kontur54 - Leseprobe

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Vorarlbergs Wirtschafts- und Lifestyle-Magazin

KI – möge der perfekte Prompt mit dir sein

Fräulein Sophies Gespür für Schönheit

Warum Erfolg manchmal nach Fisch riecht

Special: Vorarlbergs beste Marke

Pianist Igor Levit über Improvisation und Freiheit

Bad Ischl oder wie die Kultur Europa salzt

Frühling 2024 | 3 Euro Foto: Clemens Oezelt
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Editorial

Was wäre wenn und was hätte sein können, wäre man anders „abgebogen“? Vermeintlich kleine Entscheidungen, die auf den ersten Blick oft unbedeutend erscheinen mögen, können das Leben genauso verändern wie große. Karl Troll etwa hat vor über 30 Jahren eine solche Wahl getroffen und damit den Grundstein für ein international erfolgreiches Familienunternehmen gelegt, denn mitunter ringt einem das Leben Mut ab, um Neues zu wagen. Das trifft auf viele verschiedene Bereiche zu: im beruflichen genauso wie im handwerklichen oder künstlerischen Bereich.

Klemens Oezelt hat in einer Zeit, in der nur Wenige von den schöpferischen Fähigkeiten Künstlicher Intelligenz überzeugt waren, an den Erfolg der neuen Technologie geglaubt und ist heute an verschiedenen Storyboards und Produktionen in Hollywood beteiligt. Oder der Pianist Igor Levit, der nicht nur seiner musikalischen Leidenschaft folgt, sondern sich aus politischer Überzeugung für eine freie, selbstbestimmte Gesellschaft einsetzt. Ob Entscheidungen, die am Ende nicht getroffen wurden und nur im Kopf als Gedankenspiel existieren, dann zum Besseren oder Schlechteren geführt hätten, erfährt man nie – aber so ist es eben, das Leben

Viel Spaß wünscht Ihnen Ihr „kontur“-Redaktionsteam

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Druck:

Vorarlberger Verlagsanstalt GmbH, A-6850 Dornbirn, Schwefel 81

Erscheinungstag: 4. April 2024; Nächste Ausgabe: 11. Juni 2024

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Vorarlbergs Wirtschafts- und Lifestyle-Magazin Frühling 2024 3 Euro Fräulein Sophies Gespür für Schönheit Warum Erfolg manchmal nach Fisch riecht Special: Vorarlbergs beste Marke Pianist Igor Levit über Improvisation und Freiheit Bad Ischl oder wie die Kultur Europa salzt KI – möge der perfekte Prompt mit dir sein

Inhalt

Seite 08 | Troll Cosmetics. Ein Leben für die „Haut“ Couture.

Seite 14 | Claudia Voith. Mit viel Wissen und Ausdauer in der Kultur engagiert.

Seite 19 | Regionales Handwerk. Zwischen Tradition und Innovation.

Seite 25 | Igor Levit. Über das, was im Leben wirklich zählt.

Seite 28 | Künstliche Intelligenz. Wo bitte geht’s nach Hollywood?

Seite 32 | VW Touareg R eHybrid TSI. SUV-Raumschiff mit Adrenalin-Kick.

Seite 34 | Prisma Holding AG. Wieso Bernhard Ölz auf Erfahrung baut?

Seite 41 | Vorarlbergs beste Marke. Über die Bedeutung heimischer Produkte.

Seite 58 | Glashütte Original. Zu Besuch in der deutschen Uhrenmanufaktur.

Seite 62 | Frl. Müller & Söhne. Filmische Leidenschaft und ein rosa Container.

Seite 66 | Marc Lins. Ein Lichtmagier zwischen Kunst und Kamera.

Seite 71 | Ghörig. Vorarlberger Streetfood mit einem kreativen Twist.

Seite 74 | Tristan Horx. Warum plötzlich scheinbar alle verrückt sind?

Seite 79 | Haus des Meeres. Wenn Erfolg manchmal nach Fisch riecht.

Seite 82 | Wien. Zehn unkonventionelle Fakten über Kaffeehaus, Kunst und Kassa.

Seite 87 | Bad Ischl. Unterwegs in der diesjährigen Europäischen Kulturhauptstadt.

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28 08 66 14 25 74 Fotos: Clemens Oezelt / www.studioparadiso.at, feliXbroede, Beate Rhomberg, Marc Lins, pexels/Sam Kolder, Frederick Sams

Freude am Fahren

X 2

Stiglingen 75, 6850 Dornbirn

Telefon 05572/23286-0

info.dornbirn@unterberger.bmw.at

www.unterberger.bmw.at

Bundesstraße 96, 6710 Nenzing

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www.bmw-unterberger-nenzing.at

BMW X2: 110 kW (150 PS) bis 221 kW (300 PS), Kraftstoffverbrauch gesamt von 4,8 l bis 8,1 l/100 km, CO 2-Emissionen von 125 g bis 183 g CO2 /km.

Angegebene Verbrauchs- und CO 2-Emissionswerte ermittelt nach WLTP.

Symbolfoto

Ein Leben für die „Haut“ Couture

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Authentisch, offen und herrlich bodenständig –Karl Troll hat drei renommierte Beauty-Marken international erfolgreich lanciert, mit der tatkräftigen Unterstützung seiner Tochter Barbara Sandner-Troll. Mit Sophie’s Garden setzen die beiden nun neue Maßstäbe. Ein Interview über drei Generationen, den verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen und Fräulein Sophie’s Gespür für Schönheit.

