, die auf dem Gelände aufgestellt werden.

Wenn also die Erinnerung an die Vorbereitungen des Jubiläums zurückkehrt und mit ihr der Gedanke, dass sich der Kreis der Geschichte auf ungeheuerliche Weise geschlossen hat, wird klar, dass all das Gescha te nur ein kleiner Teil ist, von dem, was noch vor uns liegt.

Die Fassungslosigkeit und Verunsicherung aufgrund der aktuellen Geschehnisse versuchen wir umzuwandeln in einen inneren Antrieb, diese Arbeit fortzuführen, deren Wichtigkeit und Bedeutung wohl noch nie so groß war wie heute.

In diesem Sinne, wünsche ich Ihnen, unseren Partnern, Wegbegleiter:innen und Förderern ein Festival mit tiefgehenden Eindrücken.

FOT OS : © JAKUB PU RE J
Alexandra Grochowski
13 MESSIAEN TAGE 12 MESSIAEN TAGE 15 JAHRE ERINNERUNGSARBEIT
Geschä sleiterin Meetingpoint..... Memory Messiaen e.V.

DONNERSTAG 12.01. 18 00

Prof. Dr.Peter Oliver Loew ▬

Eröffnungsrede und Gedanken zum Wandeln im Chaos

Ein Orgelakkord von Olivier Messiaen…

Von Prof. Dr. Peter Oliver Loew

Wer in den April- oder Maiwochen des Jahres 1945 durch Niederschlesien oder Ostbrandenburg strei e, der wandelte wahrlich im Chaos: Ein Land, durch das soeben der Krieg gezogen war, mit Menschen auf der Flucht, Menschen auf der Suche, Trauer, Leid und Neubeginn. Heimatlos zu werden, heimatlos zu sein, Heimat nachzutrauern, neue Heimat zu suchen – das waren die Erfahrungen einer ganzen Generation, quer durch Europa. Es war schlechthin nicht absehbar, wohin das Chaos des Kriegs und der Nachkriegszeit führen würden und ob wieder so etwas wie Ordnung Einzug halten würde.

Jetzt scheint sie längst wieder da zu sein: die Ordnung. Doch haben sich nur Schichten und Geschichten des Erinnerns und des Vergessens über das Chaos gelegt, ein Ton über den anderen. Wir kneten die Geschichte. Wir kneten, woran wir uns erinnern, um Neues daraus zu formen. Der Lehm dieser Erde, der Lehm dieser Töne birgt alles dies – Erinnerung und Au ruch. Chaos befreit, zerfetzt das Gewesene. Doch ohne Erinnerung würde das Neue nicht entstehen – Wandel.

Wer in den Januarwochen des Jahres 2023 durch die Landstriche beiderseits der Neiße strei , der wandelt in einer Zeit des Atemanhaltens. Kaum Vogelstimmen. Bedrohlich nahen Angst und Entsetzen. Was wird der Wandel bringen? Können Deutsche Polen noch verstehen? Verstehen Polen Deutsche noch? Und wie halten wir es mit der Ukraine, mit Russland, mit all jenen Zonen, in denen sich Ordnungen au ösen, in denen Gewalt Altes zerstört – und vielleicht auch Neues scha t?

Ein Orgelakkord von Olivier Messiaen… mit ungewissem Ausgang, aber am Ende scheint die Sonne!

Peter Oliver Loew

setzte mit 22 Jahren zum ersten Mal seinen Fuß nach Polen. Die Erkenntnis, als Westdeutscher so gut wie nichts über Deutschlands zweitgrößtes Nachbarland zu wissen, brachte ihn dazu, sein beru iches Leben Polen zu widmen. Nach einem Studium der Geschichte, Slawistik und Wirtscha swissenscha lebte er einige Jahre in Danzig und promovierte zur Geschichte dieser Stadt. Seit 2019 leitet er das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt, für das er bereits seit 2002 arbeitet. Loew unterrichtet als Honorarprofessor an der Technischen Universität Darmstadt, beschä igt sich mit Geschichte und Gegenwart der deutsch-polnischen Beziehungen und übersetzt hin und wieder aus dem Polnischen.

FOTO: © GRZEGORZ LITY Ń SKI
—— ▬
15 MESSIAEN TAGE 14 MESSIAEN TAGE EIN ORGELAKKORD VON OLIVIER MESSIAEN WANDELN IM CHAOS

Von Kinga Hartmann-Wóycicka, Vorstandsvorsitzende der Sti ung, Erinnerung, Bildung, Kultur

Welchem Zweck dient das Erinnern? Woran wollen wir uns erinnern und was legen wir in die Schublade des Vergessens? Warum löst die Erinnerung an den Krieg 77 Jahre nach Kriegsende immer noch starke Spannungen zwischen Polen und Deutschen aus? Warum sprechen Polen so beharrlich über das 1944 auf bestialische Weise zerstörte Warschau, das seine über Jahrhunderte aufgebauten Denkmäler, seine wertvollen Bibliotheken und Kunstwerke nie wieder zurückerhalten wird?

Wie soll man sich erinnern und was soll man sich merken? Wessen ist es wichtig zu gedenken und was kann man vergessen? Wessen Erinnerung und woran ist wichtig? Ist es die Erinnerung in der Familie, das persönliche oder das soziale Gedächtnis ganzer Nationen? Die individuelle Erinnerung unterscheidet sich o von der, die wir gesellscha lich p egen und in unseren Geschichtsbüchern beschreiben. Wie o hat man in den letzten Jahrzehnten Stimmen von überall hergehört: "Vorbei, ist vorbei, lasst uns nach vorne schauen, das Erinnern an den Krieg bringt niemandem etwas".

Menschen, die der Meinung waren, dass sich die Katastrophe eines Krieges wiederholen könnte, dass unser europäischer Frieden sehr fragil sei, dass die Demokratie gep egt und gefördert werden müsse, wurden o belächelt, denn sie bestanden darauf, die traurigen Verse eines unerwünschten Gedichts in die Erzählung eines friedlichen und sicheren Lebens einzufädeln.

Meine Generation hatte durch die Geschichte unserer Familien, durch die Ruinenlandscha en polnischer Städte mit Hunderten brennenden Kerzen vor den Tafeln, die an die Straßenhinrichtungen erinnerten, eine Verbindung zum Krieg. Auf unserem Schulweg kamen wir an diesen Orten vorbei, sie gehörten zur Landscha unserer Kindheit. Die Zahlen der Gefallenen, sie schienen anonym, fast unbegrei ich. Sie waren, so schien es, für die Eingeweihten gedacht, die Nachkriegsgenerationen gehörten nicht mehr dazu.

Wollten wir das alles wissen, um mit der Last der Kriegsbarbarei durchs Leben gehen zu müssen? Nein, das wollten wir nicht. Aber es wurde uns vermittelt, und aus P ichtgefühl gegenüber denjenigen, die nicht mehr da sind, haben wir diese Botscha auch an die nächste Generation weitergegeben und dabei so o Worte der Ungeduld von unseren Kindern gehört. Schließlich sollte jetzt alles gut werden, die Tragödie des Krieges sollte uns, die Bürger eines vereinten Europas, nicht mehr tre en können.

Die Kriege wurden anderswo geführt. Afghanistan war so weit weg, wir hörten nicht das Dröhnen der Bomben im Irak, wir hörten nicht die Schreie der Kinder in Aleppo. Wir sahen uns die Bilder der Kriege im Fernsehen an, während wir dabei Tee tranken.

Währenddessen näherte sich uns die Hydra des Hasses. Schritt für Schritt und zusehends o enbarte sie ihre schrecklichen Absichten immer deutlicher. Im Jahr 2015 segelten Tausende Flüchtende aus Afrika, die von monströser Armut und Kriegen bedroht waren, auf der Suche nach einem besseren Leben über das Mittelmeer zu uns. Einige von ihnen sind aber für immer im Meer geblieben, andere leben bis heute als Nomaden unter unmenschlichen Bedingungen in Lagern.

Europa begann sich erneut zu spalten in diejenigen, die helfen, und diejenigen, die keine Fremden im Haus haben wollen. Einige hatten bereits damit begonnen, Mauern und Barrieren zu errichten, andere schossen auf diejenigen, die in ihren nationalen Raum eindringen wollten. Auf diesem scheinbar friedlichen und sicheren

FOTOS: © JAKUB PUREJ
–Chaos 17 MESSIAEN TAGE 16 MESSIAEN TAGE WANDELN IM CHAOS
Wandel

Kontinent brach und bricht das Chaos aus. Es brachte Proteste, Demonstrationen, fremdenfeindliche Bewegungen und Ansichten mit sich. Europa konnte und kann sich nur langsam und mühsam an die neue Situation anpassen.

Und dann kroch ein neuer Widersacher aus der Büchse der Pandora. Ein schrecklicher Virus, der Millionen von Menschen das Leben kostete, Millionen von Menschen in ihren Häusern gefangen hielt, Schüler:innen am Schulbesuch hinderte, das Leben an den Universitäten lahmlegte und die nanzielle und wirtscha liche Stabilität der Gesellscha en vieler Länder erschütterte. Die Pandemie hat die Dämonen der Unwissenheit und der Vorurteile geweckt; die Verbreitung von Verschwörungstheorien hat in Millionen von Menschen ihre Anhänger gefunden. Das Internet ist zu einem grausamen Instrument der informationellen Kriegsführung geworden.

Der Begri des Informationskrieges taucht in Diskussionen und Analysen immer häu ger auf. Das Internet ist zu einem Instrument der Manipulation von Millionen von Menschen geworden. Appelle, dass das Internet auch eine Wa e ist und dass ein damit gesteuertes Chaos enorme Spannungen in den Gesellscha en verursachen und unter anderem die Demokratie untergraben kann, blieben häu g ungehört.

Und dann kam dieser Februartag im Jahr 2022. Russische Flugzeuge begannen, ukrainische Städte und Dörfer zu bombardieren, Panzer machten sich auf den Weg, um das unabhängige Land zu erobern. Der Diktator im Kreml begann, die Theorie aufzustellen, dass er auf diese Weise die Ukrainer entnazi zieren würde, die seiner Meinung nach keine eigenständige Nation, sondern ein Teil seines Reiches seien.

Die Welt hielt erneut den Atem an. Hier und da wurden Stimmen laut, die auf die Gefahr eines Atomkriegs hinwiesen. Tag für Tag, Nacht für Nacht gab und gibt es neue Meldungen über Tote, über Verbrechen an der Zivilbevölkerung, über Folter und Vergewaltigung, über brennende Schulen und Krankenhäuser, Wohnhäuser, Kulturstätten und orthodoxe Kirchen. Millionen von Menschen waren gezwungen, aus ihren eigenen Häusern zu iehen. Mehr als 7 Millionen ukrainische Bürger, vor allem Frauen und Kinder, verließen in den ersten Monaten des Krieges ihre Heimat. Sondertransporte, Züge, Busse, die Suche nach den Vermissten, herzzerreißende Szenen begleiteten unser Leben. Wir schliefen nicht mehr friedlich. Bilder von der Front, die mystische Verteidigung von Mariupol, die Soldaten des Asow-Regiments, die unter unvorstellbaren Bedingungen den Befehl "verteidigen" befolgten.

Man soll dem Leib etwas Gutes bieten, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen.

Winston Churchill

Wir sehen uns im

Diejenigen, die überlebten, gerieten in russische Gefangenscha , wurden in Busse gedrängt, die sie ins Ungewisse brachten. Und wieder schloss sich der Kreis der Geschichte. Wieder hielten wir den Atem an. Wieder begannen wir uns zu fragen, was wir tun können, wie wir helfen können, wie wir dem Verbrechen des Krieges begegnen können.

Zuckerwerk Rebensaft

&

Obermarkt 8, 02826 Görlitz, 03581- 402974, www.zuckerwerkundrebensaft.de

Montag bis Freitag 10:00 - 18:00 Uhr Samstag 10:00 - 13:00 Uhr v Trinkbares v Handgemachtes v und viel Mehr als hier Platz hat

Wenn wir hier arbeiten und handeln, auf dem Gelände eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers, wo Zehntausende Soldaten – Söhne, Väter, Ehemänner –gegen ihren Willen festgehalten wurden, hinter Stacheldraht lebten und für den Feind arbeiten mussten, der sie für seine eigenen Zwecke benutzt hat, haben wir eine besondere Verp ichtung gegenüber der Gesellscha in der wir leben. Eine P icht zur Warnung, zur Sensibilisierung, zur beharrlichen Erinnerung daran, was Krieg bedeutet und wohin der Wahnsinn einer Diktatur führen kann.

In unserer Genuss Werkstatt erwartet Sie

Wóycicka

Wir haben die P icht, uns dem Vergessen zu widersetzen!

Also besuchen Sie uns. Wir freuen uns auf Sie.

TEXT: HARTMANN-WÓYCICKA
FOTOS: © JAKUB PUREJ
Kinga Hartmann-
ANZEIGE 19 MESSIAEN TAGE 18 MESSIAEN TAGE WANDEL – CHAOS WANDELN IM CHAOS
Vorstandsvorsitzende der Sti ung Erinnerung, Bildung, Kultur

DONNERSTAG

12.01.

20 00

Kathedrale St. Jakobus

▬ Filip Presseisen , Orgel

▬ Mi-Seon Kim, Sopran

▬ Denny Wilke, Orgel

▬ Christian Kühne, Orgel

▬ anschließend Podiumsgespräch mit MessiaenSchüler Thomas Daniel Schlee

Klangrausch im Wandeln durch Jahrhunderte

Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Schlussfuge aus der “Kunst der Fuge”: “Fuga a 3 soggetti” (BWV 1080:19) mit anschließender Improvisation in spezi schen Modi Messiaens

Modi-fikationen, oder: Krise und Hoffnung

Zum Eröffnungskonzert der Messiaen-Tage 2023: “Wandeln im Chaos“

Von Anna Schürmer

Olivier Messiaen (1908-1992)

Diptyque: essai sur la vie terrestre et l'éternité bienheureuse (1930) - Diptychon: Ein Essay zu irdischem Leben und heiliger Ewigkeit Karlheinz Stockhausen (1928-2007)

eine Auswahl aus dem Tierkreis (1974 / 75) Krzysztof Penderecki (1933-2020)

Agnus Dei (1981) aus dem Polnischen Requiem, in einer Bearbeitung für Orgel von Oskar Gottlieb Blarr

Die Orgel wird als ‘Königin der Instrumente’ bezeichnet, ihr machtvoller Atem mit dem Göttlichen assoziiert –und damit auch mit dem Überwältigenden, Erschreckenden. Deshalb kann die Orgel ein Resonanzraum für Phasen der Unsicherheit sein, wie sie die Internationalen Messiaen-Tage Görlitz-Zgorzelec 2023 in Referenz zu aktuellen und historischen Krisenzeiten re ektieren: “Wandeln im Chaos“ – das auch sozio-ästhetische Assoziationen aufru : “Chaos in der Musik“ war nicht nur in totalitären Systemen der Vorwurf an die Geräusche und Atonalität emanzipierenden Avantgarden – wie etwa Olivier Messiaen; lebensbedrohlich wurde die Kritik im Nationalsozialismus, wo “Chaos in der Musik“ gleichbedeutend mit “entartet“ war und die Urheber mit Exil, Gefängnis und Schlimmerem bedroht waren. Dass Messiaen seine Gefangenscha im Görlitzer Stammlager 8 A verbrachte, macht das Festival in der Grenzstadt heute zum symbolträchtigen Ort der Ho nung für die Bewältigung von Krisen.