Wir treffen Karl Troll und seine Tochter Barbara Sandner-Troll in der Firmenzentrale in Lustenau. Der Vorarlberger Kosmetikhersteller vermarktet von hier aus die international erfolgreichen Pflegemarken Declaré, Juvena und Marlies Möller Beauty Haircare in mehr als 60 Ländern. Zusammen mit seiner Tochter steht er mit über 80 Jahren noch immer an der Spitze des Familienunternehmens, denn „meine Marken sind meine Kinder“, wie er voller Verve unterstreicht. Sophie’s Garden ist der neueste Coup – sozusagen Anti-Aging der dritten Generation, doch erst einmal der Reihe nach...

Wie es der Zufall will. Begonnen hat Karl Trolls berufliche Laufbahn in der Kosmetikbranche beim Sonnenschutz-Pionier Piz Buin, genau genommen im Führungsteam des Unternehmens Greiter. Mit 50 Jahren packt er die Gelegenheit beim Schopf und macht sich selbstständig: Als die neuen amerikanischen Eigentümer Johnson & Johnson die 1978 gegründete Traditionsmarke Declaré aufgeben wollen, weil sie umsatzmäßig hinter den Erwartungen bleibt, erkennt Troll das Potenzial

Sonnenschutz. Beim Piz Buin Drachenfliegen-Weltrekordversuch: Gerhard Nenning (li.), Olympiasieger Egon Zimmermann, Karl Troll (re.).

und übernimmt die speziell für empfindliche Haut konzipierte Kosmetik-Linie: „Ich bin nach Hause gefahren und habe zu meiner Frau und den Kindern gesagt: ab nächstem Monat sind wir selbstständig“, erinnert sich der sechsfache Familienvater mit einem Schmunzeln und legt mit dieser Entscheidung den Grundstein für ein international erfolgreiches, stetig wachsendes Unternehmen: Troll Cosmetics. Maß-

Troll Cosmetics vermarktet von Lustenau aus die international erfolgreichen Pflegemarken Declaré, Juvena und Marlies Möller Beauty Haircare in mehr als 60 Ländern. Der neueste Coup: Sophie’s Garden.
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Fotos: Troll Cosmetics, Karl Troll privat

Eingespieltes Team. Karl Troll und seine Tochter Barbara sind weltweit unterwegs

geblich verantwortlich dafür war und ist vor allem seine konsequent visionäre Haltung und Vorreiterrolle in punkto neueste strategisch-technologische Entwicklungen, selbstredend immer verbunden mit höchsten Qualitätsstandards. „Wir setzen auf einen echten Fortschritt in der Forschung und nicht auf marketingbasierte Versprechen und inhaltsleere Schlagwör-

ter“, begründet der leidenschaftliche Unternehmer die Frage, wieso das Wachstum seiner Firma über all die Jahre nur eine Richtung kennt. Kontinuierlich wird daher immer weiter an neuen Produkten und Wirk-Komplexen gearbeitet. Gepaart mit einer unglaublichen persönlichen Qualität, bei strategischen Entscheidungen klar zu wissen, was zu tun ist – letztlich mit gro-

ßer Entschlossenheit und ohne zu zögern. Dieses Herzblut spürt man auch bei seiner Tochter: „Als wir die Firma vor über 30 Jahren gegründet haben, war ich vom ersten Tag an mit dabei, da ging meine jüngste Schwester noch zur Schule. 10 Jahre später hat sie uns dann tatkräftig im Verkauf unterstützt“, erzählt die Mutter von drei Kindern und ihr Vater ergänzt: „Für mich hat das auch immer sehr gut gepasst: Barbara die Ruhige, Strukturierte, Analytische und Verena der umtriebige Wirbelwind.“ Später verlässt die jüngere Schwester die Führungsspitze der Liebe wegen.

Gohla und Garten. Der nächste große Meilenstein erfolgt schließlich im Jahr 2011: Als La Prairie die Anti-Aging-Marke Juvena sowie die Haircare-Brand Marlies Möller verkauft, erweitern Troll und seine Tochter ihre Marken- und Produktpalette: „Wir haben zu diesem Zeitpunkt bereits an einer eigenen Pflege-Serie für die Haa-

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Engagement. wie etwa bei den Launch Events in China 2012 oder Thailand 2019. Nachhaltiger Luxus. Sophie’s Garden ist eine Hommage an die Natur. Fotos: Troll Cosmetics, Masterporphotography, Kingfisher/Shutterstock,

re gearbeitet – da hat Marlies Möller perfekt in unser Portfolio gepasst“, so Barbara Sandner-Troll rückblickend.

Mit Sophie’s Garden etablieren die beiden nun eine neue innovative Anti-AgingLinie, die gemeinsam mit dem Schweizer Biotechnologieexperten und Professor Dr.

Sven Gohla im Rahmen einer fünfjährigen Forschungstätigkeit entwickelt wurde: „Ich habe Dr. Gohla, der zuvor viele Jahrzehnte lang Forschungsleiter bei Beiersdorf und La Prairie war, zufällig am Flughafen getroffen, wir haben uns kurz ausgetauscht und später die Idee zu einer neuen Linie mit dem Anspruch ‚Skincare of the Next Generation‘ ausgearbeitet“, so die Beauty-Expertin über die zunächst zufällige und doch wegweisende Begegnung. Die Corona-Zeit wurde schließlich intensiv dazu genutzt, um mit einem Schweizer Biotechnologie-Unternehmen einen weltweit exklusiven Wirkstoff (Funarine) zu entwickeln, der aus den

Interview. Barbara Sandner-Troll im Gespräch mit „kontur“.

Den Funarinen gelingt es, den Informationsfluss in den Zellen wieder zu aktivieren – für eine glatte Haut.

Weiterbildung. Troll Cosmetics verfügt über ein Schulungszentrum auf Mallorca.

Gut vernetzt. Karl Troll mit Kingstar-Chefin Wendy Ngan, Distributeurin für Hongkong.

Stammzellen eines Schweizer HochalpenMooses gewonnen wird und aktiv in den Hautalterungsprozess eingreift. „Die Hautalterung beginnt an den Poren des Zellkerns. Den Funarinen gelingt es, die Poren von Ablagerungen freizuhalten und den Informationsfluss in den Zellen wieder zu aktivieren“, erläutert Sandner-Troll die spezifischen „Kommunikations-Abläufe“ in der Haut.

Mit viel Liebe fürs Detail. Doch nicht nur die Inhaltsstoffe sowie der Wirk-Komplex sind bei Sophie’s Garden luxuriös und revolutionär – auch die Verpackung ist einzigartig: Der wiederbefüllbare Porzellantiegel wird eigens für Troll Cosmetics in der französischen Porzellanmanufaktur Bernardaud in Limoges gefertigt, das Papier für die Verpackung stammt aus der bekannten deutschen Papiermanufaktur Gmund am Tegernsee, die auch für die renommierten Oscars die Einladungskarten druckt, denn auch hier gingen das perfekt eingespielte Vater-Tochter-Gespann mit viel Liebe fürs Detail und großem Engagement ans Werk: „Uns waren nachhaltiger Luxus sowie ein respektvoller Umgang mit Umwelt und Ressourcen enorm wichtig, so dass wir viele Manufakturen angefragt haben, bis wir die passenden Kooperationspartner

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Fotos: Frederick Sams, www.thomassteibl.com, Troll Cosmetics
„Ich habe 30 Jahre zu spät angefangen. In dieser Zeit sind die weltweiten Vertriebe auf- und ausgebaut worden. Wäre man da dabei gewesen, wäre es viel einfacher, mit guten Distributoren zu arbeiten.“

fanden. Wir wollten dem Zeitgeist entsprechen und etwas Wunderschönes kreieren, das immer wieder verwendet werden kann“, unterstreichen beide übereinstimmend. Sophie’s Garden – der Garten ist eine Hommage an die Natur – wird in der Schweiz produziert und bereits in 18 Ländern durch exklusive Partner vertrieben.

Die Namenswahl ist naheliegenderweise ebenfalls keine wohlklingende Marketingidee, sondern spannt den Bogen zur dritten Generation von Troll-Cosmetics: Tochter und Enkelin Sophie, eine Molekularbiologin, fungierte für die innovative Anti-Aging-Linie als Patin. Die 30jährige steht somit als nachfolgende Generation in Sachen Schönheit in den Startlöchern und perfektioniert derzeit ihr Wissen bzw. steht bereits beratend zur Seite.

Mission: Schönheit. Ob „Sir“ Troll – dessen vornehme, charmant-ehrliche Art, gepaart mit einem verschmitzten Lächeln ins Auge sticht – rückblickend etwas anders machen würde? „Ich habe 30 Jahre zu spät angefangen. In dieser Zeit sind die ganzen weltweiten Vertriebe auf- und ausgebaut worden. Wäre man da schon

Weitblick. Für revolutionäre technologische Entwicklungen.

dabei gewesen, wäre es viel einfacher, in den aufstrebenden Märkten mit guten Distributoren zu arbeiten“, erklärt der Seniorchef, der sich mit Tennis- und Golfspielen sowie Segeln fit hält und im Rahmen seiner Geschäftsreisen mit Tochter Barbara auf der ganzen Welt herumgekommen ist. Bis heute sind die beiden in der „Mission: Schönheit“ zusammen unterwegs, um neue Vertriebskanäle zu erschließen, Produkte zu launchen oder Geschäftskontakte zu pflegen – selbstverständlich mit einem amüsanten Globetrotter-Wissen im Gepäck wie etwa, warum Kosmetika in Asien unbedingt extra-foliert sein müssen oder man in Kuala Lumpur besser kein Meeresgetier mit Alkohol mischt… doch das ist eine andere Geschichte. Fest steht: Erfolg muss man sich hart erkämpfen, mit globalem Weitblick und strategischem Instinkt. Sophie scheint das Gespür ihres Großvaters und ihrer Mama jedenfalls geerbt zu haben. Christiane Schöhl von Norman

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Unterwegs. Karl Troll während seiner Zeit bei Piz Buin beim Test von sonnendurchlässigen Bikinis in Saint-Tropez. Fotos: Troll Cosmetics, Karl Troll privat Visionär. Und charmant, gepaart mit einem verschmitzten Lachen.

Igor Levit

Der gebürtige Russe (Jahrgang 1987) wuchs in Deutschland auf, wo Klavierexperten seine Hochbegabung früh erkannten. Der erfolgreich tätige Konzertpianist mit umfangreicher Diskographie ist seit dem Jahr 2019 auch Professor für Klavier an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. In Vorarlberg trat er bei der Schubertiade sowie im Rahmen der Bregenzer Meisterkonzerte auf.

Es bedeutet ihm die Welt

Neben ihrem eigentlichen Zweck regen die Plakate mit dem Schriftzug „The People United“ im Stadtbild von Bregenz zum Nachdenken an. Sie verweisen auf ein besonderes Ereignis, nämlich auf die Uraufführung eines einzigartigen Projekts, das der Pianist Igor Levit und der Choreograph Richard Siegal realisieren.