Thomas Daniel Schlee (1957)

Zwei Psalme für Orgel op. 74 (2008/2010)

I. Sicut ros Hermon - Wie der Tau des Hermon, Ps. 133

II Si sumpsero pennas auroræ - Nehme ich auch die Flügel des Morgenrots, Ps. 139

Nun wird die Orgel üblicherweise mit der Kirchenmusik von der Gregorianik bis zum Barock assoziiert. Ihr voller Atem wurde aber erst seit der Moderne ausgeschöp . Namentlich Olivier Messiaen zog alle Register, um die ganze geräuschha e Bandbreite aus der Königin der Instrumente herauszuholen. Schon als 21-jähriger komponierte er Diptyque das Messiaen 1930 bei seinem ersten ö entlichen Konzert an ‘seiner’ Pariser Orgel von St. Trinité spielte...

FOTO: © JAKUB PUREJ KLANGRAUSCH IM WANDELN DURCH JAHRHUNDERTE 21 MESSIAEN TAGE 20 MESSIAEN TAGE KONZERT

Die im Titel benannte Binarität spiegelt sich in den zwei Teilen, die dasselbe Thema auf unterschiedliche Weise verwenden: Chaos in Moll bestimmt das Leben auf der Erde (la vie terrestre), wo gebrochene Melodien ruhe- und rastlos das Rasen der irdischen Zeit über bedrohlich tiefen Registern intonieren. Gedämp tönt die himmlische Glückseligkeit (l’éternité bienheureuse) in strahlendem Dur, wo eine liebliche Melodie von zeitloser Schönheit sich entfaltet – fähig, jede Krise zu überwinden.

Messiaen war ein großer Neuerer – aber keiner, der radikal mit der Vergangenheit brach, sondern aus ihr schöp e, indem er die Traditionen der Orgelkomposition vorsäkularer Zeiten ‘modi- zierte’. Das wird in diesem Konzert hörbar, indem Messiaen das fragmentarische Schlussstück aus Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge vorangestellt wird, das nach seinem Abbruch mit einer Improvisation in messiaenspezi schen Modi fortgeführt wird und unmittelbar zu Diptyque überleitet...

J. S. Bach: Schlussfuge aus der Kunst der Fuge: “Fuga a 3 soggetti“ (BWV 1080:19)

Schlicht und festlich erklingen beim Einstieg einprägsame Melodien, deren Linien sich im weiteren Verlauf zu einer transzendent gesteigerten Chromatik verzweigen, die nach zwei Dritteln abbricht – um aus der Stille heraus die Vision kün iger Orgelmusik zu imaginieren, der Bach seinen Stempel aufdrückte: nicht von ungefähr verewigte er sich mit seinen Initialen im letzten der drei kurz vor Schluss ausgeführten Themen – bevor das Stück plötzlich und erschütternd abbricht...

Komponisten. Einer seiner Schüler war Karlheinz Stockhausen, der sich in Zodiac (1974/75) “mit den 12 menschlichen Charakteren des ‘Tierkreises’ beschä igte“ – und damit eine ähnlich intensive, wenn auch anders geartete Spiritualität als sein Lehrer o enbarte. Stockhausen önete die Komposition für verschiedene Instrumentengruppen und stellte es Interpret:innen frei, einzelne Stücke aus dem Zyklus zu wählen – lassen Sie sich überraschen, welche Sternzeichen in dieser Fassung für Orgel und Sopran zu hören sind...

K. Stockhausen: Auszüge aus dem Tierkreis für Orgel und Sopran

Für jede Figuration des Tierkreises entwarf Stockhausen eine kompositorische Charakterstudie, deren zentrales Motiv mindestens dreimal wiederholt wird. Diese Rekapitulationen ermöglichen vielfältige Variationen und verleihen den komponierten Persönlichkeiten erst die Komplexität: Dynamik und Artikulation, rhythmische und melodische Abwandlungen sind ein echtes Spielfeld für Interpret:innen – namentlich die Orgel mit ihren vielen Registern im Duett mit der Stimme, diesem menschlichsten aller Instrumente.

Ein späterer Schüler Olivier Messiaens ist Thomas Daniel Schlee. Seine 2012 entstandenen Zwei Psalmen für Orgel Op. 74 machen erfahrbar, wie weit der Arm seines 1992 verstorbenen Lehrers in die Gegenwart reicht...

T. D. Schlee: Zwei Psalme für Orgel (Op. 74)

So stark Messiaen mit der Vergangenheit harmonierte, so zukun sweisend war sein Werk. Als Lehrer nahm er Ein uss auf spätere Generationen – Organistinnen wie

“Sicut Ros Hermon“ (I) beginnt mit einer absteigenden Linie, die auf einem tiefen Orgelpunkt mündet, von dem aus sie sich verzweigt. Mächtig und doch ho nungsvoll dröhnen scharfe Dissonanzen auf einem Bett multimodaler Harmonien, die sich immer wieder zu tröstlichen Akkorden und am Ende zu einer choralartigen Coda verbinden. Ätherisch tas-

tend setzt “Si sumpsero pennas aurorae“ (II) an und mäandert zwischen leichteren Registern, bevor sich schärfere Akzentuierungen breit machen. Nach einer Generalpause dominiert wieder der kontemplative Charakter, gefärbt wie die ‘Flügel der Morgenröte’...

Auch über seine konkrete Lehrtätigkeit hinaus inspirierte Olivier Messiaens das Werk und Wirken späterer Generationen. So etwa den Komponisten und Organisten Oskar Gottlieb Blarr, der 1981 das Agnus Dei aus Krzysztof Pendereckis Polnischem Requiem für Orgel transkribierte und sich dabei ohrenscheinlich von Messiaens Musikdenken inspirieren ließ...

K. Penderecki: Agnus Dei (Orgelbearbeitung von O. G. Blarr)

Zeitlos und doch gebrochen ist Pendereckis Harmonik, die selbst unverkennbar mit der Klangwelt Olivier Messiaens korrespondiert, indem die tonale Tradition eine berückende Liaison mit der dissonant entgrenzten Klangsprache der Moderne eingeht. Blarr übersetzte die chorischen Stimmen in die Sprache der Orgel und lässt diese in multimodalen Klangbrechungen singen.

Aus den Traditionen schöpfend ‘modi- zierte’ Olivier Messiaen die Orgelmusik in der Moderne – und so ist auch das Konzert aufgebaut: Vom großen Vorgänger Bach, über Messiaen selbst, bis zu seinen Schülern und Adepten intoniert das Konzert einen organistischen “Wandel im Chaos“, hinweg über alle Krisenzeiten...

Dr. Anna Schürmer

ist Musik- und Medienkulturwissenscha lerin mit Interessensschwerpunkten im Bereich der Sound Studies sowie Journalistin mit Fokus auf Neue und elektronische Musik. Promoviert wurde sie mit ihrer Arbeit zum Thema Klingende Eklats. Skandal und Neue Musik (Transcript 2018). An einer kulturwissenschalich de nierten Schnittstelle von Musik und Medien bewegt sich auch ihres aktuelles Forschungsprojekt De|Human, das sich mit post- und transhumanistischen Positionen und der hybriden Epochenästhetik des digitalen Zeitalters beschä igt. Experimentelle Klangforschungen betreibt Anna Schürmer nicht nur in Forschung und Lehre, sondern auch als Autorin in diversen Print-, Funk- und Online-Medien. www.interpolationen.de

23 MESSIAEN TAGE 22 MESSIAEN TAGE KONZERT

Filip Presseisen

schloss die Orgelklasse bei Christoph Bossert an der Hochschule für Musik in Würzburg als Stipendiat des bayrischen Programms BAYHOST 2013 mit Auszeichnung ab. Im Jahr 2015 gewann er den ersten Preis beim Internationalen Kinoorgel-Wettbewerb im Babylon-Kino Berlin. Beim Wettbewerb der Internationalen Orgelwoche Nürnberg 2016 wurde er mit dem Antal y-Preis für beste Leistung an historischen Instrumenten ausgezeichnet.

Filip Presseisen gibt Orgelkonzerte in Deutschland, Polen, Italien, Tschechien, Ungarn, Schweiz, Norwegen, Litauen und den USA. Er ist Mitglied des Baltischen Orgelzentrums, der Erzdiözesalen Komission für Kirchenmusik in Krakau, der Polnischen Bach-Gesellscha sowie der Internationalen Bach-Societät.

Mi-Seon Kim

wurde in Seoul geboren. Nach dem Gesangstudium bekam sie ein Engagement am Staatstheater Seoul als lyrischer Koloratursopran. 1996 setzte sie ihre Studien an der Musikhochschule „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig bei Professorin Regina Werner fort und absolvierte das Konzertexamen mit Auszeichnung.

Seit 2004 ist sie am Görlitzer Theater als Sopran tätig. Ihre Bandbreite umfasst die geistlichen Werke von Bach, Händel, Haydn, Mozart und Mendelssohn, aber auch die zeitgenössischer Komponisten – z.B. in der Produktion „Wachet recht au - ein Oratorium zu Luther“ von Ralf Hoyer bei der Uraufführung im Dom zu Halberstadt. Regelmäßig wird sie für Konzert- und Opernproduktionen im In- und Ausland engagiert, so als Konstanze in „Die Entführung aus dem Serail“ beim Chiemgau-Festival und als Gilda in „Rigoletto“ an der Staatsoper in Budapest.

Denny Wilke

studierte bei Michael Schönheit, Ben van Oosten und Olivier Latry. Als Organist spielt er regelmäßig bei Klangkörpern wie dem Gewandhausorchester Leipzig, der Dresdner Philharmonie, dem Nationalorchester, dem Nationalchor der Ukraine u.v.a.

So kam es zu künstlerischen Begegnungen mit Kurt Masur, Simone Young, Sir John Eliot Gardiner u.a. Er ist künstlerischer Leiter der Mühlhäuser Marienkonzerte, sowie Stadtorganist der Marienkirche zu Mühlhausen und bespielt regelmäßig die Ladegast-Orgel am Merseburger Dom.

Im Frühjahr 2022 brach er für Konzerte nach Kuba auf, mit dem Gewandhausorchester und ihm an der Orgel ging es gleichfalls durch Europa. Mehrere CD-Produktionen küren seine Arbeit.

Christian Kühne

wurde 1967 in Leipzig geboren und wuchs in der Lessingstadt Kamenz auf. Er studierte an der Kirchenmusikschule Dresden, nach dem dortigen Diplomabschluss (B) folgten Tätigkeiten als Kantor, zunächst bis 1998 in Chemnitz-Schönau, seit 1998 in Löbau. 2003-2005 absolvierte er ein Aufbaustudium an der Hochschule für Kirchenmusik Dresden und erwarb den Abschluss als A-Diplom-Kirchenmusiker.)

1999 gründete er des Collegium Canorum Lobaviense, war ab 2000 Dozent für Kinderchorleitung an der Hochschule für Kirchenmusik Görlitz bis zu deren Schließung 2008 und leitet seit 2001 den Arbeitskreis Kirchenmusik im Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien. Im Dezember 2012 wurde Kühne zum Kirchenmusikdirektor des Kirchenbezirkes Löbau-Zittau berufen. Musikalisch gab er Orgelkonzerte u.a. in Deutschland und Frankreich und dirigierte zahlreiche Oratorienau ührungen.

FOTO: © MICHAŁ SZAŁKIEWICZ FOTO: © JOHANNES SCHÖNHERR FOTO: © VIKTORIA LOSEW FOTO: © KRISTIN KÜHNE KLANGRAUSCH IM WANDELN DURCH JAHRHUNDERTE 25 MESSIAEN TAGE 24 MESSIAEN TAGE KONZERT

Kunst des Gedenkens

Von Frank Seibel, Präsident der Meetingpoint Memory Messiaen e.V.

Denken ist Kopfsache. Fühlen ist die Sache des Herzens. Tief verankert ist diese Gegenüberstellung in unserer Kultur. Auf der einen Seite der kühle Verstand, nüchtern, analysierend, Fakten wägend. Auf der anderen Seite die Sphäre des Ungefähren, nicht Grei aren.

Im deutschen Wort „Gedenken“ scheint der Anspruch auf, Geschichte mit dem Blick auf Fakten verstehen zu wollen. Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer, lautet eine bittere Redewendung. Dubiose Narrative sollen Angri e rechtfertigen und Grausamkeit verschleiern. Im Gedenken versuchen wir, narrative Nebelwände zu durchstoßen und den Blick auf die Wahrheit freizulegen.

Neben dem Begri „Gedenken“ steht im Deutschen das Wort „Erinnern“, das einen etwas anderen Akzent setzt. Mit dem Erinnern bekommt das Gedenken gewissermaßen eine neue Richtung: Nach dem Blick auf die geschichtlichen Tatsachen holen wir die Erkenntnisse nach innen, gleichsam vom Kopf ins Herz.

Diese Überlegungen sind wichtig, um die Besonderheit der Gedenkarbeit zum ehemaligen Kriegsgefangenenlager „Stalag VIII A Görlitz“ zu verstehen. Ausgangsund Kristallisationspunkt in der Arbeit des Vereins Meetingpoint Memory Messiaen ist ein Musikstück: Olivier Messiaens „Quatuor pour la n du temps“. Natürlich spielt auch die Prominenz des Komponisten und seines Werkes eine Rolle, wenn Messiaen aus der Masse von 120.000 Kriegsgefangenen herausgehoben wird und im Projektnamen des Meetingpoint Memory Messiaen verankert ist. Aber im Grunde ist der weltweite Ruhm des Komponisten in diesem Fall nachrangig. Wirklich bedeutend ist der Umstand, dass in diesen 45 Minuten Musik ein außergewöhnlich reiches und umfassendes Artefakt eines Kriegsgefangenen vorliegt. Wenngleich

FOTO: © PAUL GLASER KUNST DES GEDENKENS 27 MESSIAEN TAGE 26 MESSIAEN TAGE

Messiaen wesentliche Elemente dieses Werkes buchstäblich schon im Rucksack hatte, als er zum Abwehrkampf gegen die deutsche Wehrmacht eingezogen wurde, formte er im Görlitzer Lager aus diesen Motiven sein endgültiges Werk. Auch wenn an keiner Stelle ausdrücklich Bezug genommen wird auf den Krieg und die bedrückenden Lebensumstände, darf dieses Werk doch auch als ein Spiegel der Seele betrachtet werden.

Damit vollzieht sich ein wichtiger Rollen- und Perspektivwechsel. Nicht als Objekt kollektiven Erinnerns tritt Messiaen vor uns, sondern als schöpferisches Subjekt. Dies zu leisten, ist der Anspruch jeder angemessenen Erinnerungsarbeit. Dies kann gelingen, wenn hinter nackten Zahlen Konturen konkreter Personen erkennbar werden. In diesem Fall sind es nicht nur Konturen, sondern ein richtiges, mehrdimensionales Bild. Und nicht nur ein Bild, sondern viele.

Darum sind Gedenkorte so wichtig, die diese Blicke hinter die narrativen Nebelwände der Kriegspropaganda und Geschichtsklitterung ermöglichen.