Für viele, die die Aufführung der „Passacaglia on DSCH“ von Ronald Stevenson in der Interpretation von Igor Levit im März 2022 in Bregenz erleben durften, war klar, dass es ein Konzert ist, das lange nachwirkt. Für eine konkrete Folge dieses Ereignisses hat Judith Reichart gesorgt. Die Chefin des Kulturservice in der Vorarlberger Landeshauptstadt und Verantwortliche für die Meisterkonzerte hegte den Wunsch, den prominenten Pianisten Igor Levit auch für das Festival Bregenzer Frühling zu gewinnen. In dieser seit den späten 1980er-Jahren bestehenden Veranstaltungsreihe stehen der zeitgenössische Tanz sowie die Begegnung mit renommierten Gruppierungen aus aller Welt im Fokus. Zahlreiche Österreichpremieren haben stattgefunden, zu denen auch die Choreographie „Fêu“ von Fouad Boussouf zählt, die erst jüngst vom Ensemble Le Phare Centre choréographique national du Havre im Bregenzer Festspielhaus präsentiert wurde. Zuvor ließ Angelin Preljocaj seine Tänzerinnen und Tänzer mit seinem enormen Gespür für die Verbindung von Tradition und Gegenwart sowie brisante Themen wie Unterdrückung und Selbstbestimmung brillieren.

Bedeutend. Nun erwartet das Publikum eine Uraufführung. Der Pianist Igor Levit und der Choreograph Richard Siegal setzen das Werk „The People United Will Never Be Defeated“ von Frederic Rzewski (1938–2021) um. Dass ihm die von Judith Reichart initiierte Zusammenarbeit viel

Foto: feliXbroede/Sony Classical

Die Uraufführung des Projekts „The People United Will Never Be Defeated“ von Igor Levit und Richard Siegal mit dem Ballet of Difference findet am 18. Mai im Rahmen des Festivals Bregenzer Frühling statt.

bedeutet, brachte Igor Levit ihr gegenüber mit dem schönen Vermerk „das schenke ich dir zu Weihnachten“ zum Ausdruck. Kenner wissen, dass eine Einspielung von „The People United Will Never Be Defeated“ längst zur umfangreichen Diskographie von Levit zählt und dass er dem Werk eine Folge in seiner Podcast-Reihe widmete.

Die Betrachtung des Themas, das Frederic Rzewski seinen 36 Variationen zugrundelegte, ist aufschlussreich, denn es handelt sich um ein Lied des chilenischen Komponisten Sergio Ortega, mit dem der Protest gegen den Militärputsch von Augusto Pinochet in Chile zum Ausdruck gebracht wurde. Die Uraufführung hatte ebenso

Symbolwert, denn sie fand als kritisches Statement von Künstlern gegenüber der Regierung im Jahr 1976 in Washington im Rahmen der 200-Jahr-Feiern der USA statt. Die Vereinigten Staaten hatten die Pinochet-Diktatur bekanntermaßen unterstützt.

Im Gespräch, das vor wenigen Wochen mit dem Pianisten Igor Levit geführt werden konnte, kommt auch seine intensive Beziehung zu Frederic Rzewski zur Geltung.

Sie haben die Wahl für das Klavierwerk für die Produktion mit Richard Siegal beim Festival Bregenzer Frühling getroffen, und zwar für „The People United Will Never Be Defeated“ von Frederic Rzewksi. Ich nehme an, die Gründe stehen im Zusammenhang mit der Entstehung des Werks. Die Gründe sind vielfältig. Als Richard Siegal und ich uns getroffen hatten, haben wir darüber zu reden begonnen, wie man Musik, sozusagen Musik, wie ich sie spiele, quasi verkörperlichen kann, wie man ihr diese Dimension hinzufügen kann. Es ging darum, mit welcher Art von Musik man das machen kann.

Wir haben uns über verschiedene Stücke unterhalten und wie man diese körperlich erfahrbar machen kann. Ich sagte, wenn es ein Werk gibt, das das Gemeinsame, das Zwischenmenschliche, das Zusammenkommende zum Thema hat, dann sind es die „People United“-Variationen. Ich beziehe mich dabei auf dieses Hymnische in diesem Stück, aber auch auf den permanenten Struggle, auf das Sichbemühen, das permanent Arbeitende und auch das Ankämpfen und das Streiten für etwas und das Zurückkehren auf etwas Gemeinsames. Es war meine Initiative und es hat ihn auch überzeugt. Das Stück bedeutet mir die Welt. Ich habe es mehrere Jahre nicht mehr gespielt. Jetzt darauf zurückzukommen, ist sehr schön.

Der Komponist und Pianist Frederic Rzewski war einer Ihrer Professoren. Welche ganz persönlichen Erinnerungen haben Sie an ihn? Das ist für mich schwer zu beantworten. Es ist sehr ehrlich gemeint, ich habe immer wieder zu einer Freundin gesagt, wie sehr mir Frederic fehlt. Ich kann nicht etwas herauspicken, sa-

Igor Levit hat „The People United Will Never Be Defeated“ auch vor einigen Jahren aufgenommen.

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Ich ermutige jeden, für diese freie Gesellschaft einzustehen, aber moralischen Druck aufbauen, das funktioniert auf lange Sicht nicht.

gen, diese Eigenschaft fehlt mir oder jene. Er war ein komplizierter Fall, aber in seiner ganzen Art, in seiner Glaubwürdigkeit, in seiner Ernsthaftigkeit und Unbestechlichkeit, war er eine Bezugsperson. Er hat eine große Rolle gespielt in meiner persönlichen Entwicklung. Mir fehlt unser Austausch, mir fehlen seine langen E-Mails. Wir sind auch ein paar Mal aneinandergeraten, wie das Freunde machen. Er fehlt mir enorm. Er ist immer noch Teil meines Lebens. Wie gesagt, jetzt zu diesem Stück zurückzukommen in dieser Form – das könnte keine größere Bedeutung haben.