Wenn der Meetingpoint Memory Messiaen die Musik – und nicht nur Messiaens Quartett – zu einem konstitutiven Element seiner Erinnerungsarbeit macht, dann geht es darum, den methodischen Korridor dieser Arbeit zu erweitern. Kunst und Musik sind Schlüssel zu einem Verständnis, das den rationalen Zugang um emotionale und sinnliche, aber auch spirituelle Dimensionen erweitert. Damit rückt der Mensch als ganzheitliches Wesen in den Fokus der Betrachtung.

„ Leid lässt sich nicht wiegen und nicht messen. Leid lässt sich auch nur schwer erahnen.“

Wenn in jedem Jahr am 15. Januar das „Quartett auf das Ende der Zeit“ am historischen Ort seiner Entstehung aufgeführt wird, werden für die Menschen im Publikum tiefe Einfühlungen in die weit zurückliegende Wirklichkeit des Lebens und Leidens im Stalag VIII A möglich. In dieser Musik wird Kälte spürbar, Tiefen und Untiefen des Seelenlebens in Gefangenscha lassen sich erahnen: Sehnsucht und Trauer, Angst und Ho nung.

Seit 2008 ist das „Januarkonzert“ auf dem Stalag-Gelände am Rande von Görlitz-Zgorzelec ein sehr lebendiges Ritual zum Jahresau akt. Eine Meditation über das Leben und Leiden auf Erden, über Gott und die Schöpfung. In diesen Momenten tritt das Denken in den Hintergrund – und doch ist dieses Konzerterlebnis ein Akt intensiven Gedenkens.

Leid lässt sich nicht wiegen und nicht messen. Leid lässt sich auch nur schwer erahnen. Bilder des Krieges zeigen häu g von Leid und Entbehrung gezeichnete Gesichter; verhärmte Gestalten, leere Blicke, zerschlissene Kleider. Diese Anschauungen berühren Menschen.

Dieser multiperspektivische Zugang kann helfen, sich des Wertes und der Würde jeder Person sehr unmittelbar bewusst zu werden. In der Gedenkstätte zum Stalag VIII A und in den Projekten des Meetingpoint Memory Messiaen geht es neben der Au lärung über politische, ökonomische und soziale Zusammenhänge gewissermaßen um etwas, das in der Romantik „Herzensbildung“ genannt wurde.

Wer im „Quartett auf das Ende der Zeit“ die schöpferische Kra eines konkreten Menschen erfährt, wird umso fassungsloser sein, wenn er den Friedhof am östlichen Ende des einstigen Lagers, wenige hundert Meter von der Gedenkstätte, besucht. „Friedhof“ ist hierbei ein verzweifelter Euphemismus; der Versuch, den Verstorbenen nachträglich eine letzte Ruhe in Würde zu gewähren. Faktisch ist es ein Massengrab. Mehrere tausend Kriegsgefangene, die an Hunger, Misshandlung und Krankheit gestorben sind, wurden hier buchstäblich weggeworfen, als wären sie wertlose Gegenstände.

Wenn Gedenk-Arbeit nachhaltig und konstruktiv wirken soll, dann muss sie Erschütterungen auslösen, die bewusst machen: das ist nicht normal – und es darf nie normal werden. Dazu dienen nicht allein Bilder des Schreckens. Auch zarte Berührungen durch Musik können das bewirken.

28 MESSIAEN TAGE
TEXT: FRANK SEIBEL FOTO: © PAUL GLASER

Quatuor pour la fin du temps Quatuor pour l'Aurore des Temps

Olivier Messiaen (1908-1992)

Quatuor pour la n du temps (1941) - Diptychon: Quartett auf das Ende der Zeit

I. Liturgie de cristal – Kristall-Liturgie

II. Vocalise, pour l’Ange qui annonce la n du temps

Vokalise für den Engel, der das Ende der Zeit verkündet

Feier des Lebens

Ein Gegenpol zu Olivier Messiaens „Quartett für das Ende der Zeit“? Die Komponistin Camille van Lunen widmet sich den Anfängen des Seins

Von Michael Ernst

III Abîme des oiseaux – Abgrund der Vögel

IV. Intermede — Zwischenspiel

V. Louange a l’éternité de Jésus – Lobpreis der Ewigkeit Jesu

VI. Danse de la fureur, pour les sept trompettes – Tanz des Zornes für die sieben Trompeten

VII. Fouillis d’arcs-en-ciel, pour l’Ange qui annonce la n du temps – Gewirr von Regenbögen für den Engel, der das Ende der Zeit verkündet

VIII. Louange a l’immortalité de Jésus – Lobpreis der Unsterblichkeit Jesu

Camille van Lunen (1957)

Quatuor pour la l’Aurore des Temps (2015) Quartett auf das Erwachen der Zeiten I. Cell II Crystals III. Virus

Dass Musik in höchst unterschiedlichsten Situationen entstehen kann, wissen wir nicht erst seit Olivier Messiaen, dessen „Quatuor pour la n de temps“ zu schlimmsten Kriegszeiten unter unsäglichen Bedingungen in einem Gefangenenlager geschrieben und uraufgeführt worden ist.

Auch heutige Komponisten suchen und nden ihre Inspirationen für neue Klangwelten unter verschiedenartigsten Bedingungen. Die französisch-niederländische Komponistin Camille van Lunen zum Beispiel knüp einerseits durchaus an Messiaens Musik an, ist in ihrem Scha en andererseits aber von gänzlich anderen Ein üssen geprägt.

Manchmal, so sagt sie, geht Camille van Lunen in die Natur, durch einen Park, in einen Wald, um dort überverschiedenartigste Versionen und Entwicklungen eigener Klänge zu sinnieren. Zu Hause am Schreibtisch wird dann notiert, was dem gründlichen Abwägen standgehalten hat.

Als sie 2015/16 in Lissabon Artist in Residence am Biologischen Institut der namha en Gulbenkian-Sti ung gewesen ist (Instituto Gulbenkian Ciênça), konnte Camille van Lunen in unmittelbarer Nähe forschender Biologen komponieren. Entstanden ist ihr „Quatuor pour l'Aurore des Temps“, eine Art Gegenentwurf zu Messiaens Quartett. „Das hauptsächliche Anliegen dieses Instituts ist ja die Menschlichkeit in all ihren Belangen“, blickt van Lunen zurück. „Ich konnte dort Lesungen und Gesprächen beiwohnen, habe in etwa vierzig Laboren Einblick nehmen können - und viele Dinge natürlich überhaupt nicht verstanden.“ Aber den Kerngedanken um die Suche nach dem Ursprung und dem Bewahren des Lebens

SONNTAG 15.01. 17 00 Europäisches Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur —— Broken Frames
FOTO: © JAKUB PUREJ
Syndicate:
Lola Rubio, Violine ▬ Nathan Watts, Violoncello ▬ Moritz Schneidewendt, Klarinette ▬ Vitaliy Kyianytsia, Piano ▬ anschließend Podiumsgespräch mit Camille van Lunen
QUATUOR POUR LA FIN DU TEMPS 31 MESSIAEN TAGE 30 MESSIAEN TAGE KONZERT

fühlte sich die Musikerin den Biologen eng verbunden und betitelte den ersten Satz ihres Quartetts mit dem Begri „Cells“.

„Im Ursprung geht es ja immer um Zellen, Zellteilung und Zellvermehrung. Und wenn da etwas schiefgeht, haben wir es mit Krebs zu tun. Ich habe die Forscher nach dem Sinn ihrer Arbeit gefragt. Was immer sie tun, sagten sie, soll ausschließlich der Humanität dienen.“ Bei diesem Aspekt sieht die Künstlerin einen verbindenden Zusammenhang mit Olivier Messiaen. Auch unter düstersten Bedingungen im Stalag VIII A habe er die Honung auf ein menschenwürdiges Dasein nie aufgegeben.

„Messiaen hat vom Ende der Zeit geschrieben, bei mir ist es der Anfang der Zeit, also das, woran die Biologen geforscht haben. Diesen Anfang fand ich interessant, das war für mich ein großes Experiment.“ Die Entstehung einer Zelle, die sich teilt, ist Gegenstand des ersten Satzes von „Quatuor pour l'Aurore des Temps“. Im zweiten Satz, „Crystals“, wird die Ewigkeit zum Thema, wollte van Lunen dem fortwährenden Gang der Zeit musikalisch nahekommen und beim Hören spüren lassen. Wenn der Pianist da nicht in die Tasten, sondern in die Saiten grei , sei dies bezeichnend für die Ewigkeit. Den Abschluss des Quartetts bildet der Satz „Virus“, den die Komponistin so begründet: „Ich war ja lange vor der Pandemiezeit bei Gulbenkian in Portugal

und suchte nach dem langsamen Satz etwas mit einem tempomäßig aggressiven Charakter. Wie aktuell das dann wenig später geworden ist, das ist wirklich ein Zufall.“

Ob van Lunens Quartett nun als Gegenpol zu Messiaen zu sehen ist oder nicht, sei dahingestellt. Die Komponistin habe sich ihm „im besten Sinne mit sehr viel Demut genähert, er ist ein fantastischer und absolut origineller Komponist gewesen.“

Uraufgeführt wurde das Werk von Solisten der Gulbenkian-Sti ung. Nun widmen sich Mitglieder des 2018 gegründeten Broken Frames Syndicate den beiden Quartetten von Messiaen und van Lunen. Dieses Ensemble hat sich bedingungslos der Moderne verschrieben. „Wir brennen für zeitgenössische Musik“ gilt als Versprechen, nicht zu trennen vom Credo „Wir entführen in neue Welten.“

Moritz Schneidewendt vom Broken Frames Syndicate räumt freilich ein, „Messiaen ist für uns eines der großen Ausnahmestücke. Denn für das, was wir normalerweise machen, ist diese Musik eigentlich schon ziemlich alt.“ Dennoch sehen er und seine Ensemblemitglieder Messiaens Quartett natürlich „als bedeutendes Schlüsselwerk für alles, was musikalisch danach kam.“ Man könne darin immer wieder neue Dinge entdecken und es gelte im allgemeinen Verständnis noch immer als neu im rhythmischen und energetischen Gestus.

„Für mich persönlich“, so Moritz Schneidewendt, „ist diese Musik sehr emotional, denn die Entstehungsgeschichte beeindruckt enorm. Die ist immer im Hinterkopf, wenn man dieses Quartett spielt.“ Als Klarinettist müsse er im Konzert stets daran denken, „wie Henri Akoka damals im Lager wohl diese extrem schwere Stimme unter schweren Bedingungen gespielt haben mag.“ Es sei bis heute unabdingbar, dass man die Geschichte dieses Quartetts kennt und sich damit auseinandersetzt.

Schon rein besetzungsbedingt sehe er auch bei van Lunens Quartett immer diesen Bezug, meine aber bei ihr gehe es mehr um konzeptionelle Aspekte. Schließlich habe Messiaen einen extrem starken religiösen Hintergrund: „Gerade der letzte Satz ist ja ein Versuch, dass die Menschheit zur Erlösung kommt – etwas, das wir wohl nie erreichen.“ Während Messiaens Inspiration in der Religion und im Spirituellen liege, setze sich Camille van Lunen mit Wissenscha und Biologie auseinander; Schneidewendt ndet es spannend, „dass man mit so gegensätzlichen Herangehensweisen zu ähnlichen Ergebnisse kommt.“

Das Broken Frames Syndicate arbeitet bevorzugt mit lebenden Komponistinnen und Komponisten. Wichtig sei der Austausch mit ihnen, weil dies einen anderen Zugang biete als bei Werken, die schon eng mit Hörgewohnheiten verknüp seien. Neues aber habe noch keinen starren Interpretationskanon, daher komme van Lunens „Quatuor pour l'Aurore des Temps“ sowohl dem Steckenpferd als auch der Expertise von Schneidewendts Ensemble sehr nahe.

Camille van Lunen

studierte Gesang und Komposition in Den Haag und Köln, wo sie heute lebt. Sie war 2015-2016 Composer in Residence am Instituto Gulbenkian de Ciência (Lissabon). Dort komponierte sie das Quatuor pour l’Aurore des Temps In ihrem Werk, das sich durch Witz und Farbenreichtum auszeichnet, stehen häu g soziale Themen unserer Zeit im Mittelpunkt. Van Lunen ist Preisträgerin des Internationalen Kompositionswettbewerbs Mariann Steegmann Foundation (2013), Finalistin beim 4. Uuno Klami International Composition Competition 2019 (Finnland) und Preisträgerin bei der Biennale de Musique Vocale Contemporaine 2020. Sie erhielt Kompositionsau räge u. a. von Amsterdam ERC, Gulbenkian IGC, Kölner Philharmonie, Acht Brücken Festival, Basel Kantorei und Sinfonietta Basel, WDR Chor, Talitha Kumi Choir, Amwaj Choir Palestine.

TEXT:
FOTO: © GEOFFREY WHARTON 33 MESSIAEN TAGE 32 MESSIAEN TAGE KONZERT
„ Ein Versuch, dass die Menschheit zur Erlösung kommt.“
MICHAEL ERNST

BERLINERSTR. 15 02826GÖRLITZ KORNMARKTCENTER 02625BAUTZEN

Broken Frames Syndicate

spielt zeitgenössische Musik und bringt ganzheitliche Konzerterlebnisse auf die Bühne. Zu el wollen wir Alternativen zum Gewohnten aufzeigen und stehen ein für die kritische Auseinandersetzung mit gesellscha srelevanten Themen. Unser

Fokus liegt auf der Zusammenarbeit mit jungen Komponist:innen, wobei wir uns für die Diversi zierung des klassischen Konzertbetriebs einsetzen.

Wichtig ist uns dabei die konzeptionelle Durchdringung unserer Programme. Wir nutzen Musik, um Geschichten zu erzählen, zum Diskurs anzuregen, um die Ecke zu denken

und um zu neuen Überzeugungen beizutragen.

Gegründet 2018 nach unserer gemeinsamen Zeit bei der International Ensemble Modern Academy in Frankfurt, spielen wir heute in variablen Besetzungen und sind regelmäßig in Konzerten und auf Festivals im In- und Ausland zu erleben.

FOTO: © HAYRAPET ARAKELYAN ANZEIGE
35 MESSIAEN TAGE 34 MESSIAEN TAGE QUATUOR POUR LA FIN DU TEMPS KONZERT
„Wir brennen für zeitgenössische Musik. Mit kritischem Blick und offenen Ohren formen wir Klänge, beziehen Stellung und widmen uns gesellschaftsrelevanten Themen.“

Moritz Schneidewendt, Klarinette

Als vielseitig interessierter Klarinettist arbeitet Moritz Schneidewendt sowohl als Interpret als auch als kreativ Scha ender. Schwerpunkt seiner künstlerischen Arbeit ist die Kammermusik mit seinen eigenen Ensembles Broken Frames Syndicate, ensemble via nova und Kommas Ensemble sowie eine Vorliebe für das kreative Miteinander in interdisziplinären Prozessen.

Nach seinen mit Auszeichnung abgeschlossenen Studien bei den Professoren Manfred Lindner und Thorsten Johanns hat sich Schneidewendt der aktuellen Musik verschrieben. In enger Zusammenarbeit mit Komponist:innen, als Gast namha er Ensembles sowie als Solist, wirkt er bei zahlreichen Urau ührungen mit und konzertiert regelmäßig auf Festivals im In- und Ausland.

Als Kurator kreativer Konzepte und neuer Formate ist Moritz besonders daran interessiert, gesellscha srelevante Themen in den Blick zu nehmen und Musik zu kontextualisieren.

Lola Rubio, Violine

Vitaliy Kyianytsia,

Piano

stammt aus Paris und lebt seit zehn Jahren in Köln. Nach ihrer Grundausbildung in Frankreich studierte sie an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Ihren Master schloss sie im Jahrgang 2017/18 als Mitglied der Internationalen Ensemble Modern Academy ab.

Seit einigen Jahren fokussiert sich ihre Aktivität auf experimentelle zeitgenössische Musik. Sie ist als freischa ende Geigerin, Performerin und Kuratorin Deutschland- und europaweit tätig und tritt im Rahmen internationaler Festivals wie

Acht Brücken (Köln), das Manifeste (Paris), Sound Plasma (Tallinn) oder auch die Gaudeamus Muziekweek (Utrecht) auf.

Außerdem ist sie Gründungsmitglied mehrerer Ensembles der Kölner und Frankfurter freien Szene, wie das Kollektiv3:6Koeln für zeitgenössische und experimentelle Musik, das Broken Frames Syndicate, und seit 2020 auch das instrumental-elektronisches Duo multipol.

ist ein ukrainischer Pianist und Komponist, gleichermaßen aktiv in der zeitgenössischen Musik wie auch der Jazz-Szene. Seine Ausbildung führte von Kiew, nach Deutschland, wo er mit dem Ensemble Modern und in Stuttgart bei Nicolas Hodges studierte.

Als Preisträger etlicher internationaler Wettbewerbe wird Kyianytsia zu wichtigen Ereignissen der zeitgenössischen Musik eingeladen, z.B. zum Lucerne Festival Alumni Ensemble und Academy, zum Mixtur Festival, zum Impuls-Festival, und den Klangspuren Schwaz. Außerdem erhielt er eine Einladung des Ensemble Modern Frankfurt.

Sein Einfühlungsvermögen, seine außergewöhnliche Technik, sein Hang zur Improvisation, und seine kompositorischen Fähigkeiten brachten ihn zu seiner wahren Liebe: dem Jazz. Eine CD-Aufnahme mit dem Bassisten Johannes Fink und dem Schlagzeuger Mathias Ruppnig bilden einen vorläu gen Höhepunkt seines Schaffens.

Nathan Watts, Cello

stammt ursprünglich aus Philadelphia, Pennsylvania, und lebt derzeit in Frankfurt am Main. Als Cellist und Kammermusiker ist er spezialisiert auf zeitgenössische Musik und Improvisation.

Derzeit ist er Mitglied des Grow Quartetts, des Ensembles Tempus Konnex und der Lucerne Festival Contemporary Leaders. Als Mitglied der Contemporary Leaders ist Watts Co-Kurator für das Forward Festival, spielt im Lucerne Festival Contemporary Orchestra und ist Coach an der Lucerne Festival Academy.

Nathan studierte am Cleveland Institute of Music bei Stephen Geber, an der Rice University bei Desmond Hoebig sowie als Stipendiat der Internationalen Ensemble Modern Akademie an der HfMDK Frankfurt.

FOTO: © GUIDO WERNER FOTO: © GUIDO WERNER FOTO: © INES PIZARRO CORREIA FOTO: © BEN DOYLE
QUATUOR POUR LA FIN DU TEMPS 37 MESSIAEN TAGE 36 MESSIAEN TAGE KONZERT

15.01. 14 30

Europäisches Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur

——

▬ Pierre-Laurent Aimard, Piano

▬ anschließend Gespräch mit Pierre-Laurent Aimard und Prof. Dr. Stefan Keym, Moderation

Freiheit durch den wandelnden Augenblick

Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Fuge in B-Dur (BWV 890) aus Das wohltemperierte Klavier, Teil II (1740-1742)

Olivier Messiaen (1908-1992)

aus Vingt Regards sur l'enfant-Jésus (1944)

- Zwanzig Blicke auf das Jesuskind

XI. Première communion de la ViergeErste Kommunion der Jungfrau

IX Regard du Temps - Blick der Zeit

Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Fuge in E-Dur (BWV 878) aus Das wohltemperierte Klavier, Teil II

Olivier Messiaen

aus Vingt Regards sur l'enfant-Jésus

XVII Regard du silence - Blick der Stille

Morton Feldman (1926-1987)

Piano Piece (1964) - Stück für Klavier

Olivier Messiaen

aus Vingt Regards sur l'enfant-Jésus

XIV. Regard des Anges - Blick der Engel

FOTO: © P AUL GLASER SONNTAG
FREIHEIT DURCH DEN WANDELNDEN AUGENBLICK 39 MESSIAEN TAGE 38 MESSIAEN TAGE KONZERT

John Cage (1912-1992)

Auswahl aus Music for Piano (1952-1962)

- Musik für Klavier

Olivier Messiaen

aus Vingt Regards sur l'enfant-Jésus

II Regard de l’étoile - Blick des Sterns

Jenseits des Chaos

Zum Klavierrezital „Freiheit durch den wandelnden Augenblick“. Messiaens Musik in Krieg, Gefangenschaft und Okkupation Von Stefan Keym.

Franz Liszt (1811-1886)

Nuages gris (1881) - Trübe Wolken

Olivier Messiaen

aus Vingt Regards sur l'enfant-Jésus

VII. Regard de la Croix - Blick des Kreuzes

Franz Liszt

aus 2 Légendes (1862/63) - Zwei Legenden

I. St François d'Assise: la prédication aux oiseaux - Der Heilige Franziskus von Assisi: Die Vogelpredigt

Olivier Messiaen

aus Vingt Regards sur l'enfant-Jésus

VIII Regard des Hauteurs - Blick der Höhen

XIX. Je dors, mais mon cœur veille - Ich schlafe, aber mein Herz wacht

„Wandeln im Chaos“ – auf kaum eine andere Generation dür e dieser Titel so zutre en wie auf die in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts geborenen Komponist:innen. Gerade zu der Lebenszeit, in der Künstler:innen üblicherweise ihren de nitiven Durchbruch erleben, wurden sie mit Krieg und/oder Diktatur konfrontiert. Ihre Reaktionen waren sehr unterschiedlich und dies ist wohl ein Grund dafür, dass sie nie als eine Gruppe wahrgenommen wurden wie etwa die Komponist:innen der 1880er oder die der 1920er Generation. Einige mussten emigrieren (Kurt Weill); andere passten sich an (Wolfgang Fortner); etliche stellten ihre Kunst in den Dienst der Landesverteidigung (Dmitri Schostakowitsch) oder führten sie in konspirativen Zirkeln auf (Grażyna Bacewicz) oder entwickelten für sich eine „Protestmusik“ (Luigi Dallapiccola, Karl Amadeus Hartmann); manche kamen ums Leben (wie Jehan Alain, Messiaens größter Rivale im Bereich der französischen Orgelmusik).

Olivier Messiaen ging einen anderen Weg: Er vertie e sich immer mehr in den mystisch-katholischen, jenseitsorientierten Glauben, der bereits viele seiner Werke der 1930er Jahre geprägt hatte. Da sein Renommee noch nicht so groß war, dass man ihn vom Frontdienst ausgenommen hätte, musste er in Görlitz die demütigende Erfahrung der Kriegsgefangenscha erleben. Gleichwohl vermochte er in dieser Grenzsituation eines seiner wichtigsten, epochalen Werke zu vollenden und uraufzuführen: das Quartett vom Ende der Zeit. Darin wird erstmals die für sein weiteres Scha en grundlegende Idee einer religiös motivierten Au ebung des Zeitgefühls der Hörer explizit formuliert und kompositorisch umgesetzt. Nach seiner Freilassung wirkte Messiaen drei Jahre im von der deutschen Wehrmacht okkupierten Paris und setzte dort

den im Görlitzer Lager eingeschlagenen Weg konsequent fort mit drei Werken, die alle um Fragen von Glauben und Ewigkeit kreisen: die Visionen des Amen (Visions de l'Amen), die Drei kleinen Liturgien über die Allgegenwart Gottes (Trois petites liturgies de la présence divine) und schließlich die Zwanzig Blicke auf das Jesuskind (Vingt regards sur l'enfant Jésus) Aus heutiger Sicht mag Messiaens Hinwendung zu den „letzten Dingen“, zu Themen jenseits der Alltagsrealität, manchen eskapistisch anmuten. Damals bildete sie jedoch nicht nur eine Resilienzstrategie für viele gläubige Menschen, sondern wurde durchaus auch als Provokation aufgefasst. Die Urau ührung der Trois petites Liturgies für Frauenchor und Orchester am 21. April 1945 im bereits befreiten Paris löste einen regelrechten Presseskandal aus. Ihre jubelnd-rauschhaften Klänge und die surrealistischen Metaphern des vom Komponisten verfassten Gesangstextes befremdeten viele Kritiker:innen zu einer Zeit, in der eine bittere Debatte um den Umgang mit Kollaborateur:innen die französische Gesellscha tief spaltete. Vorbereitet wurde dieser Skandal indes durch die kurz zuvor, am 26. März erfolgte Urau ührung der Vingt regards, die sehr ähnlich gestaltet sind: in ihren kryptischen Satztiteln und den vom Komponisten vorgelesenen Kommentartexten ebenso wie in ihrer „vielfarbigen, mächtigen, mal zarten, mal brutalen Musiksprache der mystischen Liebe“. Dieser Zyklus, mit über zwei Stunden Dauer eines der umfangreichsten Werke sowohl der Klavierliteratur als auch in Messiaens Scha en (neben der späten Franziskus-Oper), bietet ein Kompendium der Musiksprache von Messiaens mittlerer Scha ensphase, voller Extreme zwischen überschwänglichem, o ans ManischDionysische grenzendem Jubel (der Komponist selbst beschrieb den 10. Satz als rauschha en orientalischen Tanz, Kritiker sprachen von „Schlangenbeschwörungsmusik“) und breiten Flächen statischer Kontemplation. Dass der Klavierstil von der Urau ührungsinterpretin

und Widmungsträgerin des Werks, Messiaens späterer zweiter Frau Yvonne Loriod inspiriert wurde und dass der Komponist danach mit derselben Musiksprache eine auf das Thema der zwischenmenschlichen Liebe bezogene „Tristan-Trilogie“ schuf (den Liederzyklus Harawi, die monumentale Turangalila-Symphonie und die Cinq rechants für a cappella-Ensemble), in der das „Thema der mystischen Liebe“ aus den Vingt regards wiederkehrt, macht deutlich, dass auch der Klavierzyklus über die Sphäre traditioneller geistlicher Musik weit hinausgeht und eine Stellungnahme des Komponisten zu seiner bewegten Epoche bildet. Diese farbenfrohe Musik ist das Gegenteil von jeglichem rigorosen Purismus – eines religiösen ebenso wie eines satztechnischen, wie er sich wenig später mit dem Serialismus Bahn brach, den einige Schüler Messiaens bei den Darmstädter Ferienkursen begründeten und der auch Messiaen selbst für einige Jahre zu einem Rückzug in Abstraktion und reine Vogelstimmen-Imitationsmusik bewogen.

Wie man auf chaotische und bedrückende Zeitumstände schöpferisch reagiert, muss jede Künstler:in für sich selbst entscheiden. Heute können wir froh sein, dass sich Messiaen nicht von seinem Weg abbringen ließ, sondern gerade damals einige seiner mitreißendsten, epochalsten und tiefgründigsten Werke gescha en hat.

TEXT: GOTTFRIED BLUMENSTEIN
„ Diese farbenfrohe Musik ist das Gegenteil von jeglichem rigorosen Purismus.“
FREIHEIT DURCH DEN WANDELNDEN AUGENBLICK 41 MESSIAEN TAGE 40 MESSIAEN TAGE KONZERT

efan Keym

studierte Musikwissenscha , Germanistik und Geschichte in Mainz, Paris (Sorbonne) und Halle. Er promovierte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg über Olivier Messiaens Oper Saint François d’Assise und habilitierte sich über den deutsch-polnischen SymphonieKulturtransfer im 19. Jh. an der Universität Leipzig. Dort leitete er auch das DFG-Projekt „Leipzig und die Internationalisierung der Symphonik 1835-1914“.

Nach Gastprofessuren in Zürich und Berlin (Humboldt) war er Professor an der Université Toulouse Jean Jaurès. Seit 2019 ist er Professor für Historische Musikwissenscha und Direktor des Instituts für Musikwissenscha an der Universität Leipzig.

Pierre-Laurent Aimard

Als eine Schlüssel gur in der gegenwärtigen Musik weltweit bekannt, hatte Pierre-Laurent Aimard Begegnungen mit führenden Komponist:innen, einschließlich György Ligeti, Karlheinz Stockhausen, George Benjamin, Pierre Boulez und Oliver Messiaen. Aimard erhielt kürzlich mit dem Léonie-Sonning-Musikpreis 2022 einen der prominentesten Musikpreise Dänemarks. Anderweitig arbeitet er eng mit führenden Orchestern in Europa zusammen. In der Kammermusik geht er Projekten wie u. a. den Visions de l’Amen mit Tamara Stefanovich nach. Zusammen mit Isabelle Faust, Jörg Widmann, und Jean-Guihen Queyras spielte Aimard im letzten Herbst Messiaens Quatuor pour la n du temps auf einer Tour durch Spanien. In den letzten Jahren krönten sein Werk mehrere CD-Verö entlichungen wie Messiaens Catalogue d’oiseaux, welche u. a. den “Preis der Deutschen Schallplattenkritik” erhielt.

St
FOTO: © STEFAN KEYM FOTO: © MARCO BORGGREVE 43 MESSIAEN TAGE 42 MESSIAEN TAGE KOOPERATIONSPARTNER KONZERT
# Neissefilm www.neissefilmfestival.net 6 Tage | 3 Länder | 1 Festival 20. NEISSE–NYSA–NISA 23. – 28.5.2023 FILM FESTIVAL … im Dreiländereck Deutschland, Polen und Tschechien Glanz und Klang seit 1548 WWW.STAATSKAPELLE - DRESDEN.DE
CHEFDIRIGENT WIR BRINGEN SIE SICHER HIN & ZURÜCK. Die Messiaen-Tage mit dem trilex erleben. Mit dem trilex-Tagesticket ab 25 € unterwegsgünstig HIN UND WEG IM DREILÄNDERECK. www.trilex.de Erleben Sie ereignisreiche Tage in einer der schönsten Städte Deutschlands. Mit den zahlreichen Stadt- und Erlebnisführungen lernen Sie Görlitz, seine Geschichte und Kultur kennen. Die Görlitz-Information berät Sie gern. Görlitz Europastadt GörlitzZgorzelec GmbH Görlitz-Information | Fleischerstr. 19 02826 Görlitz | Telefon: 03581 4757-0 willkommen@europastadt-goerlitz.de www.goerlitz.de Foto: Nikolai Schmidt 45 MESSIAEN TAGE 44 MESSIAEN TAGE KOOPERATIONSPARTNER
Christian Thielemann

Das Kultur- und Gästehaus mit Carl’s Musik-Café, Musikschule und dem Konzertsaal VielHarmonie im Herzen der „Stadt der Guten Töne“.