Tragen Sie davon etwas in sich, wenn Sie aufs Podium gehen? Ja natürlich, ich habe „The People United Will Never Be Defeated“ aufgenommen und sehr viel gespielt und dann lange nicht mehr. Wenn ich jetzt wieder zurückkehre, dann denke ich selbstverständlich an Frederic, ich nehme ihn mit. Wie gerne hätte ich, dass der Mann da ist.

Die Uraufführung findet am 18. Mai statt. Das heißt, die Choreographie für diese 36 Variationen steht oder ist auf jeden Fall in Arbeit. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Richard Siegal? Wir sind in Kommunikation, aber diese Kommunikation wird sich noch einmal verstärken, je näher der Abend kommt. Wir haben uns ausführlich darüber unterhalten, aber Siegal ist so ein herausragender Künstler, dass ich – und so ticke ich als Künstler grundsätzlich – vollstes Vertrauen, in das habe, was er tut. Wir treffen uns vor Ort und wir werden gemeinsam arbeiten. Natürlich steht die Choreographie, aber es wird sich alles sowieso noch einmal verändern.

Es gibt Passagen in diesem Werk, in denen auch den Interpreten bzw. Pianistinnen und Pianisten Optionen angeboten werden ­ etwa pfeifen oder perkussive Aktionen. Wie werden Sie es damit halten? Ich antworte ihnen mit einem Zitat von Rzewski: „Eine Improvisation ist eine Option, du entscheidest in dem Moment, ob du es tust oder nicht, wenn du es im Vorhinein entscheidest, dann ist es keine Improvisation mehr.“ Ich werde exakt in dem Moment die Entscheidung fällen. Ich werde keinen Deut an Gedanken vorher daran verschwenden.

Künstlerinnen und Künstler sollten sich in Zeiten eines Erstarkens des Rechtsextremismus positionieren. Kann so eine

Richard Siegal (im Bild oben mit Kulturservice-Leiterin Judith Reichart) hat mit zahlreichen renommierten Ensembles gearbeitet. Nach Bregenz kommt der Choreograph mit dem Ballet of Difference.

Aufführung auch in diesem Kontext stehen? Ich frage das auch wegen des Themas dieses Werks von Frederic Rzewski nach einem Protestlied des chilenischen Komponisten Sergio Ortega und weil die Uraufführung von „The People United Will Never Be Defeated“ 1976 in Washington zu den 200­Jahr­Feiern der USA stattfand und somit politische Aspekte berührte. Dass die Aufführung für mich in diesem Kontext steht, steht außer Frage, aber Künstlerinnen und Künstler sollen gar nichts. Sie können, sie müssen nichts, das muss kein Mensch, das ist eine freie Entscheidung. Wir sollten Menschen dazu ermutigen, sich zu positionieren, aber ermutigen ist nicht gleich der Zeigefinger. Mit dem Zeigefinger erreicht man relativ wenig. Ich ermutige jeden, für diese freie Gesellschaft einzustehen, aber zwingen, oder moralischen Druck aufbauen, das funktioniert auf lange Sicht, glaube ich, nicht. Christa Dietrich

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Bregenzer Frühling. Das Festival wurde heuer mit Choreographien von Angelin Preljocaj eröffnet. Fotos: Felix Broede, Laurent Philippe, Christa Dietrich, Luis Alberto Rodriguez;

Wo bitte geht’s nach Hollywood?

Künstliche Intelligenz kann schon seit langem Bilder erschaffen und optimieren. Einer der ersten, der sich intensiv mit diesem Thema befasst hat, war Klemens Oezelt – sein Output ist so gut, dass sogar Hollywood und Netflix seinen Support suchen.

„kontur“ hat ihn in seinem Loft-Büro in Wien getroffen.

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Netflix. Bären, Monster und bizarre Wesen regieren in der neuen Serienwelt.

Klemens Oezelt startete seine Fotografenkarriere ganz klassisch mit einer Knipse-Kamera, gefühlt eine Million Jahre später – was die rasante Evolution seines neuen mächtigen Mediums skizziert – benutzt er eine Technologie, von der manche Leute glauben, sie sei das Tor zum Ende dieser Welt. Doch im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen sieht der gebürtige St. Pöltener die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz (engl. AI = Artificial Intelligence) rosarot. „Als KI zum ersten Mal auftauchte, kannte sich keiner aus, aber mich hat es von Anfang an fasziniert, weil ich das Potenzial sofort erfasst habe. Obwohl 95% meiner Freunde damals sagten, dass es sinnlos und reine Zeitverschwendung sei, habe ich mich acht bis zehn Stunden am Tag reingekniet.“ Die Vielfalt an Möglichkeiten und die Komplexität des Programms, hauptsächlich Midjourney, wecken seinen Pioniergeist und seine Experimentierfreude: „Es gab keine Anleitung. Jeden Schritt habe ich mir erarbeitet und diese Lernerfolge haben mich immer weiter motiviert.“ So startete er als einer der Ersten im Land irgendwann einen AI-Instagram-Account – mit ungeahnten Folgen.