C. Bechstein VielHarmonie

Nordstraße 15 · 02782 Seifhennersdorf facebook.com/cbechsteinvielharmonie

Ein Stern der in die Herzen leuchtet... www.herrnhuter-sterne.de

Genieß’ die Heimat.

www.oppacher.de

47 MESSIAEN TAGE 46 MESSIAEN TAGE KOOPERATIONSPARTNER
Das Wasser aus dem Landscha tsschutzgebiet Oberlausitzer Bergland

Gedenkstätte Stalag VIII A Führungen:

am 13.01. mit Prof. Dr. Rolf Karbaum (ehemaliger Görlitzer Oberbürgermeister) am 15.01. mit Kinga Hartmann-Wóycicka (Leiterin der Gedenkstätte Stalag VIII A) und Alexandra Grochowski (Geschäftsleiterin Meetingpoint Memory Messiaen e. V.)

Wenn Überlebende unsere Welt verlassen, rücken die Orte des Verbrechens in den Fokus, um sich weiterhin eindrücklich an ihre Schicksale erinnern zu können.

Im Stalag VIII A in Görlitz-Moys litten zwischen 1939 und 1945 etwa 120.000 Menschen unter Zwangsarbeit, schlechter Ernährung bzw. Hygiene. Vor uns sehen wir das einstige Lagergelände hinter dem Stacheldraht, auf dem ca. 60 Baracken standen. Links neben uns erhebt sich ein hochmodernes Gebäude, das nach jahrelanger Vorarbeit 2014 errichtet wurde: das Europäische Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur. Auch von dessen spannender Geschichte und der intensiven deutsch-polnischen Zusammenarbeit wollen wir berichten.

Die erste Führung bietet eine Einführung in die Geschichte des Kriegsgefangenenlagers, der Menschen und des Europäischen Zentrums. Die zahlreichen aktuellen grenzübergreifenden Projekte, die archäologischen Forschungen und Wandlungen des Ortes stehen im Fokus der zweiten Führung.

Musik im okkupierten Polen 1939-1945

Ausstellungseröffnung mit Moderation von Frank Harders-Wuthenow

Zwangsarbeit in Städten - Effekte auf den Wandel des Alltags

Wandeln durch Görlitz-Zgorzelec –Wie Böhme und Messiaen die Welt wahrnahmen

Diese Wanderausstellung der polnischen Musikwissenscha lerin Katarzyna Naliwajek-Mazurek wird als Vorprogramm des Konzerts „Menschen, die ins Lied sich retten“ erönet.

Die Ausstellung erinnert an die einst vielfältige Musikkultur Polens vor 1939 und porträtiert zahlreiche Schicksale von Komponisten und Musikern wie das des Pianisten Władysław Szpilman. Es sind selten gezeigte Dokumente, Kompositionen und Lebenswege erlebbar. In immer neuen Variationen kommt ein Motiv zum Klingen: die facettenreichen Bedeutungsebenen, die der Musik innewohnen. Die Ausstellung vermittelt ein starkes Gefühl dafür, welch’ außergewöhnliche Kra die Musik in Extremsituationen zu entfalten vermag.

Die Perspektive der Zivilcourage ergänzt der Film „DIE ENTSCHEIDUNG – Wilm führte ein Doppelleben“ von Ute Friederike Jürß und Martin Doerry: Der Wehrmachtsozier Wilm Hosenfeld agierte als Täter und als Helfer zahlreicher Verfolgter – wie Władysław Szpilman.

Podiumsgespräch mit Daniel Breutmann (Vereinsvorstand goerlitz21 e.V. und Mitglied im Landesvorstand des Landesverbandes Industriekultur Sachsen e.V.) und Isabel Panek (Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig)

Wie viele Städte im Dritten Reich war auch Görlitz von Zwangsarbeit geprägt. Vor allem Kriegsgefangene waren durch ihre Zwangsarbeit direkt im ö entlichen Raum und in zahlreichen Görlitzer Unternehmen sichtbar. Allein schon der Fußmarsch – o nur mit hölzernen Schuhen – vom Stalag VIII A Görlitz zu den Einsatzorten war ein unübersehbares tägliches Massenereignis.

Aber wie beein usste die Entstehung von Kriegsgefangenenlagern und die alltägliche Präsenz der zivilen Zwangsarbeiter:innen und der Kriegsgefangenen das Stadtleben?

Wie reagierte die Bevölkerung auf die Kriegsgefangenen? Was ist zur Art und zum Ausmaß der Zwangsarbeit im urbanen Raum und im Speziellen in Görlitz bekannt? Wieso ist vieles von diesem Wissen aus den Köpfen auch der Menschen in Görlitz verschwunden?

Philosophisch-spiritueller Spaziergang mit Johannes Schäfer (Komponist und Musikpädagoge) und Samuel Wagner (Künstlerischer Leiter der Messiaen-Tage)

Die Erscheinung von Görlitz-Zgorzelec wandelt sich stets, was den Ausgangspunkt für einen philosophischen-spirituellen Spaziergang auf der polnischen Seite der Neiße bildet. Der Spaziergang führt von Böhmes Wohnhaus zum Europäischen Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur, wo einst Messiaen sein Quartett urau ührte. Währenddessen lernen wir einerseits mit textlichen Impulsen mystische Wahrnehmungen und naturphilosophische Gedanken von Olivier Messiaen und Jakob Böhme kennen.

Zudem laden wir dazu ein, die Umgebung durch achtsames Wahrnehmen und mystisches Denken selbst zu erleben, um intensiv spüren zu können, wie die Orte an der Wegstrecke verbunden sind, wie sie ineinander über ießen und worin sie sich unterscheiden. Diese Entdeckung wird von dem Komponisten und Musikpädagogen Johannes Schäfer begleitet, der sich seit über 25 Jahren neben Naturton- und Klangphänomenen mit deren Analogien in Daoistischer Philosophie und dem alten chinesischen Feng-Shui befasst.

Der Spaziergang führt auch über Waldwege - festes, warmes Schuhwerk ist erforderlich.

Mystik und Natur – wie Böhme und Messiaen die Welt verstanden

Podiumsgespräch mit Thomas Isermann (Schriftsteller und Vorstandsmitglied der Internationalen Jacob Böhme Gesellschaft), Dr. Thomas Daniel Schlee (Komponist und Messiaen-Schüler) und Prof. Dr. Stefan Keym (Musikhistoriker)

Die zwei Meister ihres Handwerks Jakob Böhme und Olivier Messiaen sind prägend und geprägt mit Görlitz verbunden: Böhme durch seine fast gesamte Lebenszeit als Schuster und Theosoph; Messiaen durch seine Zeit als Kriegsgefangener und seine Komposition und Urau ührung. Auch das Denken beider ist von mystischem Weltemp nden und einer intensiven Inspiration von Entwicklungen in der Natur- und Tierwelt geprägt.

Daher wollen auch wir uns von einem Expertengespräch inspirieren lassen, inwiefern Messiaens Zugänge zur Welt auch bei Böhme ausgeprägt sind. Vielleicht können wir dadurch einen Wandel durchlaufen, den uns Sloterdijk emp ehlt: Dass wir mehr nach den Zusammenhängen suchen sollten, die unser tägliches Tun übersteigen. Dadurch könnten wir selbst unser glückliches Leben scha en, um nicht von monumentalen Herausforderungen unserer Zeit erdrückt und von einer kollektiven, sogenannten erlernten Hil osigkeit gelähmt zu werden.

Lebenswandel über die Neiße hinweg Podiumsdiskussion und Publikumsdialog mit Agnieszka Bormann, Hanna Ilnicka, Lothar Quinkenstein und weitere

Moderation: Justyna David (Referentin der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung)

Wie hat sich das Leben auf den beiden Seiten der Neiße in den letzten Jahren gewandelt? Wie hat sich das grenzüberschreitende Leben, Arbeiten und Kommunizieren gewandelt? Wie wandelt es sich jetzt? Welcher Wandel ist nötig – welcher gewollt?

Menschen von beiden Uferseiten werden diese Fragen besprechen: Menschen, die gesellscha liche Prozesse beobachten und schri stellerisch verarbeiten. Menschen, die lokale Entwicklungen selbst vorantreiben bzw. die ihre persönlichen Geschichten eindrücklich berichten können.

Das Podiumsgespräch lenkt den Blick auf Görlitz-Zgorzelec ebenso wie auf die gesamte polnisch-deutsche Grenzregion und ihre Wandlungen der letzten Jahre. Im zweiten Teil ist das Publikum herzlich dazu eingeladen, darüber in einem moderierten Dialog mit den Teilnehmenden des Podiums ins Gespräch zu kommen.

FOTO: © JAKUB PUREJ
49 MESSIAEN TAGE
48 MESSIAEN TAGE
FÜHRUNGEN, SPAZIERGANG, DISKUSSIONEN

Das Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A

1939-1945

Die konkreten Vorbereitungen für die Errichtung eines Stammlagers für kriegsgefangene Mannscha en und Untero ziere in Görlitz begannen am 26. August 1939 an der damaligen Laubaner Straße im nordöstlichen Teil von Görlitz (heute ulica Lubańska, Zgorzelec), wo man zunächst ein Durchgangslager (Dulag) errichtete. Nach dem Überfall auf Polen wurden bereits am 8. September mehr als 8.000 polnische Soldaten nach Görlitz gebracht. Die ersten Schikanen als Kriegsgefangene erlebten sie bereits auf dem Weg vom Bahnhof entlang der Berliner Straße, als sie von der einheimischen Bevölkerung bespuckt, beschimp und mit faulem Gemüse beworfen wurden. Bis zur Au ösung des Dulags im Dezember 1939 mussten sie in der winterlichen Kälte in von Stacheldraht umzäunten Zelten ausharren. Diese Kriegsgefangenen selbst bauten das zu diesem Zeitpunkt bereits o ziell in Betrieb genommene Stalag VIII A in Görlitz-Moys aus, welches sich ab 1940 schnell mit weiteren Kriegsgefangenen anderer Nationen füllte.

Das etwa 30 Hektar große Gelände des Stalag VIII A umfasste 60 Baracken, von denen 20 Baracken für sowjetische Kriegsgefangene vorgesehen waren und, mit doppeltem Stacheldraht umzäunt, von den 18 weiteren Wohnbaracken der alliierten Kriegsgefangenen abgesondert lagen. Ab 1943 wurden in diesem besonders überfüllten Lagerbereich ebenfalls italienische Militärinternierte untergebracht. Die sowjetischen und italienischen Soldaten, vom NS-Staat als nicht dem Schutz der Genfer Konvention unterstehend betrachtet, hatten im Gegensatz zu den weiteren Kriegsgefangenen keinen Zugang zu Funktionsbaracken wie der Kapelle, der Bibliothek oder der

sogenannten Theaterbaracke. Zudem war es ihnen untersagt, sich im Lager an sportlichen oder kulturellen Aktivitäten zu beteiligen.

Insgesamt gingen etwa 120.000 Kriegsgefangene aus Polen, Frankreich, der Armee des Commonwealth, Jugoslawien, der Sowjetunion, Italien, den USA und Belgien durch das Lager. Auch einige tausend zivile Personen auf dem Weg in verschiedene Konzentrationslager wurden im Stalag VIII A kurzzeitig festgehalten.

Die Kriegsgefangenen wurden als Arbeitende in praktisch allen Wirtscha szweigen wie in der Landwirtscha , dem Bergbau, dem Transportwesen, in lokalen Fabriken und Läden eingesetzt. Formal unterlagen sie dem Schutz der Genfer Konvention, jedoch gab es häu ge Fälle der zwangsweisen Überführung ganzer Einheiten in den Status von Zivilisten und so wurden sie auch in der Rüstungsindustrie zur Arbeit herangezogen.

Die Lebensbedingungen im, für etwa 15.000 Personen ausgelegten und im September 1944 mit über 47.000 Personen belegten, Stalag VIII A und seinen Außenlagern waren unzumutbar. Durch ständige Überfüllung, schlechte sanitäre und hygienische Verhältnisse, mangelnde Ernährung, unzureichenden Zugang zu medizinischer Versorgung und die harte körperliche Arbeit überlebten schätzungsweise etwa 12.000 Soldaten die Görlitzer Gefangenscha nicht.

Die größte Opfergruppe bildeten die sowjetischen Kriegsgefangenen, die am schlechtesten versorgt wurden und daher zu Dutzenden täglich verstarben und hinter dem Lagergelände in einem Massengrab verscharrt wurden. Kriegsgefangene anderer Nationalitäten wurden häu g in der Nähe ihrer designierten Arbeitsorte auf lokalen Friedhöfen beerdigt, wo zum Teil heute noch ihre Gräber oder Gedenktafeln an sie erinnern.

Das Stalag VIII A wurde Anfang Februar 1945 in mehreren Wellen gen Westen evakuiert. Diesen sogenannten Todesmärschen elen weitere Kriegsgefangene zum Opfer. Zurück im Lager blieben schwer kranke Gefangene, die von nur noch wenigen Soldaten und einigen Zivilisten bis zur Befreiung am 8. Mai bewacht wurden.

Nach 1945

In den Nachkriegsjahren wurden die Baracken des Lagers abgebaut und die Nutzung der Ziegel für den Wiederaufbau der Hauptstadt Polens bestimmt. 1964 besuchten belgische und französische ehemalige Kriegsgefangene mit ihren Familien das einstige Lagergelände in Zgorzelec und stellten mit Hilfe des engagierten Lehrers Roman Zgłobicki einen ersten Gedenkstein auf. 1976 fand die o zielle Eintragung des ehemaligen Stalag VIII A als nationale polnische Gedenkstätte statt und wurde mit der Aufstellung eines Gedenkobelisken unter Teilnahme o zieller Vertreter und Vertreterinnen der Volksrepublik Polen und der Deutschen Demokratischen Republik sowie im Beisein von Angehörigen belgischer und französischer Kriegsgefangenenverbände besiegelt. Roman Zgłobicki legte mit seinen Schülern und Schülerinnen der Technischen Berufsschule in Zgorzelec ein Archiv in Form eines Gedenkzimmers in der Schule an, welches lange Zeit der einzige Gedenk- und Bildungsort sowie Anlaufpunkt für die Familien der Kriegsgefangenen blieb. Sein gesammeltes Wissen über das Stalag VIII A und andere Gedenkorte in Zgorzelec ist in seine 1995 erschienene Publikation einge ossen. Ein Jahr später

FOTO: POLNISCHE GEFANGENE 1940 © ICRC FOTO: © P AUL GLASER
Von Alexandra Grochowski, Geschäftsleiterin des Meetingpoint Memory Messiaen e. V.
DAS KRIEGSGEFANGENENLAGER STALAG VIII A 51 MESSIAEN TAGE GEFANGENSCHAFT UND REPRESSION 50 MESSIAEN TAGE

verö entlichte die Görlitzer Autorin Hannelore Lauerwald in deutscher Sprache ihr erstes Buch zu den Geschehnissen im Stalag VIII A.