Eines Tages meldete sich ein Production Designer aus Los Angeles, der schon für Hollywood Filme rund ums DC Universe die surrealen Welten erschuf. „Es gibt Scouts, die weltweit nach AI-Accounts suchen. Irgendwann sind sie auf mich gestoßen und haben gefragt, ob ich nicht bei einer neuen Netflix-Produktion mitarbeiten möchte.“ So erfand er eine eigene Fantasy-Welt, in der Fabeltiere wie Waschbären & Co. in einem Setting á la „Der König von Narnia“ regieren, denn mittlerweile sind auch KI produzierte Filme keine Vision mehr. „Die Art meiner Bilder ist dafür geeignet – man kann ihnen Leben einhauchen.“ Inzwischen hat er an verschiedenen Storyboards zu KI-generierten Serien und Filmen mitgewirkt und eigene Charaktere entwickelt, unter anderem für einen der wohl bekanntesten Köpfe aus Hollywood. Parallel dazu lässt er für eine große Wiener Agentur KI-generierte Werbeträume wahr werden. Doch Klemens Oezelt bleibt bescheiden. Sein Wunsch: „Einfach weiter in das virtuelle Rabbit Hole eintauchen.“

Sprachbezogene konzeptuelle Kunst. Die Schwierigkeit bei der Erstellung eines KI-generierten Bildes ist die sprachliche Kunstfertigkeit, die sich Oezelt in über 20.000 Prompts – also schriftlichen Befehlen für die Erstellung von Fotos – erarbeitet hat. „Durch das intensive Auseinandersetzen mit der Materie habe ich irgendwann herausgefunden, wie man mit dem Tool spricht: Dabei beeinflusst allein die Reihenfolge der Worte am Ende das Ergebnis und auch mein spezifisches Fachwissen aus der Retusche hilft beim Color Grading.“ Sein Know-how aus der Fotografie, Malerei sowie dem Fantasy- und Gamingbereich ist ebenfalls dienlich, etwa beim Setzen der richtigen Lichtpunkte.

Feine Nuancen. Schnurrhaare, Lichtpunkte, Falten – jedes Detail ist akkurat.

Grannies. Auf dem Stahlgerüst oder im Boxring – dank KI.

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Fotos: Clemens Oezelt / www.studioparadiso.at

Mit derzeit maximal 400 Wörtern müssen die Mimik einer Person, ihre Bewegung, Kleidung, Umwelt, Gegenlicht, Tageszeit, etc. so formuliert werden, dass die KI am Ende das gewünschte Ergebnis ausspuckt. „Die Herausforderung besteht nicht darin, irgendein schönes Bild zu erzeugen, sondern ein exakt der Vorstellung entsprechendes und in der Folge ein komplettes Storyboard – also eine ganze Geschichte, mit über 1500 verschiedenen Fotos – in der eine Person aus verschiedensten Perspektiven und in unterschiedlichsten Situationen gezeigt wird und diese immer gleich aussehen muss. Nichts ist zufällig“, erklärt der Experte, der die komplexen Szenarien bereits im Vorfeld in seinem Kopf hat. Im Rahmen des Prompt Engineerings kann eine Darstellung unendlich oft wieder hochge-

laden werden, um sie immer weiter zu verändern oder die Geschichte fortzusetzen, d. h. die Hauptfigur erhält ein Schwert oder es kommen weitere Charaktere hinzu. „Ich schmiede das Bild inhaltsbasiert in die gewünschte Richtung. Mit der Zeit habe ich gelernt, welche Wörter wichtig sind und wie komplizierte Details abstrakt beschrieben werden können – es ist quasi eine eigene Sprache. Alles, was im Prompt nicht erwähnt wird, stellt die KI letztlich zufällig dar. Deswegen reduziert sich meine Eingabe auf das Wesentliche“, so die Essenz seines impliziten Wissens.

Mit diesem Know-how reist er nun virtuell durch die Zeit und erzeugt Bilder vom Bau der Chinesischen Mauer oder erweckt das Buch der fünf Ringe von Miyamoto Musa-

shi, über japanische Kampfkunst, zum Leben. „Wenn ich etwas generiere, habe ich das Gefühl, dass ich in mein Unterbewusstsein eintauche und genau die richtigen Dinge heraushole. Es ist eine Art visionäre Kunst, bei der sich die eigene Individualität und Subjektivität letztlich im Output abbilden und die Grenzen nur mehr im eigenen Verstand liegen“, bringt Klemens Oezelt das unerschöpfliche Potenzial auf den Punkt. Charmante „Makel“ wie Sommersprossen, Narben, Falten, Nasenhaare inklusive, denn diese lassen das Bild letztlich nur noch realer und sympathischer erscheinen.

Wenn Oma in den Boxring steigt. Neben den Storyboards und Agenturaufträgen arbeitet der 38jährige derzeit an der Illustration eines Kinderbuches, an abstrak-

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Visionäre Kunst. Neben den Charakteren erweckt Klemens Oezelt ganze Welten zum Leben. Weltraum. Storyboard zu einem intergalaktischen Abenteuer. Fotos: Clemens Oezelt / www.studioparadiso.at
„Wenn ich Bilder oder ganze Storyboards generiere, habe ich das Gefühl, dass ich in mein Unterbewusstsein eintauche. Es ist eine Art visionäre Kunst, bei der die Grenzen nur mehr im eigenen Verstand liegen.“

ten Bildern, die entfernt an die surrealen Szenerien und Gemälde von Salavdor Dali erinnern sowie an unmöglichen Darstellungen, sprich Inhalten, die so in der Realität nicht existieren wie etwa Omas auf einem Jetski, im Boxring oder einem Stahlgerüst eines New Yorker Hochhauses: „Der Aufwand, um eine solche Szenerie tatsächlich zu shooten, wäre enorm, wenn nicht sogar undurchführbar. KI als Hilfsmittel macht alles so viel schneller und einfacher. Man kann die Arbeit zu jeder Zeit durchführen und mit den richtigen Eingaben verbinden sich Realität und Fiktion auf wunderbare Weise. Auch (Werbe-)Konzepte und Ideen können rasch und kostengünstig umgesetzt werden, um Kunden oder Geschäftspartnern einen ersten visuellen Eindruck zu vermitteln“, unterstreicht der KI-Profi die Vorteile.

Lichtgeschwindigkeit. Beeindruckend ist in diesem Zusammenhang tatsächlich die Schwuppdizität, mit der sich die neue Technologie perfektioniert: „Wir hatten noch nie ein Werkzeug, das sich schneller weiterent-

wickelt hat, als wir es tun. Es macht Überstunden, während wir schlafen“, fasst Klemens Oezelt die Evolution des Programms zusammen. Das Tempo der Updates ist rasant und mit jeder Verbesserung ändert sich der Algorithmus, was wiederum die Formulierung der Prompts beeinflusst.

Apropos Wortwahl: Die KI ist auf eine positive Sprachformulierung getrimmt und beim Thema Gewalt und Nacktheit durchaus sensibel, d. h., Worte wie „schießen“, „Schwert“ oder „nackt“ sind geblockt. „Wenn das Storyboard nun aber vorgibt, dass jemand aus der Nase blutet oder ertrinkt, muss es geschickt mit positiv besetzten Begriffen umschrieben werden, etwa mit Marmelade statt Blut oder Ertrinken statt Tauchen – viele geben einfach die falschen Prompts.“ Was uns das sagt? Am Ende ist jede Technologie eben nur so gut, wie der Mensch, der sie bedient… aber wer weiß, vielleicht emanzipiert sich die KI irgendwann, wird empfindungsfähig, und distanziert sich von der natürlichen Intelligenz. Christiane Schöhl von Norman

Gottheit. In dieser Geschichte spielen die Götter des alten Ägyptens die Hauptrolle.

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„Bischt au a bissl crazy?”

Verrückte waren früher verschämt in Behandlung, heute sind sie scheinbar weit verbreitet. Crazy sein ist absolut en vogue und gleichbedeutend dem Statement: „Hey Leute, schaut her, ich bin nicht langweilig!“. Doch wie aufregend und anders ist man überhaupt noch, wenn plötzlich alle „verrückt“ sind? „kontur“ hat Trendforscher Tristan Horx zu diesem Phänomen befragt.

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Heute muss man sich schon in jungen Jahren überlegen, wie man sich in der digitalen Welt inszeniert – das ist ein Seiteneffekt vom Weltschmerz, mit dem man über die Digitalisierung in Berührung kommt.

Ein Blick auf Instagram offenbart: 47 Millionen Posts, die den Hashtag #crazy beinhalten. Zu sehen bekommt man Menschen auf Jetskis, Skate-Boards, Luxusschlitten, mit Tattoos an allen erdenklichen Körperteilen, posierend mit verschiedensten Lebensmitteln oder Tieren, singend und tanzend auf dem 10-Meter-Sprungbrett oder bei skurrilen Mutproben, wie dem Trinken aus Bidets. Verrückt ist offenbar das neue „normal“, wobei dem Ganzen eine positive Konnotation im Sinne von ausgeflippt, rebellisch und aufregend anhaftet. Jeder möchte speziell und besonders sein und präsentiert sich auf diversen Social Media Plattformen, denn das Crazy-Phänomen zeigt sich auch auf TikTok & Co. und trägt einem Zeitgeist Rechnung, in dem alle ganz besonders und individuell sein wollen.

Weltschmerz der Digitalisierung. „Die Frage ist: Ist es der Versuch, sich in eine Mehrheitsgesellschaft einzugliedern, weil die Welt um einen herum verrückt geworden ist – sprich zeigt sich normatives Verhalten – oder sind wir bei der Generation Z, diese These vertrete ich, an der Spitze der Individualisierung angekommen? Ein Herausstechen aus der Masse durch verrückte, also von der Norm abweichende, Verhaltensweisen“, erklärt Tristan Horx und führt weiter aus: „Es ist eine Form von Selbstoptimierung, crazy zu sein, denn echte Verrückte, sprich Leute mit psychiatrischem Befund, bezeichnen das nie als solches, weil sie denken, dass sie normal sind. Man muss es sich eben auch leisten können, crazy zu sein.“

Der Begriff ist somit ambivalent: „Der/Die ist verrückt“ kann ein Kompliment aber auch üble Nachrede sein, das lässt sich sehr gut an Liebesbeziehungen illustrieren, beispielsweise am Song von Beyonce „Crazy in Love“, dessen Inhalt frei übersetzt lautet: „Schau mich doch mal an. Ich sehe doch völlig verrückt aus und du bist schuld dar-

an. Deine Berührungen, deine Küsse, deine Liebe haben aus mir eine Verrückte gemacht“ – hier sind wir also noch in der Phase „rosarote Brille“. Das Ganze kippt, wenn aus dieser verrückten Verliebtheit irgendwann Besessenheit wird. Stichwort: Narzissmus – Massive Abwertungen, die den anderen in den Wahnsinn treiben, während die eigenen Eskapaden vertuscht werden und ihr/ihm am Ende psychische Probleme unterstellt werden. Der Trend zur anfangs beschriebenen gemeinschaftlichen Social Media Crazyness hat mit solchen soziopathischen Störungen allerdings wenig zu tun, sondern vielmehr mit veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bedingt durch den Einfluss und die Nutzung der Medien: „Heute muss man sich schon in jungen Jahren überlegen, wie man sich als Individuum im Netz und den sozialen Medien inszeniert, stylt und individualisiert – das ist ein Seiteneffekt vom Weltschmerz, mit dem junge Menschen schon sehr früh über die Digitalisierung in Berührung kommen: Sie konsumieren heutzutage ab etwa 10 bis 12 Jahren verschiedenste Inhalte aus dem Netz und werden dadurch sehr früh mit dem konfrontiert, was die Welt an Positivem wie Negativem zu bieten hat. Durch diese Einflüsse kann man es nicht wirklich schlechtreden, dass die Jugendlichen am Ende denken, die Welt sei verrückt geworden“, so der Trendforscher, der selbst der Generation Y angehört.