2006 gründete Albrecht Goetze den Verein Meetingpoint Music Messiaen, der, angelehnt an Olivier Messiaens künstlerische Ausdrucksform seines Erlebens der Gefangenscha versucht immer wieder neue Formen des Gedenkens zu nden. Dabei verbindet der Verein seine Arbeit stets mit jenem authentischen Ort der Gedenkstätte, in der das Vergangene erfahren und gemeinsam Zukun gestaltet werden kann.

Heute

2015 wurde auf dem Gelände des Vorlagers des ehemaligen Stalag VIII A nach jahrelanger deutsch-polnischer Zusammenarbeit ein weiterer Meilenstein erreicht und das Europäische Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur im Rahmen eines Förderprojektes der Europäischen Union erbaut. Die Gedenkstätte und das Begegnungszentrum werden durch die gleichnamige polnische Sti ung und den deutschen Verein Meetingpoint Memory Messiaen e.V. gemeinsam betrieben.

Dabei versteht sich die Gedenkstätte ausdrücklich auch als internationale Begegnungs- und Bildungsstätte sowie als ein Ort für die Auseinandersetzung und

Diskussion zu aktuellen deutsch-polnischen und weltpolitischen Themen in der Europastadt Görlitz-Zgorzelec.

Mit Unterstützung der lokalen Behörden und Institutionen und von Experten und Expertinnen auf beiden Seiten der Neiße sowie basierend auf dem politischen Konsens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen arbeiten die Partner an der weiteren Erforschung und vielfältigen Vermittlung der Geschichte des Stalag VIII A, damit die Schicksale der Opfer niemals vergessen werden.

ZUM WEITERLESEN:

T. SUDOŁ „HISTORIA STALAGU VIII A”, IN: STALAG VIIIA I EUROPEJSKIE CENTRUM PAMIĘĆ, EDUKACJA, KULTURA. PAMIĘĆ HISTORYCZNA DZIAŁANIA DLA PRZYSZŁOŚCI, 2017.

J. LUSEK, A. GOETZE: „STALAG VIII A GÖRLITZ. GESCHICHTE — GEGENWART — ZUKUNFT“, IN: ŁAMBINOWCKI ROCZNIK MUZEALNY. JEŃCY WOJENNI W LATACH II WOJNY ŚIWATOWEJ, 2011.

R. ZGŁOBICKI OBOZY CMENTARZE WOJENNE W ZGORZELCU, 1995.

P. ZUBRZYCKI DULAG 1939, 2009.

H. LAUERWALD PRIMUM VIVERE. ZUERST LEBEN. WIE GEFANGENE DES STALAG VIII A GÖRLITZ ERLEBTEN, 2008.

GÖRLITZ FOTO: LUFTBILD 1945 © LUFTBILDDATENBANK DR. CARLS GMBH
53 MESSIAEN TAGE 52 MESSIAEN TAGE GEFANGENSCHAFT UND REPRESSION
FOTO: KRIEGSGEFANGENE IM DULAG © SAMMLUNG R ZGŁOBICKIFOTO: FRANZÖSISCHE GEFANGENE KOMMEN ZUM ESSEN © ICRC TEXT: ALEXANDRA GROCHOWSKI

FREITAG 13.01. 20 00

Europäisches Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur

——

▬ Ania Vegry, Sopran

▬ Katarzyna Wasiak, Piano

▬ Frank HardersWuthenow, Moderation

Lied sich re tt en

Menschen, die ins

Szymon Laks (1901-1983)

Ignace Strasfogel (1909-1994)

Szczęście (1938)- Glück

Przymierze (1938) - Der Bund

Prośba o piosenkę (1964) - Bitte um ein Lied

You said that “I” was “great” – one day (1984) - Du sagtest einmal, „ich“ sei „groß“

Summer (1984) - Sommer

It was a quiet way (1984) - Es war ein stiller Weg

Karol Rathaus (1895-1954)

As I ride (1943) - Als ich reite

The oblation (1943) - Die Opfergabe

Sweet music (1943) - Süße Musik

Szymon Laks

Trois Poèmes chantés (1960) - Drei gesungene Gedichte

I. Szukam dla pieśni mojej - Ich suche eine Melodie für mein Lied

II Lalka - Die Puppe

III Mały więzień - Der kleine Gefangene

Szymon Laks

Auswahl von drei Werken aus Huit chants populaires juifs (1947) - Acht jiddische Volkslieder André Tchaikowsky (1935-1982)

Auswahl von drei Werken aus Sieben Sonette von William Shakespeare (1967)

Die ins Lied sich retteten

Lieder von Karol Rathaus, Ignace Strasfogel, André Tchaikowsky und Szymon Laks

Von Frank Harders-Wuthenow

— Szymon Laks

Bezdomna (1949) - Die Heimatlose Dyzio marziciel (1938/39) - Dyzio der Träumer Gdybyś (1974) - Wenn du

Ich kann nicht glauben, dass das Leben in diesem Lande, das das europäischste aller Länder war, nicht mehr tragbar sein wird. Den Segen, momentan keine ernstha en Arbeitsbescha ungs-Sorgen zu haben, kann ich zu Genüge einschätzen. Allein – was ist das schon? Für einen, der wie ich gradlinig (trotz aller Umwege) nach geistigen Prinzipien des Lebens und der Kunst zu wirken bestrebt war, für einen, der eben deshalb mit dem deutschen Geistesleben auf eine so enge und besondere Art verknüp war. Vielleicht war es ein Zufall, dass ich in Deutschland und beinahe nur in Deutschland mich durchsetzen konnte. Ich versuchte es ausnahmslos mit meiner Leistung, nie war ich gezwungen, Umwege zu machen, nie brauchte ich gesellscha liche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ist dieses Wirken nur durch das Werk auch woanders denkbar?

Diese bewegenden und zutiefst aufschlussreichen Worte schrieb der Komponist Karol Rathaus im April 1933 aus Paris, der ersten Station seines Exils, an seinen Freund und Verleger Hans Heinsheimer. Rathaus hatte seine Wirkungsstätte Berlin bereits zum Jahreswechsel 1932/33 verlassen, in der Vorahnung des Kommenden. 1898 in Tarnopol geboren, Kind einer assimilierten jüdischen Familie, wuchs Rathaus mit österreichischer Nationalität als Bürger der K&K Monarchie auf, zweisprachig, Deutsch und Polnisch. Er studierte in Wien Jura und Komposition, 1920 ging er mit seinem Lehrer Franz Schreker nach Berlin, um hier sein Kompositionsstudium zu beenden. Rathaus machte in der zweiten Häl e der 1920er Jahre rasant Karriere als einer der erfolgreichsten Komponisten

FOTO: © P AUL GLASER
MENSCHEN, DIE INS LIED SICH RE TTEN 55 MESSIAEN TAGE 54 MESSIAEN TAGE KONZERT

seiner Generation im deutschsprachigen Raum. Als Repräsentant der Avantgarde, als Pole jüdischer Abstammung landete er 1933 sofort auf der Liste der „entarteten“ Komponisten. Sein Fluchtweg führte von Paris über London und Hollywood nach New York, wo er bis zu seinem Tod 1954 als Professor für Komposition am Queens College in Brooklyn wirkte.

Ein ähnliches Schicksal ereilte Ignace Strasfogel 1909 in Warschau geboren, ebenfalls Kompositionsschüler Schrekers in Berlin, ein pianistisches Wunderkind, 1926 im Alter von 17 Jahren jüngster Preisträger des Mendelssohn-Preises, des renommiertesten Kompositionspreises der Weimarer Republik. Von Berlin aus machte er, noch als Jugendlicher, Weltkarriere als Pianist und Kammermusikpartner so namha er Geiger wie Carl Flesch und Joseph Szigeti. 1934 oh er nach New York wo er jahrzehntelang als Dirigent an der Metropolitan Opera arbeitete. Für Rathaus wie für Strasfogel war die englische Sprache nicht nur ein notwendiges Vehikel zum Überleben im Exil – mit dem Eintauchen in die englische und amerikanische Poesie schufen sie sich eine geistige Brücke in die Kultur jener Gesellscha , die ihnen das Leben rettete, eine neue künstlerische Existenz ermöglichte und – nach Polen und Deutschland – zur dritten Heimat werden sollte. Strasfogel und Rathaus komponierten nach ihrer Ankun in den USA ausschließlich Texte in englischer Sprache.

Mit dem Eintauchen in die Poesie schufen sie sich eine geistige Brücke in die Kultur jener Gesellschaft, die ihnen das Leben rettete.“

und Komponist in England niederzulassen. Tchaikowsky, einer der exzentrischsten aber auch begnadetsten Pianisten seiner Generation, verstand sich eher als Scha ender denn als Nachscha ender und verlagerte den Schwerpunkt seiner Tätigkeit bis zu seinem frühen, einer Krebserkrankung geschuldeten Tod 1982 immer mehr auf die Komposition. Die Entdeckung seines faszinierenden kompositorischen Œuvres begann allerdings erst vor wenigen Jahren mit der posthumen Urau ührung seiner Oper Der Kaufmann von Venedig nach Shakespeares gleichnamigem Drama 2013 bei den Bregenzer Festspielen, eine Produktion, die dann erfolgreich auch in Warschau und London zu sehen war. Wie Strasfogel und Rathaus komponierte auch Tchaikowsky im Exil ausschließlich englische Lyrik. Sein Zyklus von Vertonungen von Shakespeares Sonetten, der bis heute nicht in Deutschland zu hören war, gehört zweifellos zu den Höhepunkten der englischsprachigen Liedvertonung in der zweiten Häl e des 20. Jahrhunderts.

Seine Liedervertonungen, die durch Ania Vegry und Katarzyna Wasiak letztes Jahr als Ersteinspielungen auf CD herausgebracht wurden, hielt er selbst für den bedeutendsten Teil seines Œuvres. Obwohl ein Meister der französischen Sprache, in der er schrieb und in die er literarisch übersetzte, beruht nahezu sein gesamtes Liedscha en mit wenigen Ausnahmen auf Gedichten der bedeutendsten polnischen Lyriker des 20. Jahrhunderts. In den Biographien der Komponisten, die wir in diesem Konzert vorstellen wollen, spiegeln sich die großen, Europa erschütternden Umbrüche des 20. Jahrhunderts. Krieg, Verfolgung und Exil hinterließen Spuren in ihrem Scha en. Doch gerade ihre Lieder sind Ausdruck eines tiefen Humanismus und eines Glaubens an die alle nationalistischen Vorurteile und Schranken überwindenden Krä e der Kultur als wichtigstem Bollwerk gegen die Barbarei.

André Tchaikowsky, 1935 in Warschau geboren, überlebte die Shoah als Kind unter unvorstellbaren Bedingungen in Verstecken und mit falscher Identität –sein bürgerlicher Name war Robert Andrzej Krauthammer. Wie Ignace Strasfogel eine Doppelbegabung, machte er nach dem Krieg zunächst Karriere als pianistisches Wunderkind, studierte in Paris und Warschau, und verließ das kommunistische Polen schließlich, um sich, von Arthur Rubinstein gefördert, als freischa ender Pianist

Ganz anders stellte sich für Szymon Laks das Verhältnis von komponierter Lyrik und Sprache des Exils dar. 1901 in Warschau geboren, siedelte er 1926 nach Paris über, wo sich für ihn, den polnischen Juden, in dem durch und durch internationalen künstlerischen Umfeld der „École de Paris“ weitaus bessere künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten boten als in Polen. Laks‘ Karriere – er komponierte in den 1930er Jahren für die namha esten in Paris wirkenden Interpreten – wurde durch die Kollaboration der französischen Vichy-Regierung mit dem Deutschen Reich brutal unterbrochen. 1941 aufgrund seiner Abstammung inha iert und 1942 nach Auschwitz deportiert, überlebte er die Vernichtungsmaschinerie von Birkenau, weil er Musiker war, als Leiter einer Lagerkapelle. Nach der Befreiung kehrte er nach Paris zurück, wo er, vor allem in den 1960er Jahren, an die Vorkriegserfolge als Komponist teilweise anknüpfen konnte.

Frank Harders-

Wuthenow

studierte in Mainz und Hamburg Musikwissenscha , Philosophie und Romanistik, sowie Komposition/ Theorie an der Musikhochschule Hamburg. Zwischen 1990 und 1996 war er als Musikdramaturg in Bielefeld und als Mitarbeiter der FranzSchreker-Gesellscha in Paris tätig.

Seit 1997 wirkt Frank Harders-Wuthenow als Lektor beim Musikverlag Boosey & Hawkes, Berlin. Zudem ist er Produzent des Labels eda records und Vorstandsmitglied des Vereins Room28, der sich dem Vermächtnis der im Ghetto Theresienstadt internierten Künstler und Künstlerinnen widmet. Seine Arbeit umfasst zahlreiche Rundfunk- und CD-Produktionen, Publikationen, Ausstellungen sowie Festival- und Konzertdramaturgien im Bereich „Verfemte Musik/ Musik und Exil“.

TEXT: FRANK HARDERS-WUTHENOW FOTO: © GOSHA NOWAK MENSCHEN, DIE INS LIED SICH RE TTEN 57 MESSIAEN TAGE 56 MESSIAEN TAGE KONZERT

Ania Vegry

Die Sopranistin Ania Vegry studierte bei Christiane Iven, Charlotte Lehmann und Tereza Berganza und ist Preisträgerin zahlreicher internationaler Wettbewerbe. Als Ensemblemitglied der Staatsoper Hannover hat Ania Vegry viele Partien ihres Fachs mit den Schwerpunkten Mozart, Rossini, Verdi und zeitgenössischer Musik gesungen. Gastengagements führten sie u.a. an die Hamburgische Staatsoper, in die Berliner Philharmonie, den Münchner Gasteig sowie zu Orchestern wie dem SWR Sinfonieorchester und der NDR Radiophilharmonie. Zu ihren musikalischen Partnern gehören Künstler:innen wie Christopher Hogwood, Enrique Mazzola, Albrecht Mayer, Nicholas Rimmer und Sharon Kam. Neben Aufnahmen für den NDR, MDR und SWR erschien 2020 eine CD mit Bravour-Arien von F. L. Gassmann. Seit 2020/2021 ist Ania Vegry Ensemblemitglied des Anhaltischen Theaters Dessau.

Ka tarzyna Wasiak

Die Pianistin Katarzyna Wasiak studierte in Wien bei Oleg Maisenberg und Wolfgang Watzinger sowie in Berlin bei Jacques Rouvier und Fabio Bidini. Sie ist Preisträgerin zahlreicher Wettbewerbe und außerdem diplomierte Kulturmanagerin. Die Pianistin ist Gast bei renommierten Festivals wie dem Schleswig-Holstein Musik Festival und dem Carinthischen Sommer und ist regelmäßig an Rundfunk- wie CD-Produktionen beteiligt. Sie musiziert mit Orchestern wie dem Sinfonieorchester des Polnischen Rundfunks Warschau und dem Estnischen Nationalen Symphonieorchester und mit großen Persönlichkeiten der Musikszene wie Michail Jurowski, Jan Krenz, Benjamin Schmid und Clemens Hagen. Zusammen mit anderen Künstlern und Künstlerinnen initiierte sie zahlreiche thematisch orientierte Projekte zur Aufarbeitung historischer Hintergründe wie z.B. dem polnisch-jüdischen Kulturerbe des 20. Jahrhunderts.

Musik im okkupierten Polen 1939-1945

Das Ziel der Ausstellung ist die Darstellung des Musiklebens in Polen während des Zweiten Weltkriegs und der Konsequenzen der von den Nazi-Besatzern auferlegten Kulturpolitik.

Anhand von Dokumenten unterschiedlichster Art aus polnischen, amerikanischen, israelischen und deutschen Archiven (Dokumente, Fotos, Gedichte, Lieder, Kunstwerke, Berichte von Zeitzeugen usw.) stellt die Ausstellung erstmals und umfassend die verschiedenen Formen der Präsenz von Musik unter den Lebensbedingungen während des Krieges dar und erinnert an das Schicksal und Scha en von Musiker:innen, Musikwissenscha ler:innen und Musikliebhabern.

Ein bedeutender Teil der Ausstellung ist dem tragischen Schicksal der polnischen Künstler:innen jüdischer Abstammung gewidmet, Gefangene der Ghettos und Konzentrationslager, von denen die meisten den Holocaust nicht überlebt haben.

Musik aufzuführen in dieser Zeit, in der Millionen von polnischen Bürgern ihr Leben verloren, war o ein Akt der Zivilcourage, der Solidarität und der äußersten Selbstlosigkeit – die Geschichte von Władysław Szpilman, der von seinen polnischen Freunden und dem deutschen O zier Wilm Hosenfeld gerettet wurde, ist ein Beispiel von vielen anderen. Für viele Verfolgte bedeutete die Musik o ein Refugium, manchmal rettete sie sogar das Leben, wie im Falle von Szymon Laks, der das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebte, weil er dort ein Lagerorchester zu leiten hatte.

Die Ausstellung zeigt nicht nur Beispiele unglaublicher Manipulation im Bereich der Musik durch den totalitären Despotismus, sondern auch die Bedeutung der Musik im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen in den Konzentrationslagern oder auch während des Warschauer Aufstands im August 1944. Indem sie diese Aspekte von Musik aufzeigt, trägt die Ausstellung zum Dialog zwischen den Völkern und Generationen im Geiste der Toleranz bei.

Die Ausstellung wurde initiiert vom Berliner Verein Room 28 e. V. anlässlich der internationalen Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag Fryderyk Chopins 2010, kuratiert von der polnischen Musikwissenscha lerin Dr. Katarzyna Naliwajek und nanziert mit Mitteln der Europäischen Union und der Sti ung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit. Sie erlebte ihre französische Premiere beim Festival „Musiques Interdites“ in Marseille, ihre deutsche beim Schleswig-Holstein Musik Festival in Kiel und Hamburg sowie beim Festival Warschauer Herbst. Darüber hinaus war sie zu sehen u. a. in Berlin, Leipzig, Lüneburg und beim Usedomer Musiksommer in Peenemünde, in Auschwitz und Sosnowiec (der Geburtsstadt von Władysław Szpilman). Sie wurde in zahlreichen Medien besprochen.

Die Universität Lüneburg zeichnete die Autorin und Kuratorin Dr. Katarzyna Naliwajek 2011 mit dem Hosenfeld-Szpilman Preis der Universität aus. Dr. Naliwajek gilt international als wichtigste Expertin für die Thematik.

Sie lehrt Musikwissenscha an der Universität Warschau.

FOTO: © SIMON PAULY FOTO: © FRANK HARDERS-WUTHENOW FOTO: © KRZYZSTOF ZIELINSKI
MENSCHEN, DIE INS LIED SICH RE TTEN 59 MESSIAEN TAGE 58 MESSIAEN TAGE KONZERT
www.prestoportal.pl TELEWIZJA BOGATYNIA tvbogatynia.pl TelewizjaBogatynia TVBogatynia WIADOMOŚCI POLITYKA SPORT KULTURA 22.–25. JUNI 2023 14.INTERNATIONALE SCHOSTAKOWITSCH TAGE GOHRISCH Quatuor Danel, Yulianna Avdeeva, Sächsische Staatskapelle Dresden, Dmitri Jurowski, Maxim Schostakowitsch u.v.a. WWW.SCHOSTAKOWITSCH-TAGE.DE Gefördert durch das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft, Kultur und Tourismus. Die Schostakowitsch Tage werden mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushalts. 61 MESSIAEN TAGE 60 MESSIAEN TAGE

Arbeit und Angebote der Gedenkstätte

Das gemeinschaftliche Betreiben der Gedenkstätte Stalag VIII A mit der polnischen Stiftung Pamięć, Edukacja, Kultura und die Erforschung und Vermittlung der Geschichte des Ortes durch moderne Formate der historisch-politischen und kulturellen Bildung mit internationaler Ausrichtung und Fokus auf junge Menschen - Das bildet den Kern unserer Arbeit.

Von Alexandra Grochowski, Geschäftsleiterin und Marta Wyspiańska, Referentin Bildung und Gedenkstätte Meetingpoint Memory Messiaen e.V.

Führungen

Führungen* über das Gelände und durch die Ausstellungen sind telefonisch und per E-Mail buchbar. Außerdem werden in Kooperation mit der Europastadt Görlitz-Zgorzelec GmbH von Mai bis Oktober monatliche ö entliche Führungen sowie in Zusammenarbeit mit der Görlitzer Volkshochschule Fahrradführungen und Vorträge angeboten.

Gedenktage

Ausstellungen

Das Europäische Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur bietet mehrere Dauerausstellungen* für seine Besuchenden an. Im Innenbereich be ndet sich eine Ausstellung über das Stalag VIII A, die im Jahre 2022 um zwei weitere Vitrinen erweitert wurde. Die neuen Ausstellungs ächen veranschaulichen einerseits das Ausmaß des Krieges, andererseits nehmen sie Bezug auf persönliche Geschichten der Kriegsgefangenen.

Im Außenbereich be nden sich die Ausstellung Zwangsarbeit in Görlitz, sowie einige Informationstafeln an markanten Stellen des Geländes. Auf dem Gelände erheben sich ebenfalls Skulpturen zur Musik Olivier Messiaens, deren Erkundung in Verbindung mit einer Führung über die Gedenkstätte empfohlen wird. Das Europäische Zentrum ist für Besuchende Montag bis Freitag von 10.00 bis 16.00 Uhr sowie an ausgewählten Samstagen und Sonntagen in den Monaten Mai bis Oktober geö net. Seit 2022 ist der Besuch der Gedenkstätte auch mit dem neu erschienenen multimedialen Guide der die Audiospuren „Das deutsche Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A“ sowie „Musik als Überlebensmittel“ für Sie bereithält, möglich.

Im Jahre 2022 richtete der Meetingpoint Memory Messiaen e.V. zusammen mit einem breiten Kooperationsnetzwerk der Europastadt Görlitz-Zgorzelec mehrere Gedenk- und Kulturveranstaltungen mit dem Titel Deutsch-Polnische Erinnerungsdiskurse aus. Im Fokus der Veranstaltungsreihe stand der Jahrestag der Befreiung des Stalag VIII A am 8. Mai, sowie der Jahrestag der Warschauer Ghettoaufstands vom 19. April 1943.

Aufarbeitung und Forschung

Die Besuche von Familien ehemaliger Kriegsgefangener in der Gedenkstätte sind in den letzten Jahren immens gestiegen, sodass die P ege der Kontakte, sowie die Archivierung der dem Europäischen Zentrum übermittelten Materialien und Informationen inzwischen ein zentrales Tätigkeitsfeld der Gedenkstätte bilden. Durch weitere archäologische und Recherchearbeiten werden zunehmend mehr Details über einzelne Biographien von Kriegsgefangenen bekannt, die nicht nur in der Gedenkstätte, sondern auch in einem Online-Archiv Interessierten zugänglich gemacht werden.

Geschichte zum Anfassen – unser Bildungsangebot

Im Juni 2022 wurde die erste Ausgabe des Bildungsangebotes der Gedenkstätte Stalag VIII A verö entlicht. Das Bildungsangebot richtet sich an Schüler:innen, Studierende und Jugendgruppen aus Deutschland und Polen,

FOTO: © JAKUB PUREJ GEGEN DAS VERGESSEN 63 MESSIAEN TAGE 62 MESSIAEN TAGE

Marta Wyspiańska

Referentin Bildung und Gedenkstätte Meetingpoint Memory Messiaen e. V.

Gedenkstättenbesuch vorzubereiten. Die Verö entlichung ist sowohl in der Gedenkstätte, als auch auf unserer Webseite zugänglich.

Koordinierungsstelle internationale Jugendarbeit Görlitz-Zgorzelec

Der Meetingpoint Music Messiaen e.V. ist von der Stadt Görlitz für die Koordinierung der internationalen Jugendarbeit in der Doppelstadt eingesetzt. In diesem Rahmen verwaltet der Verein die Zentralstelle des deutschpolnischen Jugendwerks für die Stadt Görlitz und ist außerdem Partner bei Eurodesk. Mithilfe dieser Plattform ist der Verein beratend tätig und vermittelt Jugendlichen Möglichkeiten ins Ausland zu reisen und sich dort als Freiwillige in verschiedenen Formaten weiterzubilden.

sowie an junge Erwachsene aus ganz Europa. Das Angebot besteht aus methodisch abgestimmten Modulen, die in den von uns angebotenen Formaten unterschiedlich kombinierbar sind und von zwei- bis dreistündigen Rundgängen über Halb- und Ganztagsworkshops bis hin zu mehrtägigen Aufenthalten reichen. Die angewandten Methoden und ausgewählten Themen richten sich an Jugendliche ab einem Alter von 12 Jahren und werden in Absprache mit der Gruppenleitung an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst. Das Bildungsangebot ist auf der Homepage des Meetingpoint Memory Messiaen e.V. zu nden.

Erinnern vor Ort

Während der internationalen Jugendbegegnung Worcation, ausgezeichnet von der Europäischen Union mit dem Karlspreis der Jugend, kommen jedes Jahr 25 junge Menschen aus verschiedenen EU-Ländern und der

Ukraine für zwei Wochen nach Görlitz-Zgorzelec, um das Lagergelände zu p egen, professionelle archäologische Arbeiten durchzuführen und sich an diesem authentischen Ort auch kreativ mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Hauptthema der diesjährigen Jugendbegegnung war „Menschenrechte“. In den Workshops wurden durch die Teilnehmenden aktuelle gesellscha liche Probleme besprochen, wie z.B. der Angri Russlands auf die Ukraine.

Sounds from the past ist ein polnisch-deutsches Theater- und Musikprojekt mit historischem Schwerpunkt. Das zweimonatige Angebot außerschulischer Aktivitäten richtete sich an Jugendliche aus Zgorzelec und Görlitz im Alter von 15 bis 20 Jahren. Innerhalb der Theater- und Musikworkshops erforschten sie die Geschichte des Stalag VIII A und lernten Einzelschicksale der Kriegsgefangenen kennen. Anschließend wurden die Erkenntnisse und Gefühle der Teilnehmer:innen in eine neue Form gebracht – die Performance.

Ausbau der Bildungsarbeit und der Gedenkstätte

In dem vom Programm INTERREG Polen-Sachsen 20142020 mit nanzierten Kooperationsprojekt im Bereich Bildung Lernen und verstehen – Zukun durch Erinnerung. Weiterentwicklung von Bildungsnetzwerken sowie der Bürgergesellscha im sächsischpolnischen Grenzraum nden sich alle Hauptelemente der Arbeit der Partner Fundacja Pamięć, Edukacja, Kultura und Meetingpoint Music Messiaen e.V. wieder. Unter anderem ist 2022 die Publikation Das Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A Görlitz. Didaktischer Guide für die historisch-politische Bildungsarbeit in der Gedenkstätte Stalag VIII A erschienen. Sie soll Lehrkrä en und Schülergruppen dabei helfen, einen

Seit einigen Jahren ist der Meetingpoint auch Hauptträger des Kooperationsprojektes der deutsch-polnischen Kinderstadt Kindermiasto, welches eines der ersten und größten deutsch-polnischen Projekte zur Kinderund Jugendbeteiligung in der Doppelstadt ist.

Seit Frühjahr 2022 ist die Gedenkstätte Stalag VIII A Mitglied des unter der Schirmherrscha des Zentralen Museums der Kriegsgefangenen neu gegründeten Netzwerkes „Kriegsgefangenen-Gedenkliga“. Darüber hinaus beteiligen sich die Partner aktiv an verschiedenen historischen Netzwerken in Deutschland und Polen.

* Die Ausstellungen, Führungen und Workshops werden in den Sprachen Polnisch, Deutsch und teilweise auf Englisch oder anderen Sprachen angeboten.

FÜR AKTUELLE INFORMATIONEN MELDEN SIE SICH FÜR UNSEREN NEWSLETTER AN UNTER: WWW.MEETINGPOINT-MEMORY-MESSIAEN.EU/NEWSLETTER
FOTOS: © JAKUB PUREJ GEGEN DAS VERGESSEN 65 MESSIAEN TAGE 64 MESSIAEN TAGE PROGRAMM / ARBEIT / ANGEBOTE DER GEDENKS TÄTTE

Verleih uns Frieden

SAMSTAG 14.01. 20 00

Kreuzkirche Görlitz

——

Ensemble der Europa Chor Akademie Görlitz

▬ Tobias Brommann, Orgel

▬ Jan Hoffmann, musikalische Leitung

Gregorianisch

Da pacem domine - Gib uns Frieden, Herr (Psalm 122)

Olivier Messiaen (1908-1992)

O sacrum convivium (1938) - O heiliges Gastmahl

Olivier Messiaen aus L’Ascension - Quatre Méditations symphoniques pour Orgue (1933/34)

- Die Himmelfahrt - Vier sinfonische Meditationen für Orgel

Tobias Brommann (1968)

Improvisation im 2. Modus von Messiaen über Da pacem domine

Josef Gabriel Rheinberger (1839-1901)

Agnus Dei aus Cantus Missae (1878)

Vaughan Williams (1872-1952)

Agnus Dei aus Mass in G minor (1921)

Samuel Barber (1910-1981)

Agnus Dei (1967)

III Transports de joie d’une âme devant la gloire du Christ qui est la sienne - Freudenausbrüche einer Seele vor der Herrlichkeit Christi, welche die ihre ist

Walentyn Sylwestrow (1937)

Prayer for the Ukraine (2014) - Gebet für die Ukraine

Norbert Blacha (1959-2012)

Modlitwa o Pokój (1980) - Gebet für den Frieden

Roman Rybak (1955)

Ukrain Idyll - Komposition auf Taras Schewtschenko

Arnold Schönberg (1874-1951)

Friede auf Erden (1907)

Henry Purcell (1659-1695), Sven-David Sandström (1942-2019)

Hear my Prayer, o Lord (1682/1968) - Erhöre mein Gebet, o Herr

Krzysztof Penderecki (1933-2020) Komposition auf Texte von Taras Schewtschenko Agnus Dei (1981) aus dem Polnischen Requiem

FOTO: © ANDREAS Z GRAJA
67 MESSIAEN TAGE 66 MESSIAEN TAGE VERLEIH UNS FRIEDEN KONZERT

Flehen nach Frieden

Zum Chorkonzert “Verleih uns Frieden” der Europa Chor Akademie Görlitz Von Anneliese Branke

Menschliche Stimmen, die so vielseitig sein können –verletzlich, zuversichtlich, anrufend, düster – verleihen dem Ansinnen dieses Konzerts eine berührende Atmosphäre. Sie verschmelzen als Chor zu einem Wir, um angesichts eines erneuten Kriegs in Europa gemeinsam musikalisch um Frieden zu bitten. Die dabei erklingenden und auf christlichen Texten beruhenden Werke stammen aus verschiedenen Zeiten und Ländern. Sie spiegeln die unterschiedlichen Weisen wider, mit denen Menschen ihren allgegenwärtigen Wunsch nach Frieden äußerten und äußern.