Welt ist einfach „Mist“. Die Weltordnung ist also durch den medialen Blick, pointiert ausgedrückt, irgendwie „Mist“ und deswegen suchen sich junge Leute eine bewusste Alternative zu den Werten und Normen der dominierenden, anonymen Kultur, die von Kriegen, Klimakatastrophen & Co. bestimmt wird – wie etwa durch Subkulturen. „Diese sind heute viel stärker fragmentiert: Früher gab es immer eine Mehrheitsbzw. Antisubkultur wie die Hippies oder Punks. Heute existieren unglaublich winzige Formen, die sehr oft mit „core“ enden,

Zeitgeist. Trendund Zukunftsforscher Tristan Horx gehört der Generation Y an.

Fotos: pexels/lelesfoto, Klaus Vyhnalek
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beispielsweise die Goblincore. Das sind Leute, die von der Ästhetik der Goblins inspiriert sind und sich wie diese Waldwesen anziehen oder die Clowncore, die sich an der Jokerwelt orientieren. Diese starke Zersplitterung führt dazu, dass man immer noch einen draufsetzen muss, um als Individuum wahrgenommen zu werden“. Alles bunt, laut und ein bisschen chaotisch. Übrigens der Hashtag Clowncore hat auf TikTok über 200 Millionen Aufrufe. „Die Aufmerksamkeitsökonomie belohnt crazy sein. Hinzu kommt bei den Jüngeren, dass sie in einer wichtigen Entwicklungsphase ihres Lebens – in der man normalerweise aus den familiären Hierarchien und von zu Hause ausbricht, um mit Freunden auszugehen und sich in der Gesellschaft draußen zu individualisieren – in Zeiten des Lockdowns lange eingesperrt waren. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass sich durch den Wegfall dieser Entwicklungsphase ihr Verlangen nach Aufmerksamkeit noch vergrößert bzw. der Drang individueller und verrückter zu sein“, zieht der Zukunftsforscher Bilanz.

Gender­Gap. Auf die Spitze getrieben wird das Ganze durch das Schießen von Fotos an besonders gefährlichen Orten, um möglichst viel Aufmerksamkeit, Likes und Abonnements auf Social Media einzuheimsen. Hochhäuser, gefährliche Klippen, reißende Flüsse – weltweit gibt es immer mehr Todesfälle durch sogenannte Killfies. „Das ist die Spitze des aufmerksamkeitsökonomischen Eisbergs“, bringt es Horx auf den Punkt. Apropos: warum sterben eigentlich deutlich mehr Männer durch Killfies? „Männer sind risikoaffiner, weil Mut und Risiko mit Aufmerksamkeit beim anderen Geschlecht belohnt werden – das ist evolutionär nicht so überraschend.“

Hat das Ganze vielleicht auch mit Rebellion zu tun? Bei diesem Stichwort winkt Horx ab: „Momentan ist es unglaublich schwierig aufzubegehren. Die Elterngeneration, die Boomer, finden Rebellion selbst ganz cool. Das ist das Schlimmste für die Jungen. Man kann heute eigentlich nur noch rebellieren, indem man spießig wird und sich im Dreiteiler zum Abendessen mit den Eltern setzt. Die Rebellion ist ziemlich gekappt.“ Aber auch aus diesem Umstand heraus identifiziert Tristan Horx in der Generation Z einen neuen überraschenden Gegentrend: „Die jungen Männer agieren im Vergleich zu den Frauen extrem konservativ, während diese immer liberaler werden. Diese Entwicklung

Risiko. Fotos an gefährlichen Orten –für mehr Aufmerksamkeit, Likes und Abonnements im Netz.

Alles bunt, laut, chaotisch – Die starke Zersplitterung führt dazu, dass man immer noch einen draufsetzen muss, um als Individuum wahrgenommen zu werden.

beim männlichen Geschlecht ist der Versuch, normativ zu sein und sich in die Hegemonie einzuordnen. Mich würde es nicht überraschen, wenn bei den Männern z. B. auch die Risikobereitschaft wieder abnehmen würde. Frauen sind dagegen in ihrer Essenz nicht so risikobereit, weil sie es glücklicherweise auch nicht sein müssen.“ Die Geschlechter driften also auseinander – u. a. auch, weil Frauen und Männer in der digitalen Welt tendenziell in unterschiedlichen (Pop- und Sub-)Kulturen leben und sich somit mit unterschiedlichem Content versorgen. Ob dies mit der #MeToo-Bewegung zu tun hat oder der Tatsache geschuldet ist, dass Demokratie und Emanzipation

global gesehen auf dem Rückzug sind (in unterschiedlichen Ländern wie Afghanistan und den USA haben Frauen und Mädchen heute teilweise weniger Rechte als ihre Mütter und Großmütter) oder Männer sich von der Gesellschaft bestraft fühlen, wenn sie sich einfach mal wie Männer verhalten, ist Gegenstand aktueller Untersuchungen. Fest steht: Wir leben trotz so mancher feministischer Lichtblicke tendenziell immer noch in einer patriarchalen Gesellschaft – das ist nach all den Jahren weiblicher Emanzipation, mühevoller Protestbewegungen und furioser Anstrengungen gesellschaftspolitisch gesehen ziemlich crazy. Christiane Schöhl von Norman

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pexels/Aleksey Kuprikov
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