Dieses Spektrum zeigt sich bereits innerhalb der ersten Stücke: So erklingt eingangs der sehr schlichte und meditative Psalm Da pacem, Domine, wohingegen das anschließende O sacrum convivium! von Messiaen sich fragend und düster durch scheinbar instabile Klänge tastet und schwer grei ar scheint, da sowohl Rhythmik als auch Harmonik nicht den üblichen Hörgewohnheiten entsprechen. Nur beim Wort „Alleluja“ gewinnt der Klang an Zuversicht und Ho nung für eine bessere Zukun . Ein Kernelement Messiaens musikalischer Sprache ist eine ametrische Rhythmik; auch hier ist keine Taktart vorgeschrieben. Ein weiterer Kernpunkt ist die Verwendung einer modalen Harmonik, »modes à transpositions limitées«, die den Eindruck einer »tonalen Ubiquität« sowie einer »Atmosphäre mehrerer Tonarten gleichzeitig, ohne Polytonalität« erwecken. Die folgende Orgelimprovisation über das zu Beginn erklungene Da pacem, Domine erfolgt im 2., u.a. am häu gsten von Messiaen selbst verwendeten Modus der seiner Harmonik: eine oktatonische Tonleiter, bei der Halb- und Ganztonschritte alternieren.

Es folgen drei unterschiedliche Vertonungen des 5. Teils einer Ordinarium Missae – des Agnus Dei. Das erste Stück stammt aus Rheinbergers Cantus Missae op. 109 in Es-Dur und erzeugt durch die Doppelchörigkeit einen spätromantischen Klangteppich, der ehend und zart beginnt. Noch sind die Einsätze der beiden Chöre gut unterscheidbar, doch mit dem Text „Dona nobis pacem“ (Schenke uns Frieden) beginnt das Stück zu ießen.

Ein mit einer steigenden Quarte beginnendes und danach abwärts perlendes Motiv läu durch jede Stimme, während sich der Rest zu einem wärmenden und grazilen Teppich aus Ho nung verwebt. Gänzlich gegensätzlich dazu klingt die Vertonung Williams aus seiner Mass in G minor – sie wirkt viel schlichter und rekurriert mittels Stimmführung und Antiphonie zwischen Solist:innen und Chor auf Renaissancemusik. Dagegen kontrastiert Barbers Agnus Dei, ursprünglich Adagio for Strings, – ein Klangstück par excellence – welches den Text melismatisch mit einer verletzlichen, leidenscha lichen Stimmung verbindet. Das sehnsuchtsvolle Thema wird zunächst vom Sopran eingeführt und im Laufe des Stückes von den anderen Stimmen ebenfalls aufgegri en.

Di erierend dazu wirkt das 8-stimmige, polyphone Hear my prayer, o Lord von Sandström, welches auf einer Komposition von Purcell beruht. Besonders hervorgehoben wird die tonmalerische Umsetzung des Wortes „crying“, welche immer leidender, fast chaotisch wird und in clusterähnlichen Klängen gipfelt. Auch das kompositionsgeschichtlich jüngste hier aufgeführte Agnus Dei, welches der Komponist Penderecki später in seinem Polskie Requiem verwenden sollte, hat einen anrufenden und fordernden Charakter. Diese Wirkung resultiert hier aber aus Konfrontation tonaler Strukturen und thematischer Topoi des 19. Jahrhunderts mit einer von Dodekaphonie und Sonorismus geprägten Musiksprache.

Das Thema von Messiaens Orgelstück Transport du Joie – Freudenausbrüche einer Seele angesichts der

Herrlichkeit Christi, welche ihre ist – wird durch aufsteigende melodische Linien umgesetzt. Das Stück ist der dritte Satz seines ursprünglich für Orchester geschriebenen Werkes L’Ascension, wobei er diesen Satz eigens für die Orgelversion (1935) komponierte. Auch hier verwendete er seine eigenen Modi und befreite sich von Taktartvorzeichnungen.

Die nächsten drei Stücke haben wohl den aktuellsten Bezug zum russischen Krieg in der Ukraine. Sylwestrows Prayer for Ukraine entstand 2014 als Reaktion auf den Euromaidan und dessen blutige Niederschlagung. Dabei rekurriert Sylwestrow auf die Gesänge und Gebete der friedlichen Demonstrant:innen. Lange, gehaltene Töne in den Unterstimmen verleihen dem 8-stimmigen Werk eine anrührende Atmosphäre.

Dem schließt sich das volksliedha e Modlitwa o Pokój (Friedensgebet) des polnischen Komponisten Blacha an: ...aber lass nie wieder sich eine geballte Faust über unser Land erheben…Auch Rybaks Komposition Ukrain Idyll scheint volksliedha . Das ist wenig überraschend, denn der ukrainische Nationaldichter Ta ras Schewtschenko (1814-1861), dessen Gedicht hier vertont wurde, bediente sich für seine von Sehnsucht geprägte Lyrik o mals an ukrainischen Volksliedern.

Das Konzert beschließt mit Schönbergs Friede auf Erden. Er setzt Konsonanz und Dissonanz, homo- und polyphone Sätze ein, um den idealen Frieden dem realen Unfrieden gegenüberzustellen. Obwohl jedem dieser Werke der gleiche Kern zugrunde liegt, hat doch jedes seine eigenen Spielarten und jeder Komponist einen eigenen Weg des Flehens um Frieden gefunden.

Anneliese Branke

wurde an der deutsch-polnischen Grenze geboren, was ihr Interesse an der polnischen Kunst und Kultur prägte. Sie studierte im Bachelor Musikwissenscha und Polonistik in Halle (Saale). Derzeit geht sie dort ihrem Masterstudium der Musikwissenscha nach. Bis vor Kurzem lektorierte sie diverse Forschungsarbeiten als wissenscha liche Hilfskra .

Ihr Interessenschwerpunkt liegt vor allem auf der ersten Häl e des 20. Jahrhunderts. In ihrer Masterarbeit widmet sie sich dem Musizieren von Inha ierten nationalsozialistischer Konzentrationslager, insbesondere der Diskrepanz zwischen freiwilligem, identitätssti endem und Trost spendendem Musizieren und der Tortur des Singens sowie des Aufspielens auf Befehl.

„ Ein wärmender und graziler Teppich aus Hoffnung.“
69 MESSIAEN TAGE 68 MESSIAEN TAGE KONZERT VERLEIH UNS FRIEDEN

Europa Chor Akademie

Görli t z

Die Europa Chor Akademie Görlitz wurde im Jahr 2017 in der Europastadt Görlitz/Zgorzelec gegründet. Mit Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland und des Freistaates Sachsen wurde ein neues international ausgerichtetes Chorzentrum gescha en, welches Konzertpraxis und deren wissenscha liche Begleitung auf Exzellenz-Niveau vereint.

Junge Dirigierende, Sängerinnen und Sänger aus ganz Europa werden unter der künstlerischen Leitung von Jan Ho mann gemeinsam mit namha en Dozenten aus verschiedensten europäischen Musikhochschulen künstlerisch und musikwissenscha lich weitergebildet. Die Bandbreite reicht dabei von chorsinfonischen Werken über Chor-Orchester-Akademien bis hin zu Jazzkonzerten mit Kinderchören.

Jan Hoffmann

Im Juli 2021 begann Jan Ho mann als 1. Gastdirigent die feste Zusammenarbeit mit der ECA und verantwortet seit September 2022 die künstlerische Leitung. Er studierte an der HfM Mainz Schulmusik, Diplom Gesang sowie Chor-Orchesterleitung. Als Chordirektor und Kapellmeister ist er seit 1998/99 am Stadttheater Gießen verp ichtet und zudem seit 2015 stellvertretender Generalmusikdirektor. Dort dirigierte er zahlreiche Chor-Sinfoniekonzerte sowie Oper, Operette und Musical. Zehn Jahre war er Chordirektor der Ludwigsburger Festspiele. Seit 2015 ist er künstlerischer Leiter der Frankfurter Singakademie. An der Semperoper Dresden übernahm er in der Spielzeit 2019/2020 kommissarisch die Position des 1. Chordirektors.

Tobias Brommann

Kirchenmusikdirektor Tobias Brommann ist Chef-Dramaturg an der Europachorakademie Görlitz. Sein Herz schlägt im Bereich der Chormusik – traditionell, aber auch abseits ausgetretener Pfade. Neben der traditionellen Au ührungspraxis lotet er Möglichkeiten der Interaktion zwischen den Musikern aus, experimentiert mit Räumen und hinterfragt überlieferte Rezeptionen. Schon mit 13 Jahren hatte er die erste Anstellung als Organist. Er studierte Kirchenmusik in Hamburg und hat dort eine Singschule gegründet. Er war Assistent von Eric Ericson und Michael Gläser. 18 Jahre leitete er die Berliner Domkantorei und hat sowohl traditionelle Chormusik und Oratorien als auch zahlreiche zeitgenössische Werke aufgeführt.

FOTO: © LAURA JANKOWSKI FOTO: © BORIS STREUBEL 71 MESSIAEN TAGE 70 MESSIAEN TAGE VERLEIH UNS FRIEDEN

Grippe statt Festival.

Grippe statt Festival.

Finanzberater Ekkehard Schulze selbstständiger Handelsvertreter für Swiss Life Select

Finanzberater Ekkehard Schulze selbstständiger Handelsvertreter für Swiss Life Select

Obermarkt 7 · 02826 Görlitz Telefon: 03581/87760 Mobil: 0171-3313005

Obermarkt 7 · 02826 Görlitz Telefon: 03581/87760 Mobil: 0171-3313005

ekkehard.schulze@swisslife-select.de

ekkehard.schulze@swisslife-select.de

Nich alles ist planbar aber die Absicherung deines Einkommens. Im undurchsichtigen Geflecht de r Finanz- un d Vorsorgeprodukt e fiind en wi r aus dem Angebot einer Vielzah namhafter Anbiete r genau das Produkt welches am besten zu deiner persönlichen Zukunftspl anung passt Starte jetzt mi de r richtigen Vorsorge!

Nicht alles ist planbar aber die Absicherung deines Einkommens. Im undurchsichtigen Geflecht de r Finanz- un d Vorsorgeprodukt e fiind en wi r aus dem Angebot einer Vielzah namhafter Anbiete r genau das Produkt , welches am besten zu deiner persönlichen Zukunftspl anung passt Starte jetzt mit de r richtigen Vorsorge!

Nicht alles ist planbar aber die Absicherung deines Einkommens. Im undurchsichtigen Ge echt der Finanz- und Vorsorgeprodukte nden wir aus dem Angebot einer Vielzah namhafter Anbieter genau das Produkt welches am besten zu deiner persönlichen Zukunftspl anung passt Starte jetz mit de richtigen Vorsorge!

Nich alles ist planbar aber die Absicherung deines Einkommens. Im undurchsichtigen Ge echt der Finanz- und Vorsorgeprodukte nden wir aus dem Angebot einer Vielzah namhafter Anbieter genau das Produkt welches am besten zu deiner persönlichen Zukunftspl anung passt Starte jetz mit de richtigen Vorsorge!

swisslife-select.de

swisslife-select.de

25.03.19 18:07

Hier spielt die Musik! konzentrierte Probenarbeit unter professionellen Bedingungen an historischem Ort

LANDESMUSIKAKADEMIE SACHSEN

acht akustisch optimierte Probenräume

professionelle Ausstattung mit Instrumenten (u. a. Steinway-Flügel) und Technik (Mitschnittmöglichkeit, WLAN, Chor-/Orchesterpodeste)

Unterkunft und Verpflegung in der benachbarten Jugendherberge

www.lma-sachsen.de • (03 43 81) 46 95 75

BäckereiChlebowzięci Warszawska32 59-900Zgorzelec Nr.Tel.:729968161 E-Mail:chlebowzieci@gmail.com

RZ_Select_Festival_210x297_personalisiert_0319_v2.indd
RZ_Select_Festival_210x297_personalisiert_0319_v2.indd
73 MESSIAEN TAGE 72 MESSIAEN TAGE SPONSOREN
www.g-h-t.de Tickets: 03581 474747 Wirfreuenuns aufIhren Besuch! Augenoptik ThomasWünsche Jakobstraße4a 02826 Görlitz 74 MESSIAEN TAGE
FOTO: © JAKUB PUREJ

FESTIVALMAGAZIN ZU DEN INTERNATIONALEN MESSIAEN-TAGEN GÖRLITZ-ZGORZELEC 2023

Juliane Wedlich | Gra k • Illustration

Anzeigen: Magdalena Zielińska-König

Herausgeber und v.i.s.d.P.:

Herstellung: WirmachenDruck Redaktionsschluss: 12. Dezember 2022

Demianiplatz 40, D-02826 Görlitz www.meetingpoint-music-messiaen.net Tel.: +49 (0) 3581 661 269

Redaktion: Julian Müller (Projektleitung), Frank Seibel, Samuel Wagner

Autor:innen: Anneliese Branke, Michael Ernst, Alexandra Grochowski, Frank Harders-Wuthenow, Kinga Hartmann-Wóycicka, Stefan Keym, Peter Oliver Loew, Anna Schürmer, Frank Seibel, Samuel Wagner, Marta Wyspiańska

Übersetzung von „Wandel – Chaos“ aus dem Polnischen: Alexandra Grochowski

Gestaltung und Layout: Leo Lamprecht Gra kdesign

Einbandgrafik und Logo:

Team der Internationalen Messiaen-Tage 2023: Alexandra Grochowski (Projektleitung), Samuel Wagner (Künstlerische Leitung), Frank Seibel (Kuratorium), Philipp Bormann (Kuratorium), Magdalena ZielińskaKönig (Produktionsleitung; PR - und Ö entlichkeitsarbeit), Julian Müller (Festivalmagazin), Klaudyna Michalska (Produktionsassistenz), Louise Georgi (Finanzmanagement), Marta Wyspiańska (Referentin Bildung und Gedenkstätte; Koordination Dolmetscherdienste), Daniel Gütschow (Mitarbeiter IT und Design), Mariana Yavorska (Mitarbeiterin IT und Design), Evelyn Malec (Praktikantin), Adrianna Zalejska (Praktikantin)

MEHR INFORMATIONEN AUCH UNTER WWW.MESSIAEN-TAGE.EU/TEAM/

EUROPAS KUNSTFESTIVAL

lausitz-festival.eu

ab 25. August 2023
4 MESSIAEN TAGE IMPRESSUM

SCHIRMHERRSCHAFT

FÖRDERER

… mit freundlicher Unterstützung der

sStiftung der Sparkasse Oberlausitz-Niederschlesien

Oberbürgermeister der Stadt Görlitz, Octavian Ursu

VERANSTALTER

Bürgermeister der Stadt Zgorzelec, Rafał Gronicz

MEDIENPARTNER PARTNER

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.